Die Zeit und was sie heilt - Kit de Waal - E-Book

Die Zeit und was sie heilt E-Book

Kit de Waal

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Beschreibung

Eine bewegende Geschichte über Trauer, Verlust und Heilung. In einem englischen Küstenort führt Mona einen Laden für Künstlerpuppen. Immer wieder betreten stille Frauen ihr Geschäft - sie kommen aus einem Kreis für Mütter totgeborener Kinder. Mit Hilfe der Puppen versucht Mona, den Trauernden Erlösung zu bringen. Diese Arbeit ist für sie von großer Bedeutung, denn auch sie selbst kann jene schicksalhafte Nacht nicht vergessen, als die IRA ein grausames Bombenattentat verübte und sie alles verlor... In Die Zeit und was sie heilt erzählt Kit de Waal mit emotionaler Wucht das Schicksal ihrer starken Protagonistin. Trotz der schweren Themen wie Kindstod, Trauer und Terrorismus deprimiert die Lektüre jedoch zu keinem Zeitpunkt. Vielmehr ist dieser Roman nicht nur traurig, sondern auch wunderschön und trostreich geschrieben. Eine berührende Geschichte über den Umgang mit Verlust und die heilende Kraft der Zeit, die Leserinnen noch lange nachklingen wird.

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EPUB
MOBI

Seitenzahl: 434

Veröffentlichungsjahr: 2019

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Ähnliche


Kit de Waal

Die Zeit und was sie heilt

Roman

 

 

Aus dem Englischen von Katharina Naumann

 

Über dieses Buch

In einem englischen Küstenort unterhält Mona einen kleinen Laden für Künstlerpuppen. Die hölzernen Figuren stellt ein Tischler aus der Nachbarschaft her, Mona näht die Kleider. Immer wieder treten stille, traurige Frauen in ihr Geschäft. Die Besucherinnen kommen aus einem Gesprächskreis für Mütter totgeborener Kinder, und die meisten kommen nur widerstrebend. Aber Mona hat eine Gabe: Mit Hilfe der Puppen gelingt es ihr, den Trauernden Wege aus dem Schmerz zu weisen.

Vita

Kit de Waal wurde in Birmingham als Tochter einer Irin und eines karibischen Vaters geboren. Fünfzehn Jahre arbeitete sie in der Familienhilfe, sie ist Coach und Spezialistin für Familienrecht und Adoptionsfragen. Daneben studierte sie Creative Writing in Oxford. Ihr erster Roman, «Mein Name ist Leon», war ein Riesenerfolg und wurde 2017 mit dem wichtigsten irischen Literaturpreis ausgezeichnet.

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, Februar 2019

Copyright © 2019 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Umschlaggestaltung any.way, Barbara Hanke/Cordula Schmidt

Umschlagabbildung Trevor Payne/Arcangel

ISBN 978-3-644-00175-6

 

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

 

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

 

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Dieses eBook entspricht den Vorgaben des W3C-Standards EPUB Accessibility 1.1 (neueste Version des Barrierefreiheitsstandards für EPUB) und den darin enthaltenen Regeln von WCAG, Level AA (hohes Niveau an Barrierefreiheit). Die Publikation ist durch Features wie Table of Contents (Inhaltsverzeichnis), Navigationspunkte und semantische Content-Struktur zugänglich aufgebaut.

 

 

www.rowohlt.de

Für Bethany und Luke, wie stets

1

Weit draußen auf dem Meer liegt ein violettes Licht. Als sie die alte Fabrikruine neben Monas Wohnhaus abrissen, hatte sie plötzlich in dieser Richtung freie Sicht, und weil sie im dritten Stock wohnt, kann sie jetzt, wenn sie sich im richtigen Winkel gegen den Fensterrahmen lehnt, über den Hütten und Strandhäuschen die vom Sonnenaufgang geröteten Wolken und den rosigen Schimmer der Morgensonne sehen. Es ist Montagmorgen, kurz nach fünf. Sie macht sich einen Toast und eine Tasse Tee und wartet auf das Tageslicht. Die dritte schlaflose Nacht.

Mona bemerkt, dass in einer ebensolchen Wohnung wie der ihren in einem ebensolchen Wohnhaus gegenüber jemand anders auch nicht schlafen kann und das Licht zu unchristlich früher Stunde anhat. Er wohnt ein Stockwerk unter ihr und steht jetzt am Fenster, um zum verschwommenen Horizont hinüberzusehen. Er ist in ihrem Alter, vielleicht ein wenig älter, hat sein graues Haar zurückgekämmt und trägt einen Morgenmantel, der wohl einen dicken Schalkragen hat, und obwohl Mona den Gürtel nicht sehen kann, stellt sie ihn sich golden und mit Quasten daran vor. Bevor sie wegschauen kann, wendet er sich um und erwischt sie dabei, wie sie ihn anstarrt.

Sie sind einander zugewandt wie zwei von oben angeleuchtete Sänger in der Oper, die darauf warten, dass die Musik einsetzt. Dann macht er eine elegante Kopfbewegung, etwas zwischen einer Verbeugung und einem Nicken, das Mona an die Filme erinnert, die sie als kleines Mädchen geschaut hat, prächtig ausgestattete Technicolor-Filme, Damen in Krinolinen und Generäle in Uniformen mit Messingknöpfen, stattlich und gutaussehend und ritterlich. Sie lächelt und prostet ihm mit ihrem Teebecher zu. Hofft, dass er den Scherz versteht. Sie hört, dass ihr Toaster in der Küche den Toast auswirft. Als sie sich wieder dem Fenster zuwendet, ist der Mann fort.

Sie putzt sich die Zähne, tupft sich Creme ins Gesicht und massiert sie ein, bemerkt erneut, dass das Blau ihrer Augen mit der Zeit blasser, die Haut an ihren Wangen schlaffer geworden ist. «Du bist so schön wie Weihnachten», sagte er immer, und sie glaubte ihm, aber das ist lange, lange her.

Sie zieht ein blassrosa Baumwollkleid an, aber der Sommer geht schon zu Ende, es ist nicht mehr das Wetter für Sandalen. Sie schnürt ihren Regenmantel zu und hängt sich ihre Tasche quer über die Brust. Die ganze Strecke geht es bergab.

 

Mona ist die Erste in der Straße, die öffnet. Es ist noch nicht acht. Sie schließt die Ladentür auf und dreht das Schild von «Geschlossen» auf «Offen». Sie geht direkt in die kleine Teeküche im hinteren Teil des Ladens und setzt den Kessel auf. Es ist ein bisschen kühl für Ende September. Sie schaltet den Heizlüfter ein, der warme Luft auf ihre Füße pustet.

«So ist es gut», sagt sie.

Unter dem Ausguss holt sie Staubwedel und Putzmittel hervor. Damit geht sie wieder zum vorderen Teil des Ladens. Im Schaufenster hat sie sieben Standard-Puppen ausgestellt, jede vierzig Zentimeter groß, fünf davon sitzen, zwei stehen dank einer genialen kleinen Konstruktion, die ihr der Tischler gebaut hat, eines schlichten Holzständers mit zwei Armen, die die Taille und den Hals der Puppe stützen. Das Schaufenster ist herbstlich mit Zierkürbissen dekoriert, die Mona im Supermarkt gekauft hat, mit Zweigen und Blättern von den öffentlichen Grünflächen, und alle Puppen tragen grünen Samt, hellbraunes Leder, weinrote Wolle und Tweed in der Farbe von Heidekraut.

Mona staubt alle ab und putzt kurz das Fenster. Sie arrangiert hier ein Bein anders und da einen Arm. Dann staubt sie den mittleren Teil des Schaufensters ab, wo einige Puppen umgefallen sind. Das muss in der Nacht passiert sein, denn bevor sie abends abschließt, räumt sie immer eine halbe Stunde lang auf. Und trotzdem scheinen sich die Puppen in der Nacht irgendwie zu bewegen und zu verrücken.

Also richtet sie sie wieder ordentlich auf, lässt ihre Beine über die Kante hängen, setzt sie so hin, dass sie hinausschauen und die Kunden begrüßen. Dieser Montag wird sicher besonders ruhig, weil der Wind so beißend kalt ist und die Leute längst noch nicht an Weihnachten denken. Der ganze Oktober liegt noch vor ihnen. Spätestens im November wird das anders sein, aber sie will nicht an den November denken, bevor sie es unbedingt muss.

Endlich öffnet auch das Café, und Mona geht hinaus.

«Morgen, Mona», sagt Danny und lässt ein Mandelhörnchen in eine braune Papiertüte gleiten. Er legt noch einen Haferkeks dazu und zwinkert ihr zu. «Ein kleines Extra für meine Lieblingsblondine», sagt er, und als Mona lächelt, beugt er sich über den Tresen und flüstert: «Davon gibt es noch viel mehr. Zucker und Zimt im Überfluss. Stell dir bloß mal vor.» Dann zwinkert er erneut.

Mona legt Kleingeld auf den Tresen. «Ich bin fünf Jahre älter als du, Danny», sagt sie. «Hundejahre.» Sie wendet sich zur Tür.

«Damit komme ich schon klar», ruft er ihr hinterher. «Wer zählt denn überhaupt mit?»

 

Zum Mandelhörnchen trinkt sie Kaffee und leckt sich den Zucker von den Fingern. Sie muss noch die Spielsachen, die Bauklötze und die Spielzeugeisenbahnen auf den unteren Regalen abstauben, außerdem die Modelllaster, die Holzalphabete und -kindernamen, die Mobiles, die von der Decke hängen, die Nachziehhunde und -autos, -flugzeuge und -elefanten, die alle aus wunderschönem Holz geschnitzt sind, ganz unbehandelt oder mit mattem, farblosem Lack bestrichen, sodass die Maserung zu sehen ist. Aber das kann warten.

Zuerst poliert sie die Glaskästen der besonderen Ausstellungsstücke, der großen Puppen, die jede eine ganze Garderobe besitzen und ein Zertifikat darüber, wie und aus welchem Holz sie gemacht wurden. Jede Puppe hat einen Namen und eine Art Geburtsurkunde. Mona vermutet, dass sie im Laufe der Jahre vielleicht nicht mehr ganz mitgekommen ist. Eigentlich hätte sie ein Verzeichnis führen sollen, aber sie hätte nie gedacht, dass sie nach mehr als dreiundzwanzig Jahren immer noch Puppen macht. Zu spät, um über alle genau Buch zu führen. Das lässt sich nicht nachholen.

Jede Puppe liegt auf einem Seidenbett und trägt ein Kleid, das Mona selbst genäht hat. Ihre glatten, eleganten Körper sind mit zwei Schichten Alabasterweiß bemalt. Ihre Kästen haben hinten ein Fach, in dem an einem Holzbügel zwei Kleidergarnituren zum Wechseln hängen. Mona hat Kleider aus allen Epochen genäht, aus der Elisabethanischen, der Georgianischen, der Edwardianischen und aus der Renaissance. Sie hat die Puppen für Besuche auf prächtigen Landsitzen und für den Luftschutzbunker, für Webereien, Jazz-Clubs und Feldlazarette ausgestattet. Sie hat stundenlang in Büchern und Magazinen recherchiert, um sicherzugehen, dass ihre Designs historisch absolut richtig, aber trotzdem einzigartig und maßgeschneidert sind.

Ah, jetzt ist es warm im Laden. Mona sitzt am Verkaufstresen, reibt sich die Hände, um sie beweglich zu machen, und nimmt dann den Deckel von der Plastiktrommel, die sie zu ihren Füßen aufbewahrt. Die meisten ihrer Kunden, besonders diejenigen aus Japan und Amerika, stellen sich vor, dass jedes der Puppenkleider von einer alten Dame mit Fingerhut und Halbbrille in einem strohgedeckten Landhaus handgenäht wird. Die Wahrheit ist, dass es nur noch wenig gibt, was man nicht mit einer guten Singer-Nähmaschine machen kann, und den Hauptteil der Arbeit erledigt sie zu Hause. Dennoch bleiben noch die Stickereien und letzten Verzierungen, für die sie nur eine Nadel und einen Faden und ein paar Stunden unter einem guten Licht braucht. Deshalb hebt sich Mona das Sticken für Tage auf, an denen es im Laden ruhig ist.

Heute muss sie einen Puppenmann fertig machen. Er trägt ein orangefarbenes Wildlederwams und ausgeblichene derbe Pluderhosen. Dazu einen grünen Pullover, ein Seil als Gürtel, Lederstiefel und einen dunkelblauen Filzhut. Sein rotes Paisley-Halstuch wird sie nachher per Hand mit hellgrünem Seidenfaden einfassen. Sie hält den Faden ins Licht und sieht, wie er sich bewegt, wenn sie ihn anhaucht. Sie befeuchtet ihn mit den Lippen und zieht ihn durch das Öhr.

Sie macht Doppelstiche und näht vorsichtig. Nach jedem zarten Stich zieht sie den Faden fest. Jede Handbewegung und leichte Streckung des Armes wiederholt sie immer und immer wieder, bis die Puppe, die sie Francis taufen will, ein neues Halstuch hat. Dann will sie seine zweite Ausstattung nähen, die für den Abend. Francis ist tagsüber Uhrmacher, aber abends spielt er in einem Tanzlokal in der Stadt Klavier. Er spielt Honky Tonk. Mona muss lächeln, weil sie keine Ahnung hat, was Honky Tonk eigentlich ist. Aber sie mag das Wort, und Francis mag es auch. Sie hebt seine Arme und lässt ihn ein kleines Tänzchen vollführen. Sein schwerer Kopf wackelt auf seinem Hals.

«Di-didilly-didilly-di. So, Francis, dann brauchst du wohl einen schwarzen Abendanzug.»

Sie hat genau das Richtige dafür zu Hause, einen alten Smoking. Den Ärmel hat sie bereits für die Weste eines kleinen Gassenjungen benutzt, aber für Francis wird sie den Rücken aufschneiden und ihm obendrein ein Satinrevers und eine Fliege aus Samt schneidern. Vielleicht macht sie ihm sogar noch einen Kummerbund, weil Francis’ Augen so blitzen und er eine Schwäche für Frauen hat. Aber er ist kein junger Mann, ihr Francis. Er ist in seinen besten Jahren. Fünfundvierzig vielleicht, fünfzig eher noch nicht. Mona hält ihn sich vors Gesicht. «Was scheren uns die Jahre?», fragt sie ihn. «Ich werd sechzig am Samstag. Kannst du dir das vorstellen, Francis? Ich? Sechzig?»

 

Es ist schon beinahe Mittag, als eine Kundin die Tür öffnet. Mona weiß sofort, wer sie ist, schon an der Art, wie sie sich hält, kann sie es sehen, aber sie wartet, bis die Frau sich umgesehen hat, eine Puppe nimmt und sich seitwärts an den Tresen schleicht, hinter dem Mona sitzt und ein weißes Rüschenhemd näht.

«Gayle schickt mich», sagt die Frau. Sie hat Augen wie Teiche und eine wunderschöne Haarmähne in der Farbe von Laub im Oktober. Sie ist gertenschlank, weiß wie Milch; sie ist um die fünfunddreißig, vielleicht aber auch viel jünger. Das macht eben die Trauer mit einem. Mona steht auf und umrundet den Tresen, um ihre Hand zu nehmen.

«Ja, ich habe Sie schon erwartet. Hallo, meine Liebe.»

Die Frau hat ihren Mantel fest um sich gegürtet und den Schal mehrfach um den Hals gewickelt. Sie hält Monas Finger ganz fest.

Mona lächelt. «Also, haben Sie etwas für mich?»

Die Frau nickt und öffnet ihre Handtasche. Sie holt ein kleines Paket hervor, das in weißes Seidenpapier gewickelt und mit einem weißen Samtband verschnürt ist.

«Großartig», sagt Mona. «Das hat Ihnen jemand gekauft, nicht wahr? Wir sehen uns das gemeinsam an, wenn Sie wiederkommen. Haben Sie denn auch eine Zahl für mich?»

Die Frau schürzt die Lippen und schluckt. Mona wartet, weil manche Dinge eben schwierig auszusprechen sind.

«Ich sage Ihnen was, ich gebe Ihnen das hier.» Mona nimmt eine Visitenkarte vom Tresen und schreibt ihre Adresse auf die Rückseite. «Da finden Sie mich. Sagen wir nächsten Mittwoch um vier Uhr? Passt Ihnen das?»

Die Frau nickt, und Mona lächelt. «Ich brauche dann aber doch noch das Gewicht.»

Die Frau flüstert jetzt. «Fünf Pfund, sieben Unzen. Zweitausendfünfhundert Gramm», fügt sie noch hinzu und schaut sich hastig um, als hätte sie ein Geheimnis verraten.

«Wunderbar. Fünf Pfund, sieben Unzen. Gut. Alles klar, ich heiße Mona, und wer sind Sie?»

«Christine Burrows.»

«Also, Christine, vier Uhr am achten Oktober. Ich brauche ein bisschen, mindestens eine Stunde, manchmal mehr. Haben Sie noch andere Kinder? Müssen Sie sie von der Schule abholen, oder ist die Zeit in Ordnung?»

«Keine anderen Kinder», sagt sie, «vier Uhr ist gut», aber sie schaut zu dem weißen Paket mit dem weißen Geschenkband, das auf dem Verkaufstresen liegt. Sie berührt es mit den Fingerspitzen, und das Papier knistert leise.

«Machen Sie sich keine Sorgen», sagt Mona. «Sie bekommen es wieder. Ich werde sehr gut darauf aufpassen. Ganz besonders gut. Sie haben das Schlimmste hinter sich, nicht wahr? Sie sind zu mir gekommen und haben mit mir gesprochen. Nächsten Mittwoch um vier. Die Adresse steht auf der Karte. Und kommen Sie allein.»

Mona tätschelt nur ihre Schulter, weil alles andere die Frau zusammenbrechen lassen würde. Das merkt man sofort.

2

Joley kommt nach dem Mittagessen. Sie riecht nach Haarspray und heißen Lockenwicklern. Sie tanzt mit ausgestreckten Armen und gespreizten Fingern um die Vitrine in der Mitte des Ladens herum.

«Rate mal!»

«Du hast ihn bekommen!»

«Ja!» Joley dreht sich um sich selbst, hüpft um den Verkaufstresen herum und in das kleine Büro gegenüber der Küche. Mona geht ihr nach.

«Oh, das ist ja toll, Joley. Das freut mich so für dich, meine Liebe. Wann fängst du an?»

Joley zieht ihre Jeansjacke aus und legt sie über die Lehne des Bürostuhls. Dann setzt sie sich und schaltet den Computer ein.

«In sechs Wochen.»

«In sechs Wochen schon?»

«Ich hätte dir längst alles zeigen sollen. Das sage ich ja schon die ganze Zeit.»

«Ich muss mir jemanden suchen, wenn du nicht mehr kommst», sagt Mona. «Alleine schaffe ich es nicht.»

«Doch, das schaffst du, Mona. Du kannst das!» Joley legt einen Schokoriegel auf den Schreibtisch und holt weiße Kopfhörer aus ihrer Tasche.

«Was hattest du denn an?», fragt Mona und mustert sie von Kopf bis Fuß. Ihr Oberteil verbirgt nichts, weder das violette Tattoo auf ihrem Arm, noch die üppige Oberweite oder die weiche Haut ihres Bauches.

Joley lacht. «Wenn du mich hättest sehen können! Ich hab dieses schwarze Kleid angezogen, das mir meine Mum in den Neunzigern mal gekauft hat. Und diese hier.» Sie hebt die Füße und zeigt Mona ihre schweren schwarzen Stiefel. «Und dann habe ich mir die Haare so wie du gemacht, ganz ordentlich und straff und alles in einer Art Dutt. Mum hat gesagt, dass sie mich gar nicht wiedererkannt hat.»

«Chignon, Joley.»

«Genau, ich habe so einen Plastik-Donut benutzt, der dem Ganzen Fülle gibt.»

«Na, es hat ja offenbar geklappt. Joley Carter, Lehrassistentin. Sie werden dich ‹Miss› nennen und so», sagt Mona, zieht die Jeansjacke ein wenig zurecht und umarmt Joley. «Ich freue mich sehr für dich, meine Liebe.»

Joley schaut zu ihr hoch und lächelt. Mona sieht noch das Kind in ihr, aber den Computer hat Joley im Griff. Ihre Finger fliegen nur so über die Tastatur, ihr Blick flitzt über den Bildschirm. Ihr schwarzes Haar ist zu unmöglichen Spitzen und Knoten hochgesprayt, als wäre sie selbst eine Puppe oder eine Außerirdische. Gott, der Laden wird tot sein ohne sie.

Mona geht auf die Toilette und schaut in den Spiegel. Ordentlich und straff, das ist sie? Vielleicht lässt sie mal ihr Haar herunter oder steckt es nur an den Seiten hoch. Zu alt für ein Haarband, zu alt für Ponysträhnen. Aber er ist doch noch modern, oder nicht, der Chignon? Monas Lippenstift ist verschwunden, sie hat ihn mit dem Sandwich aufgegessen. Und sie könnte mal wieder eine Maniküre gebrauchen. Die lässt sie sich am Samstag im Spa machen. Und eine Gesichtsbehandlung. Und eine Rückenmassage. Sie wird ein gesundes Mittagessen bestellen und es mit Wein ruinieren. Es wird Blubberblasen im Glas geben und Blubberblasen im Whirlpool. Sie wird am Nachmittag Tee mit Sahne trinken. Richtigen Tee in einer richtigen Kanne, so wie ihn ihre Mutter früher gekocht hat. Eine Emaillekanne war das, die den ganzen Tag immer wieder aufgefüllt wurde, mit frischen Teeblättern und frischem Wasser, warm gehalten mit einem dicken Filzwärmer mit roter Stickerei, den ihre Mutter selbst genäht hatte. Sie nähte alles selbst, Hosen und Vorhänge, Mäntel, Monas Kleider und eine merkwürdige braune Schürze aus derbem Stoff, die sie «Sackleinen» nannte und nur zum jährlichen Frühjahrsputz hervorholte.

Monas Mutter tat immer so, als sei der Tag voller Mühen. Sie bat regelmäßig Big Maureen O’Shea um Hilfe, die auch Schmutzwäsche mit nach Hause nahm, um sie zu waschen und zu bügeln. Sie kam immer mit einem Eimer, ein paar Scheuerbürsten und einem Haufen Staubtüchern, aber die meiste Zeit saßen die beiden Frauen zusammen und tranken Tee. Es wurde sehr wenig geputzt, erst in den letzten paar Stunden eines Aprilnachmittags wurde in einem verzweifelten Anfall abgestaubt, was das Zeug hielt, bis Big Maureen schließlich mit zehn Schilling, einem Kuchen, einem Auflauf und ein paar alten Kleidern von Mona für die kleinen O’Shea-Zwillinge nach Hause watschelte.

 

Mona muss vier oder fünf Jahre alt gewesen sein. Ihre kurzen Beinchen baumeln vom Küchenstuhl, sie sitzt am Tisch und malt ein Malbuch aus. Die beiden Frauen stehen am Ausguss und plaudern.

«Du warst nicht auf der Hochzeit, Kathleen», stellt Maureen O’Shea fest.

Monas Mutter wringt den Mopp über dem Eimer aus und ringt nach Atem. «Nein, mir ging es nicht so gut. Ich habe es auf der Brust. War es denn gut? Was hatte sie an?»

«Molly Kavanagh?»

«Wie sie früher geheißen hat.»

«Wie sie früher geheißen hat, genau. Und wie sie bald wieder heißen wird, wenn es stimmt, was ich gehört habe.»

Monas Mutter schaut begierig auf. «Erzähl!»

«Du wirst es nicht glauben, aber …»

Solange die beiden Frauen Schränke leeren und schrubben und Wasser über die Fliesen verteilen, achtet Mona nicht auf sie. Aber die Unterhaltung über Molly Kavanagh lässt Mona von ihrem Malbuch aufschauen, und die beiden Frauen starren sie an. Ohne ein Wort wenden sie sich ab und schauen aus dem Fenster in den Regen, der gegen das Küchenfenster prasselt.

«Sie kann nicht raus», sagt Monas Mutter.

«Nein», stimmt Maureen zu.

Monas Mutter wischt sich die Hände ab und geht zur Anrichte. «Wir müssen vorsichtig sein.» Sie zieht eine Schublade auf. Mona hört das Rascheln von Papier. «Also, meine Süße», sagt Monas Mutter und legt drei eingewickelte Bonbons vor Mona auf den Tisch. «Du malst schön weiter. Du darfst diese Bonbons haben, eins nach dem anderen. Lutsch sie aber langsam. Gut. Und mal mir was Schönes, während wir unsere Arbeit machen.»

Mona steckt sich eines der Bonbons in den Mund. Es schmeckt sauer und zitronig und lässt ihren Speichel fließen. Sie will ihrer Mutter eine Blume und ihrem Vater einen Fischer malen, den sie ihm schenken will, wenn er von der Arbeit nach Hause kommt. Sie will ihre Mutter fragen, welches ihre Lieblingsfarbe ist, aber als sie aufschaut, sind die beiden Frauen zum Herd gegangen und kochen noch mehr Tee.

«Und?», sagt Monas Mutter und stupst Maureen an. «Hat sie nicht erst Samstag vor einer Woche geheiratet?»

«Es hat nicht einmal vierundzwanzig Stunden gehalten.»

«Was hat nicht gehalten? Sag jetzt nicht, dass Stephen Hooley Schande über das arme Mädchen gebracht hat. War er betrunken? Was hat er getan? Der war schon immer ein Schuft, der Junge.»

Maureen O’Shea dreht den Kopf ganz langsam, sodass Mona noch rechtzeitig den Kopf senken und die Blütenblätter ihrer kleinen Blume ausmalen kann.

«Na ja, sie sind nach der Hochzeit hoch ins Haus gegangen. Wie es ja auch zu erwarten ist nach Ende der Feier. Die Blumen waren so wunderschön, Kathleen. Molly hat sie selbst gebunden. Sie selbst ist ja unscheinbar wie ein alter Mantel, Gott schütze sie, aber die Blumen waren großartig, und dabei bekommt man so früh im Jahr nur so wenige.»

«Erzähl weiter.»

«Also, es ist Nacht, und sie haben sich zurückgezogen, wenn du weißt, was ich meine …» – Maureen O’Shea nickt in Richtung Mona –, «und Stephen Hooley hat einen Freund.»

«Einen Freund?»

«Genau, einen Freund, den er während der Verlobungszeit mit Molly Kavanagh gut versteckt gehalten hat. Und der Freund will sie jetzt unbedingt genau kennenlernen. Unbedingt.»

Monas Mutter schnauft. «Verstehe.»

«Aber als sie den Freund erblickt, ist Molly völlig außer sich. ‹Was soll das?›, schreit sie. Sagt, sie mag den Freund nicht und dass er wegsoll.»

Monas Mutter steht mit offenem Mund da. «Aber das Mädchen ist doch auf einer Farm groß geworden. Was hat sie denn gedacht, was da passiert? Sie hat zwei Brüder, um Himmels willen. Hat ihr denn keiner was gesagt?»

«Na ja, soweit ich gehört habe, wusste sie alles über die Freundschaft an sich, hatte aber keine Ahnung, dass der … äh … der Freund dann … dass er beabsichtigte, also, weißt du, reingesteckt zu werden …»

«In sie?»

«Genau. Aber Stephen Hooley verlässt sich nach Monaten der Abstinenz auf die Macht der Überzeugung. ‹Mach dir keine Sorgen, Molly›, sagt er und hält ihr seinen Freund vor die Nase, ‹der beißt nicht›.»

Monas Mutter fängt an zu lachen, eine Hand auf die Brust gelegt, mit lauten und keuchenden Schnaufern, die sie ins Wanken bringen. Sie muss sich am Griff des Kessels festhalten. Maureen O’Sheas Gesicht ist ganz knittrig und rot.

«Dann schlägt sie ihn! Molly Kavanagh springt aus dem Bett, greift sich einen Schuh und zieht ihm damit eins über!»

«Ihm oder seinem Freund?», bringt Monas Mutter unter Gelächter hervor.

«Der Freund ist natürlich sofort weggeschrumpft», prustet Maureen O’Shea, und die Frauen johlen und schreien und brauchen zehn Minuten, bis sie sich davon erholen. Mona schaut ihnen mit einem Lächeln auf dem Gesicht zu, ihr Buntstift schwebt über dem Malbuch. Sie genießt den Lärm und den Anblick und die Liebe in der warmen Küche im grauen Aprillicht. Sie würde das alles am liebsten für immer behalten.

Als Monas Vater an diesem Abend heimkommt und sie zusammen zu Abend essen, erzählt die Mutter von ihrem Tag, und Mona hört wieder dieselbe Fröhlichkeit in der Stimme ihrer Mutter.

«Erzähl das doch mal Dadda, Mammy», sagt Mona.

«Was soll ich ihm erzählen, mein Schätzchen?»

«Du weißt schon, von Stephen Hooleys Freund?»

«Von welchem Freund?»

«Dem, der weggeschrumpft ist.»

Das Gelächter scheint gar nicht mehr aufzuhören. Ihre Mutter schluchzt erneut vor Lachen und wischt sich die Augenwinkel mit einer Ecke des Tischtuchs, ihr Vater schüttelt den Kopf und bittet um eine Erklärung, und Mona zwischen ihnen weiß, dass sie da gerade einen wunderbaren Witz gemacht hat.

 

Joley stellt den Ordner mit den Auftragseingängen auf den Verkaufstresen. «Du brauchst dir niemanden zu suchen, Mona. Ich kann es dir zeigen. Das Ausdrucken ist ganz leicht. Dann musst du dich nur noch auf die Aufträge konzentrieren. Du füllst die Rechnung aus, legst sie in das Paket mit der Puppe, schreibst eine E-Mail aus der Proforma-Datei, drückst auf Senden. Wenn der …»

Mona schiebt den Ordner weg. «Ich will nicht einmal darüber nachdenken, Joley. Ich habe schon genug zu tun, selbst wenn ich nicht versuche, diese Tabellen oder was das da ist, zu verstehen.»

«Die Tabellen sind sogar noch einfacher.»

«Nächste Woche. Nächste Woche versuche ich es.»

Joley tippt mit dem Finger auf den Ordner. «Die Zeit läuft», sagt sie.

3

Es gibt einen ganzen Haufen neuer Bestellungen. Eine aus Korea, eine aus Amerika, eine aus Neuseeland, und ein Puppenpaar soll nach Südafrika geschickt werden. Das sind eine Menge Aufträge für einen Monat, und dazu kommen ja noch die ganzen Sonderaufträge für Weihnachten.

Mona macht sich eine neue Tasse Tee, stellt sich ans Schaufenster und schaut auf die kleine Straße hinaus. Dort ist inzwischen mehr los. Junge Frauen in Jeansjacken und andere in T-Shirts, trotz der Kälte, Mütter mit Kleinkindern, Kleinkinder mit Eistüten, die kleinen Händchen klebrig und schokoladenverschmiert – sie alle versuchen, das letzte bisschen Sommer zu genießen.

Samstag kommen die Tagesausflügler mit ihren aufklappbaren Strandmuscheln und Handtüchern zum Strand, spazieren die George Street entlang, riechen an Duftkerzen und handgemachten Seifen, probieren geflochtene Lederarmbänder an und begutachten handgenähte Geldbörsen. Sie fragen sich, wer sich wohl die Kaschmirdecken bei Grey’s gegenüber leisten kann. Sie gehen in die Antiquitätengeschäfte und Secondhandläden und schlendern die Straße hinauf und hinab, hinauf und hinab, bis sie schließlich im White Horse einkehren, um ein spätes Mittagessen zu genießen. Auf dem Weg zum Parkplatz lassen sie einen Fünfer im Ein-Pfund-Discounter, und wenn sie schließlich bei Monas Laden ankommen, starren sie ins Schaufenster, zeigen auf die Ausstellungsstücke und halten ihre Kinder hoch, damit sie die Holzkegel und Noahs Arche besser sehen können.

Monas Tagesablauf ist genauso vorhersehbar. Von Montag bis Samstag ist sie im Laden, und sonntags und an den meisten Abenden macht sie die Puppen fertig. Mittwochs schließt der Laden einen halben Tag. Dann bringt Mona die internationalen Bestellungen zur Post. Manchmal empfängt sie eine der Frauen, die Gayle zu ihr schickt. Sie ändert ihren Tagesplan nur an Weihnachten und Silvester oder wenn sie einmal im Jahr zu Val reist oder Val zu ihr kommt, um ein bisschen Seeluft zu schnuppern.

In einem Jahr, im Februar, fiel so grauenhaft viel Schnee, dass Mona den Laden fünf Tage lang nicht öffnen konnte. Sie zog ihre Schneestiefel an und besuchte ein paarmal den Tischler, holte ein paar Puppen ab und hastete wieder nach Hause, wobei sie sich auf dem Weg den Hügel hinauf an Geländern und Hecken festhalten musste. Und in einem anderen Jahr war die George Street überflutet, sodass niemand kam. Wenn etwas ihre Pläne vereiteln kann, dann nur ein seltenes Naturereignis.

Mona schließt um vier und geht dann in die Clearwater Lane, in der die besten Secondhandläden sind. Sie ist immer auf der Suche nach Stoffen. Sie stellt sich neue Kleider für ihre Puppen vor, erträumt sie sich und entwirft sie. Das ist es, was sie von anderen unterscheidet, was ihr Geschäft am Laufen hält. Sie weiß ganz genau, was womit gut aussieht. Sie sieht eine Seidenbluse mit Satinaufschlägen und weiß sofort, was sie daraus machen, wie sie die Bluse auseinandernehmen und welche Puppe das neue Kleidungsstück tragen kann. Mona schaut sich immer nach Leder- und Wollresten um. Hin und wieder findet sie eine Abendtasche mit winzigen Perlen und Knöpfchen darauf, die sie penibel abtrennt. Sie braucht immer Spitze, um die Kleider und Unterkleider damit zu säumen, und auch für die Rüschen an den Hemden. Sie benutzt Bänder oder festen Faden für die Schnürsenkel in den Stiefeln, Pailletten und kleine Metallteile für den Schmuck, Anhänger und Ketten. Und Echthaar in allen Farben – Locken sind noch besser. Sie durchsucht die Kleiderständer und Regale bei Save the Children, Oxfam, dem Blauen Kreuz und Toby’s Hospice, aber die Ausbeute ist mager: eine dunkelblaue Wildlederjacke, eine rostige Brosche mit lockeren Steinen, die sie herausnehmen kann, um damit ein Kleid zu schmücken, ein Norwegerpullover, den sie filzen will, um daraus eine winzige Reisetasche zu nähen, und zwei fleckige Tischdecken mit Kreuzstickerei an den Kanten.

Dann hat sie gerade noch Zeit, um beim Tischler vorbeizuschauen, bevor sie wieder nach Hause muss. Sie nimmt den Umweg am Meer entlang, biegt nach links ab, fort vom Landungssteg und den Arkaden, den Eisdielen und jungen Männern, die an die Geländer gelehnt stehen und ihre Zigarettenkippen hinunter auf die Steine werfen. Sie geht langsam, im Rhythmus der Atemzüge des Meeres. Ein früher Nebel kriecht über das Wasser. Sie geht jetzt östlich auf die Klippen zu. An diesem Ende ist der Strand nicht mehr so touristisch; die Gebäude, alle bis auf eines, sind anonyme Werkstätten und Industriehallen, die sich an die zinngrauen Klippen schmiegen. Riesige Felsklumpen liegen am Strand verstreut. Aber selbst in dieser Ecke der Stadt gibt es schon schicke Austernimbisse und den Ropemaker’s Grill, lokale Eisspezialitäten und eine Ahnung der denkmalgeschützten Altstadt.

Die Tischlerwerkstatt liegt im ersten Stock. Sie sieht sie schon von weitem auf Kragen gestützt über dem alten Lagerhaus ruhen. Die hölzernen Fensterläden sind wie immer geöffnet, großen Armen gleich, die dem großen Meer zuwinken, das immer strömt, bis hin zum Ende der Welt. Einmal, an einem Winterabend, hat Mona gesehen, wie die blutrote Sonne halb ins Wasser getaucht war, und ein anderes Mal stand sie, aus dem Fenster gebeugt, und schaute zu, wie die Wolken über den Himmel fegten, wie das Sonnenlicht plötzlich durch sie hindurchdrang und auf den Wellen tanzte.

Es ist ein wunderschöner Raum. Man kann eigentlich nur schöne Dinge darin machen. Es riecht nach Bäumen und Wald, nach Harz und Öl und Sägespänen und Metall und all den Salzen, aus denen das Meer besteht. Es riecht nach Essen, wenn er auf seinem Zweiplattenherd in der Ecke gekocht hat, manchmal nach Speck und gebratenen Eiern, nach Fish and Chips, wenn er keine Lust dazu hatte. An manchen Stellen, in manchen Winkeln des offenen Raumes duftet es nach Kaffee oder Whiskey, und obwohl er penibel auf Sauberkeit achtet, riecht es in seiner Toilette leicht nach Urin, wie hinter einer Kneipe – aber so sind die Männer eben. Direkt neben dem Eingang befindet sich ein Alkoven hinter einem verschossenen Samtvorhang, saphirblau mit rotbraunen Fransen, der eigentlich in ein altes Theater oder Kino zu gehören scheint, an einen Ort, an dem man diese Farben miteinander kombinieren und glauben kann, dass sie zueinanderpassen.

Einmal vor vielen Jahren, eher zufällig, zog Mona die Vorhänge beiseite. Dahinter entdeckte sie ein Einzelbett an der Wand, ordentlich gemacht, mit einem gestreiften Flanelllaken und einer grauen Decke, so alt wie die Krim und fest in die Matratze gestopft, außer an einer Ecke, die er übersehen hatte. Sie konnte sich gerade noch zurückhalten, sie festzustecken und das Bett so perfekt zu machen. Sie tat es nicht. Es ging sie nichts an.

Sie öffnet die dicke Holztür am Fuß der Metallstufen. Sie ist niemals verschlossen. Hier gab es immer einen Tischler – einen Tischler und einen Lehrling, der eine übernahm die Werkstatt vom anderen, ihre Namen sind in den schweren Türsturz geschnitzt, sechs insgesamt, aber heutzutage gibt es keinen Lehrling mehr. Die Metallstufen werden rutschig, wenn es feucht ist. Sie hat schon mehrmals vorgeschlagen, dass er eine Gummiauflage auf die Stufen legt, um der Sicherheit und des Seelenfriedens willen. Er sagt immer, dass er das tun will, aber es ändert sich nichts.

Sie klopft an die Tür, die in den großen Raum führt und tritt ein. «Ich bin’s nur, Mona», ruft sie.

Sie kann ihn nicht sehen. Sie zieht den Kopf ein, um einem Holzbalken auszuweichen, geht um die Werkbank und den schwarzen, bauchigen Ofen in der Mitte des Raums herum. Die Fenster stehen offen, und die Meeresbrise lässt die Sägespäne im Licht tanzen. Auf einem Regal am Fenster sortiert er die Puppen nach ihrem Fertigungsgrad, von jenen, die schon bereit für den Feinschliff sind, bis hin zu jenen, die noch roh sind, halb fertig oder noch in Einzelteilen. Diejenigen, die sie mitnehmen kann, legt er auf einen Tisch darunter, zusammen mit den fertigen Spielsachen. Sie kommt so oft, dass dort immer höchstens drei oder vier liegen.

Mona liebt das Gefühl, eine neue Puppe anzufassen, so nackt mit ihren lockeren Gliedern. Ihr Klackern und ihre Biegsamkeit erinnern sie an die Krabben, die am Kilmore Quay verkauft werden. Jeder Holzkörper hat einen eiförmigen Rumpf und weiche, konische Glieder mit gegliederten Gelenken. Der Kopf hat ein spitzes Kinn, eine kleine Spitze, die die Nase darstellt, und sieht irgendwie mittelalterlich aus. Der Tischler schleift sie sehr gründlich, aber hin und wieder entdeckt sie eine winzige raue Stelle, die er übersehen hat, weshalb sie sich einen Vorrat an feinem Sandpapier angelegt hat. Sie schleift mit leichten, schnellen, zarten Strichen, pustet den Staub fort, wischt die Puppe mit einem feuchten Tuch ab, besonders zwischen den Gelenken, und lässt sie dann eine Weile liegen. Das würde sie dem Tischler niemals verraten, aber mit den Jahren ist sie ein bisschen penibel geworden, was die Puppenoberfläche angeht.

Der Tischler arbeitet immer mit dem Rücken zur Tür, gebeugt steht er da, sägt oder schleift, schnitzt oder meißelt, immer mit beiden Händen beschäftigt. Sein langes Haar fällt ihm strähnig in den Nacken. Von hinten könnte man ihn für einen Hippie halten, aber das stimmt nicht. Wenn man sich den Bart wegdenkt oder in seine Augen schaut, dann weiß man es sofort. Er schert sich einfach nicht um Frisuren oder Mode. Schon einige Male hat Mona ihn mit kahlgeschorenem Kopf angetroffen, während sein abgeschnittener Pferdeschwanz langsam im Holzofen verkohlte. Breitschultrig ist er und stark, sein Gesicht männlich und verwittert, aber mit einem Lächeln, wenn man es denn zu sehen bekommt, das einen erröten lässt.

Und da steht er, ganz hinten bei der Drechselbank, und glättet etwas, langsam und überlegt, den Kopf im schwachen Licht zur Seite geneigt.

«Guten Abend», sagt sie. «Wobei es ja noch nicht so spät ist.»

Er hebt kaum den Kopf, bewegt aber die Hand. Seine Begrüßung. Sie hat gelernt zu warten, eine Unterhaltung aus ihm herauszukitzeln. Sie fährt mit den Fingerspitzen über einen kleinen antiken Holzkleiderschrank. «Für wen ist der denn? Er hat einen wunderschönen, tiefen Schimmer. Eibe, oder?»

«Eibe, ja.»

«Ich brauche ein Fünf-Pfund-Sieben-Unzen-Baby», sagt sie. «Und ich setze Wasser auf, wenn du fünf Minuten hast.»

Er steht auf und reckt sich. Sein Jeansbund hängt vorn und hinten durch. Wenn er keinen Gürtel hätte, könnte Mona alles sehen. «Fünf Pfund sieben», sagt er. «Das ist aber klein.»

«Balsa?»

«Zu leicht.»

Er geht rüber zu den Regalen an den Wänden der Werkstatt, wo er Holz, Bretter und Holzreste aufbewahrt. Mona folgt ihm. Er kratzt sich den Bart und hockt sich hin. Er holt Holzstücke heraus, wiegt sie in den Händen, murmelt vor sich hin. Seine Rippen zeichnen sich unter seinem T-Shirt ab. Sie fragt sich, ob er wohl Hunger hat, ob sie ihnen Fish and Chips besorgen soll. Ein Essen im Restaurant würde sie nicht anbieten, so weit würde sie nicht zu gehen wagen. Er hält plötzlich ein langweiliges Stück Kiefernholz hoch und richtet sich wieder auf.

«Das hier ist genau richtig», sagt er.

«Gut.»

Mona füllt den Kessel über dem kleinen Ausguss in der Ecke. Alles ist sauber geputzt und glänzt; in dem schmalen Regal daneben liegen ein neues Stück Seife, ein rauer Schwamm, ein gefaltetes Handtuch.

«Eiskalter Wind heute», ruft sie über die Schulter. Es gibt hier nur zwei Becher, die umgekehrt auf einem hölzernen Stullenbrett trocknen. In dem wunderschönen kleinen Walnussschränkchen mit der gewölbten Tür und der Marmoroberfläche hat er sein Leben verstaut: Geld, Teebeutel, Geburtsurkunde, Tabletten, Pflaster, Stifte, ein altes Foto. Mona kennt jede Kleinigkeit darin. Sie holt die Teebeutel heraus und wischt kurz die Marmorplatte ab.

«Man glaubt kaum, dass es erst September ist.»

Plötzlich steht er neben ihr. «Nein?»

«Meine Hände sind richtige Eisklumpen», sagt sie und streckt sie ihm hin. «Fühl mal.»

«Das Versprechen auf Winter liegt in der Luft», antwortet er und beugt sich an ihr vorbei, um die Becher zu füllen. Sie riecht ihn, würzig und scharf, wie Blätter im Wald. Sie steckt die Hände in die Taschen und tritt beiseite, geht zum Fenster. Dort unten hockt ein junger Mann mit seiner Freundin auf den Kieseln.

Die beiden türmen einen großen Stein auf den anderen und bauen eine Art Totempfahl. Noch aus dieser Entfernung hört Mona das Lachen des Mädchens und den scherzenden Bariton des jungen Mannes. Ihre Kleidung ist so dürftig, die Bluse des Mädchens bauscht sich im Wind, sein T-Shirt ist aus der Hose gerutscht. Sie spüren das Versprechen auf Winter nicht, die beiden.

Mona wendet sich vom Fenster ab und nimmt ihren Teebecher. «Ich habe Kekse gekauft», sagt sie und greift in ihre Tasche. «Schokolade.» Sie kämpft mit der Verpackung, nimmt sich einen Keks heraus und legt die Schachtel in das Walnussschränkchen. Sie zieht achtzig Pfund aus ihrem Portemonnaie und schiebt sie unter die Kaffeedose, wo er sie garantiert findet.

«Hat sie ihn bekommen?», fragt er.

«Wer?»

«Du hast mir doch erzählt, dass sich das Mädchen, das für dich arbeitet, um einen Job beworben hat.»

Mona macht einen Schritt auf ihn zu. «Ja, in sechs Wochen ist sie weg. Aber bis dahin habe ich sie noch.»

«Na dann», sagt er.

«Sie will es mir beibringen. Sie glaubt, ich könne es auch selbst machen, aber mit Zahlen war ich noch nie gut.»

«Du?»

«Ja, ich, am Computer.»

Er sagt nichts. Sie nimmt die Puppen und das Spielzeug, das er gemacht hat, und legt alles in ihre Baumwolltasche. Als sie aufschaut, ist er schon wieder bei der Arbeit.

«Oh, und ich muss die beiden Gelbbirken-Puppen von letzter Woche zurückbringen. Sie haben Flecken an den Beinen, beide.»

«Flecken?» Er geht auf sie zu und bleibt am Fenster stehen.

«Oder so etwas», sagt sie. «Irgendeine braune Stelle an den Beinen. Die will ich nicht übermalen.»

«Bring sie zurück. Ich schau mir das an.»

«Dachte ich mir.»

«Gestocktes Holz. Verfärbung.»

«Ja?»

«Eine Pilzinfektion des Holzes wahrscheinlich. Die Leute bezahlen eine Menge Geld für gestocktes Holz. Aber bei einer Puppe will man es nicht haben. Verstehe gar nicht, warum ich das nicht gemerkt habe. Nicht übermalen. Es scheint sonst durch. Würde aussehen wie ein Fehler. Obwohl es keiner ist. Sonst denken sie noch, du seist nachlässig.»

Sie glaubt die Bewegung seines Adamsapfels beim Schlucken des Tees zu hören. Sie stehen jetzt dicht beieinander und schauen zu dem jungen Liebespaar hinaus, das immer noch kichert. Ihre wackelige Steinkonstruktion hat stark Schlagseite. Wenn sie sich einen Zentimeter bewegte, könnte sie ihn berühren, Ellenbogen an Ellenbogen. Er wendet sich ab.

«Bring mir die Puppen zurück», sagt er. «Alle beide.»

4

Bald scheint Monas Mutter die ganze Zeit nur noch zu weinen. Mona steigt die Holzstufen in ihren staubigen Sandalen hoch, sie kommt direkt aus dem Garten, und als sie vor der Schlafzimmertür steht, hört sie das Schniefen und Wimmern und geht auf Zehenspitzen wieder nach unten, aus der Hintertür nach draußen, durch die Gasse hindurch, über die weichen Dünen und hinab zum Kilmore-Ufer. Pudrig weicher Sand überall in der weit geschwungenen Bucht. Sie planscht und spielt und macht ihre Sandalen nass und bleibt stundenlang fort. Fort von ihr, fort von ihr. Heute schämt Mona sich dafür, aber mit sieben oder acht können Kinder ziemlich herzlos sein.

Eines Tages kommt Monas Vater hinter ihr hergelaufen, das Hemd ist ihm aus der Hose gerutscht, die Hausschuhe sinken mit jedem Schritt in den weichen Untergrund ein. Als er sie erreicht, steht er einen Augenblick ganz still da. Er sieht aus, als hätte er geschlafen oder selbst geweint.

«Mona», sagt er, «was glaubst du eigentlich, was du da tust?»

«Ich spiele, Dadda», antwortet sie.

«Und wo sollst du in Wirklichkeit sein? Was habe ich dir gesagt?»

«Bei meiner Mutter.»

«Und was sollst du da tun?»

«Aber, Dadda …»

Er hockt sich vor sie hin, bis sein großer Schädel auf der Höhe von ihrem Kopf ist. Dann nimmt er ihre Hände in seine. Er zieht daran.

«Ist dir langweilig bei deiner Mutter, Mona? Weil sie nicht aufstehen und mit dir in die Wellen rennen kann wie früher? Weil sie dich nicht auf ihren Schoß setzen und dir die Haare bürsten kann, weil sie nicht aus dem Bett kommt? Liegt es daran, Mona?» Er schiebt Mona Strähnen ihres weißblonden Haares aus dem Gesicht.

«Ja, Dadda.»

«Eines Tages», sagt er, und seine Stimme klingt freundlich, daher weiß Mona, dass sie nicht ausgeschimpft wird, «eines Tages wirst du dir diese Stunden zurückwünschen, mein Mädchen. Du wirst dich fragen, wie du sie verlieren konntest, und du wirst sie dir zurückwünschen. Es gibt da einen Trick mit der Zeit.»

Er steht auf, klopft sich den Sand von der Hose, und Mona springt auf seinen Rücken, um darauf nach Hause zu reiten. Er trottet über die Dünen, und sie hat ihre Hände um seinen Hals geschlungen und ihre Brust gegen seine Rippen geschmiegt.

«Was ist das für ein Trick, Dadda?»

Er erklärt gern, daher erwartet Mona eine schöne lange Antwort, die hoffentlich die Rückkehr nach Hause hinausschiebt.

«Man kann sie ausdehnen und zusammenziehen. Man kann sie länger oder kürzer machen», antwortet er.

«Wie denn?»

Mona hängt an ihm. Sie erhascht einen letzten Blick aufs Meer, bevor es hinter dem Hügel verschwindet. Ihr Vater dreht sich ebenfalls um.

«Das Meer spült alle Sorgen fort», sagt er.

Das ist typisch für ihn, dass er etwas aus einem Gedicht oder Buch zitiert und eine direkte Frage nicht direkt beantwortet. Jedenfalls hat das Meer seine besondere Kraft offenbar verloren, weil Monas Vater sich neuerdings die ganze Zeit Sorgen macht und jetzt sogar hier ist, in der falschen Hose und den falschen Schuhen. Und das hat nichts mit dem Dehnen von Zeit zu tun.

«Alle Sorgen spült es fort?», fragt sie. Er nickt und sagt nichts mehr.

Als sie wieder zu Hause sind, geht Mona direkt nach oben zu ihrer Mutter, die in ihrem Bett sitzt und diese schreckliche Strickmütze trägt, unter der die Haare an ihrem Kopf kleben, dieselben schwarzen Haare, die früher in Wellen oder als geflochtener Zopf auf ihrem Rücken lagen. Jetzt bedeckt Flaum den Schädel ihrer Mutter; ganze Strähnen ihrer Schönheit haben sich in der Strickmütze verfangen oder liegen dunkel auf dem Kissenbezug, wie trockener Tang auf den Felsen. Und dann sind da die entzündeten Stellen in ihren Mundwinkeln. Stellen, die Mona, Gott möge ihr vergeben, dazu bringen, sich abzuwenden, wenn ihre Mutter ihr einen Kuss geben will.

Monas Mutter nimmt ein Stückchen Leinen aus ihrem Nähkorb und hält ihn gegen das Fenster.

«Guck mal, sieh dir das Licht an, wie es durch das Gewebe fällt», sagt sie. «Siehst du? Es hat die Farbe deiner Haut im Sommer, Mona.»

«Ja, Mami.»

«Wenn du groß bist, wenn du ein großes Mädchen bist, reist du in andere Länder, Mona. Nach Italien und Frankreich und Spanien. Weit, weit weg, wo es jeden Tag warm ist und du noch viel brauner wirst.»

Mona spürt, wie der Blick ihrer Mutter sie abtastet.

«Ich glaube, du wirst groß werden. Ja, groß wirst du werden, und sehr, sehr hübsch, eine stóirín.» Sie streichelt Monas Arm. «Ich sehe dich vor mir. Wie du eine Straße mit französischem Namen entlanggehst, eine Rue Sowieso, und es ist nicht Sommer, sondern Winter, ja, sagen wir, es ist ein kalter Dezemberabend, und vielleicht gehst du Hand in Hand mit einem Ehemann oder deinem Liebsten. Du trägst einen Mantel mit Pelzkragen und ein Paar Lederstiefel mit Knöpfen an der Seite.»

«Was noch?»

«Du wohnst an einem breiten Boulevard oder vielleicht an der Küste in Rosslare in einem großen Haus mit zwei Katzen und einem Hasen. Zwei Kinder – nein, vier Kinder und ein Dienstmädchen. Ja, wollen wir dir ein Dienstmädchen geben, mein kleiner Schatz? Sollen wir dir ein Dienstmädchen und eine Köchin und jemanden geben, der die Haustür öffnet und knickst?» Monas Mutter streckt die Nase in die Luft und spricht mit englischem Akzent. «Ich bitte um Verzeihung, Madam. Miss Desdemona darf nicht gestört werden.»

Aber als Mona lacht, fällt das Lächeln ihrer Mutter in sich zusammen.

«Weißt du, ich bin dann vielleicht nicht mehr da, Mona. Vielleicht bin ich dann nicht mehr bei dir.»

«Warum?»

«Weil du dann dein eigenes Leben hast und gar nicht willst, dass deine Mutter ständig bei dir ist, nicht?» Sie beginnt, den Leinenstoff mit langen, gleichmäßigen Stichen zusammenzuheften. «Und vielleicht bin ich auch nicht gesund genug, um dich aufwachsen zu sehen.»

«Ich wachse aber schnell, hat Dadda gesagt.»

«Ja, das stimmt. Doch ich werde ebenso schnell kränker. Und wenn das ein Wettlauf ist, Mona, dann gewinnst du ihn wohl.»

«Mami», sagt Mona, «du darfst bei mir wohnen, wenn ich mein großes Haus habe.»

Mona sieht, wie das Nachthemd ihrer Mutter am Kragen absteht, wie eingesunken ihr Gesicht wirkt und dass es die Farbe der grauen Felsen am Strand hat. «Und die Köchin macht dir ein schönes Abendessen mit ganz viel Brot und Butter. Und Marmelade», fügt Mona hinzu.

Ihre Mutter antwortet mit einem Druck ihrer Hand und einem kleinen Husten.

Es geht stundenlang so. Sie nähen und stellen sich die Zukunft vor und bringen sich gegenseitig zum Lachen. Mona bleibt bei ihr oben, bis es fast dunkel ist, bis ihre Mutter sich gegen das eiserne Kopfteil des Bettes lehnt, bis sie immer langsamer und langsamer blinzelt und ihre Näharbeit auf die Bettdecke sinkt. Dann erst klettert Mona vom Bett und geht auf Zehenspitzen hinunter zu ihrem Vater, der immer noch in den falschen Kleidern vor einem toten Feuer sitzt.

«Gutes Mädchen», sagt er.

5

Mona versucht zu schlafen, weiß aber, dass das nicht klappen wird. Sie ist den ganzen langen Weg vom Strand nach Hause gegangen in der Hoffnung, dass die körperliche Betätigung sie anstrengen und sofort in den Schlaf gleiten lassen würde, sobald sie die Augen schließt. Aber sie ist immer noch wach, kneift die Augen zu und denkt an ihre Mutter. Wie alt war sie, als sie starb? Achtunddreißig? Das ist kein Alter. Sie war immer noch eine junge Frau.

Mona macht sich eine Tasse Tee und geht zum Fenster. Mitten in der Nacht, und da ist er wieder, der General, und blickt hinaus aufs Meer. Sie beobachtet ihn, bis er sich umdreht und winkt. Sie prostet ihm wieder mit ihrem Becher zu, und dann sehen sie sich an, mehr als ein paar Sekunden lang. Er deutet eine kleine Verbeugung an und zieht sich in sein Zimmer zurück.

 

Mona schaut zu, wie der Morgen mit peitschendem Regen kommt, der gegen das Fenster schlägt. Wenn das nicht ein Tag für eine Abwechslung in ihrem Tagesablauf ist! Sie wird zu Hause bleiben. Einfach mal zu Hause bleiben, den ganzen Morgen lang. Warum nicht? Soll Joley für ein paar Stunden allein auf den Laden aufpassen. Sie wird sich nicht anziehen, sie wird einfach den Tag genießen und nähen.

Mona hat eine Idee für eine Puppe, eine neue mit einem ruhigen und nachdenklichen Gesicht und langen, zarten Gliedern. Sie könnte ihr eine Schürze aus dem Ärmel einer Drillichjacke und eine Baumwollbluse aus einem Kissenbezug nähen. Oder wie wäre es mit einem Kilt aus einem Stück Decke mit Schottenmuster und einer Norwegerstrickjacke aus einer Norwegerstrickjacke? Ein knapper Meter rubinroter Jacquardstoff wartet auf ihrem Arbeitstisch – na ja, eigentlich ist es nur ein Tisch, und ihre Werkstatt ist einfach nur das größte Zimmer mit dem besten Licht, mit Platz für die Puppen und die Stoffe, für die Nähmaschine und eine Arbeitsbank, auf der sie acht Leute zum Abendessen unterbringen kann. Sie schaut die Regale mit den Stoffen durch, auf der Suche nach einem Stück Cord in einer Kontrastfarbe. Sie hat Stoffe aller Art, gefaltet und in Ballen, streng nach Farbschattierungen geordnet, und eine Teekiste voller gerüschter Spitzenabschnitte. Secondhandvorhänge hängen an Haken an der Rückseite der Tür. In den Secondhandläden und auf Flohmärkten kauft sie die – nicht, dass es noch Flohmärkte gäbe. Früher haben die Methodisten und Christadelphians riesige Flohmärkte organisiert, mit massenweise Qualitätsware, Büchern und Krimskrams für ein paar Pennys, mit einer Tombola, selbstgemachtem Chutney, einem Kuchenstand und einem riesigen Teekessel. Alles vorbei. Mona zahlt an die zehn Pfund für einen guten Wildledermantel oder einen Läufer mit Wollstickerei. Aber das ist es wert. Sie zieht ein Stück pelziges Wildleder heraus, das zu dem rubinfarbenen Jacquardstoff passt, und gerade als sie hineinschneiden will, klingelt das Telefon.

Das ist sicher Valerie wegen des Wochenendes. Mona stößt sich den Ellenbogen am Türrahmen, weil sie so hastig hindurchgeht, und reibt ihn.

«Hallo?»

Ja, es ist Val. Mona hört zu, lässt die Schultern hängen und senkt die Stimme.

«Oh nein. Tut mir so leid, Val. Nicht schon wieder. Es geht ihr also schlechter. Was ist denn passiert?»

Es geht nicht um Samstag. Na ja, eigentlich schon. Sie hört sich Vals Geschichte an und stellt ihre Fragen an den richtigen Stellen. «Deine arme Mutter. Wo ist das passiert? Corporation Street? Was hat sie denn in der Stadt gemacht? Verirrt hat sie sich? War sie allein? Oh nein, Val.»

Mona hört die Angespanntheit in Vals Stimme, weiß, dass Val es hasst, jemanden im Stich zu lassen. Also macht Mona es ihr leicht.

«Nein, du kannst sie nicht allein lassen. Bleib, wo du bist. Mach dir keine Gedanken», sagt Mona. «Ich bin doch im November da. Wir können es im November machen. Wir können essen gehen. Ja, natürlich. Nein. Sei nicht albern. Nein.»

Beim Zuhören lässt sich Mona auf die Armlehne ihres Lieblingssessels sinken, den sie auf den Fernseher und die hohen Fenster mit dem Blick über die Gärten ausgerichtet hat.

«Ich komm schon zurecht. Du musst dort bleiben, Val, meine Liebe. Ich will nichts davon hören. Nein.»

Aber Mona hat schon aufgehört, ihrer Freundin zuzuhören, die 284 Kilometer und damit drei Stunden weit weg wohnt. Sie nickt, als könne Val sie sehen, und lässt ihre Stimme leichthin klingen.

«Wir wussten doch, dass das irgendwann passieren würde, oder, Val? Als sie in diesen Leoparden-Leggins nach Hause kam, erinnerst du dich? Da haben wir schon gesagt, dass sie nicht mehr ganz richtig im Kopf ist. Mit ihren achtzig Jahren.»

Sie kichert gemeinsam mit Val, die sagt, dass sie morgen wieder anrufen will. «Mach dir um mich keine Gedanken. Tu einfach, was du tun musst. Wo ist sie denn jetzt? Das Queen Elizabeth Hospital ist ein gutes Krankenhaus. Bring ihr das Bettjäckchen mit, das, in dem sie aussieht wie Liberace. Das heitert sie bestimmt auf. Und dazu die Leggins. Das ist mal ein tolles Outfit. Oh, wir dürfen darüber nicht lachen, Val. Also los mit dir. Los. Ja. Auf Wiederhören, meine Liebe. Tschüs.»

Sie legt den Hörer auf die Gabel und geht zurück zu dem Drehstuhl in ihrem Arbeitszimmer. Sie nimmt Belinda in die Hand und besieht sie sich von allen Seiten. Bisher trägt die Puppe nur eine Schicht Grundierung und Vorlack und zwei Schichten kreideweiße Farbe; ihre Augen sind grün, mit einer Pupille. Das Puppengesicht ist so glatt und fein wie Porzellan, obwohl ein geübtes Auge noch die Maserung im Holz unter der Alabasterfarbe erkennen kann. Mona reibt sich mit dem Daumen die Augen.

«Was möchtest du denn gern, Belinda?», fragt sie. «Ich meine, wenn du dir etwas wünschen könntest? Bestimmt keine Arbeitskleider, oder? Ein Partykleid, das vielleicht?» Dann legt Mona die Puppe wieder hin und geht aus dem Zimmer. «Jetzt redest du schon mit dir selbst, Mona. Du redest mit dir selbst.»

Sie setzt den Kessel auf, und während das Wasser heiß wird, räumt sie die Küche auf, faltet den Putzlappen zusammen und legt ihn über den Wasserhahn. Sie nimmt einen Becher aus dem Schrank und löffelt Kaffee hinein.

«Und wenn du nicht mit dir selbst redest», fährt sie fort, «sprichst du mit einem Stück Holz. Bin mir nicht sicher, was schlimmer ist.» Sie gießt kochendes Wasser auf und fügt Milch hinzu. «Das Holz, Mona. Eindeutig das Holz.»

Sie geht langsam zurück ins Wohnzimmer und setzt sich in ihren Sessel. Die Mittagssonne malt die Rahmen der Fenster gelb und wird die Vorhänge ausbleichen. Das Rot im Teppich wird bald verschossen sein und die Farbe der Auslegeware verändert, aber Mona ist das egal. Sie sitzt mit dem Becher im Schoß da und denkt an Samstag und daran, wie sie sich wohl fühlen wird, wenn sie tatsächlich nicht mehr neunundfünfzig, sondern sechzig ist. Sie stellt sich vor, wie es wäre, Freitag ins Bett zu gehen und einzuschlafen oder es zumindest zu versuchen. Sie hatte nicht immer Angst vorm Alter, früher einmal hätte sie sich sogar darauf gefreut, als sie jemanden hatte, mit dem sie alt werden konnte. Sie hatten so viele Pläne damals, und sie dachten, sie hätten noch Zeit, sie alle zu verwirklichen, aber damals waren sie so verdammt jung, dass sie glaubten, das Leben dauere ewig.

Sie blinzelt und schaut sich in ihrem Wohnzimmer um. Es ist nicht zu spät. Sie könnte ein paar Leute zu sich