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Sie haben die aus volkssprachlichen mittelalterlichen Handschriften bekannten Interlinearglossen bisher vermisst, oder wollen einen Mord aufgeklärt bekommen? Dann könnte das hier ihr Buch sein. Sie wollten außerdem schon immer wissen, was sich in //^-^\\ van Helsings Kühlschrank befindet, wie viele Schafe zum täglichen Unterhalt Salomos gehörten oder warum ausgerechnet Diamonds a Girl's Best Friend sind? Dann ist es ihr Buch!!!
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Seitenzahl: 474
Veröffentlichungsjahr: 2021
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Für meine Ahnfrau Franziska Moser
1818 –1864
und für meinen Enkel Józsi
Kapitel – oben am Dach
Kapitel – on the road
Kapitel – das Herzensanliegen
Kapitel – on the road again
Kapitel – die Totenmesse
Kapitel – die Beerdigung
Kapitel – das Mahl
Kapitel – nach dem Kaffee
Kapitel – wieder in Wien
Kapitel – Großvater und Grünbaum
Kapitel – Allerheiligen
Anhang
Mein ganz besonderer Dank gilt
Es friert und schneit nicht und es hat hier in der Gegend selten 18 Minusgrade, trotzdem steigt jetzt (im Oktober) für Kilian das Dezemberdunkel wie Nebel aus dem Grab hier oben. »Gewandelt, nicht genommen …« hat der Priester gesagt und tatsächlich wandelt sich der Verblichene bereits: war er vor kurzen noch ein milder Fall für die Psychiatrie, ist er nun ein Künstler geworden, darin sind sich alle hier Umstehenden einig. Na ja, etwas undurchsichtig war der heutige Tag bereits in aller Frühe, als sich der weiße Morgennebel wie eine große Glucke auf den ziegelroten Stadtdächern niedergelassen hatte – wie eine große Glucke auf ihrem Nest.
Entlang von Firstkanten und Dachschrägen verwischt eine breite Wolkenhenne mit ihrem Bauchflaum alle markanten Umrisse, ganz wie ein weicher Pinsel, der nur eben die Konturen softet. Kamine, Kirchtürme und Antennen aber, die noch etwas höher aufragen, bleiben schon ganz unter dem dichtem Gefieder verborgen.
Jerusalem, Jerusalem, du tötest die Propheten und steinigst die Boten, die zu dir gesandt sind. Wie oft wollte ich deine Kinder um mich sammeln, so wie eine Henne ihre Küken unter ihre Flügel nimmt; aber ihr habt nicht gewollt.
Mt 23,37 Lk 13,34
Ein großer Baukran im Norden ist ebenfalls ganz eingehüllt, lediglich seine roten Positionslämpchen durchdringen den Dunst. Es ist noch kühl und früh am Morgen, träge zieht ein tiefer Fluß an den Unterschenkeln der Stadt vorbei. Fast scheint es, dass er heute besonders schwere versunkene Dinge in seinem geräumigen nassen Bauch mitdriften hat. Die vielen Geschichten, die alte Flüsse immer so mit sich führen, sie wehen leise säuselnd von der Lände herauf und flüsternd weiter durch die Gassen. Schmale hohe Häuser stehen hier, dicht gedrängt und Schulter an Schulter, wie ein Jugendchor mit hochaufgeschossenen Pubertierenden auf einer zu kleinen Bühne. Oben, in einer der Dachflächen, wird gerade ein Fenster gekippt und ein vierzehnjähriger Strubbelkopf erscheint in der Ausnehmung. Der Bub betrachtet von seinem Aussichtsplatz aus aufmerksam die Umgebung, während er mit relativ großen Händen sein auf der Fensterbank stehendes Kakaohäferl umschließt. Er blickt hinauf in die undurchsichtige Nebelwatte, deren goldene Ränder soeben von der Morgensonne weggeküsst werden. Noch ist nicht viel von der Stadt zu sehen, doch, dass das Sonnenlicht dieses weiße verbergende Geflügel im Lauf des Vormittages heute verspeisen wird, steht fest. Ob dieser andere Prozess, auf den seine Mutter so große Hoffnung setzt, wohl auch schon im Gange ist? Ob es schon zu gären begonnen hat im großfamilären Untergrund? Ob da schon eine grundbücherliche Plombe im kollektiven Familienunterbewußten angebracht wurde? Immerhin ist es bereits über ein Jahr her und man sollte langsam etwas bemerken davon, denkt er. »Das liegt alles nicht in unserer Hand,« hat Mama ihm erklärt, »man darf sich keine Wunder erwarten – derartiges wäre vermessen! Wir können zwar nicht wissen, was das Beste für uns alle ist, doch falsch war es keinesfalls, das zu machen. Ganz im Gegenteil – längst schon hätte ich es tun sollen!« Nach einiger Zeit hat der junge Beobachter genug Dächer und Morgennebel gesehen, schließt mit einem lauten Klackgeräusch das Fenster wieder und wandelt gähnend quer durch die Dachwohnung in Richtung Küche und Frühstück. Im Vorbeigehen wirft er einen Blick in sein Schlafzimmer, wo sich ein rapidgrün-weiß-gestreifter Daunendeckenkumulus im soeben verlassenen Bett auftürmt. Am Boden davor bildet ein Teller mit zwei Zentimetern vertrockneter Brotrinde gemeinsam mit einer alten geblümten Blechdose und einem vereinzelten Stinksocken ein Stillleben. Die Blechdose ist richtig antik, nicht etwa mit Serviettentechnik und Krakelierlack künstlich gealtert.
Mein Auge ist getrübt vor Kummer, ich bin gealtert wegen all meiner Gegner.
Ps 6,8
Es ist gestern spät geworden, hier heroben im Giebelrefugium seiner Patentante. Sie hatte ihn vom Internat abgeholt, damit er gleich hier übernachten kann, da sie beide heute schon früh in Richtung N. aufbrechen müssen. Dort, in ca. 400 km Entfernung, strömt nämlich ihre Großfamilie, die Rosenmüller, an diesem Tag zusammen, um einen der Ihren zu beerdigen. Leise summend wandert Kilian Rosenmüller, so heißt der Bub, nun auch an der Schlafzimmertür seiner Tante vorbei, wo sich ebenfalls ein zerknüllter Deckenturm auf dem Bett ballt. Mitten im Raum steht dort ihr großes weißes Holzbett auf dunklem Dielenboden. Bis auf eine Gitarre ihrer Wandhalterung und einen kleinen Ölofen auf genopptem Kupferblech ist das Zimmer völlig leer. Tante Verena nennt das pure style. Frau Szabo aus dem Erdgeschoß allerdings hat den derart kargen Raum erschrocken mit dem Herbeizitieren der gesamten Heiligen Familie (als Ausdruck des Erstaunens oder Erschreckens) kommentiert: »Jessasmarantjosef! San sie etwa aus’graubt worden?«
Alles ist aus Leere gemacht. Form ist verdichtete Leere
~~~ Albert Einstein ~~~
The usefulness oft he cup is its emptiness
~~~Bruce Lee ~~~
Herr, wer ist wie du? Du entreißt den Schwachen dem, der stärker ist, den Schwachen und Armen dem, der ihn ausraubt.
Ps 35,10
Irgendwann beim Großvater unten …
...in seiner Werkstatt
Er hat seine Brille vorne auf die Nase geschoben und feilt sorgsam an einem filigranen Holzteil herum. »Weißt du, was ›Prost‹ bedeutet, Kilian?« Das Latzhosenkind mit Strubbelhaar sitzt zwischen den goldenen gerollten Holzlocken auf der Hobelbank. »Na so was Ähnliches wie ›Mahlzeit‹, gell? Nur beim Trinken halt, statt beim Essen.« Der Großvater seufzt und feilt weiter. »Es bedeutet, dass es einem nützen soll und zuträglich sein möge. Sich ›Mahlzeit‹ allein zu wünschen ist ja ein Blödsinn, so als würde ich jemanden ›Fahrt!‹ statt ›Gute Fahrt!‹ zurufen.« Dann schweigen sie, einer feilt, einer schaut zu. »Menschen hören, sehen und lesen Botschaften, doch haben sie oft keine Ahnung mehr, was die bedeuten,« erörtert der Großvater weiter, »das Gespür für die Zusammenhänge ist uns oft schon abhanden gekommen, Herr Enkel. Da steht so ein großer ummauerten Misthaufen vor einem Bauernhof und alles, was uns noch dazu einfällt ist: ›Misthaufen, igitt stinkt!‹ oder: ›Misthaufen, aah wie romantisch – der Duft vom Landleben!‹, dass aber ein großer Misthaufen eine Botschaft transportiert, nämlich: Viel Vieh und daher viel Arbeit, das ist kaum mehr bekannt. Oder dieses Warnschild oben am Pass, auf dem Winter für Winter zu lesen steht: ›Schneepflug räumt links‹. Immer wieder gibt es Leute, die es lesen, ohne seine Botschaft zu verinnerlichen. Es bedeutet nämlich, dass der Pflug jederzeit auf deiner Seite daherkommen kann!«
Hier in Verenas Wiener Dachwohnung denkt Kilian nun daran, wie viele Gespräche er mit seinem Opa geführt hat im Lauf der Jahre. Nun ist er nicht mehr da, von uns gegangen heißt das auf seinem Partezettel, entschlafen stand auch noch zur Auswahl. In den Sinnbezirken von Krankheit und Tod empfindet man oft einen Euphemismus als angebracht. Er betrachtet nachdenklich seine kleine, am Hocker kauernde Tante und fragt sich, ob sie als Kind wohl auch immer auf der Hobelbank gesessen ist, unten in der Werkstatt (und ob sie dort auch heimlich vom nach Marzipan duftenden Pelikanol®-Kleber gekostet hat … ).
… Bittermandel Marzipan Pelikanol …
»Da, schau!« sagt sie soeben und reicht ihm seinen Teller mit dem fertigen Butterkipferl. Kilian macht es sich damit auf einer kleinen Couch ihr gegenüber gemütlich. Wohlwollend betrachtet Verena ihren Lieblingsneffen, den sie aufgrund seines dichten und glatten Haarschopfs manchmal auch Sumpfbiber :8= beaver nennt. Ihr Häferlarm ist mit dem Ellbogen auf die Arbeitsplatte gestützt, während sie mit dem Weckerlarm selbiges ca. 20cm vor ihrem Gesicht balanciert. Um die Augen herum ist ihre Haut leicht gerötet und angeschwollen. Sie hat viel geweint gestern, während sie beide noch bis spät in die Nacht alte Familienfotos aus der Blechdose betrachtet haben.
An den Strömen von Babel, da saßen wir und weinten, wenn wir an Zion dachten.
Ps 137,1
Großvaters Hobelbank steht unten in seiner Kellerwerkstatt in N., dort im großfamiliären Heimathaus der beiden Wiener Frühstückenden. Es ist ein sehr altes Haus, es steht oben auf einem oberösterreichischen Hügelrücken und unter Denkmalschutz. Im Erdgeschoß beherbergt es ein Einzelhandelsgeschäft, dessen winzige Wiener Filiale Kilians Tante leitet. Das Muttergeschäft hat erst vor einem Monat einen neuen Geschäftseingang aus Merantiholz erhalten. Gefertigt im familieneigenen Sägewerk samt Tischlerei unten im Tal. Er wurde mit weißer Dickschichtlasur endbehandelt und mit einem breiten Rundbogen, passend zum alten Einfahrtstor gleich daneben, ausgestattet. Ein hübscher Neubau etwas weiter oben am Hang beherbergt weitere Familienmitglieder der beiden und verfügt ebenfalls über einen Keller. Dort unten ist soeben ein stämmiger Mann Jahrgang 1960 damit beschäftigt, Liegestütze auf einem Swiss-Ball zu vollführen und dabei bemüht, den Körper möglichst gerade zu halten. Er gähnt, denn viel geschlafen hat er heute Nacht nicht.
In Frieden leg ich mich nieder und schlafe ein; denn du allein, Herr, lässt mich sorglos ruhen.
Ps 4,9
Kilian und seine Tante frühstücken schweigend, denn auch sie sind unausgeschlafen und noch einige andere Leute aus ihrem Umkeis ebenfalls. Genau genommen gibt es da zwei, sich an mehreren Stellen überschneidende Kreise, einen in Wien und einen weiteren in N.
Zu den heute-nicht-wirklich-gut-geschlafen-habenden Personen des Wiener Kreises gehören:
Der Lehrer
Frondienst
, der beim nächtlichen Schularbeitenkorrigieren sehr wohl bemerkt, dass sich seine französische Mitbewohnerin (
Mademoiselle P.)
schon wieder für Stunden aus dem Haus schleicht.
Meister Yoda
, aufgrund des gestern herrschenden Niederdrucks an schlimmen Träumen und Herzbeschwerden leidend. Er sitzt einige Stunden aufrecht in seinem Bett und starrt in die Dunkelheit.
Van Helsing
, noch bis weit nach Mitternacht an seiner neuesten Erfindung herum tüftelnd.
Der Koch, ebenfalls noch bis weit nach Mitternacht an einem großflächigen Blechkuchen herum bessernd.
Schlaflos in N. waren:
Die Heilmasseuse
E/B. Sie döst halb aus dem Doppelbett hängend, ohne den regenerativen Tiefschlaf zu erreichen, weil sich der verschwitzte rothaarige Zwerg um ein Uhr schon wieder einfach zwischen sie und ihren Mann quetscht.
Der
Festmeter
P. hat die Jagdbegleiter bei einer vom Revierverwalter veranstalteten Treibjagd einzuteilen. Es wird schon dämmrig, als endlich die ersten Schüsse brechen, bei der anschließenden Schweißarbeit wird er ebenfalls benötigt und bis spät in die Nacht sitzt dann noch die übliche feucht-fröhliche Runde beisammen.
A., die Mutter des
Phantoms
, findet keinen Schlaf aufgrund quälender chronischer Unterleibsschmerzen, welche in letzter Zeit (ebenso wie die Albträume) Gott sei Dank schon seltener werden. »Alles besser, als wieder von schaukelnden Quasten zu träumen«, denkt sie, schüttelte sich und macht sich eine Wärmeflasche.
Deren Mutter (logischerweise die Großmutter des Phantoms) liegt aufgrund von Herzbeschwerden ebenfalls wach, sowie aufgrund von Informationen, die ihr beim Friseurbesuch zuteilwurden. Hat sie doch in einer Illustrierte lesen müssen, dass der Kalender der Maya im Dezember 2012 zu Ende geht. Sollte das von ihr Befürchtete also da passieren? Würden ihre Mineralwasservorräte ausreichen?
Der
Defibrillator
wird plötzlich hinaus in die Nacht zu einem Notfall gerufen.
Die schwarz gekleidete Frau Sabhi in N. braucht nicht extra erwähnt zu werden, denn sie schläft sowieso nur tagsüber und schleicht nachts durchs Haus. Mel in Wien hat auch nicht gut geschlafen, aber das ist ebenfalls unwichtig – er kommt ja nur auf den Seiten 20 bis 22 vor und dann nie mehr. Die Zeit für Mel, den Zoofachhandlungsbediensteten, den alle nur Rapunzel nennen, aufgrund seiner Haarpracht, war gestern einfach wieder einmal reif geworden. Reif dafür, sich seufzend in Duschtassenhöhe zu begeben, um sich die Dreadlocks [1] von der Freundin darin waschen zu lassen. Vor dem bewährten sanften Nachtrocknen der Haarunmenge auf niedriger Föhnstufe wurden alle greifbaren Badetücher des Zweipersonenhaushalts am Fußboden ausgebreitet, die Haarpracht darin eingewickelt und überschüssiges Wasser sowohl durch einen Nudelwalker, als auch durch Herumtreten der Freundin auf der Haarpalatschinke herausgepresst. Wie beim Keltern von Trauben macht sie das immer.
Warum aber ist dein Gewand so rot, ist dein Kleid wie das eines Mannes, der die Kelter tritt? Ich allein trat die Kelter; von den Völkern war niemand dabei. Da zertrat ich sie voll Zorn, zerstampfte sie in meinem Grimm. Ihr Blut spritzte auf mein Gewand und befleckte meine Kleider.
Jes 63,2-3
Doch leider, leider hat der Fön einen Feuchtigkeitskurzschluss und es wurde eine schlaflose (weil ungemütlich feuchte) Nacht für Mel. So viel kann jedenfalls gesagt werden: Nur wenige Individuen aus der Personenmenge, die das gegenwärtige soziale Umfeld Kilians und seiner Tante bildet, haben in der vergangenen Nacht ausreichend Schlaf gefunden. Kilians Tante Verena ist ebenfalls ziemlich müde. Daher ist ihr Weckerlarm heute einmal ganz entspannt und ruhig, wie ein Kranich bei der Meditation. Sonst, an normalen Tagen, muss er stets rudernd und dirigierend ihren Redefluss begleiten, denn die junge Frau spricht viel. Über dem Essplatz in der Miniküche baumelt ein ausrangierter Grammophonschalltrichter – renoviert und juicy-orange lackiert, ein Geschenk von Onkel Hansi. Der Trichter dient nun als Lampenschirm und hat starke Ähnlichkeit mit einer überdimensionalen Zucchiniblüte. Verena blickt nachdenklich auf ihre zarten Klettererdbeeren draußen am kleinen Klopfbalkon. Sie schaukeln in einer sanft von der Wiener Stadtluft gewiegten Pflanzampel über den in alten Twinings®-Teedosen wachsenden Küchenkräutern. Zwickt man ihre ersten Blüten ab, so entstehen Triebe und in der Folge üppig viele Beeren und starke Ranken. Das Abzwicken hat sie aber auch heuer wieder nicht übers Herz gebracht! Auf Verenas Kopf sind einige Papiertaschentücher eingearbeitet, der Großteil ihrer dunklen Haare (Dunkelblond heißt die Farbe lt. Friseur Fritz, nicht-Friseure nennen es Dunkelbraun) ist allerdings auf elastische Lockenwickler gedreht, deren Struktur Kili sehr an den Spiraldarm eines Haies erinnert. Erst neulich hat er so einen Darm im Naturhistorischen Museum in Wien gesehen. Auch diese durchbrochenen Schaumstoffschläuche (einem Linzer-Tortengitter nicht unähnlich), wie sie obstschützend für Mangos und Papaya im Supermarkt verwendet werden, fallen Kilian dazu ein.
Der Mann im Fitnessraum in N. ist identisch mit dem Defibrillator, der nächtens zum Notfall musste. Er ist Arzt, Defibrillator oder kurz Defi ist sein Spitzname und das hier ist sein Haus. Momentan hat er die angewinkelten Beine unter einer Langhantel fixiert, hebt die vorher mit beiden Armen über der Brust gehaltene Kurzhantel überkopf und löst dabei den Oberkörper vom Boden (Crunches mit Frontheben). Diese Position wird kurz gehalten und er denkt dabei grimmig an seinen Sohn Patrick, der vorhin oben in der Mulde des weichen Ledersofa saß, wie immer in diesen weichen italienischen Schuhen (Tod’s®)! Den kalbsgroßen Hund hatte er neben sich auf einer Decke, kraulte ihn und redete sanft und freundlich auf das Vieh ein, als wäre es ein Mensch. »Mein Gott, Ricky! Unser Mars ist eine Waffe und kein Schoßhund!« hatte Defi erneut klarzustellen versucht. Sinnlos bei so soften Söhnen!
Verena kaut am letzten Weckerlstück, rutscht aber schon gleichzeitig halb vom Sitz und trinkt dabei noch den letzten Teerest aus. An den verknoteten Taschentüchern herumfingernd schiebt sie mit einem Fuß den Hocker zurück und nuschelt dabei unverständliche Anweisungen in Richtung Kilian. Ein Streifen blassgelbes Morgenlicht umsäumt in diesem Moment wie ein leuchtendes Bändchen die Küchenkastlränder, trifft dann auf Verenas Haar und lässt es schimmern.
Zahlreicher als die Haare auf meinem Kopf sind die, die mich grundlos hassen. Zahlreich sind meine Verderber, meine verlogenen Feinde. Was ich nicht geraubt habe, soll ich erstatten
Ps 69,5
Verena ist nämlich Multi-Tasker. Während ihre Mutter, Helene, stets Eine Arbeit nach der anderen! predigt, kann Frau Tochter gleichzeitig lesen und Geburtstagskarten schreiben, Geschirrspüler ein/ausräumen und dabei telefonierten. Helene ist die Großmutter von Kili.
Auch Damenbarthaare auszupfen und telefonieren geht. Bei gleichzeitigem Mülltrennen, PC herunterfahren, eincremen und Salat waschen wird es allerdings kritisch, aber Tante hat ja, da sie Ostösterreicherin ist, keinerlei perfektionistische Ansprüche – im Westen wird es angeblich ordentlicher, insbesondere bei den »Gsibergern« (im Vorarlberger Dialekt fehlt die Mitvergangenheitsform beim Verb sein daher i bin gsi: statt i wår). Deshalb liegen auch manchmal winzige dunkle Barthaare auf dem Bügel- oder Fensterbrett, manchmal steckt eine Pinzette oder ein Kugelschreiber im Blumentopf, manchmal gibt es eben keine sauberen Gläser mehr und manchmal werden nur 50% der abgezogenen Pölster wieder frisch bezogen (Verena besitzt eine gerade Anzahl von Polstern). Frau Sabhi, die nächtens durchs alte Haus in N. schleicht und stets schwarze Kleidung trägt, braucht überhaupt keine Pölster und daher auch keine Pölsterbezüge. Sie schläft nämlich nicht in ihrem Bett, obwohl sie ein eigenes Zimmer hat, sondern ausschließlich auf dem Diwan und ausschließlich bei Tag, wenn andere Menschen um sie herum sind. Nur so fühlt sie sich sicher genug, um überhaupt ein Schläfchen zu wagen. Laut soll es dabei idealerweise auch noch sein; eine Geräuschkulisse braucht sie. Bei (in diesem Haus sehr seltenen) längeren Gesprächspausen bewirkt die so entstandene Stille sofortiges erschrecktes Aufwachen von Frau Sabhi. Statt eines Polsters wickelt sie ihre (natürlich schwarze) Weste zusammen und bettet ihren Kopf auf das dunkle Bündel.
Schon spannen die Frevler den Bogen, sie legen den Pfeil auf die Sehne, um aus dem Dunkel zu treffen die Menschen mit redlichem Herzen
Ps 11,2
Manchmal, wenn es denn gar zu weit ins Chaotische driftet mit Verenas Multitasken, dreht Jadéite, ihre französische Mitarbeiterin im Wiener Shop, seufzend die Augen über, lässt sich entnervt auf den Sitzsack fallen und legt ihre beiden perfekt manikürte Mittelfinger an die zuständigen Stress-Akupressurpunkte auf den Schläfen. Sie massiert diese Stellen hingebungsvoll mit sanft kreisenden Bewegungen, schließt die Augen und entspannt sich wieder – jå mei! (österr. für oh my! bayr. für whatever!) Jadéite ist Dolmetscherin. Auf einer Medizinischen Konferenz wurde sie heuer im Frühling spontan vom zufällig dort anwesenden Rosenmüllerehepaar Defi und Rentier nach Österreich eingeladen. Normalerweise sind diese beiden ja nicht sehr spontan, doch die liebenswürdige Französin muss ihnen auf der Stelle einfach unglaublich sympathisch gewesen sein. Dass dabei keinesfalls der Zufall im Spiel, sondern alles von langer Hand geplant war, wird sich erst später herausstellen. Jadéite hat sich zudem verliebt und Verena ist sehr neugierig, aber die hübsche neue Mitarbeiterin verrät ihr nichts! Sie summt bloß andauernd die Melodie von Mr. Tambourine Man vor sich hin. Damit könnte allerdings jeder Mann gemeint sein, der halbwegs musikalisch ist.
Irene ist Physiotherapeutin und hat im familiären Hausgebrauch den Beinamen das Rentier. Ihr Mann Pius aka der Defi ist Spitalsarzt und ein Neffe von Helene und deren Mann, Adalbert Rosenmüller (ein geborener Kramer), dem soeben verstorbenen Opa Kilians. Opa wurde vom Defi und den Seinen aber nicht Onkel Adalbert, sondern – aufgrund seiner Hausnummer – nur der Dreizehnerbertl genannt. Bei Kilians Großfamilie mütterlicherseits, den Rosenmüllern (südbayrische Tischler seit Generationen mit Wiener Verwandtschaft), ist es nämlich üblich, Familienmitglieder, Freunde und Bekannten mit Beinamen zu versehen. An sich ist das ja noch nichts Ungewöhnliches und wird bald einmal wo gemacht, das Besondere bei den Rosenmüllern ist aber, dass es hier schon fast zwanghafte Züge angenommen hat, mit größter Begeisterung und flächendeckend betrieben wird. Keiner entkommt der exakt für ihn komponierten Buchstabenkombination im IFC, dem interfamiliären Code.
Unsre Seele ist wie ein Vogel dem Netz des Jägers entkommen; das Netz ist zerrissen und wir sind frei.
Ps 124,7
Da Verena sowieso auf der Suche nach einer Mitarbeiterin ist und Jadéite gerne direkt in Wien arbeiten möchte, ergänzen sich die beiden Frauen nun prächtig, vor allem was ihre Kreativität betrifft. So gibt es im Shop seit ein paar Monaten neben den üblichen Souvenirs auch noch von ihnen entworfene Leiberl, Taschen und Schirme, die bei der Kundschaft bis dato auf helle Begeisterung einerseits und auf strikte Ablehnung andererseits stoßen. Auf diesen Shirts prangt etwa vorne das bekannte Winterhalter-Gemälde der Kaiserin Elisabeth (Sisi mit ihren Haarsternen in der üppigen weißen Charles Worth-Robe aus Tüll) und auf der Rückseite findet sich wahlweise der Schriftzug: Küss di’ Hand gn’ ä Frau! (natürlich wurde die österr. Kaiserin nicht so angesprochen) oder Durchlauchtigster Diener! Das Selbstportrait von Egon Schiele ist mit Schnorrst ma an Tschik? (Hast du eine Zigarette für mich übrig?) ausgestattet bzw. dem Piktogramm eines erhobenen Mittelfingers. Ein Leiberl mit dem Portrait von Franz Schubert ist wahlweise mit den Noten von Leise flehen meine Lieder oder aber mit dem Satz: Das Leben ist eine sexuell übertragbare Krankheit erhältlich. Dieses Exemplar führt zu derart großer Aufregung, dass es aus dem Verkauf gezogen werden muss. Gar eine bedauerliche Reduzierung des unsterblichen Meisters aufs rein Negativ-Biologische macht das Lokalblatt da aus. Solcherlei zeuge von einer niedrigen Gesinnung steht weiters zu lesen. Das Gipfeltreffen heuer in Athen interessiert die Leute im Grätzel vergleichsweise weniger. Beide Frauen entschuldigen sich in Form eines Leserbriefs bei allen Schubert-Fans und gestalten reumütig ein liebevolles Eckchen mit CDs, Lithografien und Biografien des unsterblichen Meisters zur Wiedergutmachung. Einen Monat lang gibt es gratis Mozarttaler von Mirabell® für jeden, der sich im Shop als Fan von Franz Schubert outet, um die bittere Kränkung mit Süße auszugleichen. Besonders betroffen ist Verena über die ihr unterstellte niedrige Gesinnung, sowie über die sanfte Rüge ihres Vaters. Doch dann wird Österreich plötzlich Tischtennis-Weltmeister, gleich darauf kommt das erste geklonte Pferd zur Welt und schließlich sorgt die Hitze des Jahrhundertsommers für jede Menge anderen Gesprächsstoff.
Irgendwann beim Großvater unten …
… in seiner Werkstatt
»Ich kenne dich doch so gut, Frau Tochter, wie meine Westentasche kenne ich dich!« sagt der alte Mann mit tadelndem Unterton, »Du hast ein gutes Herz und bist doch ein Schelm. Die Syphilis vom Schubert Franzl hast sehr wohl angedacht irgendwo hinten in deinem hübschen Kopf. Provozieren wolltest wieder, stimmts?« Dabei schaut er sie über die Brillenränder an und hebt langsam den Zeigefinger. Verena, siebenundzwanzig, fühlt sich von ihrem Papa durchschaut wie eine Siebenjährige und errötet daher leicht. »Nicht ganz, Papa,« meint sie »originell wollten wir eben sein.« Sie schauen sich an und er meint sanfter: »Vergiß nicht deine Verantwortung, Kind. Alles, was wir von uns geben, jedes Wort, das wir sprechen, sagt etwas über uns aus. Jeder Gedanke wird zum Teil unserer Welt und kann nicht mehr zurückgenommen werden.«
Was einmal gedacht wurde, kann nicht mehr zurückgenommen werden ~~~ Johann Wilhelm Möbius ~~~
Erforsche mich, Gott, und erkenne mein Herz, prüfe mich und erkenne mein Denken! Sieh her, ob ich auf dem Weg bin, der dich kränkt, und leite mich auf dem altbewährten Weg!
Ps 139, 23-24
Die Seele hat die Farbe deiner Gedanken
~~~ Mark Aurel ~~~
Normalerweise nimmt Kilians Tante es durchaus ernst mit ihrer Verantwortung. Gerade hat sie ihre beiden Zwergkaninchen fürsorglich gefüttert. Die pelzigen Herren nagen gemeinsam an einer Möhre. Es ist allerdings nicht restlos geklärt, ob es sich bei den Tieren tatsächlich um Männchen handelt. Mel, der Verkäufer in der Tierhandlung, hat Kilians Tante damals nämlich äußerst erstaun angeblickt, als sie den Wunsch nach einem entweder weiblichen oder männlichen Paar von Zwergkaninchen äußerte. Der aus München stammende Mel (mit blonden Dreadlocks) ist hier in Wien als Arbeitsmigrant gelandet. Tiere sind die besseren Menschen steht groß auf seinem Schlabbershirt.
Im Restaurant La Paloma sagt Koch Max soeben zu Koch Antonio: »Nein Antonio, du bist kein Gastarbeiter – nicht jeder Italiener ist automatisch schon Gastarbeiter, also bitte!« »Doch Massimo, doch, ich bin Gastarbeiter.« »Ein Gastarbeiter im engeren Sinn kam nach Deutschland aufgrund von Anwerbeabkommen, inzwischen werden eben alle Arbeitsmigranten so genannt.« »Siehst du Massimo, deshalb bin ich Gastarbeiter, du hast mich angeworben!« »Ich bin doch nicht Ludwig XIV., ergo auch nicht der Staat und habe dich auch nicht als solcher angeworben, also bist du auch kein Gastarbeiter!« »Massimo, bitte! Ich koche für Gäste, ich bediene Gäste – daher bin ich Gastarbeiter, basta!«
Damals in der Tierhandlung zieht Mel jedenfalls einmal durch die Nase auf und fragt empört mit verschnupfter Stimme: »Ja was ist denn mit euch beiden los? Seids ihr vielleicht heterophob oder was?« Verena verneint natürlich und erklärt, dass sie nur keine unkontrollierte Kaninchenvermehrung haben möchte. »Tut mir leid,« meint Mel da, »aber ich kann für nichts mehr garantieren. Suchts euch einfach zwei aus, es gibt sowieso kein Geschlecht mehr.« »Bitte wie – bitte was?«
Meine Tage schwinden dahin wie Schatten, ich verdorre wie Gras. Du aber, Herr, du thronst für immer und ewig, dein Name dauert von Geschlecht zu Geschlecht.
Ps 102,12-13
»8-O Omigod, wo lebts ihr Österreicher denn bloß? Es gibt doch jetzt nur mehr das Gender (Mel spricht es »Tschändah« aus) und dieses ist frei wählbar. Wenn ihr also jetzt ein sogenanntes Männchen und ein sogenanntes Weibchen bei mir kaufts und der sogenannte »Er« überlegt es sich auf dem Heimweg plötzlich, dann habts ihr daheim bestenfalls … Moment …« Jedesmal bei Verwendung des Wörtchens »sogenannt« klammert Mel mit gekrümmten Zeige- und Mittelfingern unsichtbare Gänsefüßchen in die mit Tier-, Stroh- und Futtermittelgerüchen reichlich gesättigte Zoofachhandlungsluft. Nun zieht er die Stirn in Denkfalten, legt den Zeigefinger an die geschlossenen Lippen und starrt angestrengt zur Decke, von der ein paar Vogelkäfige baumeln, »… bestenfalls zwei Lesberln im Käfig sitzen!« Kilian und Verena starren ihn verständnislos an. Mel überlegt erneut angestrengt und rechnet dabei an seinen Fingern herum, »Nein, also moment einmal! »Er« wird jetzt bi und »Sie« bleibt … aber, na ja, eh wurscht! In eurem Fall natürlich komplett umgekehrt und von hinten verstanden und natürlich relativ betrachtet. Jedenfalls kann ich dafür auf kei-nen Fall die Verantwortung übernehmen oder auch nur irgendetwas garantieren, tut mir leid!« »Wieso Verantwortung?« Verena hat ihre Sprache wieder gefunden. »Na ich soll mich ja euch gegenüber jetzt auf ein Geschlecht festlegen und wenn es dann nicht stimmt, zerrts ihr mich vor den Kadi von wegen Produkthaftung und so.« Kili versteht zwar schon längst überhaupt nichts mehr, aber seine Tante fragt skeptisch nach: »Wie soll ich das denn bitte verstehen Mel? Du behauptest allen Ernstes, dass bei deinen Zwerghasen am Heimweg spontane Geschlechtsumwandlung vorkommen wie etwa bei Jurassic Park oder was? Vom Manderl zum Weiberl oder wie?«. Bei dieser Frage verliert Mel nun vollständig die Fassung: »Also erstens: Kaninchen! Zwergkaninchen, sagts bitte nicht an-dau-ernd Hasen, ich kriege ja Zuckungen wenn ich so etwas hör! Und zweitens: Manderl! Weiberl! Ja, wenn ich derartiges erst hören muss! Wollt ihr hier den Gleichstellungs-Backlash vorantreiben oder was? Seids ihr jetzt vielleicht gar noch homophob oder wie? Mein Gott, wo lebts ihr denn überhaupt? Wo bin ich denn da hingeraten, dass man hierzulande noch nicht einmal weiß, dass wir mit biologischen Merkmalen geboren werden, die bloß entlang eines Spektrums irgendwo zwischen männlich und weiblich angesiedelt sind? An-ge-sie-delt!« er brüllt es schon fast, »Ich bin nicht terrisch (taub), Rapunzel!« unterbricht Verena kurz seinen Redeschwall. (Das Wort Spektrum wird vom körpersprachlich begabten Mel übrigens nicht mit einen zeigefingergezogenen Luftstrich dargestellt, sondern durch einen Schlenkerer der flachen Hand symbolisiert, so als wäre diese ein Delphin hinter einem Boot. Nie wieder Damen-Slalom! Geht es Kili bei diesem Anblick durch den Kopf). Schon fährt Mel fort: »Diese zweigeschlechtliche Matrix ist doch längst überholt, ein vorgestriges erzwungenes Sozialkorsett! Aber was soll ich mich groß aufregen mit euch Österreichern, ihr wart ja immer schon ein bissel spät dran, auch historisch und modisch und überhaupt halt. Immer fünf Jahre hinterher.« Er snifft und zuckt resigniert mit den Schultern. Daraufhin erstehen Kilian und seine Tante rasch und schweigend zwei?? ohne Sozialkorsett und gehen nach Hause. Rasch und kopfschüttelnd. Das einzige, was Kili auf dem Heimweg noch fragt, ist: »Was ist denn ein Kadi?« Die Tante bleibt kurz stehen mit ihrem raschelnden Karton in den Händen. »Hm, ein Richter glaube ich. Ein islamischer – ich werde Herrn Grünbaum bei Gelegenheit fragen.« Sie gehen weiter und Verena schüttelt immer wieder den Kopf. Herr Grünbaum wohnt auch hier bei ihnen im Haus. Tante behauptet, dass sie ihn sehr sehr lieb hat. Er befindet sich aber in keinerlei Konkurrenz zu ihrem Freund Charlie, da beide Männer für ganz unterschiedliche Aufgaben und Tantenbedürfnisse zuständig sind.
Verena holt soeben frisches Wasser für die pelzigen Herren (?), wobei sie sich – um nicht auszuschütten – so wackelig fortbewegt wie ein Adler, der zu Fuß geht. Ebenfalls wackelig, da labil gelagert, liegt ein verknoteter Plastiksack mit dem kirschroten Logo des Bäckers ums Eck oben auf dem Kühlschrank (von Smeg® im 50-er-Jahre Stil). Der Sack ruht auf bunten Kochbüchern und daneben liegen ähnlich bunte Geschirrtüchern in Waffeloptik zwischen denen auch noch drei Spaghettipackungen ihren Platz finden. Das alles soll zufällig aussehen, doch Kilian weiß es besser: Eine halbe Stunde hat seine Tante damit verbracht, das ganze Zeug da genau so zu arrangieren. Die leblosen Statisten gehören allesamt zur Teilmenge: »Ich bin limettengrün, kirschrot oder hyazinthenblau.« Der Plastiksack wurde sogar noch hinten am Kühlschrank mit einem Doppelklebeband fixiert, denn Verena ist ein vor- und umsichtiger Mensch. Im Kühlschrankinneren befinden sich u.a. einige »Pizzen«, wie Antonio sie nennen würde – große flache Blechdosen mit Filmen. Mit vom Essigsyndrom befallenen Filmen, um genau zu sein.
Sie gaben mir Gift zu essen, für den Durst reichten sie mir Essig.
Ps 69,22
Beim Essigsyndrom baut sich ein Azetatfilm ab, schrumpft und beginnt sich zu wölben. Der typische Essiggeruch wird bemerkbar. Ab einem gewissen Punkt steigt die Zerfallsgeschwindigkeit rasant an, aber wenn man betroffene Filmrollen schnell kühler lagert, kann man das noch etwas hinauszögern. Die Filme gehören Verenas Freund Charlie, der, obwohl Erfinder, in seiner eigenen Wohnung leider keinen funktionierenden Kühlschrank hat. Man sollte sich auch, bevor man ans Erfinden geht, immer gut informieren, was es da schon alles gibt auf dem Erdball. Natürlich wusste Charlie, dass Dinge wie der Globus schon erfunden sind. Einmal hat er allerdings einen galvanisierten Metallbehälter mit Ventilationslöchern und Deckel ersonnen, um darin Gartenabfälle wie Laub, Baumschnitt und kleinere Äste kontrolliert und ohne lodernde Flammen verbrennen zu können, nur um danach feststellen zu müssen, dass derartige Abfallverbrenner längst erhältlich sind. Auch seine waschbaren Lüftungsfilter aus Polyurethan gab es bereits – diese Idee hatte Herr József Dudás aus Ungarn lange Zeit vor Charlie gehabt (die Lüftungsfilter in der Zeit davor waren aus Papier).
Manchmal haften auch kurze Gedichte vom Erfinder Charlie mit Kühlschrankmagneten an der Metallwand. Tantes Freund verfasst nämlich hin und wieder Lyrik für seine Freundin, aber Verena weiß es leider nicht zu schätzen. Stimmungsbilder for U nennt er das. Nach ihrem Gesicht zu schließen sollte er sie besser Stimmungskiller for U nennen. Da hängt ja schon wieder so etwas – leicht erkennbar an Charlies permanent halbleerer Druckerpatrone! Kili nimmt den Zettel ab und liest, während seine Tante im Badezimmer rumort:
für eine very besondere verena – von einem very wartenden charlie (der offenbar alles klein schreiben muss)
oben …
ganz oben …
ganz weit oben …
auf dem Großglockner [2] möcht i stehen
im ewigen eis,
nackert …
(Kilian verkutzt sich am Kipferl)
nur in ein nasses leintuch gehüllt
(dem Bub fröstelt bei der Vorstellung, er verkriecht sich daher samt Zettel und Kipferlrest wieder im Bett)
um beim unerhört erfrieren noch deinen namen zu skandieren …
… gelo e poi sento l’alma avvampar, e in un momento torno a gelar …
Das war eine weise Entscheidung mit seiner Rückkehr ins warme Bett, findet Kili und schüttelt sich. Als er den Zettel umdreht, entdeckt er dort noch eine handschriftliche Notiz. In adoleszenter 1969-er Schulschrift, die er nun unter Schwierigkeiten entziffert – der Bub hatte als 89-er Jahrgang schon die 95-er Schulschrift. »Ich bin ein Träumer …« steht da, »… ich träume von einer Partnerin mit vorhersehbarem Verhalten.« Kilian zieht die Stirn in Grübelfalten – »Vorhersehbares Verhalten« – was sollte man sich darunter wohl vorstellen? Logisches und folgerichtiges Verhalten vielleicht? Erwartete Charlie von Verena nun etwa im Anschluss an dieses frostige Stimmungsbild gar ein baldiges Vorfühlen ihrerseits bei der Bergrettung Heiligenblut von wegen bevorstehender alpiner Leintuchperformance?
Sie durfte sich kleiden in strahlend reines Leinen. Das Leinen bedeutet die gerechten Taten der Heiligen. Jemand sagte zu mir: Schreib auf: Selig, wer zum Hochzeitsmahl des Lammes eingeladen ist.
Offb 19,8-9
Als Verena aus dem Bad zurückkommt stolpert sie beinahe über einen Karton, der da direkt am Ripsläufer neben der Wohnungstür steht. Sie selbst hat ihn gestern allerdings ganz bewußt so positioniert, um ihn in der Eile des Aufbruchs nur ja nicht zu vergessen. Jadéite ist nämlich begeisterte eBayerin und Verenas Großfamilie in N. macht ausgiebig davon Gebrauch. Der Karton beherbergt die neuesten Ergebnisse der Begeisterung. Kilians +Opa hatte sich zuletzt noch über Musikkassetten von Elvis und Johhny Cash für seinen staubigen Uraltrekorder unten in der Werkstatt freuen dürfen und Kilian gleich mit ihm, denn das vorhandene Kassettenmaterial kannte er schon in- und auswendig. In seiner Kriegsgefangenschaft hatte Opa Englisch gelernt, was für Leute seiner Generation und seines Bildungsstandes damals ungewöhnlich war. Songs von Johnny Cash und dem King hatten ihm dabei geholfen, das Gelernte nicht gleich wieder zu vergessen. Tante Emmi, Omas ältere Schwester, wird bald den Fifty Year Canon of Solar Eclipses 1986-2035 von Fred Espenak in ihren vor Aufregung zitternden Händen halten dürfen. Sie hat vor ihrer Pensionierung Mathematik in der Bezirkshauptstadt unterrichtet. Ihr Sohn Klaus wiederum, ein Cousin von Verena und Elisabetta (Kilians Mama), der durchaus selbst in der Lage gewesen wäre, etwas einzustellen oder mitzubieten, überlässt das alles ebenfalls Jadéite. Er unterrichtet neben Geschichte auch Deutsch und muss sich berufsbedingt über die Rechtschreibfehler der eBayer aufregen. Der Französin ist es aber egal, sie freut sich höchstens, wenn ihre Deutschkenntnisse schon besser sind, als die der Anbieter.
Im Auftrag von Onkel Hansi entdeckt und ersteigert Jadéite regelmäßig Raritäten auf dem Schellacksektor. Eine davon, betitelt mit Heute fliegt der Luxuszeppellin (New York –Berlin … ), liegt jetzt ganz oben auf dem Karton, zwei weitere (Ilse Werner und – Ich küsse ihre Hand, Madame) stecken noch zwischen Büchern. Schellackplatten können, da sie überwiegend in Seitenschrift geschriebene Rillen haben, mit einem gewöhnlichen Grammophon (dicke Stahlnadel) oder mit einem elektrischen Plattenspieler (Spezialnadel) abgetastet werden. Onkel Hansi besitzt beides davon und zwar gleich in mehrfacher Ausführung.
1967 (das Straßenbahnjahr, in dem es noch die Linie 360 als Fortsetzung der Linie 60 von Mauer über Perchtoldsdorf und Brunn nach Mödling gab) zeigt die fast achtzehnjährige Schülerin Ildikó Horváth in der Wohnung eines fast Vierzigjährigen mit dem Finger auf ein Grammophon »Funktioniert dieses alte Ding da überhaupt noch?« fragt sie zweifelnd. Hans Zeiler, Schaffner bei den Wiener Linien, hat ihr vorgestern spontan Asyl gewährt und bringt sie nun schon seit drei Tagen zum Lachen, allein dadurch, wie er spricht. Ildikó flüchtet gemeinsam mit ihren Eltern 1956 (das Straßenbahnjahr, in dem bei Gräf & Stift® die Gelenkwagen in Auftrag gegeben wurden) als kleines Kind aus Ungarn nach Österreich.
Elindultam szép hazámból, Híres kis Magyarországból.
Visszanéztem félutamból, Szememből a könny kicsordult.
Ich habe meine schöne Heimat verlassen, das kleine und berühmte Ungarn. Auf halbem Weg habe ich zurückgeschaut und dabei ist eine Träne aus meinem Auge über meine Wange geflossen.
Nach einem Aufenthalt in einem Grazer Flüchtlingslager leben sie alle in Norddeutschland. Begriffe wie Maarantana (die Hl. Maria und ihre Hl. Mutter Anna als Ausdruck der Verwunderung) und Habedieehre (die Begrüßung Ich habe die Ehre – ebenfalls als Ausdruck der Verwunderung) sind ihr daher unbekannt und lösen große Belustigung bei der sonst eher ernsten 1,85 m großen Schülerin aus. So ein Mann ist ihr noch nie begegnet, selbst gerade einmal 1,70 m groß nennt er sie Tschapperl! Hätte irgendein Gleichaltriger es jemals gewagt, Ildikó Horváth als hilfloses, ungeschicktes Dummerchen zu bezeichnen, ja hätte er es auch nur von ihr gedacht, die große Außensichel wäre ihre Antwort darauf gewesen! Aber bei diesem lustigen kleinen Herrn kann sie stets nur darüber lachen. »Ob es funktioniert? Na und wie das funktioniert!« Herr Zeiler legt sogleich eine Platte auf um zu demonstrieren, dass das alte Grammophon auch wirklich funktioniert. »Wertes Fräulein, darf ich bitten?« sagt er nun und verbeugt sich galant, was wildes Gekicher (er nennt sie Fräulein!) zur Folge hat. Danach tanzen die beiden (und das, obwohl Ildi zu Beginn des Jahres 1967 eher daran dachte, im Summer of Love zu Klängen von Scott McKenzie irgendwo an einem Strand mit Gleichaltrigen abzutanzen) aber ganz wunderbar …
… oh, Donna Clara, ich hab dich tanzen gesehen …
Ein solcher alter Grammophontrichter aus dem Besitz von Onkel Hansi durfte nun heuer, im Sommer 2003, anlässlich von Verenas Wohnungsrenovierung als Lampenschirm zweckentfremdet werden. Außer Schallplatten befinden sich noch Bücher und sorgsam verpacktes Geschirr in Verenas Karton. Rosa etwa, eine von Kilis Großtanten (Hansis Schwester, Defis Mutter, Mandis Frau) erhält zusätzliche Teile ihrer geliebten Gmundner Keramik der Serie Tupferl blau aus einem Nachlass. Für Klaus, den Lehrer, liegt ein bräunliches Heftchen ganz oben auf der ebenfalls braunen Hülle des Luxuszeppellins. Es ist eine 1943 vom Deutschen Schulverlag in Berlin herausgegebene illustrierte Brüderchen und Schwesterchen- Ausgabe der deutschen Bee Gees. Der Illustrator Teschemacher hat das inzwischen leicht müffelnde dünne Märchenheft mit zahlreichen Blondinen beiderlei Geschlechts bevölkert und auf Seite zwölf kommt, passenderweise um Mitternacht, sogar ein stillendes Nachtgespenst vor! Auf der letzten Seite schließlich raucht und lodert der Scheiterhaufen für die böse Hexe [3], worüber sich alle sichtlich und herzlich freuen.
Wie lange noch, Herr? Willst du auf ewig zürnen? Wie lange noch wird dein Eifer lodern wie Feuer?
Ps 79,5
Das Böse ist Teil des Menschlichen und wird uns niemals loslassen
~~~ Reinhard Haller ~~~
Für Franziska aka Nom Son wurden sowohl ein Kosmetikkatalog aus Paris als auch ein etwas neueres Exemplar von Bronstein und Semendjajews Taschenbuch der Mathematik ersteigert. Zwei Bücher über Genetik und Erbfolge sowie ein Kriegsmörser (alles für Onkel Hermann) komplettieren den Kartoninhalt. Franziska wird von der Familie deshalb Nom Son genannt, weil sie ständig Sonnenbrillen trägt, auch indoors. Ihr Beinamenskürzel bedeutet Nicht ohne meine Sonnenbrille. Oma wollte noch ein altes Waffenrad an den Meistbietenden verkaufen, doch dieses wurde von Regine (Defis Nichte, Mandis Enkelin, Kilis Traumfrau) beschlagnahmt. »Das Radl ist doch schon uralt, Gina …« gab Helene kopfschüttelnd zu bedenken. »Ehret das Alter!« hatte Regine lachend erwidert.
Irgendwann beim Großvater unten …
… in seiner Werkstatt
»Wieso soll man das Alter ehren, Opa?« fragt der Enkel und der alte Mann lacht schallend. »Ein hohes Alter, geliebter Herr Enkel, ist noch ebenso wenig ein Verdienst, wie eine große Oberweite. Nicht das Alter gilt es daher zu ehren, sondern rücksichtsvoll und verständnisvoll umgehen soll man mit alten Menschen – ihre Würde nicht verletzen. Die mit dem Altwerden einhergehende Hinfälligkeit und Schwäche und die aufkommenden Ängste soll man nicht lächerlich machen. Ganz so müssen aber auch die Kinder und Jugendlichen behandelt werden – mit Respekt und Achtung. Wie es um eine Gesellschaft bestellt ist, sieht man ja u.a. daran, wie sie ihre noch unsicheren Ankommenden und ihre wieder unsicheren Scheidenden wertschätzt, unterstützt und beschützt.«
Achtet und behütet die Kinder, die Gott euch schenken wird.
~~~ Ludwig Anzengruber/ Das vierte Gebot ~~~
Du sollst vor grauem Haar aufstehen, das Ansehen eines Greises ehren und deinen Gott fürchten. Ich bin der Herr.
Lev 19,32
Etwa zur selben Zeit, als Kilian und seine Tante sich im Frühstücksendspurt befinden, fragt im Frisiersalon Cut’n’Color Nähe Servitengasse Fritz (von allen Laugenbrezel genannt, weil er so gerne ins Solarium geht), ein ehemaliger Schüler von Klaus, diesen soeben: »Wie hätten wir es denn gern heute, Herr Fessor?« »Kurz.« Lautet die kurze Antwort. »Einen pfiffigen Streichholzschnitt vielleicht oder eine Herrenfrisur im Stufenschnitt? Da könnte man dann einen Scheitel andeuten links oder rechts und das Haar könnte auch nach hinten aus dem Gesicht getragen werden.« Klaus geht nicht gerne zum Friseur und man sieht es an seinem Gesichtsausdruck. Keineswegs empfindet er Friseurbesuche als Massage für die Seele wie etwa seine Tante Rosa. »Die Entscheidung für rechts oder links fällt bei mir in der Wahlkabine, ich will nix andeuten da oben, mein guter Fritz, ich will es nur kurz und unkompliziert haben.« »Na ja, also so ganz ohne Pflege geht es aber nicht ab. So eine shorty shorty Schüttelfrisur, die schreit, ja die lechzt geradezu nach Gel, gell? Ein Stufenschnitt wiederum will unbedingt geföhnt sein.« »Ja ja, mir scheint sowieso, dass jeder andauernd, unbedingt und lechzend etwas von mir will, nun also auch meine Haare! Machens bitte irgendetwas – so wie immer, Fritz. Ganz ideal wäre es, wenn ich mich gar nie mehr frisieren müsste und da oben die heilige Ruhe einkehrt.« »Genau diese gibt es aber nicht mehr, Verehrtester, auch wenn wir Wiener ständig und lauthals nach ihr rufen …« sagt ein beleibter Herr hinten am Hocker und lässt seine überm Journalmittelscheitel gefaltete Zeitung sinken. Klaus erblickt ihn im Spiegel. »Hat es diese Ruhe denn jemals gegeben? Ich glaube das ja gar nicht.« meint er zum Spiegelbild. »Na, eher als heutzutage doch schon, denke ich einmal. Früher war noch ein Bewusstsein dafür vorhanden, dass etwa der Sonntag kostbar ist oder die Sonntagsruhe ein Recht, das uns Menschen zusteht, weil es uns entspricht und Struktur gibt.«
… I’ ll be lazing on a Sunday, lazing on a Sunday, lazing on a Sunday Afternoon …
… but never on a Sunday, a Sunday, a Sunday – ’cause that’s my day of rest …
Klaus schaut äußerst zweifelnd drein: »Also, ob so ein Sonntag seinerzeit dann dafür ausgereicht hat, einen ausgelaugten schuftenden Ziegelböhm zu regenerieren, das sei einmal dahingestellt …« »Aber die hatten zumindest noch Sonntage, was soll ein Verkäufer heutzutage denn machen? Shopping bis zum Umfallen ist inzwischen offenbar ein Menschenrecht.« »Na ja, versichert sind wir inzwischen aber schon und Pensionen gibt es auch …« »Es geht mir ums Prinzip! Peregrinkipferln und Osterkipfeln sind nur deswegen etwas Besonderes, weil es sie eben nicht immer und überall gibt und der Sonntag ist auch etwas Besonderes und hat eine konkrete Funktion.
Ihr sollt auf meine Sabbate achten und mein Heiligtum fürchten. Ich bin der Herr.
Lev 19,30
Den Faschingskrapfen hat man uns durch seine ganzjährige Verfügbarkeit ja leider schon total verbanalisiert.« Fritz klappert mit der Schere, »Also bitte, meine Herren, samma bissi flexibel, gell – ich für meine Person steh’ jedenfalls schwer auf Weekend-Powershopping in Milano!« Nicht umsonst hängt ein lila Schild mit dem Lieblingsspruch von Fritz neben fliederfarbenen Trockenhauben:
Wer sagt, dass man Glück nicht kaufen kann, hat keine Ahnung von Shopping
~~~ David Lee Roth ~~~
Der Herr am Hocker taucht seufzend in seine Zeitung ab, was Fritz nur recht sein kann. »Und was machen wir zwei Hübschen jetzt, Herr Fessor, haben sie sich entschieden? Mit Stuferln oder die Schüttelfrisur?« »Begräbnisfrisur bitte.« »Also einen Scheitel wollns? Die Bestattung zieht nämlich immer einen feschen Scheitel.« »Nein, bester Fritz, ich liege ja noch nicht drinnen, ich beerdige nur.« »Ach so! Ja dann – ganz leger nach hinten tät ich sagen. Da samma dann nicht so pedantisch, gell?«
Seine Untat kommt auf sein eigenes Haupt, (…) fällt auf seinen Scheitel zurück.
Ps 7,17
Irgendwann beim Großvater unten …
… in seiner Werkstatt
»Wieso ist Pater Lenz gar so pedantisch? Nur weil der Jungbauernbund eine Traktorweihe in der Aussendung angekündigt hat, hat er sich gleich aufgeregt. Bloß weil da ›Weihe‹ statt ›Segnung‹ steht!« »Das ist eben ein Unterschied, oder sollen die Traktoren jetzt nur mehr für Wallfahrten verwendet werden? Wär mir neu …« »Sie haben es halt nicht gewusst …« »Dann hätten sie fragen können. Man spricht Deutsch!« »Aber ist denn das wirklich soo wichtig?« Der Großvater seufzt. »Was würde wohl passieren, wenn jemand im Bezirksblatt den SVN als Unterligaclub bezeichnet, hm? Das wär ein Aufstand, gell?« »Geh bitte, Opa, jedes Kind in N. weiß, dass wir Oberliga spielen!« »Eben, Kili, und jeder Christ sollte sich die Mühe machen, zwischen einem Segen und einer Weihe zu unterscheiden. Beim Segen bitten wir Gott um seinen besonderen Schutz für eine Sache oder eine Person, wobei ihr Zweck der gleiche bleibt. Eine Weihe aber bedeutet, dass sie nicht mehr die gleiche Aufgabe hat, wie zuvor, sondern eine andere, neue. Gegenstände für den Gottesdienst werden geweiht: Kirchen, Altäre, Kerzen, Kreuze, Andachtsgegenstände. Personen wie Bischöfe, Mönche, Nonnen etc. werden geweiht. Liturgische Traktoren sind mir aber noch nie begegnet und auch wenn meine verehrte Schwägerin Rosa noch hundertmal zur ›Fleischweihe‹ marschiert, weil man das halt bei uns so sagt, kommt sie von dort trotzdem jedes Jahr nur mit gesegnetem Osterfleisch zurück.«
»Ich will ja nicht pedantisch sein, aber gehst dich bitte endlich anziehen, Sumpfi?!« mahnt die Tante und breitet ihre Schminkutensilien auf der Fensterbank aus, wie ein Chirurg sein Besteck. Drinnen im kleinen Bad gibt es kein Tageslicht und sie will ja nicht geschminkt aussehen, sondern natürlich – Pure-look bzw. Nude-look – soll heißen, sie gibt sich 15 Minuten allergrößte Mühe damit, so auszusehen, als hätte es genau diese gar nicht gebraucht. Kili schaut ihr gerne zu. Zuerst cremt sie ihr Gesicht ein und füllt dann die Augenbrauen mit dunklem Puder und einem Brauenpinselchen auf. Es folgt ein Mikrotröpfchen Augenbrauengel zum Glätten widerspenstiger Härchen, ein Hauch Mineral-Make-up und anschließend noch grüner Concealer auf etwaige Wimmerl oder Augenringe. Danach kommt neuerlicher Make-up-Auftrag in kreisenden Bewegungen – sie spart dabei auch die Ohren und den Halsansatz nicht aus! Fixiert wird das Ergebnis rituell mit Thermalwasserspray (von Avène® – fast alle Pflegeprodukte Verenas stammen von dieser Marke, sowie von Weleda® oder Nuxe®) und der Endspurt läuft immer nach demselben Ritus ab:
Verwischen der Lidschattenbasis mit den Fingern
Auftragen des Lidschattens mit der Fingerkuppe
Mascara (Max Factor®)
Erneutes Rügen des Kilians: »Jetzt geh schon endlich ins Bad, wir kommen zu spät!« während hastig an der Lippenstifthülse herumgeschraubt wird
… I can taste your lipstick in the wine …
Here’s what Bobbi Thomas told The Beauty Bean about finding the perfect glass of wine based on our lipstick preferences:
If you rock the red lip … you go for Pinot Noit!
If you’re cool with coral … you’re a Pinot Grigio!
If you’re a barely-there gloss gal … you’re likely to like a Riesling!
If you love lacquering your lips in all hues, depending on your mood …
you’re a chameleon and will like them all!
http://thebeautybean.com/site/makeup-2/what-your-lipstick-says-aboutyour-taste-in-wine/
I n aller Herrgottsfrüh hat der Wecker heute geläutet, doch so früh kann er gar nicht läuten, dass Kilian mit seiner Godi (Patin) nicht trotzdem zur Zeit des Aufbruchs wieder spät dran wäre. Es passiert ständig, wenn er mit ihr unterwegs ist, dieses Immerzuspätdransein – always 2L8! Klaus behauptet, dass es bei Verena permanent highest railway sei und Helene empfängt ihre Tochter aus selbigem Grund regelmäßig mit den Worten: »Ja Herrschaftszeiten Verena, muss bei dir alles immer im letzten Abdruck passieren? Hast du überhaupt keine Einteilung?« Tante Emmi murmelt begleitend im Hintergrund gerne etwas von Matthäus dem Letzten. Als Träger einer Zahnregulierung weiß Kilian natürlich, was ein Abdruck ist, doch die Zusammenhänge sind ihm schleierhaft. Was es schließlich mit dem letzten Matthäus auf sich hat, gedenkt er bei Gelegenheit herauszufinden.
Aus Kilians Perspektive ist Tante Emmi ja bereits uralt und hat große Ähnlichkeit mit Abraham Lincoln, dem 16. US-Präsidenten, in seinem Geschichtebuch. Allerdings trägt Frau Mag. Emilie Skalli-Lichtwald geb. Rosenmüller einen etwas kleinerem Hut. Dieser Hut sitzt immer weit hinten auf ihrem Kopf im Grauhaar und wäre da nicht die kleine Krempe, man könnte ihn eher für ein Mädchenhäubchen der Quäker, statt für ein bayrisches Trachtenhütchen halten. Einen Rauschebart wie Lincoln hat sie natürlich nicht, einen leichten Anflug allerdings schon. Obwohl Tante Emmi in der Mathematik beheimatet ist – ihr zarter Damenbart darf als statistisch signifikanter Hinweis für gute Abstraktionsfähigkeit gelten – hat sie ein Faible für übernatürliche Zusammenhänge. So war die am 28. Juli geborene in den 60-er Jahren fest davon überzeugt, in einer Art Wechselbeziehung zur Ehefrau des 35. US-Präsidenten zu stehen. Da Jackie Kennedy zwei Jahre vor ihr am selben Tag geboren war, taten sich für Emmi da alle möglichen Zusammenhänge auf. Als 1965 Emmis erster Mann verstarb, sah sie darin etwa eine Parallele zum Tod des Präsidenten zwei Jahre davor. Außer ihr konnte/wollte aber keiner derartiges erkennen, da der verstorbene Kaspar Lichtwald zwar ein netter Mensch, aber im Gegensatz zum amerikanischen Präsidenten geradezu reziprok charismatisch war. Wiederum als Wink des Schicksals deutete Emmi schließlich das Auftauchen von Kapitän Skalli an ihrem intimen Beziehungshorizont, wo doch der zweite Mann von Jackie O. ein griechischer Reeder war!
Optische Ähnlichkeiten zwischen Tante Emmi und Frau Kennedy kann Kili nicht entdecken, da schon eher welche zwischen Jadéite und Jackie – so bei den Mundwinkeln herum. Klaus hingegen findet, dass die Französin vielmehr wie die Gitarristin Filomena Moretti aussähe. Cilly (ein erklärter Fan von Jadéite, seit diese hier ist) wollte vom Großvater einmal wissen, was er optisch von ihr hält: »Weil du bist alt und weise, Herr Opsi-Grossi also lass hören ob sie schön ist!« »Ja, sie ist schön – schön wie ein Moldaukloster.« Großvater war nie körperlich dort, hat aber erst kürzlich einen beeindruckenden Dokumentarfilm über diese nach 1453 in Nordmoldawien entstandenen Kostbarkeiten gesehen. »Die Schönste im ganzen Land?« zitiert Cilly daraufhin die böse Königin aus Schneewittchen. »Nein, das nicht.« Die Enkelin ist erstaunt: »Ja, wer denn dann? Wer soll dann die Schönste sein?« »Oma natürlich, wer sonst?« Cilly: »Ich glaub du hast Tomaten auf den Augen, Herr Opsi!« Er schmunzelt und feilt weiter, »Kann sein, Enkelfratz, aber ich sehe sie ja auch mit dem Herzen!« »Ja, ja, aber riechen tust du sie nicht damit und Jadéite riecht einfach um Meilen (Cillys Maßeinheit für Sinneseindrücke) besser!«
Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar
~~~ Der kleine Prinz ~~~
Tante Emmi jedenfalls riecht meist nach verschwitztem Leinenkostüm und kaltem Rauch (von filterlosen Gauloises® im blauen Packerl). Verena meint, sie könne sich unmöglich vorstellen, dass die hübsche Jackie O. jemals so gerochen habe und schon allein deshalb sei jeder Zusammenhang zwischen beiden Frauen völliger Blödsinn! Verenas Hauptsinnesorgan ist die Nase – bei einem Schnupfen ist sie fast blind. Ihre Sinne sind zwar insgesamt auch nicht leistungsfähiger, als die anderer Menschen, aber ihr Wahrnehmungsfilter ist wesentlich dünner. In Godis Gegenwart hat es sich Kili auch schon angewöhnt, sein Riechvermögen vermehrt einzusetzten.
(…) Die Götzen der Völker sind nur Silber und Gold, ein Machwerk von Menschenhand. Sie haben einen Mund und reden nicht, Augen und sehen nicht; sie haben Ohren und hören nicht, eine Nase und riechen nicht.
Ps 115,3-6
Soeben lässt Verena ihre Wohnungstür krachend ins Schloss fallen (als ob man so Zeit gewinnen könnte … ) und schon hasten sie das Stiegenhaus hinunter. Keine Zeit! Keine Zeit! Etwa um auf den wunderschönen alten indirekt hydraulischen Lift zu warten, der wie eine Kammschnecke die enge Stiegenspindel bewohnt. Kilian schleppt seinen Rucksack und den eBay-Karton, Godi trägt einen Kleidersack, einen Stoffbeutel, ihre Birkin-Bag, ein graues Filztäschchen und einen Sack mit Kilis ausrangierten Hasbro-Transformers® für den kleinen Großcousin Pirmin.
And be not conformed to this world, but be you transformed by the renewing of your mind (…)
Röm 12,2 (American King James Version)
Das alte Haus mit seinen dicken Mauern hat heute Nacht von Kindertagen geträumt, in denen draußen noch Kutschenräder übers Pflaster rollten und Pferdehufe klapperten. Von seiner Pubertät mit Stiefeln und Sirenen hat das Haus auch geträumt und nun beginnt es in der Morgenwärme langsam zu erwachen und alle seine Gerüche mit ihm. Sein Duftrepertoire durchzieht das Gemäuer, wie Weihrauch ein Gotteshaus durchzieht – oder zumindest ein weihnachtlich bemaltes Räucherhäuschen. Der intensive Geruch professioneller Haarpflegeprodukte, der aus der Hintertür des Frisiersalons Napetschnik [4] auf den Gang entweicht, kommt durchdringend und fein wie der Hl. Geist die Stiegen herauf gewabert. Er zieht an den beiden Eilenden vorbei und weiter hinauf ins Dachgeschoß – nichts kann ihn letztlich aufhalten! Ganz unten liegt die Wohnung von Frau Szabo, in aller Früh schon werden dort Zwiebeln in Butterschmalz geröstet. Auch leichten kühlen Muffelgeruch und etwas Naphthalin trägt das Erdgeschoß zur Gesamtduftkomposition bei. »Wenn ich ein Hund wäre, könnte ich viel mehr erschnuppern!« sagt Kili »Sei bloß froh, dass du kein Hund bist, « gibt die Tante zu bedenken und hält die Hintertür dabei mit dem Fuß auf, »was du dann noch alles erschnuppern müsstest!« Schon verlassen sie durch eine laut in ihren Zargen quietschende Tür eilig das Gebäude. Kilian ist sich sicher, dass die kleine Ballistol®-Flasche nach wie vor dort hinter der Tür des Zählerkastens bei den Ersatzsicherungen ist. Der alte Hausmeister hat regelmäßig damit geölt. Ganz bedächtig hat er das gemacht, langsam, sorgfältig und konzentriert. So wie Großvater, wenn er die Eisenlangbänder am Hoftor mit Leinöl behandelt hat. Der momentan zuständige Facility Manager hat allerdings mehr Stiegen, mehr Stress und daher weniger Bedächtigkeit. Ballistol® Waffenöl, hat ihm der alte Hausmeister erklärt, sei überhaupt der optimale Rostschutz. Äußerst kriechfähig gelangt in die feinsten Risse und an die verborgensten Stellen. Es löst hartnäckige Etiketten und es desinfiziert sogar! Kilian muss bei diesem Universalöl gleich an den Firmunterricht denken, wo Pater Lenz einmal klarstellen musste, dass der Geist Gottes nicht eine Taube, sondern wie eine Taube sei; weil er überraschend und von oben käme. Und wie Öl sei er auch, wie Balsamöl oder Salböl, das in die Haut einzieht. Aus diesem Grund würden die Firmlingsstirnen mit Chrisamöl gesalbt. »Der Heilige Geist möchte nämlich in euch einziehen bei der Firmung, ganz nahe will er euch sein und gegenwärtig im Herzen.« Ob man vielleicht auch fest anhaftende Etiketten aus Kindergartentagen, wie Kampfsoletti, Blada, Spasti oder Pausenkasperl durch die Wirkung des Heiligen Geistes wider ablösen kann, wurde nicht klar.
…tobe just as close as the Holy Ghost is …
Nun schleppt Verena den Karton und die beiden durcheilen – Keine Zeit! Keine Zeit! – einen kleinen Lichthof mit bemoostem Steinpflaster. Sie passieren das alte, an die Rückseite des Gebäudes wintergartenartig angebaute Glashaus einer kleinen Gärtnerei. Genau genommen ist das Glashaus eher angelehnt als angebaut, denn seine stützende Eisenkonstruktion hat etwas sehr Instabiles und Fragiles an sich. Durch beschlagene Fenster kann man farbenprächtige Orchideen in ebensolchen Töpfen erkennen – der florale Renner momentan! Die beiden Eilenden durchqueren einen winzigen Beserlpark, an dessen Ausgang Tantes Auto parkt. In leeren spätherbstlichen Blumenbeeten haben die Stadtgärtner noch einige dekorative Ziergras-Nester belassen – die stehen allein in der schwarzen Erde, wie vereinzelte Grüppchen lindgrüner Stachelschweine. Hinter den rosabraunen Schaumformationen leicht angeknitterter Parkrosen wird das Heck eines Autos sichtbar – ein echter Brezelkäfer Bj. 1952. Da die restlichen Hausparteien nichts dagegen hatten, darf er auf der Betonfläche hier bei den Mistkübeln parken. Ein Vorbesitzer hat nachträglich ein durchgehendes Heckfenster einbauen lassen, doch der letzte Eigentümer hat das wieder rückgängig gemacht und den markanten Mittelsteg mit einem Umbausatz erneut eingeschweißt.
Verena stellt ihren Karton schnaubend auf den Boden, öffnet die Autotüre und schleudert ihren Baumwollbeutel (das Beiboot, Inhalt: Voltan dal® Schuhe Gr. 36), ihre große magentafarbene Tasche (das Mutterschiff) sowie ihre kleine maulwurfsgraue Filztasche (die Eskorte) auf die Rückbank. Dann nimmt sie den Kleidersack von Kilian entgegen – der Sack beinhaltet das Firmungssakko des Buben. Zu diesem festlichen Anlass hat Kilian heuer auch ein riesiges reich bebildertes Kunstgeschichtelexikon von seiner Tante geschenkt bekommen. Darin ist unter anderem sein Namenspatron als spätgotische Skulptur des Bildhauers Tilman Riemenschneider zu sehen. Die tiefen Nasolabialfalten erinnerten Kilian sofort an Abraham Lincoln bzw. an Tante Emmi. Zu seinem Erstaunen konnte er mit etwas Phantasie auch noch viele andere Personen aus seiner Verwandtschaft und Umgebung in diesem Buch entdecken. Die Delphische Sybille aus Michelangelos Deckenfresko zum Beispiel schaut exakt mit dem Blick von Agnes in die Sixtinische Kapelle hinunter. Sämtliche der kleinen rothaarigen Engel rund um Maria in der Rosenlaube von Stefan Lochner (und besonders das Jesuskind) haben große Ähnlichkeit mit seiner jüngeren Schwester Cilly. Ein Jugendfoto von Onkel Hansi lässt Übereinstimmungen mit der Marmorstatue von Kaiser Augustus aus der Villa der Livia erkennen, sogar die abstehenden Ohrspitzeln sind deckungsgleich!
In jenen Tagen erließ Kaiser Augustus den Befehl, alle Bewohner des Reiches in Steuerlisten einzutragen. Dies geschah zum ersten Mal; damals war Quirinius Statthalter von Syrien.
Lk 2,1-2
Inzwischen sieht Onkel Hansi, geboren 1928, allerdings eher wie Rembrandt van Rijns Selbstporträt (um 1655) im Kunsthistorischen Museum aus. Sogar seine Biologie-Lehrerin, Frau Weinzierl, hat Kili entdeckt – als Kaiserin Theodora auf einem Mosaik in Ravenna. Verena wurde von ihrem Neffen natürlich ebenfalls im Lexikon ausgemacht: Bei den Mumienporträts aus Fayum. Ins mittige »V« der Oberlippe hat die porträtierte Dame aus der Zeit um 170 genau wie Kilians Paten