Die Zehn Plagen - Laurent Bach - E-Book

Die Zehn Plagen E-Book

Laurent Bach

4,9

Beschreibung

Die Brunnen im südfranzösischen Anduze speien rotes Wasser. Während die Polizei noch von einem dummen Streich ausgeht, hat Privatdetektiv Claude Bocquillon bereits eine schreckliche Vorahnung - und behält recht: Kurze Zeit später werden zwei Jungen entführt. Claudes Spürsinn ist geweckt, und er stellt unabhängig von der Polizei eigene Ermittlungen an. Diesmal gerät er jedoch tiefer in den Fall hinein, als ihm lieb ist, denn die Kriminalbeamten finden Indizien, die den Verdacht auf Claude selbst lenken.

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Inhalt

Sonntag, 4. November

Montag, 5. November

Dienstag, 6. November

Mittwoch, 7. November

Donnerstag, 8. November

Freitag, 9. November

Samstag, 10. November

Über dieses Buch

Über den Autor

Impressum

Buchtipps

Sonntag, 4. November

Die Herbstluft zeichnete jedes Detail der Gassen in klarer Tiefenschärfe. Auf einem Balkon leuchteten Geranien, ihre Blüten bereits vom Verfall gezeichnet. Ein Kater balancierte auf dem lächerlich schmalen Balkongeländer und schaute immer wieder auf die unter ihm liegende Gasse, doch er zögerte, aus dieser Höhe hinabzuspringen. Er verharrte und wirkte fast wie eines der schwarz lackierten Embleme, die früher an Wirtshäusern prangten.

Es war Virenque, der sich in der Nacht davongemacht hatte und nun auf der fremden Loggia festsaß. Seine Gefährtin hatte sich durch einen eleganten Sprung in ein geöffnetes Fenster von ihm verabschiedet. Nun entschied sich der Kater für einen Sims, der an der Wand des Hauses entlang zur Fontaine de Potiers führte. Der Brunnen kam ihm gelegen, denn er hatte Durst. Er bestieg die Steinkante und hielt auf eine mannshohe Nische an dem Eckhaus zur Rue Fusterie zu, in der aus einem Rohr Wasser in das halbrunde Becken floss, das am Mauerwerk angebracht war. Über gemeißelte Ornamente stieg Virenque abwärts zum Rand des Beckens. Er kauerte sich zusammen, legte den Schwanz akkurat um seine Flanken und reckte den Kopf. Doch dann schien er plötzlich das Näschen zu rümpfen. Aus dem eisernen Schnabel plätscherte das Brunnenwasser munter hinab, aber der Strahl war eigenartig trüb. Virenque konnte nicht deuten, was er vor sich sah. Die Wasserkreise breiteten sich gleichmäßig aus, blutrot funkelnd, und es war nicht die Sonne, die ihnen diese Farbe verlieh.

Der Kater glitt hinunter auf die Straße. Hier und dort waren das Klappern von Geschirr und Kinderstimmen aus den Fenstern, die zum Lüften offen standen, zu hören. Nur einige Häuser entfernt, in der Rue Basse, befand sich die Fontaine du Pont. Virenque hechtete auf den Beckenrand und starrte in das runde Bassin. Verärgert stieß er den Schwanz in die Luft, machte kehrt und lief in kleinen Galoppsprüngen heim zum Place Notre-Dame, hinein in das heruntergekommene Mietshaus aus dem frühen achtzehnten Jahrhundert. Er warf keinen Blick mehr auf den freistehenden Brunnen auf dem Platz. Er zog es vor, aus seinem Napf zu trinken, und lief die Treppe hinauf.

Kurze Zeit später schrillte es in Claude Bocquillons Kopf. Das Klingeln der Schelle kämpfte sich durch die Decke und das Kopfkissen, unter denen er sich vergraben hatte.

»Och nee«, stöhnte er und räkelte sich.

Ein weiterer verwuschelter Haarschopf hob sich neben ihm aus den Federn.

»Was’n los?«, nuschelte Julien träge. Beide Männer richteten sich plötzlich auf, denn nun hörte man ein so energisches Pochen, dass die Wohnungstür aus den Angeln zu brechen drohte.

»Der Kater hat Scheiße gebaut«, vermutete Claude, während Julien, ein wenig blass, nach seinem T-Shirt auf dem Nachttisch griff.

»Halt, mein Lieber, nicht so hastig. Dich sieht doch niemand«, hielt Claude seinen Freund auf und küsste ihn auf die nackte Schulter.

»Das ist doch nicht normal, dass morgens um sieben Uhr jemand bei dir klingelt,« gab Julien zurück. Er stand auf und wagte einen Blick auf den Platz hinunter, auf dem einige Menschen standen. Irgendetwas kam ihm seltsam vor. Er runzelte die Stirn, dann zog er das T-Shirt über. Als er den Kopf durch den Ausschnitt steckte, fiel es ihm ein:

»Du, Claude, sag mal, der Brunnen da unten …«

Doch Claude hatte sich inzwischen in seine Shorts gezwängt und die Tür geöffnet. Draußen stand die alte Madame Barjac, Bewohnerin der Erdgeschosswohnung. Virenque quetschte sich unter ihrem Kittel durch ihre Beine hindurch und flitzte in die Küche zu seinem Wassernapf.

»Bonjour, mein Junge«, grüßte Madame Barjac außer Atem und rieb sich den Handballen.

»Bonjour, Madame«, erwiderte Claude verblüfft. »Was ist passiert? Virenque wird doch nicht in ihre Blumen …«

»Aber nein. Komm, schau mal, schnell.« Madame Barjac schlurfte ungeniert in seine Wohnung, und da diese genauso geschnitten war wie ihre eigene, wusste sie, welches Fenster für ihn interessant sein würde.

»Dort unten. Hast du so etwas schon mal gesehen? Das ist ein Zeichen, ein Zeichen!«

Claude öffnete die Fensterflügel und beugte sich hinaus. Die Morgensonne war noch hinter den viergeschossigen, schmalen Häusern verborgen, doch er erkannte auch ohne sie, dass das Brunnenwasser rötlich gefärbt war; ja, mehr noch, die vier Rohre der Brunnensäule spieen blutrotes Wasser ins Becken. Passanten umstanden das Bauwerk und gaben durch Kopfschütteln ihre Verunsicherung kund. Claude zuckte zurück, ihm schauderte vor dem fast apokalyptischen Anblick. Er schaute mit weit aufgerissenen Augen in Madame Barjacs faltiges Gesicht.

»Das ist ein Zeichen, glaub mir«, wiederholte diese und faltete ihre Hände.

Claude betrachtete erneut den Brunnen und suchte nach einer Erklärung.

»Bestimmt nur Algenbefall oder Rost. Ja, Algenbefall wie an der Adria. Machen Sie sich keine Sorgen, das wird schon wieder.« Behutsam schob er seine Nachbarin vom Fenster fort, doch sie machte es ihm nicht leicht.

»Ja, aber dann müssten alle Brunnen verdorben sein. Die Fontaine du Bicentenaire auf dem Plan de Brie ist auch rot – rot wie Blut. Und die Fontaine Pradier ebenso!«

Claude stutzte ungläubig.

»Und der Pagodenbrunnen?«

Wenn der am häufigsten fotografierte Brunnen der Stadt ebenfalls rotes Wasser spie, war die Welt definitiv nicht in Ordnung.

»Der auch. Madame Labontin hat es mir gesagt, auf dem Weg zur boulangerie. Alle sprechen davon. Was soll das alles bedeuten?«

Sie zog die Strickweste, die sie über dem Kittel trug, enger um sich. Ihr ängstlicher Ausdruck rührte Claude. Er verstand, dass sich gerade die älteren Bewohner von Anduze, deren Eltern noch an den Brunnen ihr Trinkwasser geholt hatten, mehr als irritiert fühlten.

»Ach, Madame, ich weiß es nicht«, gestand er hilflos. »Ich werde mich anziehen und dann nach dem Rechten sehen. Einverstanden?«

Seine Nachbarin nickte. Ihre aufgelöste Dauerwelle wackelte auf und ab.

»Ist gut, mein Junge, dann sag mir gleich Bescheid.«

Sie atmete auf und wandte sich zum Gehen. An der Tür drehte sie sich noch einmal um und blinzelte schelmisch. »Und dein Freund muss sich nicht verstecken. Ich kann schweigen wie ein Grab, ja, wie ein Grab. Bin doch nicht von gestern.«

Mit dieser Bemerkung verließ Madame Barjac die Wohnung und stieg behäbig die Treppe hinab, während sie mit einer Hand das Geländer umklammerte. Perplex blickte Claude sich nach Julien um, konnte ihn aber weder in der Küche noch im Salon entdecken. Da öffnete er die Tür zum Bad. Julien hockte mit der gestrigen Zeitung auf dem Toilettendeckel.

»Ist sie weg?«

»Ja.«

»Ich muss jetzt los, bevor hier die Hölle los ist. Von den Tratschtanten braucht mich keine zu sehen. Schon krass, das mit dem Brunnen, oder?«

Traurig nickte Claude. Ein Kloß saß ihm im Hals. Julien würde wieder nach Nîmes zurückfahren. Seitdem seine Homosexualität in Anduze bekannt war, mied er Aufenthalte in seinem früheren Wohnort. Claude hielt Juliens Sorgen für unnötig, auch wenn er den Wunsch seines Freundes nach Diskretion verstand. Schließlich war auch er darauf bedacht, sein Liebesleben bedeckt zu halten, obwohl sein Geheimnis wohl inzwischen ein offenes war.

»Wann kommst du wieder?«, fragte er. Julien schlang seine Arme um ihn.

»Ich weiß es nicht genau. Vielleicht in zehn Tagen oder so. Der Besuch bei meinen Eltern steht an, ich kann das nicht weiter hinausschieben.«

»Schöne Grüße!«, mäkelte Claude. Sogleich brauste Julien auf und machte sich von ihm los:

»Idiot, du weißt, was los ist, wenn sie davon Wind kriegen.«

»Was denn?«, wehrte sich Claude, wenn auch mit schlechtem Gewissen. Doch es war fast peinlich, sich noch nicht geoutet zu haben. Einige schwule Bekannte mokierten sich bereits über ihn selbst, aber in Nîmes hatten sie auch gut lachen, dachte er. »Hast du Angst, deine sittenstrengen Eltern könnten dich enterben?«

Julien schob Claude aus dem Weg. »Ausgerechnet du machst mir Vorwürfe? Was ist denn mit deinem Vater? Sag es ihm doch endlich, dann kann er in Ruhe sterben.« Er verließ das Bad.

Claude durchzuckte ein seltsamer Schmerz. »Hör auf«, flüsterte er. Er setzte sich auf den Rand der Wanne und blickte Julien nach. Zugleich sah er das strenge Gesicht seines Vaters vor sich, das durch die Altersflecken und Falten nicht milder wurde. Selbst der Tropf, an dem er hing, und der Stapel Herzmedikamente schienen ihm nichts von seiner Härte zu nehmen.

»Frieden?«, fragte Julien, der sich umgedreht hatte und zu ihm zurückgekommen war, gefolgt von Virenque, der jedoch befand, dass es im Bad zu voll sei. »Es tut mir leid, das war gemein von mir.« Mit einer geschmeidigen Bewegung zog er das T-Shirt wieder aus.

»Schon gut, du hast ja recht«, murmelte Claude und starrte geistesabwesend auf die weißen Bodenfliesen. Julien drehte langsam den Hahn der Dusche auf. Claude rührte sich nicht. Julien zog ihn hoch und hob sein Kinn mit dem Finger an. Sein Kuss war zärtlich. Claude klammerte sich an ihn; seine Hände fingerten am Bund der Boxershorts, glitten an Juliens Oberschenkel hinauf und hinunter. »Es ist nur, weil … ich bin oft ziemlich einsam hier.«

»Dann komm doch mit mir. Kellnern kannst du in Nîmes auch. Wir werden dort Spaß haben«, lockte Julien und schüttelte mit dem Fuß die Shorts endgültig auf den Boden. Claude biss sich auf die Lippe. Sein Blick wanderte über glatte, nahtlos gebräunte Haut.

»Ach, nein, Julien, ich langweile mich lieber hier. Ich lass dir deinen Spaß, und du lässt mir mein Städtchen.«

»Du und dein Anduze«, gab Julien nach und schloss die Augen, denn eine Hand nahm Besitz von ihm und begann, ihn um den Verstand zu bringen. »Dann mach mir … keine Vorwürfe, … wenn ich dich … allein lassen muss«, keuchte er noch, bevor sie ins Schlafzimmer taumelten und Virenque in höchster Not ins Bad flitzte. Die Dusche lief immer noch.

Claude lag noch im Bett, als Julien eine Weile später begann, seine wenigen Habseligkeiten zu packen.

»Hast du meinen i-Pod gesehen?«, fragte er und schaute sich um. Claude reckte sich und zog das Gerät unter seinem Kopfkissen hervor.

»Hast du noch Musik gehört?«

Claude nickte. »Konnte nicht einschlafen.«

Abschiede waren ihm ein Gräuel, auch weil sie sich meist viel zu früh in seine Gedanken schlichen. Nach einer kurzen Dusche und Rasur zog er sich Hemd und Jeans an, die er aus dem penibel aufgeräumten Schrank holte. Dann gingen er und Julien durch das Zimmer, räumten hier und dort auf, streiften den anderen mit der Hand. Nach einem letzten Kuss und mit dem Gefühl von Juliens Fingern in seinen Haaren, strich Claude sorgfältig die letzten Katzenhaare von der Lederjacke, zog sie an und stieg in den unteren Hausflur hinab, wo sein Rad in einem Abstellraum wartete. Er wollte nach dem Rechten sehen, genau jetzt, um Julien nur nicht hinterhersehen zu müssen. An der Haustür schlug ihm kühle Luft entgegen. Er spürte, dass ein stiller Herbsttag vor ihm lag, ein Tag voller Sonne, fliegender Spinnweben und idealem Radfahrwetter. Behutsam trug er das Rad die drei Stufen zum Place Notre-Dame hinab, wo die Anduzer, die in der nahegelegenen Markthalle auf dem Place Couvert oder in der boucherie eingekauft hatten, diskutierten.

»Da kommt er«, tönte es aus der Menge. Die Menschen flüsterten und schauten Claude erwartungsvoll an. Das Vertrauen, das die Anduzer in den einzigen Detektiv der Stadt setzten, verärgerte ihn. Nur weil er vor einem Vierteljahr einen Mordfall gelöst hatte, brauchte man sich doch nicht gleich ein Bein ausreißen vor Begeisterung. Leider wartete Julien darauf, ungesehen das Haus verlassen zu können. Wie sollte er das anstellen? Schnell ging er noch einmal in den Abstellraum zurück und holte aus Madame Barjacs Regal ein leeres Honiggläschen und zerriss eine alte Zeitung. Wieder am Brunnen, nahm er mit bedeutsamer Miene eine Probe des roten Wassers. Er hielt das Glas gegen das Licht, roch an der Flüssigkeit. Dann holte er einen länglichen Zeitungsfetzen hervor und hielt ihn hinein. Nach drei Sekunden musterte er das feuchte Papier und ließ, wie aus Versehen, nur ein Wort fallen:

»Kolibakterien.«

Ein Raunen ging durch die Menge, und eine alte Frau schlug das Kreuzzeichen über ihre Brust, offensichtlich eine abergläubische Katholikin. Ängstlich blickten sich die Anduzer an. Zuerst langsam, dann immer schneller, setzten sich die Menschen in Bewegung, gaben vor, zum Bäcker zu gehen oder die Kinder nicht länger warten lassen zu wollen. Nach einer Minute hatte sich der Platz geleert. Julien schaute aus dem Fenster und hielt den Daumen hoch. Claude grinste und stieg umständlich auf sein Rad, denn in einer Hand hielt er noch das Glas. Als er am Laden seiner Freundin Amélie vorbeifuhr, registrierte er automatisch die Auslage im Schaufenster, darunter eine Keramikkatze und Eulen, die man ineinander stapeln konnte wie eine russische Matroschka. Amélie testete bereits gefällige Ideen für die kommende Touristensaison. Claude richtete den Blick nach vorn und riss sofort am Bremsgriff. Vor ihm tauchte die stattliche Gestalt des Leutnant Jean Bertin auf, die fast die gesamte Breite der Gasse einnahm. Der Gendarm hatte die obligatorische Sonnenbrille in seinem dichten Haar versteckt, denn es gab noch nichts, wovor sie schützen sollte. Claude fand das Tragen einer Sonnenbrille bei einem fünfundfünfzigjährigen Mann, und das zu Anfang November, reichlich affektiert.

»Bonjour, Jean«, grüßte Claude und wollte ihm das Brunnenwasser überreichen.

»Hab schon Proben genommen«, winkte Bertin ab und strich sich lieber über den dicken Schnauzbart, als den Gruß zu erwidern. Daraufhin schüttete Claude das Wasser aus und warf das Glas in einen Mülleimer.

»Dann kannst du vielleicht schon sagen, was es ist«, hoffte er.

»Warum sollte ich dir das erzählen?«, bellte Bertin und setzte seinen Weg in Richtung Pagodenbrunnen fort. Claude ließ sich nicht abschrecken und folgte ihm.

»Ich kann ja verstehen, dass du auf einem Sonntag nicht gern arbeitest. Aber sind wirklich alle Brunnen betroffen?«

Bertin nickte. »Außer denen, die auf privaten Grundstücken stehen, diese Zierbrunnen in den Gärten.«

»Woher bekommen die Anlagen ihr Wasser?«, wollte Claude wissen.

»Es kommt mit Pumpen aus dem Fluss, sonst hätten die Touristen bald nichts mehr zu fotografieren.«

»Ist die Leitung verunreinigt?«

Bertin schüttelte den Kopf. »Beim Wasserwerk konnten sie mir das nicht bestätigen. Alles sauber und in Ordnung.«

Inzwischen waren sie auf dem Place Couverte angekommen und standen beisammen, Claude ein wenig ratlos, Bertin mit einer Miene, die keine Rückschlüsse auf seine Gedanken zuließ. Doch Claude war sicher, dass Bertin seine Verwirrung nur hinter einem reglosen Bullengesicht versteckte.

»Fünf Brunnen, alle öffentlich zugänglich«, überlegte Claude und betrachtete die lackierten Ziegel des Pagodendachs, die im Licht der gestiegenen Sonne glänzten. Unter diesem Dach befand sich das runde Becken aus dem siebzehnten Jahrhundert. Was lag näher, als sich daran zu schaffen zu machen, so wie wahrscheinlich derjenige, der für diesen Blutregen verantwortlich war?

»Ich habe den Eindruck, das Wasser wird wieder klarer«, mutmaßte Bertin und beugte sich zur Brunnensäule vor. Claude hielt seinen Finger unter eines der Rohre. Das kühle Nass rann an seiner Hand hinab, müde und träge, als ob nur geringer Druck es vorwärts triebe. Er steckte den Zeigefinger in den Schnabel und ertastete das Innere der Leitung.

»Du, Jean, da ist etwas drin, was den Wasserdruck mindert. Ich komme nicht ran.« Alarmiert sah Claude sich um, und seine Hände zappelten hin und her. Er brauchte etwas zum Befühlen und Bohren. In der offenen Markthalle leuchteten Gurken, Tomaten und Kürbisse auf den Tischen, dahinter beobachteten die Verkäuferinnen, die ihrer sonntäglichen Arbeit nachgingen, die Szene. Claude stürmte auf sie zu, verscheuchte einige späte Wespen, die sich am Obst gütlich taten, und befragte die Damen ausgiebig. Schließlich fand sich ein Rosendraht, mit dem Blumensträuße zusammengebunden wurden. Claude legte den Draht zusammen und zwirbelte ihn zu einer festen Spirale, während Bertin im Wasserspeier herumfingerte und mit seinen Ellbogen die störenden Blumenranken zur Seite schob, die aus den Kästen neben der Säule herabhingen. Das Wasser war nun wieder so klar wie eh und je.

»Wie lange hat der Spuk jetzt gedauert?«, fragte Claude.

Bertin wiegte seinen Kopf und schaute auf seine Uhr. »Ich denke, eine Dreiviertelstunde.«

Claude bog einen winzigen Haken am Ende des Drahtes zurecht und fummelte eine Weile in dem Wasserrohr herum, während Bertin mit verschränkten Armen abwartete und die Gaffer mit drohenden Blicken abhielt. Claude strich am Inneren des Rohres entlang, er schabte und kratzte, und endlich spürte er einen Widerstand. Behutsam und voller Erwartung zog er an seiner improvisierten Angel und förderte einen durchsichtigen Schlauch zutage, etwa dreißig Zentimeter lang, in dessen Inneren man Reste eines roten Farbstoffs erkennen konnte.

»Voilà«, sagte Claude und wischte sich die Hände an der Hose trocken. »Da haben wir die Ursache. Ich wette, in den anderen Rohren finden wir das Gleiche.«

Gendarm Bertin biss sich auf die Lippe.

»Da wäre ich auch drauf gekommen«, murmelte er und zog ein sauberes Taschentuch hervor, um damit den Schlauch zu ergreifen.

»Fingerabdrücke? Glaubst du, da sind noch welche dran?«, zweifelte Claude.

»Was ich glaube, tut nichts zur Sache. Ich muss das prüfen, das ist immerhin Beschädigung öffentlichen Eigentums und Vandalismus.« Bertin deponierte den Schlauch auf dem Brunnenrand und nahm Claude den Haken aus der Hand, um den zweiten Auslauf zu inspizieren.

Claude stützte sich gemütlich am Mauerwerk ab und betrachtete das Corpus Delicti.

»Sieh mal, da sind Spuren von Kleber, Sekundenkleber wahrscheinlich oder Epoxyd-Kleber, den würde ich jedenfalls nehmen. In den Pfropfen an den Enden sind winzig kleine Öffnungen, wie Nadelstiche. Da hat sich jemand Gedanken gemacht und einige Energie investiert. Der hinterlässt keine Abdrücke«, war Claude überzeugt. »Und der Typ hat es darauf ankommen lassen, erwischt zu werden. Du solltest Zeugen befragen, die früh aus dem Fenster geschaut haben.« Er warf einen Blick auf die dreistöckigen, etwas heruntergekommenen Gebäude, die sich pittoresk um den Marktplatz gruppierten.

»Sag mal, hast du nicht noch was vor?«, fragte Bertin und richtete sich zu seiner kompletten Größe auf.

»Nein. Ich darf hier stehen.« Claude fand nicht, dass er störte, und er sah nicht ein, warum er das Feld räumen sollte. Dieser Fall war wundervoll rätselhaft.

»Du behinderst polizeiliche Ermittlungsarbeit.« Die Augen des Polizisten funkelten bösartig, sodass Claude, ein wenig beleidigt, nachgab und zu seinem Fahrrad zurückging. Madame Barjac wird beruhigt sein, wenn ich ihr von einem verspäteten Halloweenstreich berichte, besann er sich auf seine Mission und stieg auf, um die dreißig Meter bis zu seinem Haus zu radeln. Das Kopfsteinpflaster rüttelte seine Neugier wach und schüttelte seine Überlegungen durcheinander wie die Steine eines Kaleidoskops. Warum manipulierte jemand die Brunnen so, dass sie an einen altbiblischen Fluch erinnerten? Hatte seine Nachbarin vielleicht recht mit ihrer düsteren Vorhersage? War das rote Wasser ein Zeichen?

Montag, 5. November

In dieser Nacht warfen die Sterne ihr kaltes Licht auf den Plan de Brie. Es war Neumond. Die Zweige der Bäume umspielten die spärlichen Laternen, die den Platz umstanden. Die Säulen der protestantischen Kirche strebten in den Himmel, und das Wasserspiel der Fontaine du Bicentenaire murmelte vor sich hin. Eine Nacht wie jede andere zu dieser Jahreszeit, mit modriger Luft und vom Fluss aufsteigendem Nebel, der bald verdunstete. Von fern war der Motor eines Fahrzeugs zu hören. Es näherte sich, rollte von der Rue Saint-Jean-du-Gard auf die Straße, die gesäumt wurde von den eingerollten Markisen der Brasserien und Cafés, von denen einige den Winter über geschlossen hatten.

Ja, geschlossen, Gott sei gelobt, dachte der Fahrer und nahm den Fuß vom Gas. Der Wagen verlangsamte seine Fahrt. Keine dummen Touristen mehr, die sich in diesen verdammten Ort verirrten, sagte er sich. Die Bewohner schliefen den Schlaf des Gerechten, die Gelegenheit war günstig. Er schnaufte zufrieden, bog in die Rue de Luxembourg ein und hielt direkt neben der Gendarmerie. Beim Aussteigen bemühte er sich, die Tür nicht zuzuschlagen. Ebenso vermied er jegliches Geräusch beim Öffnen und Schließen des Kofferraums. Seine Warnung an die verbohrten Anduzer war schwer, unförmig und starr, aber das nahm er in Kauf. Der Fahrer zog an dem Tuch, in das er seine Gabe eingehüllt hatte, schleifte alles mit leisem Keuchen über die Straße, an der Gendarmerie vorbei bis zur benachbarten Kirche. Ja, diese Stelle war gut. Schließlich sollte jeder sofort die Verbindung zwischen seinen Taten erkennen. Hier die Säulenfront der Kirche, dort der Brunnen, der zum Gedenken an die Revolution errichtet worden war. Missbilligend schüttelte er den Kopf, dann entfernte er das Tuch und richtete alles so her, dass es seinen Zweck erfüllte. Schnell stieg er in seinen Wagen, ließ den Motor an und fuhr durch die Gasse davon, bis er die Hauptstraße erreicht hatte. Auf dem Plan de Brie spiegelte sich der Sternenglanz in einem toten Auge, glänzend und groß.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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