Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Sie haben die aus volkssprachlichen mittelalterlichen Handschriften bekannten Interlinearglossen bisher vermisst, oder wollen einen Mord aufgeklärt bekommen? Dann könnte das hier ihr Buch sein. Sie wollten außerdem schon immer wissen, was sich in //^-^\\ van Helsings Kühlschrank befindet, wie viele Schafe zum täglichen Unterhalt Salomos gehörten oder warum ausgerechnet Diamonds a Girl's Best Friend sind? Dann IST es ihr Buch!!!
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 417
Veröffentlichungsjahr: 2021
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Teil II
Für meine Großmutter Cäcilia Moser
und meinen Enkel Vinyu
Kapitel – Spaziergang
Kapitel – Advent
Kapitel – Raunächte
Kapitel – Fragen
Kapitel – aus und vorbei
Kapitel – Kabinenerkenntnis
Kapitel – die Hochzeit
Kapitel – Dinge werden reif
Kapitel – only the good
Kapitel – Suche nach 100%
Kapitel – 22 Jahre danach
Kapitel – Rückblende Tag X
Nachwort
Anhang
Mein ganz besonderer Dank gilt
Das Bienenvolk Rosenmüller schwärmt am Allerseelentag 2003 fast geschlossen zum gemeinsamen Verdauungsspaziergang aus. Ein Mann fehlt (aber der wird wohl noch kommen) und Jadéite (sie möchte unbedingt abräumen, damit Arbeitsbiene Elisabetta auch einmal im Gefolge von Bienenkönigin Helene mitspazieren kann). Die Französin verspürt das Bedürfnis, sich für die freundliche Aufnahme hier zu revanchieren. Es ist kälter heute und ein kühles Lüfterl kommt auf. Sanft fängt es an, der Wind niest in die Blätter und lässt sie im Reigen kreisen. Bald stärker, mit fast 50 Takten pro Minute, wehen die Brisen dann polkaartig [1] und bald werden die raschelnden Tänzer von groben Böen aufgemischt und hochgehoben. Aufs Dach hinauf dirigiert sie der Wind, jagt sie in knatternden Wirbeln über die Schindel. Draußen am Talschluss treibt sein Bruder eine dichte nimbostratisch zerfranste Wolkenherde unter stahlgrauem Himmel am Horizont dahin. Bergseitig beginnen Nebel aus Klüften zu wallen und beim Huberbauern stehen die Kühe auf der Weide und recken die Hälse, als würden sie etwas erschnuppern. »Die riechen schon den Schnee.« erklärt Bruno dieses Rindviehverhalten.
Es treibt der Wind im Winterwalde die Flockenherde wie ein Hirt …
~~~ Rainer Maria Rilke ~~~
»Aber Kili, du hast ja nur den Pulli an! Geh deine Jacke holen … sofort bitte!« ruft Elisabetta. Mißmutig stapft er zurück zum Heimatmuseum. Im Haus steht die Kellertüre offen. Kili möchte sie soeben schließen, da dringt von unten ein komisches Geräusch zu ihm herauf – eine Art Seufzen. Langsam, mit klopfendem Herzen schleicht er die Stufen hinunter und folgt dem Geräusch. Vorbei an der kaputten Wäscheschleuder, auf deren Deckel bereits die Ersatzkohlen (6mm x 6mm x 20mm, mit Kabel, Feder und Teller) liegen, vorbei an der Waschmaschine, den Regalen mit Zwetschgen- und Pfirsichkompott und den beiden Snowboards geht er. Bis nach hinten zur halb geöffneten Weinkellertüre geht er – und da liegt sie! Arbeitsbiene Jadéite liegt im Halbdunkel hinter der Türausnehmung und halb über ein altes Weinfass gebogen – sie hat einem ganz sonderbaren Gesichtsausdruck. Wie die schmale gebogene Armlehne eines Thonetsessels sieht sie aus, oder wie eine erlegte Gazelle. Vorsichtig schleicht Kilian näher – drinnen flackert Kerzenlicht und in dessen Schein erkennt er den Umriss eines Mannes; ein Drohn offenbar – viel größer als das Bienchen und gedrungen. Was macht der Typ hier noch so spät im Jahr? Er hält sie fest und drückt sie gleichzeitig gegen das Fass, dabei küsst er wie wild geworden den schmalen Gazellenhals.
Kilian ist geschockt. Weniger das, denn sie sind noch brav textil und außer der Absicht ist auch nichts Eindeutiges zu erkennen, vielmehr der hat ihn total entsetzt. Der!? Kili hastet lautlos schnell seinen Weg zurück und die feuchten hohen Kellerstufen empor. Oben angekommen lässt er die schwere Tür krachend ins Schloss fallen Grimmig stellt er sich dabei vor, wie die beiden da unten jetzt erschrocken auseinander fahren. Er schnappt seine Jacke und düst mit einer Art schalbitterem Verlustgefühl im Mund durchs Vorhaus hinaus. Der geheimnisvolle Mr. Tambourine Man – F***! Er hatte sich diesen als eine Art Macchiato aus Pearl Jam-Black und dem Snowboarder Shaun White vorgestellt und dabei war es dieser Elefant! Da sollte ihm noch einmal jemand etwas vom großen Wert erzählen, den das französische Volk angeblich auf Ästhetik und Eleganz in der Erscheinung legt – ha, sehr witzig!
Kilians Herz klopft wild und sein Gesicht ist hochrot, denn im Gegensatz zu Literatur und Film ist derartiges Überrascht-werden für alle Beteiligten ausschließlich peinlich. Lustig ist es nur, wenn man nicht so direkt betroffen ist. Patrick, Pirmin, Kevin und er wären einmal bei ähnlicher Gelegenheit vor lauter pubertärem Gelächter fast von ihren Sesseln gekippt. In flagranti erwischt! Allein diese Bezeichnung sorgte bei den Buben für größte Heiterkeit. Da hört man lautmalerisch im Deutschen irgendwie Wäsche flattern. Aus den Ehebrecher-Witzen Onkel Hermanns, wo sich Männer zwischen Kleiderbügeln in Kästen verstecken, war das Wort ja bereits bekannt, doch nun kannte man tatsächlich einmal real handelnde Personen: Desiree Filzmeier und der zweite Tenor vom Kirchenchor Edelsbrunn (aka Serienladykiller ) – in der Tiefgarage beim Bahnhof & von der Überwachungskamera dokumentiert – wie delikat! Nahe genug war man allen Beteiligten, um sich die Szene detailreich ausmalen zu können, gefühlsmäßig aber doch fern genug, um nicht peinlich oder mitleidig berührt sein zu müssen – ein Idealzustand! Deshalb ist Reality TV so beliebt.
Wenn man unten in der Talsohle von N. steht und hinauf blickt auf Hügel, Kirche und Friedhof, kann man auf einer Kuppe gleich daneben eine Hausfamilie entdecken: Fünf Einfamilienhäuser, die sich in Grundriss, Baustil und umgebender Grünfläche ähneln. Die ersten beiden sind gar eineiige Zwillinge – soll heißen, sie gleichen einander derart in allen baulichen Details, dass sie fast nur noch anhand der Hausnummer zu unterscheiden sind. Zwei weitere Häuser sind verbrüdert, weisen also trotz vieler Gemeinsamkeiten schon deutliche Unterschiede in Farb- und Gartengestaltung, sowie bei der Auswahl der Dachziegel auf. Rechts außen steht dann ein Hausgroßcousin, der statt des Normbalkons eine geschlossene Veranda errichtete und diese auch noch unbedingt auf der anderen Seite haben wollte – ein Separatist sozusagen! Bergmann und seine Frau bewohnen es. Der First eines sechsten Gebäudes lugt hinter diesem Hausgroßcousin auch noch hervor – er gehört zum Dach des Rosenmüller Stammhauses – aka das Heimatmuseum. Es ist ein alter zweigeschossiger Bau mit geschwungenem Walmdach, dickem massivem Mauerwerk und außenbündigen Kastenfenstern, seine Fassade ist durch Putzfaschen und Eckquaderung gegliedert. Hohe Decken gibt es im Haus und große Fenster mit tiefen Fensterbänken, auf denen sich wunderbar sitzen und träumen lässt. Zwei der Erdgeschoßfenster neben dem steingerahmten Portal sind mit spätbarocken Wellrautengittern versehen, weshalb der Bau unter Denkmalschutz steht (mit Bescheid seit 1963, ein Ersatz der Scheiben durch Isolierglas ist daher leider nicht möglich). Die dazugehörige Tischlerei und das Sägewerk befinden sich in der weiten Talsohle unten. Da die Gemeinde N. nicht groß genug ist, um eine eigene Tischlerwerkstatt betreiben zu können, die das Mobiliar der Volksschule, des Kindergartens und des einzigen Zinshauses hier instand hält, ist Drago seit einigen Jahren beim Wirtschaftshof angestellt und kümmert sich darum.
Die Ansammlung von Gebäuden rings um die von einer dicken Ringmauer umgebene Kirche oben am Hang wird von der Bevölkerung in N. Akropolis genannt. Die besagten fünf neueren Häuser unmittelbar nebeneinander auf der Akropolis stammen alle aus derselben Zeit – nach der Glasbausteinära und noch vor den Pultdächern und Lärchenwänden. Ihre BauherrInnen begannen seinerzeit fast zeitgleich damit, einen Rohbau aufwachsen zu lassen. Die fünf Häuser wurden mehr oder weniger gemeinsam errichtet und vollendet: die damals angesagten dunklen sprossenlosen Fenster einbauen, das Kaltdach fertigstellen, Haus und Garage in Pastelltönen färbeln, Zaun, Hecke und Grünfläche hübsch adaptieret, großzügig ringsum Blaukorn, Schneckenkorn und Methylnonylketonkugerl streuen – fertig! Diese Kugerln dienen als Hunde- und Katzenvertreiber. Dass Weinraute auch vor Geistern, dem Bösen Blick und dem Teufel schützte, ist nicht der Grund. Herr Kärcher®, Frau Tupper® und Meister Proper® garantieren bleibende keimarme Sauberkeit – gesicherte Sesshaftigkeit in Reinkultur. Die zartbunten Gebäude blicken momentan mit leichtem Neid auf das Garagenhaus oben in der Sonne und voll mitleidiger Häme auf ein entfernt liegendes kleines Häuschen hinten im Tal. Dort, am Ende der Felder, am Fuß einer Hügelkuppe, ist der Zinnober eines schiefen scheckigen Daches zu sehen. Der Bau (eine ehemalige Mühle) ist von N. aus über die Straße nicht zu erreichen, es ist vielmehr das erste/ letzte Gebäude, das aus dem benachbarten kleinen Seitental H. nach N. herüber blinzelt. Auf einem Feldweg könnte man bis dorthin gelangen, wenn man Zeit hat und es kein Schlechtwetter gibt. Sonst ist es matschig da, wie zwischen indischen Reisfeldern, wo die Parias gehen müssen, weil sie die Pflasterwege der oberen Kasten nicht mitbenutzen dürfen.
Des Menschen Tage sind wie Gras, er blüht wie die Blume des Feldes. Fährt der Wind darüber, ist sie dahin; der Ort, wo sie stand, weiß von ihr nichts mehr.
Ps 103,15-16
Dieses windschiefe Dach der alten Mühle blinzelt vorsätzlich und in böser Absicht von H. herüber ins Gemeindegebiet von N. – so empfindet das jedenfalls der Hipflinger, Bewohner eines der beiden Zwillingshäuser/Häuserzwillinge. Stolz ist er auf den frisch gepflanzten Kiwistrauch an seiner Hauswand (dort wo beim Zwillingshaus ein Marillenbaum steht), schämen hingegen muss er sich für dieses Dach. Dort unten lebt nämlich eine Cousine vierten Grades von ihm. Während er nämlich hier oben dank seiner tüchtigen Frau, seinen Freunden vom Kegelclub, einem Kredit, drei Bausparverträgen, Fleiß und eisernem Sparen bleibende Werte errichtet hat, lässt diese Person ihre Bleibe langsam verfallen. Kontakt hat man zwar längst keinen mehr (was soll man auch mit Leuten, die weder etwas zu geben haben, noch bereit sind, beim sonntäglichen Arbeiten auf privaten Baustellen jahraus, jahrein ordentlich anzupacken?), aber muss das Gfrasst ausgerechnet in seinem Sehkreis hausen? Das fragt sich der Viertelcousin jeden Morgen beim Frühstück, wenn er über seine soldatisch strammen Thujen blickt. Besonders viel sieht zwar nicht – bloß einen dachziegelfarbenen Fleck hinten in der Landschaft – aber es genügt! Er weiß ja, wie es dort ausschaut … Er weiß, wie unrepassierlich das Gesamtambiente dort ist, dass man am liebsten mit fünfzig Baumax®-Regalmetern bewaffnet einreiten möchte! Insgeheim, wenn ihm beim Gedanken daran wieder der Appetit aufs Marmeladebrot vergeht, sehnt sich der Hipflinger nach einem § Paragraphen, der es ermöglichen sollte, Leute wie die Moserin von hier (damit ist sein unmittelbares Gesichts- und Umfeld gemeint) nach irgendwo dort (damit ist ein Bereich außerhalb dessen gemeint) abzuschieben. Dieser von ihm ersehnte § Paragraph sollte so definiert sein, dass alle Leute, mit denen er nichts rechtes anfangen kann und will, gefälligst darunter fallen. Unordentliche, armutsgefährdete, uncoole, eigenartige, unberechenbare Leute wie seine Viertelcousine oder so diverse Künstler eben. Alles, was laut ist und/oder (ihm) stinkt eben. Wirtshäuser und Gerbereien hatten früher ja auch außerhalb der Stadtmauern zu bleiben, eben! Kurzum, eine Handhabe ersehnt der Hipflinger, die ihn von der drückenden Last befreit, sich andauernd für eine Anverwandtschaft, die nicht aussieht und tickt wie alle anderen hier, schämen zu müssen. Eine faire gesetzliche Basis, denn man ist ja kein Unmensch nicht. Wurde doch auch im dritten Reich bei der Delogierung jüdischer Mieter keinesfalls das deutsche Mietrecht außer Kraft gesetzt. Man hat es lediglich um die Zusatzbestimmung erweitert, dass unter unzumutbare Belastungen nun auch die simple Tatsache, Jude zu sein, fiel. Hätte man ein Kastensystem in N., so wäre des Hipflingers Viertelcousine wohl eine Dalit – eine Paria.
Jude ist nicht, wer es nach außen hin ist, und Beschneidung ist nicht, was sichtbar am Fleisch geschieht, sondern Jude ist, wer es im Verborgenen ist, und Beschneidung ist, was am Herzen durch den Geist, nicht durch den Buchstaben geschieht. Der Ruhm eines solchen Juden kommt nicht von Menschen, sondern von Gott.
Röm 2,28-29
Den Hipflinger samt Frau hat Kilian dann tatsächlich auch noch in seinem illustrierten Lexikon der Kunstgeschichte entdeckt. Im Kapitel Modernismus waren da einige sehr realistische Fiberglasskulpturen abgebildet, unter anderem das Ehepaar Hipflinger! Der Künstler Duane Hanson muss die beiden tatsächlich gut gekannt haben (vielleicht ist er ja einmal Sommergast bei ihnen gewesen … ). Jedenfalls hat er die beiden auf ihrer Bank sitzend verewigt, anders kann es gar nicht sein – dieser leicht grantige Gesichtsausdruck, den der Hipflinger schon immer hatte (lange bevor sein Kiwistrauch plötzlich nach Katzendreck zu stinken begann … ) und dazu seine Frau, deren Bluse sogar bis ins kleinste Detail entsprach. John de Andrea wiederum hatte offenbar Kilis lesende Wolkenfrau einmal nackt gesehen, sie aus Polyvinyl geformt, geölt, Amber getauft und ihr Regines Kopf verpasst.
Im botanischen Kastensystem da oben auf der Akropolis bewundern Thujenhecken, Essigbäume, Magnolien und Japanische Zwergspieren die Leistung der Gartenbauarchitekten rund ums Garagenhaus, obwohl sie ja, festgewachsen wie sie sind, das weiter oben Gepflanzte nur erahnen können. Jaaa … seufz – da oben müsste man gepflanzt sein, das wärs! Dann wären Standort und Erde noch um einiges idealer ausgewählt, denken sich die grünen Herrschaften und sie belächeln die Hainbuchen und Feuerbohnen, die Wicken und Ribiselsträucher unten im Tal – wie banal! Was die grüne Freundesrunde beim Brennnesseljauchenkränzchen nie vermuten würde: Weiter oben hat man solcherlei tatsächlich auch gepflanzt und Kronprinz Rudolf, Maschanzker und Winterrambur, Herz- und Lederäpfelbäume gibt es dort auch. Eine Pöllauer Hirschbirne und eine Schweizerhose gedeihen neben Apfelquitten, Renekloden und Dirndln. Flieder (ein türkischer Migrant) und Lavendel duften neben alten Rosensorten (persische Einwanderer). Echter Ziest und Ringelblumen, Lupinen, Stockrosen und gelbe Skabiosen sind hier beheimatet – Defis und Irenes Garten hat nämlich der naturnahe Peter geplant und angelegt. Er hat die Pflanzenauswahl nicht nach modischen Kriterien getätigt, nur weil alte Obst- und Gemüsesorten als Bio- und Bauerngartenretro quasi wieder im Kommen sind. Peter hat einfach darauf verzichtet, das Gespür für die Jahreszeiten und für die Kreisläufe und Gesetzmäßigkeiten in der Natur erst einmal zu verlieren, um es dann Jahre danach wieder neu entdecken zu müssen. Sich selbst, seinen Werten, der ihn umgebenden Natur und seinen Mitmenschen ist er immer gleich treu geblieben. Ein beständiger Mensch ist der Peter. Zwar gefällt ihm der kontrastierende Farbwechsel im Pflanzenreich – am rostroten Scharlachwein etwa, an den Fruchtknötchen des Bergfenchels oder an der süßen Piroschkatraube – doch nicht im Herzen. Unter Berücksichtigung der Flächenkollektoren für Erdwärme in einem Meter Tiefe hat er auch einen von Buchsbaum eingefassten Kräutergarten angelegt und daneben einen mit Weide umflochtenen Küchengarten. Dazu noch einen Wintergemüsegarten in Hausnähe, wo Sellerie, Kohl, Möhren, Rohnen, Steckrüben und Pastinaken (die frostresistenten Klassiker der Nachkriegszeit) den ganzen Winter über geerntet werden können. Nicht zu vergessen: Topinambur – eine sehr aromatische Knolle, die man hier all die Jahrzehnte zuvor nur mehr an Meerschweinchen und Kaninchen verfütterte. Den Gartenpavillon – der in geschlossenem Zustand wie eine mongolische Jurte anmutet – hat Peter ebenfalls geplant. Aus Fichtenholz gezimmert liegt er etwas versteckt hinter großen Haschberg-Hollerstauden. In der Laubenmitte befindet sich ein kleiner Grill samt Kamin auf sternförmig geschaltem imprägniertem Fußboden. Darum gruppieren sich ein paar Sitzmöbel (gefertigt aus Europaletten und Babymatratzen), zwei Feldbetten (ein neueres klassisches mit Alu Vierkant-Gestell und eines, dass nach dem Aussehen – Schaumstoffbezug orange, psychedelisches Op Art Muster – aus den 70ern, dem Geruch nach allerdings schon aus der Zeit der Franzosenkriege stammt … ) sowie eine Gästeluftmatratze. Eine Pfeifenwinde mit dachziegelartig übereinander liegenden Blättern rankt sich außen am Pavillon empor und Mars hält sich gerne drinnen auf. »Man kann Tierliebe auch übertreiben«, sagt Irene zu Elisabetta, als Kili wieder auf die spazierende Teilmenge seiner Familie trifft. In seiner Verwirrung hat Kilian die Jacke ganz verdreht zugeknöpft. »Aber Kili, du siehst ja aus wie der Schrumpel!« lacht Elisabetta und knöpft helfend an ihm herum. Schrumpel ist ein Spitzname, den Elisabetta, Klaus und Wolfgang in gemeinsamen Schulbuszeiten erfunden haben und den sie manchmal auch jetzt noch für einen etwas nachlässig gekleideten Menschen verwenden. Der war eigentlich eine die Schrumpel gewesen, eine äußerst nerdige Schülerin, die denselben Bus benutzte und sich stets in die unbequem enge Bank direkt hinter dem Chauffeur zwängte, um dort mit angezogenen Beinen stumm in einem ihrer Schulbücher zu versinken, bevorzugt Mathe! Ihre genaue Identität ist Elisabetta bis heute unbekannt geblieben, da der Schrumpel stets im Nirgendwo zuzusteigen pflegte, an der Gymi-Haltestelle im Schülergewimmel abtauchte und im Schulgebäude dann geheimagentengleich in einer Klasse versickerte. Während Klaus und sie noch lachen, blickt Elisabetta in die Augen von Nom Son und diese klappt reflexartig ihre Sonnenbrille herunter. Sie hat ihre Gründe dafür …
Wintersemester 1982, Donnerstag. Fanny Moser hat heute eher widerwillig den Bardienst übernommen – in der Heimbar eines österr. Studentenheims und für ihre grippekranke Freundin Birgit Dorn. Es ist nicht viel los, sie kann sogar ein paar Beispiele durchrechnen, während sie Bierdosen an Bedürftige verteilt und Campari mit Orangensaft oder Soda auffüllt. Ab und zu will auch jemand Coffeinsaft, weil der Automat draußen am Gang kaputt ist und sie verkauft nach und nach eine ganze Thermoskanne davon. Fanny ist zu später Stunde eben damit beschäftigt, frischen Kaffee zuzubereiten, als zwei schwer äthanolbediente Gestalten herein wanken und einer davon ist er! Wolferl Rosenmüller aus N., in den sie in seinerzeitigen Schultagen hoffnungslos verknallt war – der Grund für ihre Keegan-Poster! Als naturwissenschaftlich geprägter Mensch war sich Franziska immer darüber im Klaren, dass der menschliche Körper in erster Näherung mit einem Hohlzylinder vergleichbar ist. Dieser umschließt den Verdauungsapparat, der sich wiederum als Schlauch denken lässt, mit einem Mundloch am einen und Eh-schon-wissen am anderen Ende. Küssen ist lediglich das saugende Aufeinanderpressen der beiden (richtigen!) Schlauchenden. Basierend auf emotionaler Interferenz hätte Fanny sich diesen Vorgang allerdings mit dem da, mit dem oberen Wolferlschlauchende, trotzdem richtig schön vorstellen können. Sie sucht verzweifelt nach einem Mausloch, um darin zu verschwinden und überlegt schon, ob sie vielleicht unter die Budel kriechen soll, als sie endlich erleichtert bemerkt, dass das gar nicht nötig ist. Die beiden dürften heute schon eine Doppelliesl intus haben – Wolferl würde in seinem Zustand wohl nicht einmal mehr die eigene Mutter erkennen! Fanny entspannt sich wieder und serviert den beiden Kaffee und noch einen Kaffee und noch einen. Dabei hat sie erstmals richtig Zeit, ihren langjährigen Traummann, der sie freundlich doof mit glasigem Alkblick anstarrt, aus nächster Nähe zu studieren. Sehr attraktiv sieht er so ja nicht gerade aus, aber die Schönheit liegt bekanntlich im Auge des Betrachters.
Eine Stunde und einige pechschwarze Getränke später – im Radio ertönt soeben Barroom Girl – meint dann der Wolferl zu seinem Freund: »Weißt, worauf i so richtig steh, Lobisser? Auf … auf … auftoupierte Haar, auf enge Röck …« »Die Inge Röck? Du, die heißt doch Marika! In echt? Da bist du dann also vui geranto … geronto … nekro!« »Gerontophil!« Hilft ihnen die gähnende Fanny weiter und blättert ihr Skriptum um. Sie ist inzwischen allein mit den beiden schlingernden Herren. »Danke Gnädigste, gnädigsten Dank … also dann bist du geranophob, Eisenfresser.« »Wer ist germanophob?« »Na, die Marika Röck!« »Niemals!« Fanny seufzt, na hoffentlich gehen die dann bald einmal! Nach weiteren zwanzig Minuten Sprachverwirrung sind sie wieder zum Ursprungsthema zurückgekehrt, nämlich Frauen und welchen Bekleidungsstil sie an diesen bevorzugen. Fred Lobisser fährt total auf Tracht ab. Auf Mädchen, die in Dirndlkleidern ins Wasser springen [2] und die drei L eben: »Leinen, Loden und Leder, da werd ich schwach Eisi, da werd ich schwach …« »Na danke, so edel bin ich nicht gestrickt. Leinen und Loden assoziier’ i mittm Großvater, aber Leder … hm, schwarze Spitzen und Glanzleder …« »Was soll des sein a Kranzleder? Ein Kranz ganz aus Leder?« »Na, geh! Leder am G’wand und Bondidsch Bondädsch-Drapier-irgendwos, oder wie des heißt …« »Vielleicht Bond Age? Die Ära des James Bond? Ein Toast auf den James Bond, ein gerührter Schinken-Käse-Toast!« »Trottel! Bon-da-ge schreibt ma des, Bon-dage!« »Bon tago? Kannst jetzt etwa gar Esperanto, Eisenfresser?«
Man spannte seine Füße in Fesseln und zwängte seinen Hals ins Eisen.
Ps 105,18
Nach einem zehnminütigen Esperanto-Ausflug finden sie erneut zur Bekleidung heim. Der Wolferl in weinseliger Halbbeleidigung soeben: »Was sagst, du Bauer, ein Prolet bin i? Jawohl und stolz darauf … also um es kurz zu fassen … jedenfalls steh’ i …« »… offensichtlich auf Nuttenoutfits, Eisi, so leid es mir tut!«
… I pick all my skirts tobe a little too sexy …
»Sperrstunde ist jetzt, meine Herrn! Adios und gemma, ab in die Heia, weil i sperr da jetzt zu!« Ein kleiner Brizzler geht plötzlich durch den Wolferl, so als hätte er an ein schlecht isoliertes Kabel gefasst und er starrt Fanny ins Gesicht, als wäre sie ein Gespenst. »He, du! Du erinnerst mich an wen …« Fanny wird rot, »Gute Nacht, gemma gemma!« doch er fasst sie an der Hand und wirkt ganz nüchtern für einen Moment. »Du schaust ein bisserl aus wie der Schrumpel aus H.!« Franziska Moser schluckt. »Mei, war die hübsch, war diiie hüüübsch! Aber an’zogen war die, boooaaah! Grad’ als wär’ der Röntgen ihr Stilberater gewesen – einfach unmöglich!« »Komm jetzt, komm Wolferl … gemma!« Der Lobisser und sein Freund weisen sich gegenseitig den Weg in großer und weit ausholender Koalition. Draußen vor der Tür hört Fanny den Eisenfresser dann noch ausrufen: »Mei war die liiiab! Man kreuze die Schrumpel mit der Pia Zadora und meine Traumfrau ist geboren! Meine Venus entsteigt dann dem Schaum …« »Naa Wolferl, naa jetzt gibt es kein Bier mehr …« »B52 vielleicht?« »Njet!« Der Schrumpel liegt später wach in seinem Bett und weiß nun genau, was zu tun ist: Tunen! Männliche Säugetiere sind seit über 60 Millionen Jahren geprägt auf pralle Pobacken (L.H.O.O.Q.), ergo: Betonung dieser und der sekundären stellvertretenden Geschlechtsmerkmale in Augenhöhe durch passende Schnittführung der Kleidung (= Barock). Wolferlspeziell eine Farb- und Materialauswahl passend zu dem, was Durchschnittsamerikanern so zu Gotik einfällt. Unglaublich, wie simpel die männliche Wahrnehmung abläuft! Das war übrigens jetzt auch schon die Erklärung für Fannys Bardamenvergangenheit, von der man interfamiliär munkelt. Sollten sie männlich sein und an einem Schwieger-Konflikt laborieren, empfehle ich wärmstens detailgenaue Kommunikation. Die Frage danach, wo ihnen Frau/Freundin erstmals über den Weg gelaufen ist, bitte nicht wie Wolferl: »In der Bar war’s, sie hat dort gearbeitet.« beantworten.
Damals, bei der Garagenhausbesichtigung, hat Kili sich gewundert, dass Defi, der doch immer so großen Wert auf Benehmen legt, Jadéites Aperitifwünsche gar nicht erfragte. Mit allergrößter Selbstverständlichkeit hatte er gelben steirischen Muskateller in ihr Glas geschenkt.
Kili empfand das als ähnlich unhöflich, wie Irenes seinerzeitige Antwort auf Mamas Bitte nach einem Campari-Soda. »Geh Schatzerle, das trinkt doch heutzutage wirklich niemand mehr …«, meinte das Rentier tadelnd »… nimm lieber einen Pisco Sour oder ich mach dir gleich eine Caipirinha!« Irenes Tonfall behagte Klaus nicht, der sich sofort stellvertretend gekränkt für Betty fühlte. Umgehend forderte er einen Polar-Mojito bzw. Ron Collins Plus von der Dame des Hauses. Irene (die samt Eis geshakten Zutaten eines XYZ soeben in drei gekühlte Cocktailgläser abseihend) starrte ihn nur ausdruckslos an. Seine Behauptung, dass gestoßenes Polareis, Bio-Limettensaft, Grander- statt Sodawasser mit Wodka statt Rum plus pulverisiertes argentinisches Rindermark statt Rohrzucker ihr doch bekannt sein müsse, änderte nichts an diesem Blick, währed sie die Limettenscheiben arrangierte.
Was Toni für Verena ist, das ist Klaus für Irene – ein Allergen eben! Umgekehrt und überkreuz verhält es sich ähnlich, denn Verenas viertelstündige Vorträge über die romanischen Fresken in Pürgg und ihre Erklärungen, warum diese auch byzantinische Elemente enthalten, öden Irene direkt proportional zum Widerwillen an, der durch ihr auffälliges Drapieren der Pkw-Schlüssel (®BMW 7er), ständiges Namedropping, Weinverkosten, Bussi-Bussi-Gehabe und Golfen mit der Prosecco-Fraktion bei Verena ausgelöst wird. Man kann nicht miteinander, findet den jeweils anderen lächerlich bis unmöglich und reibt sich sozusagen auf. Betty war damals übrigens überhaupt nicht beleidigt und hätte gerne eine Caipirinha gehabt.
(…) wenn auch unser äußerer Mensch aufgerieben wird, der innere wird Tag für Tag erneuert.
2 Kor 4,16
Es gibt Leute, die sich dadurch Gewicht zu geben suchen, dass sie sich ihrer Verbindung, ihrer Verwandtschaft, Freundschaft oder ihres Briefwechsels mit Gelehrten rühmen. Das ist eine Torheit, der man sich enthalten soll.
~~~ Knigge ~~~
Momentan tut Kilian Irene trotz ihres Getues aber einfach nur furchtbar leid. Strengt sie sich doch ununterbrochen an, das Leben der Garagenhäusler perfekt zu planen; von der Ernährung bis zur sorgfältigen Auswahl von Zimmerpflanzen, Freundeskreis, passenden Schulen und dem Fernsehprogramm. Daneben macht sie sich viel Mühe damit, modisch am Puls der Zeit, topfit und schön zu sein und ihr stabiles Untergewicht zu bewahren – soviel hat auch Kilian mit seinen vierzehn Jahren vom Leben des Rentieres mitbekommen. Alle Mühen haben aber nicht einmal dafür ausgereicht, dass Pius sie zumindest nicht gezielt betrügt. Im Gegenteil – ständig, ungeniert und mit System! Das Bündel von Konferenzschildchen aus Jadéites Zimmer fällt Kilian ein. Diese Freundin nimmt er sogar noch mit nach Hause und lässt die ahnungslose Irene im Glauben, das alles es sei ihre Idee gewesen! Wie lange das wohl schon läuft zwischen beiden? Jedenfalls hat Defi offenbar damals bei der Hausbesichtigung längst über Jadéites Getränkevorlieben Bescheid gewusst, danach sieht es rückblickend aus. Kilian sieht die Szene vor sich – alle stehen sie um den Tisch, der leicht an einen Altar erinnert und dessen Platte vom verkieselten Stammquerschnitt eines Nadelbaumes aus dem versteinerten Wald von Arizona gebildet wird. Sie begutachten die vom geschwenkten Wein auf der Glasinnenseite hinterlassenen Schlieren, reden irgendetwas von »Kirchenfenstern« und »Extrakten« daher. Sie entdecken diverse Gewürze, Früchte und gar noch eine Note von »Katzenpipi« im Glas, sowie eine »dropsige Steinobstnase« (womit nicht die von Onkel Hansi gemeint ist), stoßen auf das Haus an und nehmen schließlich auf den Lärche-Grigio-Hockern Platz. An Odysseus’ Bett muss Kilian nun denken – ebenfalls aus einem Baumstamm gefertigt – denn der hatte ja auch eine Geliebte. Ob das cool ist, fragt er sich und Treue nur die Weltanschauung der Gehemmten, wie Toni es formuliert? Mehrere Reginen …?
Tugend besteht nicht aus der Abwesenheit der Leidenschaften, sondern in deren Kontrolle
~~~ Josh Billings ~~~
… in der Liab, da muaß an Abwechslung sein …
»Man kann Tierliebe auch übertreiben …« Irenes Stimme (sie befinden sich alle nach wie vor auf dem Allerheiligenspaziergang) dringt nun an Kilians Ohr. »Nicht genug, dass Pius für Mars plötzlich Bettwäsche benötigt hat – die Militärdecke kratzt das empfindliche Hunderl plötzlich – nein, er kocht jetzt sogar noch für das Vieh!« Elisabetta ist leicht erstaunt: »Er kocht für den Hund?« »Ja, stell dir das einmal vor! Eine Pfanne hat er mitgenommen ins Gartenhaus um Eier darin zu braten. Die bekommt der Hund nämlich, damit sein Fell schön glänzt. Wegen der Salmonellengefahr, hat Pius gemeint, dürfen sie nicht mehr roh sein! Dabei sind es doch Bio-Eier von den Filzmeiern oben – aber so ticken Männer eben, tja!« »Ach so?« Verena mischt sich ein. »Ich dachte, Männer ticken logisch, oder? Eipulver im Hundefutter – das wäre ja noch nachvollziehbar, aber Bratpfanne ins Gartenhaus? – entschuldige schon …« schon ewig geht das so hin und her zwischen Verena und Irene …
Es ist später Mittag 1993 im Kindergarten von N. – die Kleinen werden abgeholt. »Patrick, sag Danke zur Tante. Sag jetzt schön Danke!« drängt eine jüngere Irene soeben ihr damals vierjähriges Kind. »Gib ihr ein Bussi, Patrick. Sei lieb und gib der Tante ein Bussi!« Verena steht daneben und erklärt dem ebenfalls vierjährigen Kilian: »Kilian, du brauchst Tante Mimi kein Bussi zu geben. Kinder haben ein Recht darauf, über ihre Intimsphäre selbst zu bestimmen. Im Gegensatz zum armen Patrick darfst du selbst entscheiden, an wen du deine Bussis verteilen magst.« Irene wiederum animiert ihr Kind mit bebender Stimme: »Die Tante ist ganz traurig, Patrick, wenn du ihr kein Bussi geben magst.« Verena klärt den kleinen Kilian nun reflexartig darüber auf, dass Tante Mimi ein vernünftiger Mensch sei und seine Non-Bussi-Entscheidung sicher respektieren wird, ohne gleich gekränkt zu sein. Da erklingt Elisabettas Stimme von der Eingangstüre her: »Kilian! Patrick! Wollt ihr mit mir mitgehen und Kastanien sammeln?« Und zu Verena und Irene gewandt meint sie ärgerlich: »Ihr zwei werdet ja heute sicher noch im Kindergarten nachsitzen müssen, gell?« Patrick wollte Tante Mimi übrigens tatsächlich kein Bussi geben, Kili hingegen sehr wohl!
Der Frondienst und der Selchroller sind nun gar schon in die gedruckte Version von gegenseitigem Sich-Aufreiben eingetreten. Nicht, dass die beiden nun Streitschriften gegeneinander verfassten, das Gedruckte ist vielmehr von ganz geringem Ausmaß – nämlich Visitenkarten. Elisabetta ist trotzdem peinlich berührt vom spätpubertären Verhalten der beiden. Nachdem Ex-Pädagoge Toni, nunmehriger Handlungsreisender im Auftrag der Firma seiner Frau, kürzlich dazu übergegangen ist, Mag. Anton Bauer-Pointner, Philosoph (ein ungeschützter Begriff!) auf seine Visitenkarten drucken zu lassen (da er das für verkaufsfördernd hält) sah sich der Frondienst in Zugzwang. Er ließ ebenfalls Visitenkarten drucken, auf denen nun Mag. Klaus Lichtwald, Abt des noch zu gründenden Klosters Bad Edelsbrunn zu lesen ist. »Ist das etwa dein erklärtes Lebensziel, Herr Cousin, ein Torkar zu sein, der ständig aufgeblasene Zeitgenossen ansticht? Das linguistische Gebirgsjäger-Ersatzbataillon 136 oder so? Du bist absolut lächerlich, Frondienst.« kommentiert seine Cousine das. »Wieso lächerlich? Ich bin von der Berufung zum Priester genauso weit entfernt, wie der Toni es von einem Philosophen ist!« »Du bist auch von der Berufung zu etwas mehr Gelassenheit angesichts deines vollendeten Vierzigers genauso weit entfernt wie Verena. Ihr zwei müsst euch immer noch zwanghaft dort festbeißen, wo euch irgendjemand eines eurer Reizwörter hinstreut. Vielleicht solltest du dir an Christus ein Beispiel nehmen, als ihn Pilatus nach der Wahrheit gefragt hat.« »Ich bin aus-ge-treten!« »Wurscht! Getauft bist du jedenfalls und von wem ich spreche, das weißt du ja auch!« »Und? Was hat er gesagt? «»Eben nichts! «
… you say it best, when you say nothing at all …
Da sagte Pilatus zu ihm: Du sprichst nicht mit mir? Weißt du nicht, dass ich Macht habe, dich freizulassen, und Macht, dich zu kreuzigen? Jesus antwortete: Du hättest keine Macht über mich, wenn es dir nicht von oben gegeben wäre;
Joh 19,10-11
Als vom gemeinsamen großfamiliären Allerheiligenspaziergang alle wieder zurückkommen, sitzt Jadéite mit einem Buch und einem Glas Wein in der aufgeräumten Küche, richtet Grüße von Defi aus und erklärt Irene mit allergrößter Scheinheiligkeit, dass dieser dringend ins Spital zu einem Notfall musste. Als sie später Kilian freundlich ein Reststück vom Allerheiligenstriezel anbietet, wendet der sich angewidert ab. Bald danach erwischt ihn die Mademoiselle dann alleine oben am Gang: »Ich weiß genau, dass du es warst Kilian.« Er schaut sie an, als hätte er keine Ahnung, wovon sie spricht. »Vorhin im Keller, das warst doch du!« Kili dreht den Kopf weg. »Ach Kilian! Ich habe doch dein Erschrecken direkt gespürt! Kevin hätte sicher nur gekichert.« »Schämst du dich nicht?« richtig zornig ist er auf einmal. »Ich bin kein Engel, Kilian, « klärt sie ihn auf, »aber mit vierzehn bist du doch schon erwachsen genug, um zu wissen, dass so etwas nun einmal passiert im Leben, oder?«
Denn er befiehlt seinen Engeln, dich zu behüten auf all deinen Wegen.
Ps 91,11
Diese Definitionen von Erwachsenwerden liebt Kili in etwa so, wie der Frondienst die Ideen des Herrn Bernstein liebt. »C’est la vie, ma chérie – so ist das Leben; in der Liebe gibt es kein Gesetz …« flüstert Jadéite, weil Kilian so gar nichts sagen mag. »Na, wenn ihr euch gar so liebt und es sowieso kein Gesetz gibt, das euch noch behindert, warum müsst ihr euch dann erst wieder im Keller verstecken mit eurer großen tollen und freien Liebe?« murrt er grantig und wendet sich ab, was Jadéite nun doch sehr überrascht von dem erst Vierzehnjährigen.
Im alten Tischherd flackert schon das Feuer und die Buchenscheite prasseln, damit die Küche behaglich warm wird für den alliierten Frühstücksaufmarsch. Es duftet nach Kaffee und frischem Topfenstrudel, während draußen vorm Fenster leise die Flocken fallen. Sie schweben sacht herab, legen sich auf den Weg, auf die blauvioletten Astern im Garten, auf Großvaters frisches Grab drüben am Friedhof – der erste Schnee im Jahr, heuer schon so früh!
Klaus hat dieses Mal auch hier im Haus übernachtet. Er muss auf dem Weg zum Frühstück nun durch Tündes Zimmer. Vor einem Jahr hat er bei ihr ein Taschenbuch mit dem Untertitel Frauenprotest gegen die Männerkirche gefunden, auf dessen Coverkarikatur der momentane Papst von einem durch die Luft segelnden Pumps gleich getroffen wird. »Kluges, kritisches Mädchen!« hatte er sie damals im Geist gelobt – das war ganz nach seinem Geschmack gewesen. Und was musste er jetzt da auf ihrem Nachttisch finden? Die Theologie des Leibes von eben diesem Johannes Paul II., die sich mit dem Stellenwert der menschlichen Liebe im göttlichen Heilsplan befasst! »Gehirnwäsche …« murmelt er verärgert und knallt damit das Buch wieder auf seinen Platz zurück. Diese Sekte musste ihr eine Gehirnwäsche verpasst haben, kein Mensch kann sich derart wandeln, denkt er sich. »Nein, nicht Gehirnwäsche, sondern Herzwäsche!« antwortet jemand unvermutet hinter ihm. Hat er Tünde doch glatt übersehen, die am Boden kauernd ihren Rucksack unterm Bett hervorholte. Das Erlebte bewirkt, dass Klaus nun bei sich eine Beinamenwäsche und Neutaufe Tündes vornimmt und die Bezeichnung Bitch of Aquarius den Gulli hinunterspült. Fortan heißt sie für ihn die neuevangelisierte Spinnerin am Kreuz. Das ist aber keinesfalls der längste Rosenmüller- Beiname. Irene etwa wurde, bevor man sie aufgrund ihrer Teilnahme an einem finnischen Marathon in Rentier umtaufte, drei Jahre lang die Grapefruitkernextraktkapselschluckerin genannt.
Drago, Kili und der Frondienst sind mit Weihnachtsdeko für den Shop nach Wien unterwegs. Im Jahr davor hatte Verena eine zurückhaltende adventliche Dekoration mit Nüssen und violetten Bändern ausprobiert – einmal ganz ohne Glitzerkram. Das ist bei den Kunden gar nicht gut angekommen – ob sie in Konkurs gehe, ob jemand gestorben sei, ob sie depressiv sei etc. wurde sie gefragt. Man will nicht hin warten auf den Glanz, die so genannte Vorweihnachtszeit hat gefälligst schon vollweihnachtlich daherzukommen! Gewartet wird nicht und auf nichts – ein Heiliger Abend, der dann gar kein Highlight mehr ist, sondern nur der erschöpft rülpsende Abschluss rastloser Umtriebigkeit, ist dafür offenbar kein zu hoher Preis. Klaus hat es sich am Beifahrersitz bequem gemacht und als sie das Ende des Liesing-Palten-Tales erreichen, holt er tief Luft um mit seinen historischen Ausführungen zu beginnen: »König Ottokar II. hat die Siedlung dort unten …« Kilian und sein Vater ergänzen sofort: »… einst aus strategischen Gründen in eine Murschleife verlegt!« Klaus tut ganz erstaunt. »Ich bitte dich, mein ansonsten geschätzter Frondienst, das alles hast du Kili und mir doch schon hundertmal erzählt!« meint Drago. Kilian bekräftigt noch: »Wenn es dir vielleicht möglich ist, möchte ich heute einmal an Bruck/Mur vorbeifahren, ohne mir die Geschichte vom als Pilger verkleideten Richard Löwenherz anhören zu müssen.« »Null problemo, kein Problem!« kommt es ein leicht gekränkt zurück. »Danke!« Klaus grummelt. Fast unhörbar murmelt er ein Asterix Zitat (Sie sind alle so dumm, und ich bin ihr Chef!) und seufzt dabei. Dann schweigt er. Als sie aber im Niederösterreichischen drüben dann die Semmeringschnellstraße wieder verlassen und die Landschaft sich weitet, streckt er die Arme aus um laut seine spezielle Wienhymne von One Family zu singen: Schmoiz rinnt auf da Donau – Da Strauß fiedelt sein Sohn au. Natürlich muss jetzt auch erwähnt werden, dass Wiener Neustadt mit einem Teil des Lösegeldes für Richard Löwenherz … etc. etc. Klaus kann nicht anders – er ist Zwangshistoriker!
… the history book on the shelf …
Verschwunden ist die leuchtendblaue Wegwarte vom Straßenrand, nur schneebemehlte Gräser recken sich, weißen Haarbüscheln gleich, empor. Keine Kristallbildung – als hätte man sie mit Stickstoff schockgefrostet. Um einem Stau auf der A2 auszuweichen, fahren die drei Herren irgendwo in der Gegend um Vöslau zwischen winterlichen Feldern und Äckern dahin, deren Schneedecke dünn und dem Wind ausgesetzt daliegt. Gigantische sechsarmige weibliche Strommasten reichen sich gegenseitig surrende die Kabel zum elektrischen Stromwolle Abwickeln weiter. Nachts träumen diese stahlverstrebten Riesinnen wahrscheinlich vom Eiffelturm und untertags würden sie gerne die große Markthalle in Budapest sein – eine ganz besondere Konstruktion eben und nicht nur eine wie alle anderen. Die Stoppeln am Feld haben sich vielerorts borstig durch den harschen Schnee gebohrt, als läge ein ganzes Volk von großen strohgelben Flachigeln unter einer weißen Decke versteckt. Am Ried drüben hängen unterschiedlichst dimensionierte Misteln in den Baumkronen. Verteilte grüne Schaumbälle, aufgefangen von Keschern aus Geäst. Zwei winzige japsende Hündchen in bunt-melierten Hundepullis umhüpfen ihr auf einem Feldweg joggendes Frauerl. Die Laufende trägt elastischen gefütterten Funktionspolyester, ihr brünetter Pferdeschweif über dem Fleece-Stirnband wippt hin und her. Hinter den dreien erstrecken sich weiter im Westen die Felder hinauf bis zum Horizont, wo im stonewashed sky ein paar Krähen segeln. »Das könnte ebenso gut Irene sein, diese Frau da, « meint Kili und folgt der Joggerin mit den Augen, »sie hat dieselben Klamotten, dieselben Haare, dieselbe Haltung beim Laufen …« »… denselben verbissenen Gesichtsausdruck.« ergänzt Klaus und Drago seufzt. »Doch, doch … « bekräftigt der Frondienst, »… auch wir Menschen sind gemodelt – einer wie der andere. Zwar gibt es eine unbegrenzte Anzahl von möglichen Genkombinationen, aber nur eine begrenzte Anzahl von Modeln in die wir alle gegossen werden. Manche von uns gleichen einander wie eine Tankstelle der anderen: Dasselbe Ambiente, dieselben Produkte, derselbe Geruch.«
Die Heiligen werden in Maria geformt. Es ist nämlich ein großer Unterschied, ob man eine Statue mit Hammer und Meißel aus dem Stein haut, oder sie einfach in einer Form abgießt. Die Bildhauer haben viel Arbeit und brauchen lange, um eine Statue auf erstere Arbeit herzustellen; beim zweiten Verfahren aber haben sie nicht viel Arbeit damit und brauchen wenig Zeit. In einem kühnen Bild nennt der heilige Augustinus Maria die Gussform Gottes: »Würdig bist du, Gottes Form genannt zu werden.« Wer in diese göttliche Gussform geworfen wird, ist bald in Jesus Christus gebildet und geformt und Jesus Christus in ihm.
~~~ Hl. Ludwig Maria Grignion de Montfort ~~~
Irgendwann beim Großvater unten …
… in seiner Werkstatt
»Zwar bist du schon immer der, der du bist, aber die Musik des eigenen Herzens musst du erst finden, dein unverwechselbares Lied, deinen Weg – nur du kannst wissen, wohin er geht. Kein anderer kann dir sagen, wer du wirklich bist!« Opa klopft mit seinen Handknöcheln gegen ein Brettclong clong. »Das ist eine Wildkirsche,« meint er »und egal wo sie gewachsen ist und ob von anderen Kirschbäumen umgeben, oder allein mitten im Buchenwald – ihr Holz wird immer einen deutlich dunkleren Klang haben, als das der Birke.«
Be who God meant you tobe and you will set the world on fire.
~~~ Katharina von Siena ~~~
Dritter Adventsonntag 2003 – der angehende Firmling Pirmin Rosenmüller erlebt die!JÜberraschungJ! seines Lebens … Die Rorate vorgestern um 6:30, zu der sie die Firmhelferin, Frau Haider-Hurdle, motiviert hat, war ja zugegebenermaßen tatsächlich noch cool. Wie sie da warm eingemummt und halb verschlafen in der Hl. Messe saßen unter der reich verzierten Kanzel, deren Goldschmuck in der morgendunklen Kirche geheimnisvoll schimmerte. Bei gelegentlichen Mariazellbesuchen hatte er die Basilika ja auch immer schön gefunden.
Sie erwarteten dort das Licht des Morgens, während draußen der Schneewind wehte. Dass wir ja alle zeitlebens auf ein Morgenlicht warten, erwähnte die Haider-Hurdle. Unser ganzes Leben warten wir darauf, dass es heller wird. Unser ganzes Leben hindurch bereiten wir uns auf das Kommen und Sichtbarwerden von Jesus Christus vor. Wie im Advent auf das Weihnachtsfest, so warten wir darauf, dass unser Leben endlich erleuchtet wird von seiner Liebe. Das hatte ihnen die Firmtante zu vermitteln versucht. »Wir harren auf das ewige Licht!« sagte sie, aber Pirmin, der sowieso schon seit fünfzehn Minuten geistig abgedriftet war, konnte dafür keinerlei Ohrwaschel mehr aufbringen. »Wozu harren …«, murmelt er ungehalten »… soll sie sich halt umdrehen, die blinde Haider – brennt schließlich eh da vorne beim Tabernakel, das Ewige Licht …« und damit lag ja gar nicht so falsch. Als sie dann anschließend bei duftendem Tee, Honigstriezel und Waldviertler Mohnzelten im Pfarrhof saßen, das hatte schon was! Etwas Heimeliges, ein Gefühl von Zugehörigkeit und auch etwas Spirituelles. Gebetet hatte Pirmin an diesem Freitagmorgen nämlich auch –wegen der versemmelten Schularbeit und der Gefährdung in Englisch. Nicht etwa, weil er jemals so werden wollte wie Mama Fanny, die abends, wenn alle schon im Bett waren und sie sich abgeschminkt hatte, vor ihrem Hausaltar immer den Rosenkranz betet. Der Hausaltar überhaupt! Dieses blumengeschmückte Unding, dieser qualvoll kitschige Style Crash im ansonsten homogenen Schwarz und Chrom des Technikerhaushalts. Dazu links und rechts ein Engerlmandala und ein ausgedrucktes rundes Häkelmuster – also echt! [3] Und dann auch noch dieses Herz-Jesu-Bild, ganz blutrot – also geht’s noch!?
… and I’m covered with His blood …
Kann man das nicht versteckter und dezenter machen? Wie westeuropäische Brustvergrößerungen etwa? Statt Porzellanmadonna ein winziges Poster, das bei flüchtigem Hinschauen als Nina Hagen CD durchgehen könnte? Wird echt peinlich, wenn sein Freund Snowball das sieht. Dessen Eltern sind nudistische Nihilisten – das kann doch einfach mehr! Vielleicht spinnt Mama irgendwann dann auch, so wie jetzt Tünde. Sogar Kevin, der sie meist verteidigt, hat das neulich bemerken müssen. »Wollt ihr mich nicht einmal zur Anbetung begleiten?« hatte sie ihre Großneffen nämlich gefragt, ohne vorher ins Fernsehprogramm zu schauen, also echt! »Geh bitte! Um diese Zeit spielt’s doch gerade Stargate!« »Ich verrate euch einmal etwas, ihr zwei: der Anbetungsnachmittag ist ein reales Stargate, nicht nur Fiktion! Eines Tages werdet ihr das hoffentlich auch merken dürfen.« Hoffentlich steckt sie Mama nicht an damit – auffällige Hausaltäre und Rosenkränze waren ja schon peinlich genug!
Da war doch Rosa-Oma entschieden die Coolere und Vernünftigere. »Ein bisschen Religion braucht der Mensch schon«, pflegte sie stets zu sagen, »ganz so wie den Staubzucker am Kuchen!« Ab und zu ein seelenwärmender Gottesdienst mit einer schönen Predigt – vor allem zu Weihnachten – das könne nicht schaden, das täte richtig gut. Aber Anbetung sei für alte Weiblein und das höchste Gut sei die Gesundheit und am nächsten wäre man Gott doch draußen in der Natur! Pirmin war ganz ihrer Ansicht. Bei der Erhöhung des Kirchenbeitrags schimpft Rosa-Oma immer, aber Hermann-Opa erklärt dann stets, dass das Christentum ein wesentlicher Teil unserer Kultur sei und alle schönen Kirchen und natürlich das Diözesanmuseum erhalten bleiben sollten, was wiederum Geld koste. Ein weiterer Punkt ist dann das kirchliche Begräbnis: »Ich möchte doch schließlich nicht am Ende meiner Tage wie ein Hund verscharrt werden!« pflegt er mit einer weit ausholender Handbewegung (so als würde er soeben schon etwas von der zum Verscharren benötigten Erde aufstreuen) stets zu sagen. Auch dieses Argument findet Pirmin vernünftig. Nur nicht die gesunde Mitte verlassen! Zuwenig und Zuviel ist bekanntlich des Narren Ziel und das hier ist eindeutig zu viel! Dass nämlich Snowball und Schleimi und er von der Firmhelferin ein zweites Mal innerhalb einer Woche (!) motiviert wurden, an einer Heiligen Messe teilzunehmen. Am Sonntag, wo er doch vorgehabt hatte, sich genüsslich auszuschlafen. Noch dazu zelebriert heute der langsame alte Pfarrer Riesling mit seiner brüchigen Stimme und dem schlurfenden Gang – im schilcherfarbenen Messgewand – na bravo! Es ist der dritte Adventsonntag: »Freut euch im Herrn allezeit« sagt er jetzt gerade.
Freut euch im Herrn zu jeder Zeit! Noch einmal sage ich: Freut euch! Eure Güte werde allen Menschen bekannt. Der Herr ist nahe. Sorgt euch um nichts, sondern bringt in jeder Lage betend und flehend eure Bitten mit Dank vor Gott!
Phil 4,4-6
Weiter vorne sitzt Pirmins Mama, mit ihrer Sonnenbrille oben am Scheitel. Sie kann nicht sehen, wie sie gähnen und kichern. Wenn heute schon Gaudete ist, warum nicht seinen Spaß haben? Da vernehmen die drei Buben direkt hinter sich ein metallisches Klackern am Steinboden, ganz wie das Klirren der Sporen an staubbedeckten Lederstiefeln (etwa in Italo-Western, bei denen Oma vorm Fernseher Giuliano Gemma anhimmelt). Ein etwas zu spät kommender Kirchengeher hat in der Bank hinter ihnen Platz genommen. Er muss riesengroß sein, soviel hat Pirmin aus dem Schatten geschlossen, den er eben auf den alten Muschelkalkboden warf, als er seine Kniebeuge machte und sich bekreuzigte. Licht kann auch stecken bleiben und dabei einen Schatten erzeugen weiß Pirmin von seiner Mama – Nom Son ist Lasertechnikerin und Licht daher ihr Werkzeug. Schleimi, Snowball und er halten jetzt einmal still. Sie wundern sich zwar, dass der Kirchenbankhintermann die deutschen Texte des Priesters mit englischen Antworten ergänzt, vergessen ihn aber irgendwann wieder. Als sie weitertuschelten, räuspert er sich allerdings hörbar. Was will der blöde Sack, schließlich sind wir ein freies Land? Schleimi dreht sich kurz um, um ihm den vernichtenden Phaserkanonen-Blick zuzuwerfen und erstarrt in ungläubigem Erstaunen, Snowball und Pirmin drehen sich daher reflexartig ebenfalls um, doch sogleich schnellen ihre Köpfe wieder nach vorne: Absoluter Wahnsinn! In der Bank hinter ihnen sitzt tatsächlich eines ihrer erklärten Idole: Q-Flash Fireweed, der hünenhafte Drummer von GEIERWALL-Y11, ehemaliger Frontman von Master Disks und Begründer der Musikrichtung Techno-Waltz-Slunge! Erst vorige Woche hatten sie im Musikunterricht dessen Soud-Morphing bei Frédéric Chopins Walzer As-Dur analysiert. Fireweed sieht von den Stiefeln bis zum Hals herauf wie ein Klingone aus, oben wird er allerdings durch den Kopf eines bekannten englischen Fußballers in der Langhaarversion ergänzt – Q-Flash Fireweed hier und heute in N., leibhaftig in der Bank hinter ihnen – absoluter Wahnsinn, unfassbar …
Keiner weiß etwas von einer Österreichtournee oder so. Es klingelt hell vorne beim Altar und tausend flüssige Silberglöckchen rieseln über die Rücken der Gläubigen. Der hühnenhafte Mann – der mit Taufnamen John Christopher heißt, wie unlängst im Rock-Report zu lesen war – geht in die Knie, Pirmin und co nicht. Da flüstert eine dunkle und starke Stimme, die sich anhört, als käme sie aus den Tiefen der Erde, ihnen von hinten zu: »Bend your knees – for this is the King of Kings.« um dann auf Deutsch fortzufahren: »Wenn du dich vor Jesus Christus beugst, brauchst du nie mehr vor irgend jemand anderen auf Erden in die Knie zu gehen.«
… it may be the devil or it may be the Lord, but you’re gonna have to serve somebody …
Auf seinem Gewand und auf seiner Hüfte trägt er den Namen: «König der Könige und Herr der Herren».
Offb 19,16
Kilian blickt Zähne putzend aus dem Dachfenster, er findet den englischen Ausdruck skylight (letzter Vokabeltest!) sehr passend. Verena blickt ebenfalls Zähne putzend aus ihrem Küchenfenster hinunter in den Hof. Skywalkerin ist einer der Beiname, den Klaus ihr einmal gegeben hat. Weil sie da oben wohnt, weil sie – so denkt der Frondienst – Schwierigkeiten damit hat, ihre Träume und Vorstellungen in die Realität herunter zu brechen und wegen Herrn Grünbaum. Diesen nennt Klaus nämlich Meister Yoda. Der Reif mit seiner bitterkalten Frostzunge hat in der Nacht übers Land geschleckt und nun überzieht sein kristallweißer Soor die Dachflächen. Unten in Hof schlurft Herr Grünbaum vorsichtig über die alten Steinplatten. Den gesamten Papierkorb mit Zeitungen, Briefen und vielen halbzerknüllten Schnipseln hat er heute in den Container geworfen. Zweimal bleibt er stehen und sieht sich nachdenklich um. Dann hebt er langsam den Kopf und blickt suchend nach oben, seine wunderschönen dunklen Augen liegen tief in den Höhlen und sein Kopf ist schon kleiner als der Durchmesser des Papierkorbs es war. Heute erscheint Verena der frondienstliche Beiname einmal gar nicht so unverschämt, sondern irgendwie passend. Meister Yoda trägt rot-grau karierte Hausschlarpfen und es ist das letzte Mal, dass die Skywalkerin ihn hier in diesem Leben sieht.
Von der Lichtenfelsgasse kommend nähert sich im Advent 2003 ein Personengrüppchen dem Rathausplatz. Der Frondienst macht seine Begleiter hier an der Südseite des Rathauses auf das milde Gitter aufmerksam. Das prächtige dreiteilige Gittertor am Haupteingang ist zwar zackenbewährt und trägt eiserne Spitzen, aber weil es einst vom Schlossermeister Albert Milde gefertigt wurde, nennt Klaus es immer so. »Ausnahmsweise einmal nicht von Richard Löwenherz …«, denkt Verena und nun treten sie auf den Platz hinaus. Hier stehen viele Holzhütten im leichten Nieselregen; es sind keine Notunterkünfte, sondern der alljährliche Christkindlmarkt. Ein Duft nach Glühwein, Punsch, Ofenerdäpfeln und Maroni hängt in der Luft. Klaus erklärt Kilian, nach welchen Gesetzen das hier alles abläuft. »Die Formel für Veranstaltungen im Freien besteht aus zwei Konstanten kombiniert mit beliebigen Variablen. Man nehme einfach einen oder mehrere Glühwein-, Grillhendl-, Bier-, Bratwurst- oder Punschstände als Basis und arrangiere darum herum beliebig und nach Geschmack den Buchstaben K: Keramik und Kunsthandwerk, Kerzenzieher, Krippenfiguren, Krampusse, Kirtag, Kinderaugen (leuchtende!), Kuchen und Kekse, Kräuter, Krempel, Karusselle, Kleinvieh, Kasperln, Käsemacher, Kurzstreckenläufer, Krachlederne, Krachmandeln, Kirchenchöre, Kapellen und Kapellmeister, Kellermeister, Kaiser aller Art, Kesselflicker, Kupferschmiede, Kartenleser, Kurpfuscher, Korbflechter, Körperbemaler, Komiker, Kraftmenschen und Kraftwagen, Kosmetik, Kleidung, Klöppelspitzen, Kitsch, Kampagnen für oder gegen was und schließlich das Kotzen. Wichtig ist nur, dass die Basis stimmt: das Essen und Trinken – das sind die ewigen Konstanten, alles andere ist optional.«
Duftlampen in Form von kleinen Kirchlein oder Kachelöfen gibt es, bemalte Räuchermandln und –weibln und dazu Laden voll mit bunten Franziskerln. Nussknacker in allen Größen stehen zwischen plüschige Weihnachtsmännern mit bimmelnden Glocken und natürlich gibt es Rauschgoldengel und Christbaumkugeln – viele Christbaumkugeln! Einige Hersteller nahmen offenbar Anleihe bei der Ikonenmalerei. »Ikonen werden geschrieben und nicht gemalt, Kachelöfen werden gesetzt und nicht gemauert, Orgeln werden gebaut (wie Häuser und Joints) und danach gefasst, statt gestrichen und Heißluftballons …« denkt er nun sehnsüchtig, während er die vielen bunten Kugeln bestaunt. »… Heißluftballons fahren, sie fliegen nicht!« Aus Glas ist der runde Baumschmuck gefertigt, aus Porzellan, mit Bauernmalerei bepinselt, mit schimmerndem Garn umhäkelt, mit Perlen verziert, mit Gewürzen beklebt. »Ich glaub’ ich hab’ grad ein Deja Vu! So ein Ding da ist über Jahrzehnte in der Kredenz meiner Mama verstaubt.« meint Klaus und weist dabei auf die vor 30 Jahren schon einmal trendy gewesenen Kugeln aus Gewürznelken- und Sternanis.
Ein riesiger, aus den ihm vertrauten Wäldern entführter Baum erhebt sich stolz und allein vor dem Rathaus. Gehüllt in ein dichtes Netz aus Lämpchenkabeln sieht er wie ein gefangener Wassermann aus. Neben ihm steht die Tafel mit den Grüßen seines Heimatbundeslandes an Wien. Die in mehrere bunte Tücher gewickelte Tünde winkt sie nun alle zu sich an einen etwas breiteren Stehtisch (bedeckt mit weihnachtsroter Plastikfolie). Für Tünde ist jetzt wieder die Zeit der riesigen verschweißten Guinnesspacks gekommen (ebenfalls in Plastikfolie). Nicht vom Bier ist dabei die Rede, sondern vom Guinness-Buch der Rekorde. Dieses ist nämlich für viele Kunden ihrer Buchhandlung jedes Jahr das ultimative Weihnachtsgeschenk. Tünde trägt schwarze Handschuhe, die nur bis zum zweiten Fingerglied reichen und hat Punsch, Tee, Buchteln und Brezeln organisiert.
Der Nieselregen geht zur Freude aller in leichten Schneefall über. »Weiße Weihnachten!« »Heuer gibt’s weiße Weihnachten!« rufen einige der Punschisten von den anderen Tischen herüber und die Charity-Glöckchen klingeln . Schon sind irgendwo Krawattltenöre mit Takten von I’m dreaming of a white Christmas zu vernehmen. Gerade noch rechtzeitig kommt die musikalische Krisenfeuerwehr, die Taskforce Glawischnig/Mittergradnegger in Gestalt von drei gebürtigen Kärntnern mit Werst mei Liacht ume sein zum Einsatz. Diese ist ein Teil der Battle Group »Kärntnerlied« und gewährleistet stets ein sicheres musikalisches Umfeld für die Zivilbevölkerung. Gekrächzte glistening treetops und sleigh bells