Die zehntausend Türen - Alix E. Harrow - E-Book

Die zehntausend Türen E-Book

Alix E. Harrow

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Beschreibung

In einem weitläufigen Herrenhaus voller sonderbarer Schätze ist January selbst eine Kuriosität. Als Mündel des reichen Mr. Locke fühlt sie sich kaum anders als die Artefakte, die die Hallen schmücken: sorgfältig gepflegt, weitgehend ignoriert und völlig fehl am Platz. Dann findet sie ein seltsames Buch. Ein Buch, das den Duft anderer Welten verströmt und von Geheimtüren, von Liebe, Abenteuern und Gefahr erzählt. Jedes Umblättern enthüllt weitere unglaubliche Wahrheiten. Und langsam wird January bewusst, dass sie selbst mehr und mehr mit der Geschichte verkettet wird. Tamora Pierce: »Dies ist einer der einzigartigsten Romane, die ich je gelesen habe!« Erika Swyler: »Harrow hat eine wunderschöne Welt der Magie erschaffen, die gleichzeitig vertraut und überraschend neu ist.« Booklist: »Liest sich wie ein Liebesbrief an die Kunst des Geschichtenerzählens selbst.« Amal El-Mohtar: »Eine unerträglich schöne Geschichte über das Erwachsenwerden.« LOS ANGELES TIMES BESTSELLER! Finalist des Hugo, Nebula, Locus und des World Fantasy Awards 2020.

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Seitenzahl: 619

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Aus dem Amerikanischen von Aimée de Bruyn Ouboter

Impressum

Die amerikanische Originalausgabe The Ten Thousand Doors of January

erschien 2019 im Verlag Redhook Books/Orbit.

Copyright © 2019 by Alix E. Harrow

Die Veröffentlichung dieses Werkes erfolgt mit Genehmigung des Verlages Orbit, New York.

Copyright © dieser Ausgabe 2021 by Festa Verlag, Leipzig

Lektorat: Melanie Wylutzki

Titelbild: Stefanie Stefanie Saw – www.seventhstarart.com

Alle Rechte vorbehalten

eISBN 978-3-86552-937-4

www.Festa-Verlag.de

Für Nick,

meinen Gefährten und Kompass

1

Die blaue TÜR

Als ich sieben Jahre alt war, fand ich eine Tür. Aber damit du weißt, dass ich nicht von einer ganz und gar gewöhnlichen Tür spreche – einer, die verlässlich in eine weiß geflieste Küche oder einen Schlafzimmerschrank führt –, sollte ich das Wort vermutlich lieber großschreiben.

Als ich sieben Jahre alt war, fand ich eine TÜR. Da! Siehst du, wie stolz es sich nun von allen anderen abhebt, das T die Angel, an der das ganze Wort zur Seite schwingt und uns einlässt in ein weißes Nichts? Ich stelle mir vor, dass sich bei diesem Anblick die feinen Härchen in deinem Nacken aufstellen, als hättest du etwas Vergessenes wiedererkannt. Dabei weißt du gar nichts über mich; du kannst mich nicht sehen, wie ich an diesem Gelbholzschreibtisch sitze oder wie die salzig-süße Brise durch die Seiten blättert, als suchte sie nach ihrem Lesezeichen. Du siehst nicht die Narben, die sich über meine Haut winden, sich verknoten. Nicht einmal meinen Namen kennst du (er lautet January Scaller – jetzt weißt du doch etwas über mich, und ich habe mein eigenes Argument entkräftet).

Aber was es bedeutet, wenn du das Wort TÜR vor dir siehst, das weißt du. Vielleicht hast du bereits selbst eine gesehen – verrottet und halb offen in einer alten Kirche oder frisch geölt in einer Ziegelmauer. Wenn du zu jenen verträumten Menschen gehörst, deren Füße sie wie von selbst zu ungewöhnlichen Orten tragen, bist du vielleicht sogar schon einmal durch eine hindurchgetreten und hast dich an einem wahrhaft ungewöhnlichen Ort wiedergefunden.

Oder vielleicht hast du noch nie im Leben eine TÜR auch nur aus dem Augenwinkel gesehen. Es gibt nicht mehr so viele davon.

Und trotzdem weißt du über TÜREN Bescheid, habe ich recht? Denn es gibt zehntausend Geschichten über zehntausend TÜREN, und sie sind uns so vertraut wie unsere eigenen Namen. Diese TÜREN führen in die Anderswelt, nach Walhalla, Atlantis und Lemuria, in den Himmel und die Hölle, in all jene Richtungen, in die du nicht mithilfe eines Kompasses finden kannst, ins Anderswo. Viel besser drückt es mein Vater aus, der ein wahrer Gelehrter ist, nicht nur eine junge Dame mit einem Füllfederhalter und ein paar Dingen, die sie sagen muss: »Wenn wir Geschichten wie archäologische Ausgrabungsstätten betrachten und mit dem Pinsel und akribischer Sorgfalt Lage um Lage freilegen, entdecken wir irgendwo immer einen Durchgang. Eine Trennlinie zwischen dem Hier und dem Dort, uns und ihnen, dem Weltlichen und dem Magischen. Wenn sich die Tür öffnet und etwas zwischen den Welten hin- und herfließt, dann entstehen Geschichten.«

Er hat das Wort TÜR nie in Großbuchstaben gesetzt. Aber vielleicht schreiben Gelehrte Wörter nicht groß, bloß weil sie ihnen dann besser gefallen.

Es war der Sommer des Jahres 1901, wenngleich mir die Aneinanderreihung von vier Ziffern auf einer Seite damals noch nicht viel bedeutete. Heute denke ich, dass es ein prahlerisches, von sich selbst eingenommenes Jahr war, ganz in die schimmernden vergoldeten Versprechen eines neuen Jahrhunderts gehüllt. Es hatte das Chaos und Gelärme des neunzehnten Jahrhunderts abgeworfen wie eine alte Haut – die vielen Kriege, die Revolutionen und die Ungewissheit, all jene imperialen Wachstumsschmerzen –, und nun herrschten einzig Frieden und Wohlstand, wohin man auch blickte. Mr. J. P. Morgan war kürzlich zum reichsten Mann in der gesamten Weltgeschichte geworden; Königin Victoria war endlich gestorben und hatte ihr ausgedehntes Reich ihrem Sohn vererbt, der durch und durch wie ein König aussah; diese widerspenstigen Boxer in China waren zur Räson gebracht worden; und Kuba war unter die Fittiche des zivilisierten Amerika genommen worden. Vernunft und Verstand regierten unangefochten, und Zauberei oder das Geheimnisvolle hatte keinen Platz mehr auf der Welt.

Wie sich herausstellen sollte, galt dasselbe für kleine Mädchen, die von der Landkarte hinunterwanderten und dann die Wahrheit über ihre verrückten, unmöglichen Entdeckungen sagten.

Ich fand die TÜR am ausgefransten westlichen Rand Kentuckys, ebendort, wo der Bundesstaat seine große Zehe in den Mississippi taucht. Man erwartet nicht, ausgerechnet dort über etwas Geheimnisvolles oder auch nur mäßig Interessantes zu stolpern: Es ist eine eintönige, ärmlich wirkende Gegend, bewohnt von ebensolchen Menschen. Die Sonne hängt noch Ende August doppelt so heiß und dreimal so hell am Himmel wie überall sonst im Land, und alles fasst sich feucht und klebrig an, wie der Seifenschaum, der auf deiner Haut zurückbleibt, wenn du zuletzt in die Badewanne durftest.

Aber TÜREN – wie Verdächtige in billigen Kriminalromanen – sind oft da, wo man sie am wenigsten erwartet.

Ich war nur deshalb in Kentucky, weil Mr. Locke mich auf eine seiner Geschäftsreisen mitgenommen hatte. Er sagte, das sei »etwas ganz Besonderes« und für mich »eine wunderbare Gelegenheit zu sehen, wie man die Dinge anpackt«. In Wirklichkeit ging es jedoch darum, dass meine Kinderfrau zu hysterischen Anfällen neigte und im vergangenen Monat nicht weniger als viermal mit Kündigung gedroht hatte. Damals war ich ein schwieriges Kind.

Oder vielleicht wollte Mr. Locke mich auch aufheitern. Gerade hatte ich nämlich eine Postkarte von meinem Vater bekommen. Darauf war ein Mädchen mit brauner Haut zu sehen, das einen spitzen goldenen Hut trug und ein mürrisches Gesicht machte. TRADITIONELLE BURMESISCHE TRACHT war neben ihr eingeprägt. Auf der Rückseite standen drei säuberliche Zeilen in brauner Tinte: Ich verlängere meinen Aufenthalt, komme erst im Oktober zurück. Denke an dich. JS. Mr. Locke hatte über meine Schulter mitgelesen und ungeschickt meinen Arm getätschelt, was wohl Kopf hoch heißen sollte.

Eine Woche später wurde ich in das Abteil eines mit Samt und Holz ausgekleideten Pullman-Schlafwagens verladen, der stark an einen Sarg erinnerte. Ich las Die Rover-Jungs im Dschungel, Mr. Locke den Wirtschaftsteil der Times und Mr. Stirling starrte mit der professionellen Ausdruckslosigkeit eines Hausdieners ins Nichts.

Aber ich sollte Mr. Locke ordentlich vorstellen; er wäre empört, so zwanglos und nebenbei in die Geschichte eingeführt zu werden. Gestatten? Mr. William Cornelius Locke, Beinahemilliardär und Geschäftsführer von W. C. Locke & Co, Eigentümer von nicht weniger als drei herrschaftlichen Häusern an der Ostküste, Verfechter der Tugenden ORDNUNG und ANSTAND (Wörter, die er zweifelsohne gern hervorgehoben sähe – siehst du das A, das wie eine Frau mit vor der Brust verschränkten Armen dasteht?) und Vorsitzender der Archäologischen Gesellschaft von Neuengland: Das war schon in meiner Kindheit eine Art Club für reiche, mächtige Männer, die außerdem Amateursammler waren.

Ich nenne sie nur deshalb »Amateure«, weil es in Mode war, dass reiche Männer abschätzig von ihren Liebhabereien sprachen. Dabei deuteten sie eine wegwerfende Handbewegung an, als könnte es ihrem guten Ruf abträglich sein, wenn sie zugaben, sich ernsthaft etwas anderem als dem Geldverdienen zu widmen.

Manchmal kam es mir so vor, als wäre Mr. Lockes ganzes Geschäftsleben eigens darauf ausgelegt, seine Sammelleidenschaft zu finanzieren. Sein Heim in Vermont (in dem wir tatsächlich auch lebten, im Gegensatz zu den beiden ungenutzten Herrensitzen, die vor allem einem Zweck dienten: aller Welt einzuschärfen, wie bedeutsam er war) war ein riesiges privates Smithsonian, so vollgestopft, dass es nicht aus Steinen und Mörtel, sondern aus Artefakten zu bestehen schien. An Organisation mangelte es etwas: Breithüftige Frauenfiguren aus Kalkstein standen neben indonesischen Paravents, die mit so aufwendigen Schnitzereien bedeckt waren, dass sie wie feine Spitze aussahen; Pfeilspitzen aus vulkanischem Glas teilten sich einen Schaukasten mit dem taxidermisch präparierten Arm eines Edo-zeitlichen Kriegers. (Ich verabscheute den Arm, musste ihn mir aber immer wieder anschauen; dabei fragte ich mich, wie er ausgesehen haben mochte, als er noch mit einem lebendigen Mann verbunden gewesen war und richtige Muskeln gehabt hatte, und was sein Besitzer wohl davon gehalten hätte, dass ein kleines Mädchen in Amerika seine papiertrockene Haut anstarrte und nicht einmal seinen Namen kannte.)

Mein Vater arbeitete für Mr. Locke. Ich war bloß ein auberginengroßes Bündel in einem alten Reisemantel gewesen, als Mr. Locke ihn angeheuert hatte. »Deine Mutter war gerade erst gestorben, musst du wissen, sehr tragische Geschichte«, pflegte Mr. Locke für mich zu rezitieren, »und dein Vater – ein Bursche wie eine Vogelscheuche, mit dieser merkwürdigen Hautfarbe, der noch dazu, gnade ihm Gott, die Arme hoch und runter tätowiert hatte – irrte mit einem Säugling mitten im Nirgendwo herum. Da habe ich mir gesagt: Cornelius, das ist ein Mann, der dringend ein bisschen Mitgefühl braucht!«

Noch vor Anbruch der Abenddämmerung hatte Vater in Lohn und Brot gestanden. Jetzt bereiste er die Welt, sammelte Gegenstände »von einzigartigem Wert« und schickte sie Mr. Locke, damit der sie in gläserne Schaukästen mit Messingschildern legen und mich anschreien konnte, wenn ich sie anfasste oder die aztekischen Münzen stahl, um damit Szenen aus Die Schatzinsel nachzuspielen. Und ich blieb in meinem kleinen grauen Zimmer auf Haus Locke und schikanierte die Kinderfrauen, die mich bändigen sollten, und wartete darauf, dass Vater heimkam.

Als ich sieben Jahre alt war, verbrachte ich deutlich mehr Zeit mit Mr. Locke als mit meinem leiblichen Vater, und ich liebte ihn, wie man jemanden nur lieben kann, der sich in einem dreiteiligen Anzug am wohlsten fühlt.

Wie üblich hatte uns Mr. Locke in der besten Unterkunft weit und breit eingemietet. In Kentucky war das ein weitläufiges Hotel aus Kiefernholz am Ufer des Mississippi: Es war eindeutig von jemandem erbaut worden, dem ein Grandhotel vorgeschwebt, der in seinem Leben aber noch nie eins gesehen hatte. Die Tapete war bunt gestreift wie Bonbonpapier, und elektrische Kronleuchter hingen von den Decken, aber von den Bodendielen stieg ein saurer Fischgeruch auf.

Mr. Locke segelte am Hoteldirektor vorbei, wedelte dabei mit der Hand, als wollte er eine Fliege verscheuchen – »Behalten Sie das Mädchen im Auge, guter Mann« –, und entschwand in die Lobby. Mr. Stirling folgte ihm auf dem Fuß wie ein Hund in Menschengestalt. Locke begrüßte einen Mann mit einer Fliege, der auf einem der geblümten Sofas saß. »Governor Dockery, hocherfreut! Ich habe Ihr letztes Schreiben mit allergrößtem Interesse gelesen, das versichere ich Ihnen … Und wie kommen Sie mit Ihrer Schädelsammlung voran?«

Aha. Deshalb waren wir also hergekommen: Mr. Locke war mit einem Kumpel aus der Archäologischen Gesellschaft verabredet; sie würden den Abend damit verbringen, gemeinsam zu trinken, Zigarren zu rauchen und zu prahlen. Jedes Jahr im Sommer fand auf Haus Locke ein elegantes Fest für die Mitglieder der Gesellschaft und ihre Frauen statt, gefolgt von einer formellen Versammlung, an der nur Mitglieder teilnehmen und auf der weder mein Vater noch ich uns sehen lassen durften. Ein paar Enthusiasten konnten es jedoch nicht abwarten und trafen einander, sooft sie nur konnten.

Der Direktor lächelte mich an, wie kinderlose Erwachsene es häufig taten: gezwungen, als würde er gleich in Panik geraten.

Ich lächelte zurück und zeigte dabei alle meine Zähne. »Ich gehe ein bisschen raus«, erklärte ich voller Zuversicht.

Er lächelte noch angestrengter und blinzelte dabei unsicher. Die Leute sind meinetwegen immer verwirrt. Das liegt daran, dass meine Haut kupferrot ist, als wäre ich von oben bis unten mit Zedernholzstaub bedeckt, ich aber helle, runde Augen habe. Dazu die teuren Kleider … War ich nun ein verwöhntes Schoßhündchen oder ein Dienstmädchen? Sollte der arme Direktor mir Tee servieren? Mich zu den Küchenhilfen stecken? Mr. Locke sagte immer, dass ich »so eine Art Zwischenwesen« sei.

Ich stieß eine Blumenvase um, flüsterte ein unehrliches »O weh« und schlich mich davon, während der Direktor fluchte und mit seinem Jackett an der Wasserlache herumtupfte. Ich sah zu, dass ich vor die Tür kam. (Fällt dir auf, wie beiläufig sich das Wort in die gewöhnlichste Geschichte hineinstiehlt? Manchmal glaube ich, dass sich in den Winkeln jedes einzelnen Satzes Türen verbergen – ihre Knäufe sind Punkte, ihre Angeln Verben.)

Die Straßen waren nicht viel mehr als von der Sonne ausgeblichene Bänder, die sich immer wieder kreuzten und schließlich vom schlammigen Flussufer abgeschnitten wurden, aber die Bürger des kleinen Ortes Ninley in Kentucky schienen dennoch entschlossen, sie entlangzuflanieren, als handelte es sich um die ordentlich gepflasterten Straßen einer richtigen Stadt. Sie starrten mich an und tuschelten.

Ein Hafenarbeiter schubste einen anderen an und zeigte mit dem Finger auf mich. »Willst du wetten, dass die Kleine eine Chickasaw ist?«

Sein Kumpel schüttelte den Kopf, griff auf seine beeindruckenden persönlichen Erfahrungen mit Indianermädchen zurück und sagte: »Könnte sein, dass sie von den Westindischen Inseln kommt. Oder sie ist ein Halbblut.«

Ich blieb nicht stehen. Die Leute redeten immer so, wenn sie mich zum ersten Mal sahen, steckten mich in diese oder jene Schublade, aber Mr. Locke hatte mir versichert, dass sie alle gleichermaßen falschlagen. Er nannte mich »ein vollkommen einzigartiges Exemplar«. Als ich ihn einmal gefragt hatte, ob ich farbig war – eins der Dienstmädchen hatte so etwas gesagt –, hatte er geschnaubt. »Merkwürdig gefärbt vielleicht, aber wohl kaum farbig.«

Zwar wusste ich nicht recht, woran man farbige Leute überhaupt erkannte – aber so, wie er das Wort aussprach, war ich erleichtert, dass es auf mich nicht zutraf.

Wenn ich mit meinem Vater zusammen unterwegs war, fanden die Spekulationen über unsere Herkunft gar kein Ende. Seine Haut ist dunkler als meine – ein schimmerndes Schwarzrot –, und seine Augen sind so schwarz, dass sogar das Weiße darin mit Braun durchsetzt ist. Wenn du dir dazu noch die Tätowierungen vorstellst – Tintenspiralen, die sich von seinen Handgelenken aus in die Höhe winden –, einen abgetragenen Anzug, eine Brille und einen verwirrenden Akzent … Tja. Die Leute gafften.

Trotzdem hätte ich viel dafür gegeben, ihn bei mir zu haben.

Ich war so konzentriert darauf, den Blicken auszuweichen und nicht in eins dieser weißen Gesichter zu schauen, dass ich gegen jemanden stieß. »Oh, entschuldigen Sie, Ma’am, ich …«

Eine alte Frau, vornübergebeugt und faltig wie eine bleiche Walnuss, blickte tadelnd auf mich herab. Es war ein geübter, großmütterlicher Blick, wie gemacht für Kinder, die herumrannten, nicht aufpassten und gegen sie liefen.

»Es tut mir leid«, sagte ich noch einmal.

Sie antwortete nicht, aber ihre Augen veränderten sich, als klaffte darin ein Abgrund auf. Ihr Mund öffnete sich, und ihre verschleierten Augen wurden riesig. »Wer … Wer zum Teufel bist du?«, zischte sie.

Ich nehme an, die meisten Leute mögen keine Zwischenwesen.

Natürlich hätte ich zurück in das Hotel mit dem Fischgeruch huschen und mich im Schutz von Mr. Lockes Geld verstecken können, wo mir die verdammten Einwohner Ninleys nichts anhaben konnten – so hätte es sich gehört. Aber ich benahm mich, wie Mr. Locke oft beklagte, manchmal recht unschicklich, unbesonnen und obstinat (ein Wort, von dem ich annahm, dass es nichts Schmeichelhaftes bedeutete, da es sich in schlechter Gesellschaft herumtrieb).

Und so rannte ich davon.

Ich rannte, bis meine spindeldürren Beine heftig zitterten und meine Brust sich wie ein Blasebalg hob und senkte und dabei gegen die feinen Nähte meines Kleides stieß. Ich rannte, bis die unbefestigte Straße bloß noch ein gewundener Pfad war und Blauregen und Geißblatt die Gebäude in meinem Rücken verschluckt hatten. Ich rannte und versuchte, weder daran zu denken, wie die alte Frau mich angesehen hatte, noch mich zu fragen, wie viel Ärger ich bekommen würde, weil ich mich davongeschlichen hatte.

Erst als ich merkte, dass ich nicht mehr über ausgedörrte Erde, sondern über umgeknicktes Gras lief, wurde ich langsamer. Ich fand mich auf einem einsamen, überwucherten Feld wieder, über dem sich der Himmel aufspannte, so blau wie die Kacheln, die mein Vater aus Persien mitgebracht hatte. Es war ein majestätisches Blau, das die ganze Welt zu verschlingen schien und in das man hineinfallen konnte. Hohe rostrote Gräser wiegten sich unter diesem Himmel, und ein paar vereinzelte Zedern reckten sich ihm entgegen.

Ich weiß nicht, ob es der starke Duft trockenen Zedernholzes in der Sonne oder das wogende Gras war, das mit dem Himmel zu einer orange und blau gestreiften Tigerin verschmolz, aber irgendetwas an dieser Landschaft weckte in mir das Bedürfnis, mich zwischen die trockenen Halme zu kauern wie ein Rehkitz, das auf seine Mutter wartet. Stattdessen stakte ich tiefer in das Feld hinein und strich mit den Handflächen über die gekräuselten Ähren wilden Getreides.

Beinahe hätte ich die TÜR gar nicht gesehen. Das haben alle TÜREN gemeinsam: Sie stehen unauffällig im Halbschatten, bis jemand sie auf genau die richtige Weise anschaut.

Der alte Holzrahmen stand schief wie das erste Element eines Kartenhauses. Nägel und Angeln hatten sich im Lauf der Zeit aufgelöst und Rostflecken auf dem Holz hinterlassen. Von der Tür selbst waren nur ein paar unerschrockene Bretter übrig geblieben, an denen noch ein wenig abblätternde Farbe haftete: Sie war so königsblau wie der Himmel.

Damals wusste ich noch nichts über TÜREN – selbst wenn du mir eine dreibändige Sammlung mit Augenzeugenberichten und Anmerkungen zu dem Thema überreicht hättest, hätte ich dir nicht geglaubt. Aber als ich jene heruntergekommene blaue TÜR einsam in dem Feld stehen sah, wollte ich, dass sie anderswohin führte. Fort aus Ninley in Kentucky, an einen fremden, unerforschten Ort, so riesig, dass ich ihn endlos durchwandern konnte.

Ich legte die Handfläche gegen die abblätternde blaue Farbe. Die TÜR ächzte in den Angeln, genau wie es die Türen der Geisterhäuser in meinen Heftromanen und Abenteuergeschichten immer taten. Mein Herz pochte in meiner Brust, und meine naive Kleinmädchenseele hielt den Atem an und wartete darauf, dass etwas Märchenhaftes passieren würde.

Natürlich war gar nichts auf der anderen Seite der TÜR, nur die Kobalt- und Zimttöne meiner eigenen Welt, der Himmel und das Feld. Und – Gott weiß, warum – der Anblick brach mir das Herz. Ich setzte mich in meinem hübschen blauen Leinenkleid auf den Boden und weinte. Was hatte ich erwartet? Einen jener magischen Durchgänge, über die Kinder in meinen Büchern immerzu stolperten?

Wäre Samuel da gewesen, hätten wir wenigstens so tun können, als ob. Samuel Zappia war mein einziger Freund, der nicht aus einem Buch stammte: ein dunkeläugiger Junge mit einer ausgeprägten Schwäche für Schundhefte und dem abwesenden Blick eines Seefahrers, der zum Horizont schaut. Zweimal die Woche kam er in einem roten Pferdewagen, auf dessen Seite in verschnörkelter goldener Schrift FAMILIE ZAPPIAS LEBENSMITTELLADEN stand, nach Haus Locke, und normalerweise steckte er mir die neueste Ausgabe des Argosy oder des Halfpenny Marvel zu, während er Mehl und Zwiebeln ablud. An den Wochenenden schlich er sich aus dem Laden seiner Familie, um mit mir am Seeufer zu spielen: Dann erschufen wir raffinierte Fantasiewelten, in denen es vor Geistern und Drachen nur so wimmelte. Sognatore, nannte seine Mutter ihn. Samuel sagte, das sei Italienisch für »Nichtsnutziger Junge, der seiner Mutter ganz furchtbaren Kummer bereitet, weil er immer bloß träumt«.

Aber Samuel war an jenem Tag auf dem Feld nicht bei mir. Deshalb zog ich mein kleines Tagebuch aus der Tasche und schrieb eine Geschichte.

Als ich sieben Jahre alt war, war das Tagebuch mein wertvollster Besitz – wenn es auch fragwürdig sein mochte, ob ich die rechtmäßige Besitzerin war. Ich hatte es weder gekauft noch geschenkt bekommen, ich hatte es gefunden. Kurz vor meinem siebten Geburtstag hatte ich im Pharaonenzimmer gespielt: Ich hatte alle Urnen auf- und wieder zugemacht und sämtlichen Schmuck angelegt. Dabei hatte ich auch eine schöne blaue Schatztruhe geöffnet (Truhe mit gewölbtem Deckel, verziert mit Elfenbein, Ebenholz und blauem Steingut, ägyptisch; ursprünglich Teil eines identischen Paars). Und auf dem Grund der Truhe hatte dieses Tagebuch gelegen: Leder in der Farbe gebräunter Butter, cremeweiße Baumwollseiten, so rein und einladend wie frisch gefallener Schnee.

Ich dachte, dass Mr. Locke es in die Truhe gelegt haben könnte, damit ich es fand – ein heimliches Geschenk, das er mir nicht persönlich überreichen musste –, deshalb nahm ich es ohne zu zögern an mich. Ich schrieb hinein, wenn ich mich einsam oder verloren fühlte, wenn mein Vater fort und Mr. Locke beschäftigt war, wenn meine Kinderfrau sich schrecklich aufgeführt hatte.

Ich schrieb recht häufig hinein.

Meistens Geschichten: Sie ähnelten denen, die ich in Samuels Ausgaben des Argosy las und die von mutigen blonden Jungen mit Namen wie Jack, Dick oder Buddy handelten. Ich investierte viel Zeit in Überschriften, die einem das Blut in den Adern gefrieren ließen (»Das Geheimnis des Knochenschlüssels«, »Die Gesellschaft des goldenen Dolches«, »Das fliegende Waisenmädchen«), und gar keine in die Handlung. Doch als ich in dem einsamen Feld neben der TÜR saß, die nirgendwohin führte, da wollte ich eine andere Geschichte schreiben. Eine wahre Geschichte, in die ich hineinkriechen konnte, wenn ich nur fest genug an sie glaubte.

Es war einmal ein mutiges und opstinates (Rechtschr.?) Mädchen, das fand eineTÜR. DieTÜRwar magisch, deshalb wird sie in großen Buchstaben geschrieben. Das Mädchen öffnete dieTÜR.

Und eine einzige Sekunde lang – ein seltsam ausgedehnter Moment, der erst endete, als ich den Punkt malte – glaubte ich es. Nicht so, wie Kinder sich einreden, dass es den Weihnachtsmann oder Feen gibt, sondern mit derselben felsenfesten Überzeugung, mit der man an die Schwerkraft oder an den Regen glaubt.

Irgendetwas bewegte sich. Ich weiß, das ist eine beschissene Beschreibung (verzeih mir meine undamenhafte Ausdrucksweise), aber ich habe keine Ahnung, wie ich es anders in Worte fassen könnte. Es war wie ein Erdbeben, das keinen einzigen Grashalm zum Zittern brachte, wie eine Sonnenfinsternis ohne Schatten – eine gewaltige, aber unsichtbare Veränderung in der Welt. Eine unerwartete Brise zupfte an den Seiten meines Tagebuchs. Sie roch nach Salz, nach warmem Gestein und einem Dutzend fremder Düfte, die in einem verwilderten Feld am Ufer des Mississippi nichts zu suchen hatten.

Ich steckte mein Tagebuch wieder in meine Rocktasche und stand auf. Vor Erschöpfung zitterten meine Beine wie junge Birken im Wind, aber ich kümmerte mich nicht darum. Die TÜR schien in einer leisen, klappernden Sprache zu murmeln, die aus Holzfäule und abblätternder Farbe bestand. Wieder streckte ich eine Hand aus, zögerte, und dann …

Dann öffnete ich die TÜR und trat hindurch.

Ein hallendes Nirgendwo empfing mich, drückte gegen meine Trommelfelle, als wäre ich zum Grund eines tiefen Sees hinabgetaucht. Meine tastende Hand verschwand im Nichts; mein Stiefel schwang in einem nicht enden wollenden Bogen voran.

Heute nenne ich dieses Nirgendwo, den Ort-zwischen-den-Orten, »Schwelle« (SCHWELLE, besser gesagt; die Linie des S ist der gewundene Pfad durch die Leere). SCHWELLEN sind gefährlich, weil sie weder im Hier noch im Dort existieren, und wenn du über eine hinweggehst, ist das so, als tätest du einen Schritt über den Rand eines Abgrunds hinweg – in dem naiven Glauben, dir würden schon Flügel wachsen. Du darfst nicht zögern oder zweifeln. Du darfst das Dazwischen nicht fürchten.

Mein Fuß kam auf der anderen Seite der TÜR auf dem Boden auf. Der Geruch nach Zedernholz und Sonnenlicht wurde durch einen Kupfergeschmack in meinem Mund verdrängt. Ich öffnete die Augen.

Es war eine Welt aus Salzwasser und Felsen. Ich stand auf einer hohen Klippe, umgeben von einem endlosen silbernen Meer. Tief unter mir lag, eingefasst von der geschwungenen Küstenlinie der Insel, wie ein Kiesel in einer hohlen Hand, eine Stadt.

Zumindest glaubte ich, dass es eine Stadt war. Die üblichen Erkennungsmerkmale fehlten: Weder quietschten Straßenbahnen hindurch noch sah ich eine Dunstglocke aus Ruß und Rauch darüber hängen. Stattdessen bildeten weiß gekalkte Steingebäude kunstvolle Spiralen. Überall standen Fenster offen, die wie winzige schwarze Augen aussahen. Ein paar Türme überragten die anderen Häuser, und die Masten kleiner Schiffe zogen sich an der Küste entlang wie ein Wäldchen.

Ich hatte wieder angefangen zu weinen, ohne jedes Theater. Ich weinte, als gäbe es etwas, das ich dringend haben wollte, aber nicht bekommen konnte. Wie mein Vater manchmal weinte, wenn er dachte, dass er allein war.

»January! January!«

Mein Name klang, als würde ihn in weiter Ferne ein billiges Grammofon abspielen, aber ich erkannte Mr. Lockes Stimme, die durch die Türöffnung zu mir herüberhallte. Ich wusste nicht, wie er mich gefunden hatte, wohl aber, dass ich Ärger zu erwarten hatte.

Ich kann dir gar nicht sagen, wie wenig ich zurückgehen wollte. Wie das Meer roch – wie ein Versprechen! – und wie die gewundenen Straßen aussahen – wie eine geheimnisvolle Schrift! Hätte nicht Mr. Locke mich gerufen – der Mann, der mich mit auf Reisen nahm und mir hübsche Leinenkleider kaufte; der Mann, der meinen Arm tätschelte, wenn mein Vater mich enttäuschte; und kleine Tagebücher versteckte, damit ich sie fand –, wäre ich vielleicht geblieben.

So aber drehte ich mich zu der TÜR um. Von dieser Seite betrachtet sah sie anders aus: Ein verfallener Bogen aus verwittertem Basalt erhob sich vor mir, in dem nicht einmal ein paar zusammengenagelte Bretter lehnten, die als Tür hätten dienen können. Stattdessen flatterte ein grauer Vorhang in der Öffnung. Ich zog ihn beiseite.

Ehe ich jedoch durch den Basaltbogen treten konnte, sah ich vor meinen Stiefelspitzen etwas glitzern: Eine silberne Münze lag halb vergraben in der Erde, geprägt mit Worten einer fremden Sprache und dem Profil einer gekrönten Frau. Die Münze fühlte sich warm in meiner Hand an. Ich ließ sie in die Tasche gleiten.

Dieses Mal glitt das Dazwischen über mich hinweg wie der Schatten eines Vogelflügels. Der trockene Geruch nach sonnenbeschienenem Gras stieg mir wieder in die Nase.

»Janua… Oh, da bist du ja!« Mr. Locke war in Hemdsärmeln und Weste. Er schnaufte ein bisschen, und die Enden seines Schnauzbarts waren gesträubt wie der Schwanz einer beleidigten Katze. »Wo warst du denn? Ich hab mich heiser geschrien … Ganz zu schweigen davon, dass ich mein Treffen mit Alexander unterbrechen musste! – Was ist das?« Er starrte die blau gefleckte TÜR an. Sein Gesicht wurde schlaff.

»Gar nichts, Sir.«

Sein Blick, scharf wie Eis, löste sich von der TÜR und richtete sich auf mich. »January. Sag mir, was du getrieben hast.«

Ich hätte lügen sollen. Das hätte mir so viel Kummer erspart. Aber es ist so: Wenn Mr. Locke einen mit seinen mondblassen Augen auf eine bestimmte Weise anschaut, macht man eigentlich immer das, was er von einem will. Vermutlich ist W. C. Locke & Co. deshalb so erfolgreich.

Ich schluckte. »Ich … Ich hab gespielt und bin durch die Tür da gegangen, sehen Sie? Sie führt woandershin. Zu einer weißen Stadt am Meer.« Wäre ich älter gewesen, hätte ich vielleicht gesagt: Ich konnte Salz riechen, Alter und Abenteuer. Es war der Geruch einer anderen Welt, und ich will sofort dorthin zurückgehen und über die fremden Straßen laufen! Stattdessen fügte ich wortgewandt hinzu: »Es war schön da.«

»Sag mir die Wahrheit!« Seine Augen drückten mich ganz klein zusammen.

»Das tue ich! Ich schwöre!«

Er wandte den Blick nicht gleich von mir ab. Ich sah, wie sich die Muskeln in seinem Unterkiefer anspannten und lockerten.

»Und wo ist diese Tür hergekommen? Hast du … Hast du sie gebaut? Aus dem Schutt da?« Er zeigte mit dem Finger auf den überwucherten Berg verrotteten Holzes hinter der TÜR, die verstreuten Knochen eines Hauses.

»Nein, Sir. Ich habe sie bloß gefunden. Und eine Geschichte über sie geschrieben.«

»Eine Geschichte?« Ihm war nicht nur anzusehen, dass ihn jede unerwartete Wendung unseres Gespräches mehr ins Schwimmen brachte, sondern auch, wie sehr ihm das missfiel; worum es auch ging, Mr. Locke hatte die Zügel gern fest in der Hand.

Ich kramte in meiner Tasche nach meinem kleinen Tagebuch und drückte es ihm in die Hand. »Hier, sehen Sie? Ich hab mir eine Geschichte ausgedacht, und dann war die Tür … Also irgendwie war sie dann offen. Das ist die Wahrheit, wirklich, ich schwöre es Ihnen.«

Sein Blick huschte viel häufiger über die Seite, als eine Geschichte es rechtfertigte, die nur aus drei Sätzen bestand. Dann holte er einen Zigarrenstummel aus seiner Westentasche hervor, riss ein Streichholz an und paffte, bis das Ende der Zigarre glühte wie das feurige orangerote Auge eines Drachen.

Er seufzte, als müsste er seinen Investoren schlechte Nachrichten überbringen, und klappte mein Tagebuch zu. »Was für ein Unsinn, January. Wie oft habe ich nun schon versucht, dir die Fantasterei auszutreiben?«

Er strich mit dem Daumen über den Einband meines Tagebuches, dann warf er es beinahe bedauernd auf den Holzhaufen hinter sich.

»Nein! Sie können doch nicht …«

»Es tut mir aufrichtig leid, January.« Er streckte die Hand nach mir aus, als wollte er nach mir greifen, brachte die Bewegung aber nicht zu Ende. »Ich tue lediglich, was getan werden muss, um deinetwillen. Ich erwarte dich zum Abendessen.«

Ich wollte mich wehren. Wollte mit ihm streiten, mein Tagebuch aus dem Dreck fischen – aber ich konnte es nicht.

Stattdessen rannte ich davon. Zurück über das Feld, über die gewundenen unbefestigten Straßen, hinein in die sauer riechende Lobby des Hotels.

Und so kommt es, dass meine Geschichte mit einem mageren Mädchen beginnt, das innerhalb weniger Stunden gleich zweimal wegläuft. Kein besonders heldenhafter erster Auftritt, nicht wahr? Aber manchmal – wenn man ein Zwischenwesen ohne Familie und Geld ist und nichts weiter besitzt als die eigenen zwei Beine und eine silberne Münze – bleibt einem nicht viel anderes übrig.

Und wäre ich kein Mädchen gewesen, das zum Ausreißen neigte, hätte ich die blaue TÜR nicht gefunden. Und dann hätte ich nicht viel zu erzählen.

Aus Furcht vor Gott und Mr. Locke verhielt ich mich nicht nur an diesem Abend, sondern auch noch am nächsten Tag ungewöhnlich ruhig. Mr. Stirling und der nervöse Hoteldirektor behielten mich im Auge. Der Direktor behandelte mich wie ein wertvolles, aber gefährliches Zootier. Eine Weile unterhielt ich mich damit, auf den Tasten des Flügels herumzuhämmern und ihn dabei zu beobachten, wie er immer wieder zusammenfuhr, aber schließlich brachte er mich in mein Zimmer und schlug vor, ich solle zu Bett gehen.

Die Sonne war noch nicht ganz untergegangen, da kletterte ich bereits aus dem niedrigen Fenster und schlich mich davon. Die Straße war mit Schatten übersät wie mit flachen schwarzen Wasserlachen, und als ich die Wiese erreichte, schimmerten die ersten Sterne durch den Rauch- und Tabakschleier über Ninley. Ich stolperte durch das hohe Gras und spähte in der Dunkelheit nach der Kartenhaussilhouette.

Aber die blaue Tür war nicht da.

Stattdessen fand ich einen ungleichmäßigen schwarzen Kreis im Gras. Von meiner TÜR war nichts geblieben als ein Haufen Asche und ein paar Brocken Holzkohle. Mein kleines Tagebuch lag zwischen den Kohlen, von der Hitze gewellt und rußgeschwärzt. Ich ließ es dort zurück.

Als ich in das eingesunkene, nicht besonders luxuriöse Luxushotel getaumelt kam, war der Himmel darüber schwarz wie Teer, und meine Kniestrümpfe hatten Flecken. Mr. Locke saß in eine ölige blaue Rauchwolke gehüllt in der Lobby, seine Wirtschaftsbücher und Papiere vor sich ausgebreitet. Sein Lieblingsbecher aus Jade war mit einem Abendscotch gefüllt.

»Und wo kommst du so spät noch her? Bist du noch einmal durch diese Tür spaziert und auf dem Mars herausgekommen? Oder vielleicht auf dem Mond?« Aber sein Ton war sanft. Die Sache ist die: Mr. Locke war wirklich gut zu mir. Auch in den schlimmsten Augenblicken noch.

»Nein«, räumte ich ein. »Aber wissen Sie was? Ich wette, es gibt noch viel mehr TÜREN. Ich wette, ich könnte sie finden und Geschichten über sie schreiben … Und dann würden sie alle aufgehen! Es ist mir egal, ob Sie mir glauben.«

Ich hätte meinen dummen Mund halten sollen. Ich hätte den Kopf schütteln, mich mit einem angedeuteten Schluchzen in der Stimme entschuldigen und mich dann in meinem Bett verkriechen sollen. Die Erinnerung an die blaue TÜR hätte wie ein geheimer Talisman sein können, den man in der Rocktasche verborgen bei sich trägt. Aber ich war sieben, ich war störrisch und ich wusste noch nicht, was wahre Geschichten einen kosten können.

»Ach, tatsächlich?«, sagte Mr. Locke nur, und ich marschierte in mein Zimmer, überzeugt davon, dass ich einer härteren Strafe entgangen war.

Erst als wir eine Woche später zurück nach Vermont kamen, begriff ich, wie gründlich ich mich getäuscht hatte.

Haus Locke war ein gewaltiger Palast aus rotem Stein am Ufer des Lake Champlain. Ein Wald aus Schornsteinen und Türmen mit Kupferdächern wuchs daraus hervor. Sein Inneres war holzgetäfelt, verwinkelt und vollgestopft mit dem Eigentümlichen, Seltenen und Wertvollen. Ein Reporter des Boston Herald hatte einmal geschrieben, es sei »eine architektonische Fantasie, die mehr an Ivanhoe erinnert als an den Wohnsitz eines modernen Mannes«. Gerüchten zufolge hatte ein verrückter Schotte das Haus in den 1790er-Jahren in Auftrag gegeben. Eine Woche hatte er darin gelebt, dann war er für alle Zeiten verschwunden. Mr. Locke hatte es in den 1880ern ersteigert und damit angefangen, es mit den Wundern der Welt zu füllen.

Vater und ich waren in zwei Räumen im dritten Stock untergebracht: Er hatte ein ordentliches, rechtwinkeliges Büro, ich ein graues, muffig riechendes Zimmer mit zwei schmalen Betten darin, die für mich und meine Kinderfrau gedacht waren. Die neueste war eine deutsche Einwanderin: Miss Wilda. Sie trug Kleider aus dicker schwarzer Wolle, und ihre Miene brachte deutlich zum Ausdruck, dass sie zwar noch nicht viel vom zwanzigsten Jahrhundert gesehen haben mochte, ihm jedoch bereits von ganzem Herzen abgeneigt war. Sie liebte Kirchenlieder und frisch gefaltete Wäsche; Lärm, Unordnung und freche Kinder waren ihr zuwider. Wir waren natürliche Feinde.

Noch in der Vorhalle führte Mr. Locke ein kurzes Gespräch mit Wilda. Danach glitzerten ihre Augen wie auf Hochglanz polierte Mantelknöpfe.

»Mr. Locke sagt, du bist in letzter Zeit überreizt, Täubchen, beinahe schon hysterisch.« Miss Wilda nannte mich häufig »Täubchen«, sie glaubte an die Macht der Suggestion.

»Das stimmt nicht, Ma’am.«

»Ach, mein armes, liebes Kind. Wir bekommen dich im Nu wieder hin!«

Das beste Mittel gegen Überreizung war ein ruhiges, ordentliches Umfeld ohne Ablenkungen, daher wurden alle Gegenstände aus meinem Zimmer entfernt, die bunt und interessant waren oder mir etwas bedeuteten. Die Vorhänge wurden zugezogen und das Bücherregal geleert (nur Die illustrierte Kinderbibel blieb zurück). Meine rosa und goldene Lieblingstagesdecke – Vater hatte sie mir im letzten Jahr aus Bangalore geschickt – wurde gegen ein gestärktes weißes Laken ausgetauscht. Samuel durfte mich nicht besuchen.

Miss Wildas Schlüssel drehte sich im Schloss, und ich war allein.

Zuerst stellte ich mir vor, eine Kriegsgefangene der Rotröcke oder vielleicht der Rebellen zu sein, und übte einen Gesichtsausdruck aufmüpfiger Standhaftigkeit ein. Aber schon am zweiten Tag glich die Stille zwei Daumen, die sich in meine Trommelfelle bohrten. Meine Beine zitterten, so groß war der Drang zu rennen, weiter und immer weiter, zurück zu dem Feld mit den Zedern, durch die Asche der blauen TÜR und in eine andere Welt.

Am dritten Tag verwandelte sich mein Zimmer erst in eine Kerkerzelle, dann in einen Käfig und schließlich in einen Sarg. Ich lernte meine größte und schrecklichste Angst kennen, sie schwamm durch mein Herz wie Aale durch eine Unterwasserhöhle: eingesperrt zu werden, einsam irgendwo gefangen zu sein.

Irgendetwas in meinem Inneren zersprang. Ich riss mit zu Klauen verkrümmten Fingern an den Vorhängen, brach die Knöpfe von Schubladen ab und trommelte mit den Fäusten gegen die verschlossene Tür. Dann setzte ich mich auf den Boden und weinte einen großen atemlosen Tränensee, so lange, bis Miss Wilda mit einem Teelöffel Sirup zurückkam, der mich für eine Weile von mir selbst fortbrachte. Meine Muskeln zerliefen zu öligen, trägen Flüssen, und mein Hinterkopf trieb auf der Oberfläche dahin. Ich konnte den Blick nicht von den Schatten lösen, die über die Teppiche krochen, ein erschreckendes Schauspiel, das keinen Platz für irgendetwas anderes ließ. Schließlich schlief ich ein.

Als ich aufwachte, saß Mr. Locke an meinem Bett und las die Zeitung. »Guten Morgen, meine Liebe. Wie fühlst du dich heute?«

Ich schluckte säuerliche Spucke hinunter. »Besser, Sir.«

»Das freut mich.« Er faltete seine Zeitung mit der Präzision eines Architekten. »Hör mir jetzt gut zu, January. In dir steckt großes Potenzial, aber du musst lernen, dich anständig zu betragen. Von heute an ist Schluss mit diesem ganzen versponnenen Unsinn, dem Davongeschleiche und den Türen, die nicht dorthin führen, wo sie hinführen sollten.«

Er betrachtete mich mit einem Gesichtsausdruck, der mich an alte Darstellungen Gottes erinnerte: väterlich und streng, seine Liebe abhängig davon, ob man sich ihrer als würdig erweist. Seine Augen waren Steine, deren Gewicht mich niederdrückte. »Du wirst tun, was man von dir erwartet, und ein braves Mädchen sein.«

Wie sehr wollte ich Mr. Lockes Liebe würdig sein! »Ja, Sir«, flüsterte ich. Und ich war brav.

Mein Vater kam erst im November wieder zurück. Er wirkte so zerknittert und müde wie sein Gepäck. Seine Ankunft spielte sich wie üblich ab: Die Kutsche knirschte die Auffahrt hoch und hielt vor dem erhabenen steinernen Herrenhaus. Mr. Locke ging nach draußen, um meinem Vater lobend auf die Schulter zu klopfen, und ich wartete mit Miss Wilda in der Vorhalle. Sie hatte mich in ein gestärktes Trägerkleid gesteckt; es war so steif, dass ich mich wie eine Schildkröte in einem übergroßen Panzer fühlte.

Die Tür öffnete sich und gegen das blasse Novemberlicht zeichnete sich, dunkel und fremdländisch, seine Silhouette ab. Er blieb auf der Schwelle stehen, weil das normalerweise der Augenblick war, in dem ein aufgeregtes kleines Mädchen gegen seine Knie prallte.

Aber ich rührte mich nicht. Das erste Mal in meinem Leben rannte ich nicht zu ihm. Die Schultern der Silhouette sackten hinab.

Das kommt dir grausam vor, habe ich recht? Ein mürrisches Kind, das seinen Vater dafür bestraft, fort gewesen zu sein. Aber ich kann dir versichern, dass ich damals gründlich verwirrt war. Seine Gestalt in der Türöffnung zu sehen machte mich schwindelig vor Zorn; weshalb, wusste ich nicht. Vielleicht lag es daran, dass er nach Dschungel, Dampfschiffen und Abenteuern roch – nach schattenverhangenen Höhlen und nie geschauten Wundern –, und meine Welt war so bedrückend gewöhnlich. Oder dass ich eingesperrt gewesen und er nicht gekommen war, um die Tür zu öffnen.

Er machte drei zögerliche Schritte und ging vor mir in die Hocke. Er sah älter aus als in meiner Erinnerung. Die Stoppeln an seinem Kinn waren nicht mehr schwarz, sondern schimmerten mattsilbern, als wäre jeder Tag, den er anderswo verbracht hatte, für ihn drei Tage lang gewesen. Nur seine Traurigkeit war noch dieselbe, als läge ein Schleier vor seinen Augen.

Er legte eine Hand auf meine Schulter. Seine Tätowierungen wanden sich wie schwarze Schlangen um seine Handgelenke. »January, stimmt etwas nicht?«

Die vertraute Art, auf die er meinen Namen aussprach, sein Akzent, seltsam und gar nicht seltsam zugleich, hätten mich beinahe die Haltung gekostet. Ich wollte ihm alles erzählen – ich bin über etwas Wunderbares und Ungezähmtes gestolpert, es reißt ein Loch in die Gestalt der Welt. Ich habe etwas geschrieben, und es ist wahr geworden –, aber ich hatte meine Lektion gelernt. Ich war jetzt ein gutes Mädchen.

»Es ist alles in bester Ordnung, Vater«, sagte ich. Meine kühle Erwachsenenstimme traf meinen Vater sichtlich wie eine Ohrfeige.

An diesem Abend sprach ich bei Tisch nicht mit ihm, und ich schlich mich später auch nicht in sein Zimmer, um ihm Geschichten abzubetteln (und du musst wissen, dass er ein meisterhafter Geschichtenerzähler war; er sagte immer, seine Arbeit bestehe zu neunundneunzig Prozent daraus, Geschichten aufzuspüren und ihnen zu folgen, um zu sehen, wo sie ihn hinführten).

Aber ich hatte diesen ganzen versponnenen Unsinn hinter mir gelassen. Die Türen – oder TÜREN –, die Träume von silbernen Ozeanen und weiß gekalkten Städten. Die Geschichten. Wahrscheinlich gehörte das zum Erwachsenwerden einfach dazu.

Dir verrate ich allerdings ein Geheimnis: Ich besaß noch immer die silberne Münze mit dem Bildnis der fremden Königin darauf. In meinen Unterrock war eine kleine Tasche eingenäht; die Münze lag körperwarm an meiner Taille. Wenn ich sie in der Hand hielt, konnte ich das Meer riechen.

Zehn Jahre lang war sie mein größter Schatz. Bis ich siebzehn wurde und Die zehntausend Türen fand.

2

Die Tür mit dem Ledereinband

Ohne den Vogel hätte ich das Buch nicht gefunden.

Ich war auf dem Weg nach unten in die Küche, um der Köchin, Mrs. Putram, einen Abendkaffee zu stibitzen, als ich ein merkwürdiges Geräusch hörte – eine Art Piepsen und Rappeln –, das mich auf halber Treppe innehalten ließ. Ich wartete, bis ich es noch einmal hörte: das gehetzte, beinahe lautlose Rascheln von Flügelschlägen, dann ein dumpfer Aufschlag. Stille.

Ich folgte dem Geräusch in den Salon im zweiten Stock, der als das »Pharaonenzimmer« ausgeschildert war. Hier hatte Mr. Locke seine umfangreiche ägyptische Sammlung aufgebaut: rote und blaue Truhen, Marmorurnen, deren Henkel wie Flügel geformt waren, winzige goldene Ankhs an Lederbändern und verzierte Steinsäulen, die aus ihren Tempeln entführt worden waren. Selbst in der fortgeschrittenen Dämmerung eines Sommerabends leuchtete der Salon in gelblichem Gold.

Das Geräusch kam aus der südlichen Ecke des Zimmers, in der immer noch meine blaue Schatztruhe stand. Sie wackelte auf ihrem Sockel.

Auch nach dem Verlust des kleinen Tagebuchs hatte ich nicht widerstehen können, hin und wieder hineinzuspähen. In der Weihnachtszeit lag eine bewegliche Scherenschnittpuppe darin – an ihren Gliedmaßen waren winzige hölzerne Stöcke wie Gelenke angebracht. Im darauffolgenden Sommer fand ich eine Spieldose, aus der ein russisch klingender Walzer ertönte, dann eine kleine braune, mit bunten Perlen bestickte Puppe, dann eine illustrierte französische Ausgabe des Dschungelbuchs.

Ich fragte ihn nie danach, war aber überzeugt, dass die Geschenke von Mr. Locke kamen. Gewöhnlich tauchten sie auf, wenn ich sie am nötigsten brauchte: wenn mein Vater wieder einmal meinen Geburtstag vergessen hatte oder nicht zu einem Fest gekommen war. Ich konnte beinahe spüren, wie Mr. Locke mir ungeschickt eine Hand auf die Schulter legte, ein wortloser Trost.

Es kam mir allerdings höchst unwahrscheinlich vor, dass er einen lebendigen Vogel in der Truhe verstecken würde. Als ich den Deckel hob, zweifelte ich noch – aber augenblicklich schoss ein grau-goldenes Etwas in die Höhe, als wäre es aus einer kleinen Kanone abgefeuert worden, und flog im Zickzack durch den Salon. Es war ein zarter, zerzaust wirkender Vogel mit einem orangenmarmeladefarbenen Kopf und dürren Beinchen. (Später versuchte ich herauszufinden, welcher Art er angehört hatte, aber er sah keiner der Abbildungen in Mr. Audubons Buch Die Vögel Amerikas ähnlich.)

Ich wandte mich bereits ab, ließ den Deckel der Truhe zufallen – da wurde mir klar, dass ich noch etwas anderes darin gesehen hatte.

Ein Buch. Es war nicht besonders dick, in Leder gebunden und hatte abgestoßene Ecken. Das Gold, in dem der Titel geprägt worden war, war an mehreren Stellen herausgeschabt, die Buchstaben nur noch undeutliche Vertiefungen: DIE ZEHNTAU ÜREN. Ich blätterte mit dem Daumen durch die Seiten.

Sollten Bücher für dich mehr als beiläufige Bekannte sein – solltest du also zu jenen Menschen gehören, die ihre freien Nachmittage in verstaubten Buchläden verbringen, die verstohlen und voller Zuneigung über die Buchrücken wohlvertrauter Romane streicheln –, dann weißt du, dass diese Art des Blätterns ein wichtiger Schritt ist, ein neues Buch kennenzulernen. Dabei geht es nicht darum, hier und da ein paar Wörter zu lesen; man liest den Geruch, der in einer Wolke aus Staub und Holzschliff von den Seiten aufsteigt. Vielleicht riecht das Buch teuer und gut gebunden, vielleicht nach spinnwebfeinem Papier und unscharfem Zweifarbendruck, vielleicht nach den fünfzig Jahren, die es ungelesen im Regal eines alten Tabakrauchers stand. Bücher können nach billigem Nervenkitzel und akribischer Gelehrsamkeit riechen, nach literarischem Gewicht oder ungelösten Geheimnissen.

Dieses Buch roch anders als alle anderen, die ich bereits in Händen gehalten hatte. Zimt und der Rauch brennender Kohlen, Katakomben und Lehm. Abende am Meer, die Luft feucht und salzig, und heiße, verschwitzte Mittagsstunden unter Palmenwedeln. Es roch, als wäre es länger als erdenklich in der Post unterwegs gewesen, als hätte es jahrelang die Welt umrundet und dabei Lage um Lage aus Gerüchen angenommen wie ein Landstreicher, der mehrere Kleiderschichten übereinander trägt.

Es roch, als hätte jemand Abenteuer in der Wildnis geerntet und zu einem edlen Wein gekeltert, den er dann über jede einzelne Seite geträufelt hatte.

Aber ich greife vor. Geschichten müssen in der richtigen Reihenfolge erzählt werden, brauchen einen Anfang, einen Mittelteil und ein Ende. Ich bin vielleicht keine Gelehrte, aber so viel weiß ich doch.

In den Jahren, die auf die Entdeckung der blauen TÜR folgten, lernte ich, was die meisten unbesonnenen, obstinaten kleinen Mädchen irgendwann lernen müssen: Vernunft anzunehmen.

Im Herbst des Jahres 1903 war ich neun, und die Welt ließ sich das Wort »modern« auf der Zunge zergehen. Zwei Brüder aus den Carolinas tüftelten enthusiastisch an ihren Flugapparaten; unser neuer Präsident hatte uns gerade geraten, leise und höflich zu sprechen, aber stets große Knüppel bei uns zu tragen, was offenbar bedeutete, dass wir Panama invadieren sollten; leuchtend rote Haare waren kurzzeitig allgemein beliebt, bis Frauen von Schwindelgefühlen und Haarverlust berichteten und sich herausstellte, dass Miss Valentines Haarwundermittel nicht viel mehr war als rotes Rattengift. Mein Vater war irgendwo in Nordeuropa (auf meiner Postkarte waren verschneite Berge und zwei Kinder zu sehen, die wie Hänsel und Gretel gekleidet waren; auf der Rückseite stand: Nachträglich herzliche Glückwünsche zu deinem Geburtstag!), und Mr. Locke setzte endlich wieder genug Vertrauen in mich, um mich auf eine seiner Reisen mitzunehmen.

Seit dem Vorfall in Kentucky war mein Betragen tadellos gewesen: Weder war ich Mr. Stirling auf die Nerven gegangen noch hatte ich Mr. Lockes Ausstellungsstücke durcheinandergebracht; ich hatte Wildas Regeln ausnahmslos befolgt (sogar die blödsinnigen, die sich darum drehten, gleich nach dem Bügeln die Kragen an meinen Kleidern umzuschlagen); ich spielte nicht mehr mit »verlausten Gassenjungen, die noch keine fünf Minuten in Amerika« waren, sondern schaute bloß vom Bürofenster meines Vaters im dritten Stock aus zu, wie Samuel auf den Hof gefahren kam. Wenn er konnte, schmuggelte er immer noch Heftromane an Mrs. Putram vorbei. Eselsohren markierten seine Lieblingsstellen. Ich kringelte die besten und blutrünstigsten Sätze ein, rollte die Hefte fest zusammen und steckte sie in leere Milchflaschen, um sie ihm zurückzugeben.

Er schaute immer zu mir hoch, wenn er wieder abfuhr, lange genug, dass ich wusste: Er hatte mich gesehen. Dann hob er eine Hand. Wenn Wilda nicht guckte und ich mich wagemutig fühlte, legte ich manchmal zur Antwort die Fingerspitzen gegen das Fensterglas.

Den größten Teil des Tages verbrachte ich damit, unter dem trüben Blick meines Hauslehrers lateinische Verben zu konjugieren und Rechenaufgaben zu lösen. Einmal in der Woche saß ich in Mr. Lockes Büro und nickte artig, während er mir Vorträge über Aktien hielt, über Aufsichtsgremien, die von nichts eine Ahnung hatten, seine Studienzeit in England und die drei besten Sorten Scotch. Die Haushälterin übte gute Umgangsformen mit mir, und ich lernte, Gäste und Geschäftspartner, die nach Haus Locke kamen, höflich anzulächeln.

»Was bist du doch für ein süßes kleines Ding!«, riefen sie affektiert. »Und so wohlerzogen!« Dann tätschelten sie mir den Kopf, als wäre ich ein gut dressiertes Schoßhündchen.

Manchmal war ich so einsam, dass ich glaubte, ich müsste zu Asche zerfallen, die sodann vom nächsten Windstoß davongetragen werden würde.

Manchmal fühlte ich mich wie ein Ausstellungsstück in Mr. Lockes Sammlung, ausgewiesen als January Scaller, 1,45 m, Bronze; Zweck unbekannt.

Als er mich einlud, ihn nach London zu begleiten – unter der Bedingung, dass ich jeder seiner Anweisungen Folge leistete, als handelte es sich um Gottes Wort –, sagte ich so enthusiastisch Ja, dass selbst Mr. Stirling ein wenig erschrocken aussah.

Da die Hälfte meiner Geschichten und Schundromane in London spielte, wusste ich, was mich erwartete: dunkle, nebelverhangene Straßen, in denen es von Gassenkindern und ruchlosen Männern mit Melonen auf dem Kopf nur so wimmelte; rußgeschwärzte Gebäude, die wunderbar düster über einem aufragten; stille Reihen grauer Häuser. Oliver Twist vermengte sich mit Jack the Ripper und vielleicht einer Spur Sara Crewe.

Es mag sein, dass es Viertel in London gibt, die tatsächlich so aussehen, aber die Stadt, die ich 1903 zu Gesicht bekam, war beinahe das genaue Gegenteil: laut, hell und geschäftig. Kaum waren wir am Bahnhof Euston aus dem Abteil der Eisenbahngesellschaft London and Northwestern Railway gestiegen, wurden wir beinahe von einer Gruppe Schulkinder in marineblauen Uniformen über den Haufen gerannt; ein Mann mit einem smaragdgrünen Turban verneigte sich höflich im Vorübergehen; eine Familie mit dunkler Hautfarbe stritt sich in einer fremden Sprache; ein rot-goldenes Poster an der Wand machte Werbung für Dr. Goodfellows waschechten Menschenzoo – bestaunen Sie Pygmäen, Zulukrieger, Indianerhäuptlinge und Sklavenmädchen aus dem Fernen Osten!

»Wir sind doch längst in einem gottverfluchten Menschenzoo!«, knurrte Locke und schickte Mr. Stirling vor, um eine Kutsche heranzuwinken, die uns auf direktem Wege zum Hauptsitz der Royal Rubber Company bringen sollte. Die Träger luden Mr. Lockes Gepäck ein, und Stirling und ich schleppten es die weißen Marmorstufen zu den Büroräumen des Kautschukimporteurs hoch.

Mr. Locke und Mr. Stirling verschwanden mit einer Delegation wichtig aussehender Männer in schwarzen Anzügen durch die dämmrigen Flure. Ich sollte in der Empfangshalle auf einem Stuhl mit schmaler Rückenlehne sitzen bleiben, niemanden bei der Arbeit stören, still sein und nichts anfassen. Ich betrachtete das Wandgemälde, auf dem ein kniender Afrikaner Britannia einen Korb voll indischem Gummiwein darbot. Er trug eine sklavisch ergebene, naive Miene zur Schau.

Ich fragte mich, ob Afrikaner in London als schwarz oder farbig galten. Und was war mit mir? Eine leise Sehnsucht überkam mich wie ein Zittern: Ach, Teil einer größeren Gemeinschaft zu sein, nicht angestarrt zu werden, genau zu wissen, wo ich hingehörte! Es ist eine einsame Angelegenheit, »ein vollkommen einzigartiges Exemplar« zu sein.

Eine Sekretärin beobachtete mich eifrig aus schmalen Augen. Du kennst den Typus: untersetzte weiße Damen mit schmalen Lippen, die ihr ganzes Leben lang danach zu lechzen scheinen, irgendwann einmal jemandem mit einem Lineal auf die Finger zu hauen. Aber ich würde ihr keine Gelegenheit geben. Ich sprang auf, als hätte ich Mr. Locke nach mir rufen hören, und flitzte den Korridor hinunter, über den er entschwunden war.

Eine Tür stand einen Spaltbreit offen. Öliges Lampenlicht floss in den Korridor, und leise, hungrige Männerstimmen hallten von der Eichenholztäfelung wider. Ich schob mich nahe genug heran, um einen Blick ins Zimmer werfen zu können: Acht oder neun Männer mit Schnauzbärten umringten einen langen Tisch, auf dem sich Mr. Lockes Gepäck stapelte. Die schwarzen Kästen standen offen, und zusammengeknülltes Zeitungspapier und Stroh lagen überall verstreut. Locke selbst stand am Kopfende des Tisches und hielt etwas, das ich nicht sehen konnte.

»Ein überaus wertvoller Fund, Gentlemen, aus dem fernen Siam. Es enthält, so wurde mir gesagt, zerstoßene Schuppen irgendeiner Art … sehr wirksam …«

Die Männer lauschten, einen Ausdruck unverhohlener Begierde auf den Gesichtern. Sie neigten sich Mr. Locke entgegen wie Eisenspäne, die auf einen Magneten reagieren. Irgendetwas an ihrem Anblick beunruhigte mich – als würde mit ihnen allen etwas nicht stimmen, als wären sie in Wirklichkeit gar keine Menschen, sondern fremdartige Wesen, die in feine Anzüge mit schwarzen Knöpfen gesteckt worden waren.

Einen der Männer erkannte ich wieder: Ich hatte ihn im letzten Juli auf der Feier der Archäologischen Gesellschaft gesehen, wo er sich in den Ecken herumgedrückt und mit gelblichen Augen um sich gespäht hatte. Er war ein unruhiger Bursche, dessen Gesicht mich an das eines Frettchens erinnerte. Seine Haare hätte nicht einmal Miss Valentines Haarwundermittel noch röter färben können. Auch er lehnte sich Locke entgegen – doch plötzlich blähten sich seine Nasenflügel, als wäre er ein Hund, dem ein unangenehmer Geruch zufliegt.

Ich weiß schon: Leute können ungehorsame kleine Mädchen, die ihnen hinterherspionieren, nicht riechen! Und wie viel Ärger hätte ich schon bekommen können – nur weil ich geguckt hatte? Aber das Treffen wirkte geheimnistuerisch, vielleicht sogar unstatthaft, und der rothaarige Mann schnupperte jetzt in der Luft, als versuchte er, eine ungewöhnliche Witterung aufzunehmen …

Ich huschte durch den Korridor zurück zu meinem Stuhl in der Empfangshalle. Die nächste Stunde über hielt ich meinen Blick fest auf den gefliesten Boden geheftet, die Knöchel ordentlich gekreuzt, und ignorierte die verschnupften Seufzer der Sekretärin.

Neunjährige Kinder wissen nicht viel, aber dumm sind sie auch nicht. Ich hatte bereits vermutet, dass nicht alle Artefakte und Schätze meines Vaters auf Haus Locke ausgestellt wurden. Offenbar wurden manche über den Atlantik verschifft und in stickigen Sitzungszimmern versteigert. Ich stellte mir eine unglückselige gestohlene Lehmtafel oder Handschrift vor, entwurzelt und einsam, die auf eine endlos lange Reise um die Erde geschickt wurde, nur um schließlich in einem Schaukasten zu landen und von Leuten angestarrt zu werden, die sie nicht einmal lesen konnten. Dann sagte ich mir, dass sie auf Haus Locke selbst kein anderes Schicksal erwartet hätte. Und sagte Mr. Locke nicht immer, es sei »ein Akt sträflicher Feigheit«, sich Gelegenheiten entgehen zu lassen?

Wenn man ein gutes Mädchen sein wollte, dachte ich, redete man über bestimmte Sachen wahrscheinlich lieber nicht.

Also sagte ich kein Wort, als Mr. Locke und Mr. Stirling zurückkamen, kein Wort auf der Kutschfahrt zu unserem Hotel, und als Mr. Locke plötzlich verkündete, ihm sei nach einem kleinen Einkaufsbummel zumute, sagte ich ebenfalls kein Wort. Er wies den Kutscher an, nach Knightsbridge zu fahren.

Wir betraten ein Warenhaus aus Marmor und Glas, das so groß wie ein unabhängiges Land zu sein schien. Angestellte mit sehr weißen Zähnen waren an jeder Ecke stationiert wie grinsende Soldaten.

Eine Frau kam über den auf Hochglanz polierten Boden auf uns zugeeilt. »Herzlich willkommen, der Herr!«, tirilierte sie. »Womit kann ich dienen? Nein, was für ein reizendes Kind!« Sie strahlte mich an, aber ihr Blick tastete prüfend über meine Haut, meine Haare, meine Augen. Wäre ich ein Mantel gewesen, hätte sie mich auf links gedreht und auf meinem Etikett nach meinem Hersteller geschaut. »Wer ist die Kleine denn, wenn ich fragen darf?«

Mr. Locke ergriff meine Hand und legte sie in seine Armbeuge. »Das ist meine … Tochter. Meine Adoptivtochter natürlich. Unter uns gesagt: Sie stehen dem letzten lebenden Mitglied des hawaiianischen Königshauses gegenüber!«

Und weil Mr. Lockes Stimme so zuversichtlich durch das Warenhaus dröhnte und sein Mantel und sein Anzug so teuer aussahen, glaubte die Angestellte ihm. Oder vielleicht hatte sie auch noch nie jemanden gesehen, der wirklich auf Hawaii geboren war. Jedenfalls konnte ich dabei zusehen, wie ihre Skepsis verflog. Stattdessen drückte ihr Gesicht nun Staunen und Bewunderung aus.

»Oh, wie außergewöhnlich! Wir führen wunderschöne Turbane aus Lahor – sehr exotisch, sie würden ihr sicher ausgezeichnet stehen! Oder vielleicht würde sie gern einen Blick auf unsere Sonnenschirme werfen? Um im Sommer die Haut zu schützen?«

Mr. Locke blickte nachdenklich auf mich herab. »Ein Buch, möchte ich meinen. Sie kann es sich selbst aussuchen. Sie ist wirklich ein braves Mädchen.« Dann lächelte er mich an; ich erkannte es daran, dass sich die Spitzen seines Schnäuzers ein klein wenig hoben.

Ich war selig: Mr. Locke hatte mich seiner Liebe würdig befunden.

Im Frühsommer des Jahres 1906 war ich beinahe zwölf Jahre alt. Die RMS Lusitania war gerade als das größte Passagierschiff der Welt vom Stapel gelaufen (Mr. Locke versprach, dass er uns bald Fahrkarten besorgen würde); die Zeitungen waren noch immer voller körniger Fotografien verbrannter Ruinen und Trümmer nach jenem furchtbaren Erdbeben in San Francisco; und ich hatte mein Taschengeld dafür aufgewandt, die Zeitschrift Outing zu abonnieren, nur um jede Woche ein Stück von Jack Londons neuem Roman lesen zu können. Mr. Locke war auf einer Geschäftsreise, zu der er mich nicht mitgenommen hatte, und mein Vater war ausnahmsweise einmal zu Hause.

Eigentlich hatte er am Tag zuvor abfahren wollen, um sich Mr. Fawcetts Expedition nach Brasilien anzuschließen, aber es gab irgendeine Verzögerung. Papiere mussten von der richtigen Behörde abgestempelt, zerbrechliche Apparate mit großer Sorgfalt transportiert werden – der genaue Grund kümmerte mich nicht. Mich kümmerte nur, dass er da war.

Wir frühstückten gemeinsam an dem großen Küchentisch, dessen Platte zerkratzt und mit Fett- und Brandflecken übersät war. Mein Vater saß über eins seiner Notizbücher gebeugt, während er seine Eier auf Toast aß, ein kleines V über der Nasenwurzel in die Stirn gegraben. Es machte mir nichts aus, dass er beschäftigt war, ich hatte die neueste Fortsetzung von Wolfsblut zu lesen. Wir zogen uns in unsere unterschiedlichen Welten zurück, jeder für sich und doch beisammen; es war so friedlich und fühlte sich so richtig an, dass ich so tat, als wäre das unser übliches Morgenritual. Als wären wir eine normale kleine Familie, als gehörte Haus Locke uns und der zerkratzte Tisch wäre unser Küchentisch.

Bloß hätte wohl eine Mutter mit daran gesessen, wären wir eine normale Familie gewesen. Vielleicht hätte sie auch gelesen. Vielleicht hätte sie mich über ihr aufgeschlagenes Buch hinweg angesehen und in ihren Augenwinkeln wären winzige Lachfalten erschienen. Vielleicht hätte sie die Toastkrümel aus dem struppigen Bart meines Vaters gestrichen.

Aber es ist töricht, über solche Sachen nachzudenken. Dann kommt bloß dieser dumpfe Schmerz zwischen den Rippen zurück (als hättest du Heimweh, auch wenn du doch eigentlich zu Hause bist), und du kannst deine Zeitschrift nicht mehr lesen, weil die Wörter aussehen, als würdest du sie unter Wasser anschauen, ganz verformt und verwaschen.

Mein Vater stellte seine Kaffeetasse auf seinen Teller und erhob sich, das Notizbuch unter den Arm geklemmt. Er hatte noch die kleine Brille mit dem Goldrand auf, die er zum Lesen trug. Sein Blick wirkte abwesend. Er wandte sich ab, um zu gehen.

»Warte!« Ich würgte das Wort hervor, und er blinzelte mich an wie eine erschrockene Eule. »Ich habe mich gefragt, ob ich … Kann ich dir helfen? Bei deiner Arbeit?«

Er setzte dazu an, Nein zu sagen, bedauernd den Kopf zu schütteln, aber dann schaute er mich an. Ich weiß nicht, was er sah – den verräterischen Glanz beinahe geweinter Tränen in meinen Augen vielleicht, einen Widerschein des dumpfen Schmerzes auf meinem Gesicht –, aber er holte erschrocken Atem.

»Natürlich, January.« Sein Akzent stieg und fiel über meinen Namen wie ein Schiff über eine Woge; ich hörte ihn so gern aus seinem Mund.

Wir verbrachten den Tag in den endlosen Kellergewölben von Haus Locke, in denen noch nicht kategorisierte oder beschriftete sowie beschädigte Ausstellungsstücke in mit Stroh ausgepolsterten Kisten lagerten. Mein Vater saß mit einem Stapel Notizbücher da, murmelte und kritzelte vor sich hin und ließ mich hin und wieder mit seiner glänzenden schwarzen Schreibmaschine kleine Schilder beschriften. Ich tat so, als wäre ich Ali Baba in der Schatzhöhle, ein Ritter, der durch ein Drachennest schlich, oder einfach ein Mädchen, das einen Vater hatte.

»Ach ja, die Lampe! Stell sie bitte zu dem Teppich und der Halskette, ja? Aber reib bloß nicht daran herum … Andererseits, was kann es schon schaden?« Ich war nicht sicher, ob er überhaupt noch mit mir sprach, aber dann winkte er mich näher. »Bring sie mir mal.«

Ich gab ihm den Bronzeklumpen, den ich in einer mit TURKESTAN beschrifteten Lattenkiste gefunden hatte. Wie eine Lampe sah er gar nicht aus, eher wie ein kleiner, missgestalteter Vogel – der lange Ausguss war sein Schnabel, in die geschwungenen Seiten, seine Flügel, waren merkwürdige Symbole geprägt. Vater strich behutsam mit dem Zeigefinger über die Symbole, und öliger weißer Rauch stieg aus dem Ausguss auf. Er wand und kringelte sich wie eine bleiche Schlange und stieg in die Höhe.

Dann verscheuchte mein Vater mit einer Hand den Rauch, und ich blinzelte.

»Wie … Da muss ein Docht drin sein, und irgendetwas, um einen Funken zu entzünden. Wie funktioniert das?«

Er schob die Lampe zurück in ihre Kiste, zuckte mit den Schultern und lächelte mich schief an. Ich glaubte hinter den Brillengläsern so etwas wie Belustigung in seinen Augen glitzern zu sehen.

Vielleicht lag es daran, dass er so selten lächelte oder dass es so ein vollkommener Tag gewesen war; jedenfalls sagte ich etwas Dummes. »Kann ich dich begleiten?«

Er legte fragend den Kopf auf die Seite. Sein Lächeln verblasste.

»Wenn du nach Brasilien gehst. Oder hinterher, auf die nächste Reise. Nimmst du mich mit?«

Manchmal wünschst du dir etwas so sehr, dass es dich verbrennt. Deshalb schließt du es tief in deinem Inneren ein wie eine mit Asche bedeckte glühende Kohle. Aber, ach – den Hotellobbys, Warenhäusern und ordentlich zugeknöpften Reisemänteln zu entkommen! Wie ein Fisch in den wirbelnden, schäumenden Strom der Welt einzutauchen, ihn an der Seite meines Vaters zu durchschwimmen …

»Nein.« Kalt und harsch. Endgültig.

»Aber ich bin eine gute Reisegefährtin, du kannst Mr. Locke fragen! Man merkt gar nicht, dass ich da bin. Ich störe nicht oder fasse Sachen an, die man nicht anfassen soll, ich rede nicht mit Fremden und laufe auch nicht einfach weg …«

Auf Vaters Stirn bildete sich wieder das verwirrte V. »Warum willst du dann überhaupt reisen?« Er schüttelte den Kopf. »Die Antwort ist Nein, January. Es ist viel zu gefährlich.«

Mein Nacken stach und brannte vor Verlegenheit und hilfloser Wut. Ich sagte nichts mehr, weil ich wusste, dass ich dann zu weinen anfangen und alles nur noch schlimmer werden würde.

»Hör zu. Ich halte Ausschau nach wertvollen und besonderen Sachen, das weißt du doch? Für Mr. Locke und seine Freunde von der Archäologischen Gesellschaft?«

Ich nickte nicht.