Die zerbrochenen Flöten - Ida Spix - E-Book

Die zerbrochenen Flöten E-Book

Ida Spix

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Beschreibung

Die Welt der Azteken im Jahr 1519: Bisher hat der junge Krieger Jadefisch seine Bestimmung, den Opfertod für die Götter zu sterben, hingenommen – bis er sich ausgerechnet in Maisblüte, die Tochter des aztekischen Herrschers Motecuzoma verliebt und in den Machtkampf zwischen diesem und dem unerbittlichen Oberpriester gerät. Zur gleichen Zeit nähern sich unbekannte Schiffe der Küste des Landes. Der Gesandte eines fernen Landes wiegelt die Feinde der Azteken gegen Motecuzoma auf. Mit unbekannten Waffen und riesigen, vierbeinigen Tieren gehen sie gegen die Städte der Azteken vor und nehmen den Herrscher samt Hofstaat gefangen. Während Jadefisch versucht, seine Geliebte zu retten, braut sich neues Unheil zusammen… Die Autorin weiß, wovon sie schreibt. Sie hat sich intensiv mit der aztekischen Geschichte und Kultur beschäftigt und kennt Mexiko aus erster Hand. Zuletzt ist sie noch kurz vor Ausbruch der Corona-Pandemie dort gewesen – auf den Spuren indigener Bilderhandschriften, die Humboldt aus Mexiko mitgebracht hat. Derzeit bereitet sie eine Ausstellung ebendieser Bilderhandschriften in der Staatsbibliothek Berlin für die Öffentlichkeit vor. Geplante Eröffnung: Frühjahr 2022.

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Ähnliche


Zum Andenken an Reginald Danielewski,meinen geliebten Vater,der mich beim Schreiben begleitet hat.

Die zerbrochenen Flöten

Jadefisch und Motecuzoma

Historischer RomanvonIda Spix

Impressum

Die zerbrochenen Flöten, Ida Spix

TraumFänger Verlag Hohenthann, 2021

1. Auflage eBook Januar 2022

eBook ISBN 978-3-948878-13-9

Lektorat: Michael Krämer

Satz und Layout: Janis Sonnberger, merkMal Verlag

Datenkonvertierung: Bookwire

Titelbild: Benjamín Orozco

Copyright by TraumFänger Verlag GmbH & Co. Buchhandels KG, Hohenthann

Inhalt

Die Erwählung

Die Höhle des Toltekenkönigs

Maisblüte

Die Entführung

Das Jadeherz

Die Zeit des hundeköpfigen Gottes

Die Stadt der Grünfederschlange

Die dreizehn Unglückstage des Windes

Das blaue und das gelbe Wasser

Die Ankunft des Gesandten

Glänzender Adler

Das Ultimatum

Toxcatl

Personen, Orte, Begriffe

Personae-dramatis

Atlixca: Feldherr von Motecuzoma. Titel: Herr-Des-Richterhauses

Baumleguan: Cihuacoatl und Stellvertreter von Motecuzoma

Cacama: Herrscher von Tetzcoco

„Cihuacoatl“: Weibliche-Schlange, Stellvertreter des Herrschers, der die Erdgöttin verkörperte – Baumleguan

Cortés, Hernán: Konquistador, Anführer des spanischen Invasionsheers

Cuitlahua: Bruder von Motecuzoma und Herrscher der Stadt Iztapalapan

Eins-Affe: Liedmeister im Tempel des Tezcatlipoca

Erdsonne: Jadefischs Mutter

Goldfasan: junger Krieger aus Jadefischs Gefolge

Ixiptla: Abbild, Jadefischs Titel

Jadefisch: Sohn von Nachtjaguar und Abbild des Tezcatlipoca

Maisblüte: Tochter von Motecuzoma und Jadefischs Geliebte

Malin-tzin: Übersetzerin von Cortés

Motecuzoma: Der Wie-Ein-Herr-Zürnt. Herrscher in Mexico-Tenochtitlan und wichtigster Herrscher des aztekischen Bundes

Nachtjaguar: Jadefischs Vater, Herrscher eines Teils von Cholollan

Opossum: Herr-Des-Schwarzen-Hauses, Ratgeber des Herrschers

Quetzalcoatl: Grünfederschlange, einer der Schöpfergötter, Titel der beiden Hohepriester

Quetzalmatte: zweite Hauptgemahlin von Motecuzoma, Maisblütes Mutter

Reiherfeder: Nebenfrau von Motecuzoma, Schwester von Cacama

Sechs-Tod Feuerpfeil: Halbbruder von Jadefisch

Sternfinder: der Priester-Weise im Tempel des Tezcatlipoca (↓)

Tepehua: Motecuzomas Bruder und Feldherr. Titel: Herr-Des-Speerhauses

Tezcatlipoca: Rauchender Spiegel, einer der Schöpfergötter

Tlacotl: Speerschaft, um übertragenen Sinn auch so viel wie Tapferer Krieger, rechte Hand des Herrn-Des-Schwarzen-Hauses und dessen Amtsnachfolger

Totecuiyo: Unser Herr, Anrede des Herrschers

Vanilleblume: Ixtlilxochitl, Bruder und Rivale von Cacama

Erstes Kapitel

Die Erwählung

1

Die Musik erhob sich wie ein Vogel. Mit schrillem Ruf, leicht federnd, sprang sie ab und zog dann kraftvoll immer höher. Als sie genügend Raum gewonnen hatte, hielt sie inne. Sie trug sich selbst, sie schwebte schwerelos. Dann stieg sie wieder. Sie begann zu oszillieren. Sie stieg, sie ließ sich fallen, stieg und fiel und fing sich wieder und drängte doch unbeirrt weiter empor, hin zu dem einen Ton aus Schatten und Licht, der wie kein anderer die Gegenwart des willkürlichen Gottes Tezcatlipoca, Rauchender Spiegel, verkündet. Jadefisch ließ die Finger auf der Blumenflöte tanzen. Mühelos umkreiste er den Ton, die dunkle Mitte, wo der Gott Tezcatlipoca wohnte. Eins-Affe sah die runde, modellierte Blüte wippen, das schmale Rohr, auf dem sie saß, und dachte an den süßen Duft der weißen Winde, der berauschte und betörte, und an die dunklen, runden Samen, durch die der Mensch zu der Gottheit gelangte. Das war der Augenblick! Der Ton erklang. Eins-Affe schloss die Augen. ‚O Nacht, die eine neue Sonne hütet, in Demut nehmen wir unser Schicksal entgegen. Vernichte uns nicht!‘

Beinahe schmerzhaft vibrierte ihm dieser Ton im Bauch; endlich, endlich verschob er sich ins Helle. ‚Licht, Erneuerung!‘, dachte Eins-Affe. Er vernahm Flügelschlagen, und unter seinen Augenlidern zeichnete sich ein makelloser, bläulich schimmernder Reiher ab: Der Gott war ihm in Tiergestalt erschienen. Die Flöte sang jetzt noch höher, das dunkle Motiv wie am Himmel spiegelnd. Dann, plötzlich, stürzte sie ab. Die Spannung löste sich in einer Kadenz falscher Töne. Der blaue Reiher floh.

Eins-Affe öffnete enttäuscht die Augen. Warum konnte sein begabtester Schüler das Blumenlied des Gottes Tezcatlipoca nicht fehlerlos spielen?

Die übrigen neun Schüler, die mit gekreuzten Füßen vor ihm saßen, taten unbeteiligt. Hinter ihnen stand der alte Priester-Weise, der Eins-Affe unterstützte. Während Eins-Affe ihnen die Melodien und die Technik des Flötenspiels beibrachte, kümmerte Sternfinder sich um ihre geistige Führung. Gleich würde er Jadefisch mit dem Agavendorn stechen, um dessen Fleisch zu lehren, was sein Verstand anscheinend nicht begriff.

Doch dies geschah nicht. Sternfinder ließ den Stachel sinken und ging in die Hocke, um die Geste des Erdessens zu vollziehen. Dafür legte er zwei Finger seiner rechten Hand erst auf den Boden, dann auf die Lippen. Eins-Affe machte es ihm unwillkürlich nach, obgleich er noch nicht sehen konnte, wen Sternfinder da grüßte. Auch die Schüler rollten kopfüber.

Nur der ungeschickte Spieler blieb stehen. Beschämt und wütend auf sich selbst bohrte er die Blicke in den Boden.

Schritte näherten sich von der Seite. „Der Große Sprecher“, „unser geliebter Herrscher …“, raunte es im Saal.

Jadefischs Schläfen pochten: ‚Mo-tecu-zo-ma, Der-Wie-Ein-Herr-Zürnt‘!

Der König auf dem Jaguarthron in der Metropole Mexiko-Tenochtitlan! Der das aztekische Bündnis anführte, mit dessen Hilfe er nun schon fast die ganze Welt beherrschte. Cemanahuac, die Welt im Ring des Wassers, erstreckte sich vom Seenland im Ring der Berge bis an die Meere im Osten und Westen. Tief im Süden und Südosten verloren sich die Wege in geheimnisvollen Regenwäldern, wo die Mayavölker wohnten, im Norden schließlich grenzte sie an dürre, karge Steppen, über die allein der Wind und wilde Jäger streiften. Und über das gewaltige Gebiet dazwischen gebot Motecuzoma! Nur wenige wagten es, ihm zu trotzen. Und dieser Mann war höchstpersönlich im Haus der Blasinstrumente erschienen. Er war gekommen, um den besten Flötenspieler zu bestimmen, jenen, der durch ein ganzes Sonnenjahr hindurch den Gott Tezcatlipoca verkörpern durfte. Bald jährte sich Sein Festtag, da Er sterben und sich durch den Tod erneuern würde. Ein Abbild würde ausgerufen werden, damit der wiedergeborene Gott erkennbar unter den Menschen weilte. Es würde Seine Blumenflöte spielen, geliebt, gefeiert und verehrt, um schließlich als Tezcatlipoca selbst zu sterben und in das Haus der Sonne zu gehen.

Der Herrscher hatte, ohne sein Gefolge, hinter einem der bemalten Pfeiler des Wandelganges zwischen Haus und Innenhof gelauscht. Die ungeheuerliche Zerstörung des anfänglich so gut gespielten Liedes berührte ihn wie ein Sakrileg. Drohend kam er aus der Deckung. Dem unglücklichen Jadefisch setzte der Herzschlag aus. Sein Gehirn wurde so leer wie eine Schale, aus der das Wasser gelaufen ist. Die Flöte glitt ihm aus der Hand, und als sie auf den Boden fiel, gab sie einen letzten, unpassenden Ton ab.

„So willst du unsern Gott erfreuen?” In Motecuzomas Stimme kämpften Zorn und Spott.

Jadefisch schwieg. Musste er ausgerechnet dem Großen Sprecher missfallen? Dieser ahndete selbst kleine Fehler unerbittlich. Jadefisch schoss durch den Kopf, was man sich über Motecuzoma erzählte: ‚Sein Leben hat verwirkt, wer seinen Zorn erregt, wer seine Pflicht verletzt, wer ihm nicht ehrerbietig dient, wer seinen Blick zu ihm erhebt.‘ Und Jadefisch hatte nicht nur seine Ohren beleidigt. Anstatt ihn mit dem Gruß des Erdessens zu ehren, stand er noch immer wie erstarrt.

Der Herrscher fixierte ihn. Da wusste Jadefisch plötzlich, was er sich schuldig war. Er hob das Haupt, um dem Unheil zu begegnen. Motecuzomas hagere Gestalt ragte vor ihm auf wie eine Opferfahne. Beinahe hätte er sich noch beirren lassen, als er die blaugrüne Tilma sah: Einzig der Große Sprecher trug einen Umhang in der Farbe des Lebens! Dann das Türkisdiadem mit der Dreiecksspitze! Aber Jadefisch hielt stand. Seine Tage waren ohnehin gezählt. Wie jeder seiner neun Gefährten hier war er nur ein Mensch, der sterben musste, ein Opfersklave, dessen Herz ein Gott erheischte, wenn nicht erst morgen, dann schon heute.

Motecuzoma atmete tief, Zorn blähte ihm die Nasenflügel: Ein Großer Sprecher spiegelte sich in den Pupillen eines andern! Ein Opfersklave, den man auf dem Schlachtfeld gefangen hatte, der Sohn eines Feindes, starrte ihn an! Er hatte Mühe, sich zu beherrschen. Auf keinen Fall durfte er das Gesicht verlieren. Was sollte er tun? Unwillkürlich glitt sein Blick zum Priester-Weisen. Sternfinder war ein Wissender, der die verborgenen Dinge erforschte, ein ernsthaft Suchender, der jede Mühe auf sich nahm. Dafür zuerst und dann natürlich auch für ein entsagungsreiches Leben nach den Tempelregeln hatte ihm Tezcatlipoca einen klaren, beweglichen Geist und ein vollkommenes Herz verliehen; es hieß von ihm, er gliche einer Fackel ohne Rauch. Motecuzoma suchte gerne Rat bei ihm. Schon normalisierte sich sein Atem, nur die Daunenfeder an seinem Nasenschmuck zitterte noch.

Sternfinder ließ die Blicke auf dem Sklaven ruhen.

Auch Motecuzoma sah den Sklaven wieder an, der in einem schlichten Lendenschurz aus Agavefasern barfuß, aber immer noch erhobenen Hauptes vor ihm stand. Wer war er, dass er das wagte? Für einen kurzen, seltsamen Moment durchforschte der Herrscher die Augen seines Gegenübers. Die Iris glich poliertem Bernstein, in den der filigrane Flügel eines Falters eingeschlossen war. Dort war keine Auflehnung zu finden, eher ungläubige Überraschung und … Neugier.

Die Augen allein auf den Sklaven gerichtet, stand der Priester-Weise auf, führte sich zwei Finger an die Lippen, um schließlich, mit derselben Hand, einen Bogen bis zum Kopf des Sklaven zu beschreiben. Motecuzoma verstand. Wer würde es wagen, den Großen Sprecher anzuschauen, wenn nicht jener, den die Gottheit erwählt hatte? Ihn und keinen anderen hatte Tezcatlipoca zu Seinem Abbild bestimmt. Darum deutete Motecuzoma nun seinerseits die Geste des Erdessens an, vor dem Gott, der in dem Opfersklaven leben würde.

Jadefisch glaubte zu träumen. Der Große Sprecher erhöhte ihn? Oder verhöhnte er ihn womöglich? Vergebens bemühte sich Jadefisch, in seinen Augen zu lesen. Die glänzten dunkel wie Obsidian und gaben keine Gefühle preis. Sein Antlitz blieb glatt wie ein Spiegel. Darin eine Raubvogelnase mit einem kristallenen Stäbchen sowie ein schmaler Mund mit goldenem Plättchen an der Unterlippe. An seinem Kinn ein dünner, schwarzer Bart, den nur ein Herrscher tragen durfte.

In diesem Augenblick berührte der Priester-Weise Jadefisch mit dem Agavendorn. In Jadefisch kam Bewegung: Er gab den Gruß des Herrschers zurück. Die Ordnung der Dinge war wiederhergestellt. Motecuzoma besann sich, dass das künftige Abbild des Tezcatlipoca noch der Schüler des Liedmeisters Eins-Affe war.

„Wie heißt du vollständig?“

„Zwölf-Bewegung Jadefisch.“

In seinem Rücken flüsterte es: „Totecuiyo.“

Das hieß ‚Unser Herr‘ und war eine der Anreden der Ehrerbietung, die man dem Herrscher zollte. „Totecuiyo“, wiederholte Jadefisch.

„In welchem Jahr schickten die Götter dich auf die Welt?“

„Im Jahr Fünf Haus, vor 21 Jahren, Totecuiyo.“

„Wohin schickten sie dich?“

„Nach Cholollan.“

„Die Stadt der Grünfederschlange. Wer ist dein Vater?“

„Der verehrte Herr Nachtjaguar.“

„Einer eurer sechs Gebieter. Und deine Mutter?“

„Die verehrte Frau Erdsonne, die Tochter des Hüters-Der-Erde.“

„Eines eurer beiden Hohenpriester. Ist sie die Hauptgemahlin deines Vaters?“

„Sie ist seine Erste Hauptgemahlin.“

„Mögest du dich ihrer beider als Abbild des Tezcatlipoca würdig erweisen!“ Damit drehte Motecuzoma sich um und verließ das Haus der Blasinstrumente.

Jadefisch fühlte sich benommen. Er hob die Flöte auf und wischte sie mit den Händen ab, die Befehle des Liedmeisters erwartend. Aber da kam nichts. Eins-Affe wirkte ein wenig entrückt, er strahlte wie der volle Mond. Der Priester-Weise legte Jadefisch die Hand auf die Schulter:

„Du kennst nun die Macht von Tezcatlipoca. Mache dich leer, damit der Gott in dich eintreten kann. Dann wirst du Ruhm erlangen, mehr Ruhm als deine Brüder, die auf dem Schlachtfeld für die Götter starben. Du wirst Gott selbst sein. Durch dich wird sich unser Herr erneuern.“

In den folgenden Tagen trieb Jadefisch wie ein Boot auf einem aufgewühlten Fluss, umhergeworfen von den Wellen der Gefühle, bald oben auf dem Kamm, in dem Geglitzer des grünen Wassers und des Sonnenlichts, bald unten vor den Mündern schwarzer Strudel, die sich gierig öffneten, wenn über ihm die Gischt zusammenschlug: der Ruhm und sein Preis.

Jadefisch hatte es inzwischen begriffen: Er sollte das neue Abbild sein! Er frohlockte – Ruhm und Ehre, Pracht und Glanz und – fiel dann wie der Ton, den er nicht hatte halten können, aus der Höhe: Tod! Tod hieß das Ende seines Jahres. Das Herz, ausgerissen! Der Kopf, an den Schläfen durchbohrt und auf ein rundes Holz gezogen, gereiht in die Schädelwand vor dem Tempel. Er konnte nur noch daran denken. Scham befiel ihn, denn wenn dies so blieb, dann würde er das Blumenlied nie richtig spielen.

Doch das musste er, er hatte keine Wahl. Ihm war der Tod bestimmt, seitdem er in Gefangenschaft geraten war, diesem Schicksal konnte er sich nicht einmal durch die Flucht entziehen. Jeder Gefangene aus der Adelsschicht gehörte den Göttern. Wohin Jadefisch auch ginge, und wäre es zurück in seine Heimatstadt, würde er sein Leben dennoch auf dem Opferstein verlieren. Warum also hatte er ein Herz, das sich nicht fügte? Warum, bei all der Mühe, die er sich gab, verspielte er sich?

Zum Glück für ihn gab es nicht nur die Flöte. Eins-Affe und der Priester-Weise führten ihn behutsam in die Rolle eines Gottesabbildes ein. Jadefisch übte die Tänze des Tezcatlipoca, er lernte lange Tabakspfeifen zu rauchen, gelbe Blumensträuße in der Luft zu schwenken, und währenddessen malte er sich sein künftiges Leben als Gottesabbild aus. Die aztekische Metropole erwartete ihn! Auf ihrer Insel im Schilf, in den Binsen, im mittleren der flachen Seen des Hochtals von Mexiko mit seinen Wäldern, Feldern und Gärten, erhob sie sich, bewundert und gefürchtet, so weit der Wind die Kunde von ihr trug, und Jadefisch würde sie sehen! Würde nach Lust und Laune die Straßen entlang der Kanäle durchstreifen. Menschen würde er begegnen, die weder Priester noch Wächter waren, die ihrem Tagewerk nachgingen. Mädchen, die sich in den Hüften wiegten, wenn sie, mit bunten Bändern im Haar und den noch leeren Körben auf dem Rücken, früh zum Marktplatz zogen, lachend, taufrisch.

„Du präsentierst dich wie ein Kolibri, der eine Blüte voll Nektar umschwirrt!“, rügte der Priester-Weise. Jadefisch schluckte. Er hatte der keusche Jüngling zu sein. Erst am Ende seines Jahres würde er Liebesfreuden genießen.

Wenigstens musste er nicht auch noch fasten wie ein Priester, tröstete sich Jadefisch. Immerhin erhielt er bisweilen scharf gewürzten, roten Kakao mit Honig und Vanille und durfte den süßen Saft, der sich im Herzen der Agave sammelt, trinken.

Auch den vergorenen, den säuerlichen, der verboten war? Wäre nicht der Flötenunterricht gewesen, Jadefisch wäre noch gänzlich in das Luftreich der Träume entschwebt. Aber die Blumenflöte schien, so klein sie war, so himmelhoch sie sang, die alte Erde anzuziehen. Dann taumelten die Töne, suchten, wie an den Abgrund gedrängt, ihr Gleichgewicht zu erhalten. Sie stürzten, sie zerschellten. Immer an derselben Stelle. Eins-Affe nannte sie den magischen Ort der Verwandlung, den dunkel-hellen Ton des Übergangs von Nacht zu Tag, von Tod zu Leben. Wenn Jadefisch ihn spielte und Eins-Affe selbstvergessen die Augen schloss, erfasste ihn Jubel: Er gefiel Tezcatlipoca! Der Gott verlieh ihm mittels der Musik Zaubermacht über die Menschen. Doch auf dem Gipfel des Triumphes krampfte sich sein Herz zusammen, und er verspielte sich. Der von Eins-Affe ersehnte Ton, er war der Tod, nichts als der Tod, den man ihm auferlegte. Der Ton fiel und fiel in den Abgrund hinein, ging ganz und gar zuschanden. Unweigerlich öffnete Eins-Affe dann enttäuscht die Augen, stach der Priester-Weise Jadefisch mit dem Agavendorn.

Jadefisch musste sich mehr bemühen. Es war undenkbar, dass er versagte. Dass er sich selbst, sein Elternhaus und seine Heimatstadt verächtlich machte.

Er hatte nicht mehr sehr viel Zeit. Schon war man im Monat des Großen Wachens. Dann brachen die zwanzig Tage von Toxcatl, dem Dürre-Monat, an, in dem man allerorten das Fest des Tezcatlipoca beging; bis dahin musste Jadefisch das Blumenlied beherrschen.

Draußen ging das amtierende Abbild des Tezcatlipoca mit seiner Blumenflöte einher. Manchmal hörte Jadefisch die durch vieles Üben vertraute Melodie. Er lauschte dann auf jedes Detail: die Dauer eines Tons, Vibrato, Tempo, Stimmung.

Einmal betrat jener andere den Raum. Während Eins-Affe und der Priester-Weise sich vor ihm verneigten, beobachtete Jadefisch ihn aus den Augenwinkeln. Der andere, der das bemerkte, setzte die Flöte ab. Jadefisch senkte die Lider und wiederholte den Gruß des Erdessens wie vor dem Großen Sprecher. Der andere kam näher. „Du also bist der Auserwählte, der mir nachfolgen wird. Nenne mir deinen Namen!”

„Jadefisch, Ehrwürdiger”, antwortete dieser. „Darf ich den deinen wissen?”

Das schwarz bemalte Antlitz vor ihm wurde undurchdringlich und hoheitsvoll. „Als Mensch trug ich den Namen eines Kriegers aus Tlaxcallan. Jetzt bin ich das Abbild des Tezcatlipoca! Was das bedeutet, wirst du bald erfahren.“ Er begann, um Jadefisch herumzutanzen. Aus einer unbegreiflichen göttlichen Laune heraus steckte er ihm das Ende seiner Pfeife in den Mund. „Du musst tief einatmen”, raunte er ihm zu, „das führt dich in ein anderes Land.” Dazu ließ er die goldenen Schellen an den Waden klingeln.

Jadefisch zog kräftig an dem langen Rohr. Kaum hatte er den Rauch verschluckt, als ihm flau und schwindlig wurde. Der andere beugte sich über ihn. „Du wirst dich leicht wie eine Wolke fühlen.” Dann verließ er den Raum so unverhofft, wie er gekommen war. Nur die Musik hing mit dem Tabakrauch noch eine Weile in der Luft.

Eins-Affe riss seinen Schüler aus den Gedanken. „Übe weiter, Jadefisch!”

Dieser sammelte sich. „Bin ich denn würdig, jetzt, nach dem ehrwürdigen Abbild, zu spielen?”

Eins-Affe schien nicht verstehen zu wollen. „Wie solltest du nicht würdig sein? Du bist der Erwählte …” Plötzlich aber strahlte er. „Du wirst spielen wie der Gott persönlich – so wie es immer ist.“

„Glaubst du, ich werde es zustandebringen?“

„Darum musst du Tezcatlipoca bitten. Es ist Sein Blumenlied.“ Er und der Priester-Weise tauschten einen Blick. „Wenn du dein Schicksal annimmst, wird Er dich erhören.“

Jadefisch senkte beschämt den Kopf: Sie hatten seine Feigheit erkannt.

„Furcht ist kein Makel“, tröstete der Priester-Weise. „So wenig wie es ein Verdienst ist, sich das Leben leicht zu machen, indem man seine Bestimmung vergisst.“

„Was meinst du?“

„Den Schicksalston, an dem du scheiterst. Die meisten überspielen ihn.“

„Sie lassen ihn aus?“

„Keineswegs, sie spielen ihn korrekt. Aber sie geben sich nicht hin. Wie mit Schmetterlingsfüßen tippen sie ihn an und sind wieder weg.“

„Das Abbild, das soeben hier war, hat den Ton doch gut getroffen.“

„Mit jener Leichtigkeit, die ihm die schwarze Götterfarbe gibt.“

Eins-Affe nahm den anderen in Schutz: „Er ist ein ausgezeichneter Spieler.“

„Es gibt nichts an ihm auszusetzen“, bestätigte der Priester-Weise. „Auch du kannst so spielen, Jadefisch. Du musst dich nur erinnern.“

„Erinnern? Woran?“

„An deine Heimat, an Cholollan. Die Stadt der Grünfederschlange steht inmitten wogender Felder wie ein blühender Baum. Vögel zwitschern in den Zweigen, die Luft ist von ihren Stimmen erfüllt. Im Hause deines Vaters ist überall Musik.“

Der Priester-Weise hatte recht. Die Musik war immer dagewesen. Sie wob in den Räumen, sie drang aus jeder Ritze im Stein, sie lebte in allen Dingen. Jadefisch fand sich auf der Stelle in seine Kindheit zurückversetzt. Bilder schoben sich vor seine Augen wie in einem Traum; die Zeit schien darin aufgehoben. Was war, wird sein, es ist, doch seltsam losgelöst vom Träumer. Ist er der kleine Knabe? Vier, fünf Jahre ist er alt, er spielt mit anderen Kindern im Hof. Am Brunnen singt das Amselhähnchen mit den gelben Flügelbinden. Die alte Magnolie duftet, und der Gärtner pflückt die großen weiß-rosa Blüten, fröhlich singend: ‚Heut abend gibt der König ein Fest! Er hat die Krieger eingeladen.‘ Der rote Sonnenball sinkt hinter das Dach, das Licht wird honigfarben. Es folgen die kurze Dämmerung, der frische Wind, die kühle Nacht. Der Ruf der großen Trommel! Der Knabe huscht in den Festsaal, versteckt sich hinter dem Räuchergefäß. Seine Haut berührt Ton, der schwingt und summt, durch alle Poren dringt. Es surrt und pfeift! Die Luft vibriert! Unter ihm der Boden ist ein Tier; er hat ein Herz, das rhythmisch schlägt, und auch der Knabe hat ein Herz, etwas in der Brust, das sich bewegt, ihm in den Hals springt. Herz, mein Herz, denkt er verwundert. Es macht Musik, es antwortet dem Boden und der Luft und dem Räuchergefäß, an dem er vorbeilugt. Nun sieht er es: Inmitten des Saales lodern zwei Feuer. Sie leuchten einen Baldachin aus Magnolienblüten an und den darunter sitzenden Vater. Neben ihm hocken zwei Onkel. Der ältere schlägt eine Trommel, sie kennt der Knabe schon. Sie ist so groß wie er, hat ein Gesicht mit einer Nase und zwei Augen und einem scharf gezackten Mund. Sie ist mit einer Tierhaut bespannt. Der Onkel schlägt sie mit Handballen und Fingern. Wie aber heißt das Instrument des jüngeren Onkels? Es sieht wie eine Walze zum Maismahlen aus. Oben treffen sich zwei lange Hölzer in der Mitte, die wippen, wenn der Schlegel sie trifft. Ein Holz klingt dunkel und das andere hell.

„Die Zungentrommel!“, flüstert jemand neben ihm.

„Painal!“

Das ist der große Bruder des Knaben. Er ist schon zehn; stolz zählt er alle Instrumente auf, die Pfeifen und Flöten aus Ton, aus Holz, aus Rohr und aus verzierten Knochen, die Rasseln, Schellen, sogar Schrapknochen und Schneckentrompeten, die gar nicht dabei sind.

„Schildkrötenpanzer“, erfährt der Kleine, „spielt man mit Hirschgeweihen und – psst, die Krieger tanzen!“ Sie erheben sich von ihren Matten und stürzen sich, wie Vögel kreischend, in den Raum zwischen den Feuern. Sie wirbeln im Kreis, besingen gellend ihre Ruhmestaten. Ein Halbbruder der Knaben ist schon dabei. Sein Haar ist auf der linken Seite kurzgeschnitten, denn er, Sechs-Tod Feuerpfeil, hat seinen ersten Feldzug bestanden, seinen ersten Feind gefangen. Für ihn gibt der Vater das Fest. Sechs-Tod Feuerpfeil trägt einen schmucken Umhang aus Entenfedern und ein weißes Band im Schopf. Er hält sich einen großen, runden Prunkschild vor die Brust und stößt ein Kurzschwert in die Luft.

„Wir wollen schwören, Fisch!“

„Au ja!“, freut sich der Kleine. „Wir schwören. Und was?“

„Dass wir Ruhm erlangen!“

„Wie Feuerpfeil?“

„Wie er, im Blumenkrieg.“

„Kämpfte er mit Blumen?“

„Nein doch, das heißt nur so. Ein Blumenkrieg ist, wenn man Feinde fangen geht.“

„Wie fängt man Feinde?“

„Man packt sie am Schopf.“

„Und wer sind die Feinde?“

„Die Azteken. Das sind wilde Krieger, die hinter dem Gebirge leben, hinter der Weißen Frau und dem Rauchenden Berg.“

„Dem Popopel?“

„Dem Po-po-ca-te-petl, Fisch.“

„Was machen die Azteken?“

„Sie überfallen fremde Städte, damit die ihren Königen Tribut bezahlen. Aber in unsere Stadt kommen sie nicht!“

„Weil wir sie vorher fangen?“

„Weil sie nicht dürfen, Fisch. Das haben unsere und ihre Könige vor langer Zeit so ausgemacht. Wir treffen uns mit ihnen in einem Tal weit vor der Stadt. Dort – und nirgendwo anders – kämpfen die Heere gegeneinander.“

„Passiert das oft?“

„Ich glaube schon. Die Azteken haben einen neuen König; er heißt Motecuzoma, und der hat uns gleich zu einem Blumenkrieg eingeladen.“

„Und – haben wir gewonnen?“

„Klar.“

Der Kleine freut sich. „Gewinnen wir immer?“

„Na ja, manchmal auch nicht.“

„Und wenn die Azteken gewinnen?“

„Dann kehren sie zufrieden in ihre eigenen Städte zurück, mit all unseren Kriegern, die sie gefangen haben.“

„Und wir?“

„Wir auch. Wir nehmen unsere Gefangenen und gehen nach Hause.“ „Wie nach einem Ballspiel?“

„Ganz genau.“

Der Kleine lacht. Er kann noch nicht erfassen, wovon die Rede ist. Ein Spiel! Feuerpfeil hat daran teilgenommen und ist ein Held. Das möchte er auch sein. Die beiden Jungen schwören. Sie werden in den Blumenkrieg ziehen, um als Helden zurückzukehren. „Auch wir werden hier tanzen!“, verspricht der Große dem Kleinen.

Die Bilder hielten an, als hätte der Betrachter die letzte Seite eines gemalten Faltbuches umgeklappt. Jadefisch war wieder in der Gegenwart. ‚Ach, mein Bruder‘, musste er denken. Paínal hatte sein Wort gehalten. Sein Name bedeutete Der-Schnelle-Läufer. Immer war er zuerst im Ziel. Früh hatte er gelernt, die Waffen zu führen, früh seinen Mut bewiesen. Von Mal zu Mal war er in der Achtung des Vaters und der älteren Krieger gewachsen.

Weitere Bilder kamen. Jadefisch half seinem Bruder, seinen ersten Helm aufzusetzen; der war aus Holz, mit Stoff überzogen und mit schillernden Federn besetzt – dem Kopf eines Berglöwen täuschend ähnlich. Aus dem Fang eines Pumas schaute Paínals Gesicht hervor, und seine Bernsteinaugen verwandelten sich in die Lichter des Raubtiers. Ihm konnte nichts passieren! Er kehrte als gefeierter Sieger zurück. Ja, er tanzte um das Feuer! Bald erhielt Paínal sein erstes Kommando, und Jadefisch, der noch zur Tempelschule ging, trug ihm den Proviant und auch das Kurzschwert mit den scharfen Seitenklingen aus Obsidian. Kämpfen durfte er noch nicht. Er wurde auf einen Ausguck geschickt, um der Schlacht aus sicherer Entfernung zuzusehen. Zum ersten Mal! Unter dem Getöse der Feldmusik und dem Geheul der Krieger rückten die Heere aufeinander zu. Zuerst die Bogenschützen, dann die Speerwerfer und Steinschleuderer. Nahkämpfer mit Schilden, Schwertern, Lanzen prallten aufeinander. In dem Gewirr der Leiber, wo war da Paínal?

Jadefisch unterschied weder Freund noch Feind in dem wogenden Meer, aus dem die Federbanner der Anführer ragten. Erst mit der Zeit erkannte er die Signale von einem Hügel schräg gegenüber: die Standarte seines Vaters! Nach ihr richteten sich die kleineren Banner der Truppenführer. So entdeckte Jadefisch schließlich erst seinen Halbbruder Sechs-Tod Feuerpfeil und dann Paínal, gegen drei Gegner ankämpfend. Wäre Sechs-Tod Feuerpfeil ihm nicht zu Hilfe geeilt, Paínal wäre unterlegen gewesen. So aber nahmen die beiden gemeinsam, nachdem der dritte geflohen war, zwei feindliche Krieger gefangen. Jadefisch verlor sie aus den Augen. Wie ein Strudel war die Schlacht; er glaubte, eine Spindel zu sehen, riesengroß, die sich auf dem Felde drehte, Freund und Feind mit sich riss. Einmal aber blieb sie stehen. Jadefisch sah nur noch eine bunt getupfte Blumenwiese, und alles war still.

Die Blumen waren die Krieger, die verwundet oder tot auf dem Talgrund lagen. Jadefisch half bei der Bergung und fand auch Paínal: erschlagen. In seiner Kriegerrüstung aus wattiertem, dicht mit Federn überzogenem Stoff klaffte ein langer Riss an der Seite, und daraus sickerte dunkles Blut.

Jadefisch wurde still wie ein Teich ohne Frösche und Vögel. Sein Vater nahm ihn in den Festsaal mit. Sechs-Tod Feuerpfeil sprang um das Feuer und pries Paínals Taten. Dann übernahm der Vater. Wie ein verletzter Vogel taumelnd, bald flatternd, bald die Flügel ausgestreckt, unverhofft hochschnellend und wieder fallend, sang er sein Klagelied. Immer wieder fiel Paínals Name – dumpf oder schrill, gedehnt, verzerrt, geweint, geschrien, dann hell und klar: Der tote Blumenkrieger war im Haus der Sonne. Er begleitete das Gestirn auf dessen Reise über den Himmel. Nun sang der Vater melodisch. Paínals Name perlte ihm von den Lippen wie Tau, und Jadefisch sah ihn leuchten wie den grünen Stein des Lebens.

Er lächelte unmerklich. Dann wurde ihm bewusst, dass er nicht in Cholollan war. Und anders als sein Bruder war er auch kein großer Krieger. Nach dem Tod Paínals hatte sich der Vater nicht mehr gern am Blumenkrieg beteiligt. Zwar wurde Jadefisch gut ausgebildet, aber er zog in keine Schlacht; sein Vater, der König, erlaubte es nicht. Nachtjaguar willigte erst ein, als es sich nicht mehr schickte, dass sein jüngster Sohn, der einstige Erbe seines Thrones, ohne Meriten war. Und Jadefisch war losgestürmt, er hatte jeden guten Rat in den Wind geschlagen, selbst den Befehl des Truppenführers Sechs-Tod Feuerpfeil, auf ihn zu warten. Er wollte seinen ersten Feind allein, ohne fremde Hilfe, fangen! Als Sieger mit den Kriegern um das Feuer tanzen! Doch dieser Traum endete jäh. Ein Azteke zerrte Jadefisch am Schopf in sein Lager. Nie würde Jadefisch den Applaus vergessen, den jener von seinen Leuten dafür erhielt. Er fühlte sich wie ein Versager, obwohl Gefangenschaft an sich doch nicht als Schande galt. Die Götter selbst, hieß es, wählten ihre Opfer. Ob sie den Tod nun auf dem Schlachtfeld oder auf dem Opferstein gewährten – die Ehre war dieselbe.

Sie konnte aber, wie der alte Priester-Weise Sternfinder gesagt hatte, noch größer sein, wenn man als Abbild einer Gottheit starb. Das wurde Jadefisch langsam bewusst. Er stand seinem Bruder Paínal in nichts nach. Er war in Tenochtitlan, um den Gott Tezcatlipoca zu verkörpern, um Seine Musik zu spielen. Deshalb würde auch sein Name bald wie ein Edelstein erstrahlen. Sein Vater würde um das Feuer tanzen. ‚Mein Sohn Jadefisch, der als Abbild des Tezcatlipoca ins Haus der Sonne gegangen ist‘, würde er singen. Jadefisch war ganz ein Teil der Seinen, er hatte seinen Platz in ihren Herzen. Ein unsichtbares Seil verband ihn mit ihnen, das ihn halten würde, wenn er am Abgrund den Tritt verlor. Plötzlich schoss ihm das Blut in den Kopf: Er hatte sich vor dem Großen Sprecher Mexiko-Tenochtitlans blamiert! Jadefisch spannte die Muskeln wie ein Tier zum Sprung. Besser als jedes Abbild vor ihm würde er spielen, damit Motecuzoma jene schändliche Begebenheit vergaß!

2

Der Große Sprecher dachte indes ganz und gar nicht abschätzig von Jadefisch. Zwar war noch nie ein Spieler ausgezeichnet worden, der das Blumenlied Tezcatlipocas ruinierte, doch sah er darin eine Fügung. Hatte Jadefisch nicht wunderbar gespielt, bis ihn der Gott hatte straucheln lassen? Und warum? Doch nur, um ihm, Motecuzoma, einen Wink zu geben – denn Jadefisch war ein Geschenk.

Sein Vater war Motecuzomas letzter ernstzunehmender Widersacher in der Stadt der Grünfederschlange. Hartnäckig weigerte Nachtjaguar sich, dem aztekischen Bund beizutreten, stellte sich lieber den verlustreichen Blumenkriegen, auf denen Motecuzoma eben deshalb gnadenlos bestand. Vor einem Menschenalter hatte man den Vertrag darüber ausgehandelt. Er sicherte die Opfer für die Götter, aber auch die Unabhängigkeit der Mitgliedsstaaten; Motecuzoma dachte hier vor allem an das nördlich von Cholollan liegende Tlaxcallan, dann auch noch an das kleine Huexotzinco, das wie ein Adlerhorst im Bergmassiv des Popocatepetl saß. Motecuzoma durfte diese Gegner nicht erobern, sie ihrerseits sich ihm nicht unterwerfen.

Nun sollte Jadefisch Motecuzomas Lockvogel sein. Nachtjaguar würde seinen Sohn als Abbild des Tezcatlipoca in ganzer Pracht erleben wollen. Und wenn er erst in Tenochtitlan war, konnte er sich den Gesprächen kaum entziehen, die Motecuzoma den Königen von Cholollan anbot.

Nachtjaguar war früher oder später ohnehin gezwungen zu verhandeln. Er brauchte sein geschrumpftes Heer neuerdings zum Schutz der Stadt. Tlaxcallan, der größte und stärkste der Blumenkriegsstaaten, strebte nach der Herrschaft über seine Nachbarn. Es nutzte jede Schwäche aus – und was für eine fette Beute wäre die Stadt der Grünfederschlange!

Ein anderer, ein kalter Wind begann zu wehen. Nicht nur Nachtjaguar wappnete sich. Motecuzoma witterte darin die Chance seines Lebens: ein Reich, von ihm allein regiert! Wenn sich die Gegner stritten, konnte er sie einzeln unter seine Herrschaft zwingen. Zuerst den schwächsten und dabei doch angesehensten: Cholollan.

Motecuzoma kam ins Träumen. Was für eine Stadt das war! Cholollan war fast so alt wie die Welt. Es hütete das Erbe zweier alter Reiche, die längst zu Staub zerfallen waren. Das erste, ältere bestand nur noch in Träumen fort. In ihm hatte es noch Riesen gegeben, und es war dunkel gewesen, bis zwei Götter als Leuchten an den Himmel gestiegen waren. Das war in der großen Stadt der Götter, in Teotihuacan, geschehen. Motecuzoma kannte jene beiden gewaltigen Hügel, auf denen einst die Götter ihre Scheiterhaufen errichtet hatten, um sich durch die Kraft des Feuers in Sonne und Mond zu verwandeln. Immer, wenn er sein Orakel dort aufsuchte, maß er sie mit den Blicken ab, erklomm er ihre Hänge im Geist. Einmal hatte er sie selbst erstiegen, um eine Opfergabe dort niederzulegen. Seither stellte er sich vor, dass in ihrem Innern Pyramidenstümpfe steckten.

Auch in Cholollan gab es eine solche Pyramide, den „Von Menschenhand Gemachten Berg“. Längst hatte dichtes Buschwerk ihn besiedelt, so dass er wie ein natürlicher Hügel aussah. Es hieß, die Riesen hätten ihn errichtet. Und eine Quelle sollte dort entspringen, die dem, der aus ihr trank, ein langes Leben schenkte.

Von dem zweiten und jüngeren Reich, dem der Tolteken, bewahrte Cholollan noch weitaus mehr, denn kein Geringerer als der große Gott Quetzalcoatl, der Herr Grünfeder-Schlange, war in der Stadt gewesen und hatte ihr sein Erbe hinterlassen. Einst hatte er über die Tolteken geherrscht und ihre Metropole Tollan zum Inbegriff aller erstrebenswerten Dinge gemacht. Das Kunsthandwerk, die Schrift, die Religionsausübung, die Art, wie man regierte, wie man baute – alles ging auf ihn zurück. Das Reich von Tollan blühte und gedieh, solange Quetzalcoatl darüber wachte. Doch wie die Menschen hatten auch die Götter Feinde. Eines Tages tauchte darum folgerichtig der Gegenspieler des Quetzalcoatl auf: Tezcatlipoca, Rauchender Spiegel. Dieser wandte seine schwarzen Zauberkünste an. Quetzalcoatl fiel auf ihn herein, ließ sich austricksen, verführen, betrügen, und am Ende floh er aus Scham. In weitem Bogen südwärts ziehend gelangte er zunächst zu dem Von Menschenhand Gemachten Berg. Man hieß ihn dort willkommen, man setzte ihn auf seine Matte, seinen Thron, begann, ihm eine neue Pyramide zu errichten – vergebens: Er regierte nicht. Sein Feind, Tezcatlipoca, fand ihn tief im Innern, und er floh erneut. Es trieb ihn ohne Rast und Ruhe immer weiter, bis zum Rand der Welt und zum Schluss aufs Meer hinaus.

Hinter seinem Rücken zerfiel das Toltekenreich. Dürre, Hunger, Kriege verheerten das Land. Die Städte fielen eine nach der andern. Der Palast des Quetzalcoatl in Tollan wurde zur Ruine, wo der Wind um dächerlose Säulen pfiff. Nur Cholollan, die Schöne, konnte sich halten. Quetzalcoatl hatte, als er ging, der Stadt ein paar Reliquien gegeben, die seine göttlichen Kräfte enthielten, und diese schützten sie. Motecuzoma hatte die Reliquien noch nie gesehen. Sie wurden von Cholollans Priestern an geheimem Ort verwahrt und nur alljährlich einmal auf die neue Pyramide des Quetzalcoatl getragen. Dann erhob sich immer der Wind. Der Gott in seiner Tiergestalt flog durch den Himmel, die Schuppen tauig glänzend und mit der Saat für die Felder beladen. Schon sah Motecuzoma sich dort oben stehen als der Eine Sprecher der Welt im Ring des Wassers. ‚O Herr des Neuen Reiches von Cemanahuac‘, sagten die Hohepriester. Motecuzoma hörte es rascheln, als würden sie schon das Bündel mit den Reliquien enthüllen.

„O Totecuiyo, mein Enkel …“

„Was gibt es, mein Vater?“ Vor Motecuzoma kauerte sein alter Diener. Die Gegenwart verlangte ihr Recht.

„Der Herr-Des-Schwarzen-Hauses, der als zweiten Titel den eines Fürsten-Priesters führt, der Herr Opossum wartet draußen.“

Motecuzoma war alarmiert: Wenn Opossum ungerufen und in Person erschien, dann war etwas Bedeutsames geschehen. Sein Gehörsinn schärfte sich; Opossum pflegte nur zu flüstern.

„Die Wasserhäuser sind zurückgekommen, Totecuiyo.“

„Dieselben wie im letzten Jahr?“

„An ihren Masten blähen sich die gleichen weißen Planen mit dem roten Kreuz des Himmels. Aber es sind diesmal mehr: Elf Schiffe kamen die Küste herauf. Ihre Besatzung ist in Xicalanco, noch bei den Maya, an Land gegangen. Es kam zu einem wüsten Gefecht, bei dem die Fremden obsiegten. Der Mayafürst hat sie mit Geschenken versöhnt, so dass sie weiterfuhren.“

„Wo sind sie gelandet?“

„In der Provinz der Totonaken.“

„Wer führt sie an?“

„Ein Mann mit einem aschefarbenen Gesicht und einer Narbe an der Unterlippe, von seinem dichten Bart nicht ganz verdeckt – und er begann sofort, nach dir zu fragen.“

„Wer ist er?“

„Ein Fürst vom anderen Ufer des Meeres.“

Motecuzoma spürte den Boden unter sich wanken. Er hörte nicht mehr, was Opossum ihm weiter zu berichten hatte. Er dachte nur noch eins: Quetzalcoatl. Kam Er jetzt vom Meer zurück?

Wenig später schickte ihm der Diener den Tributeinnehmer. Dieser hatte, wie im Vorjahr, Bilder von den Fremden malen lassen. Der Herrscher erblickte die gleichen bärtigen Krieger mit der hellen Haut, die von Kopf bis Fuß in dicken Kleidern steckten, die Helme, Harnische und lange, glatte Schwerter ohne Seitenklingen trugen. Aber diesmal waren da noch ungeheuerliche Kreaturen mit zwei Leibern, Doppelwesen, deren Unterhälfte großen Hirschen und deren Oberhälfte Männern glichen! Er sah ein Rohr auf einem Gestell, und der Tributeinnehmer schwor, dass dieses Ding runde Steine spie – fähig, Bäume zu zerfetzen! Zweifellos besaß der Gott mächtige Waffen und Zaubertiere. Motecuzoma schauderte bei dem Gedanken, dass er Ihn durch seine Pläne mit der Stadt der Grünfederschlange selbst herbeigerufen haben mochte.

Quetzalcoatl schien ihm aber nicht zu zürnen, denn Er machte ihm Geschenke. Es waren wundersame Dinge, wie er sie nie zuvor gesehen hatte. Tiefrote Perlenschnüre funkelten ihn an. Dann kam ein Thron mit runden Seitenlehnen, in dem er kaum die Füße kreuzen konnte, der aber höher als der seine war. Ein roter Stoffhut, weich wie Moos – der hatte einen goldenen Schmuckbesatz mit einer verwirrenden Kampfszene darauf. Motecuzoma konnte umso weniger damit beginnen, als er noch einen Helm erhielt, den er mit Goldstaub füllen sollte. Verlangte der Gott Tribut von ihm?

Der Herrscher brauchte eine Rückversicherung bezüglich der Natur des Fremden. Er ließ die klügsten Priester rufen. Kaum hatten sie den Saal betreten, stieg er von seinem Thronpodest, um ihnen die seltsamen Gaben zu zeigen.

„Was seht ihr?“

„Totecuiyo …“ Die Priester wirkten irritiert. Sie sahen einen Thron aus Holz, sie sahen lange Perlenschnüre, einen Hut und einen Helm. „Betrachtet alles ganz genau! Saht ihr jemals einen solchen Thron? Wer könnte höher als ich selbst sitzen?“

„Sicher will dich jemand ehren“, versuchten sie sich. „Ja, man möchte dich erhöhen.“

Motecuzoma sah sich unwillkürlich auf der Pyramide des Quetzalcoatl in Cholollan. „Was haltet ihr von diesen Perlen?“ fragte er hastig.

„Roter Bergkristall?“, mutmaßte einer.

„Saht ihr je dergleichen?“

Die Priester schüttelten die Köpfe. „Was für eine Kostbarkeit!“

„Erlaubst du, Totecuiyo?“, wagte der Priester-Weise Sternfinder sich vor. Motecuzoma nickte. Der Priester-Weise griff sich eine Schnur heraus und ließ sie durch die Finger gleiten. „Die Perlen sind fast so leicht wie Korallen. Sie sind nicht aus Bergkristall.“

„Woraus dann?“

„Das Material ist mir unbekannt.“

„Dann ist es Blendwerk, Zauberei!“, befand Sternfinders Vorgesetzter. Als Oberpriester des Tezcatlipoca besaß Yaopol, Großer Feind, in religiösen Fragen eine beinahe schon göttliche Autorität. Alles starrte auf die Hände mit den Perlen. Wenn Sternfinder nun eine Krankheit befiel?

„Der würdige Yaopol-tzin hat hoffentlich nicht recht“, sagte Motecuzoma verstimmt. „Auch ich habe diese Perlen berührt.“ Nun war er es, dem man verstohlen auf die Hände schaute.

Der älteste Priester rettete die Situation. „Seht doch, seht doch die Farbe der Perlen! Wie das Morgenrot! Wie der Löffelreiherfedersitz der Sonne! Totecuiyo, woher kommen die Geschenke?“

„Aus dem Osten.“ Motecuzomas Spannung wuchs. Er sprach nun von den Wasserhäusern von jenseits des Meeres.

„Ein anderes Ufer?“ Die Priester legten sich ungläubig die Hand auf den Mund. Dann begannen sie zu deklamieren.

„Die Welt ist von Wasser umgeben …“

„Wie ein Schildkrötenpanzer ragt sie aus dem endlosen Meer …“

„Das nur der Himmel begrenzt.“

„In der Ferne türmen sich die Wassermassen zu einer unermesslichen Wand …“

„Auf der die Himmelsschichten aufliegen.“

„Wer von dort kommt …“

„Ist ein Gott.“

Motecuzoma ließ sich verleiten. „Ja! Unser Herr Quetzalcoatl ist zurückgekehrt!“

Als Erster fasste sich der Oberpriester. „Wie willst du Ihn empfangen, Totecuiyo?“

„Mit einem Schatz, der seinesgleichen sucht. Die besten Kunsthandwerker haben ihn erschaffen: Zeremonialwaffen, Brustpanzer, Schilde. Goldene Meeresschnecken, künstliche Vögel aus echten Federn, deren Kiele in Gold gefasst sind, mit goldenen Füßen, Schnäbeln und Augen, die sich der Gott in den Kopfputz steckt. Federmäntel, Baumwollstoffe, hauchdünn und mit Kaninchenhaar durchwirkt, verziert mit Quetzalcoatls Symbolen. Als Krönung zwei Kalenderräder, ein goldenes mit der Sonne, ein silbernes mit dem Mond.“

„Gibst du kein Buch mit, Totecuiyo?“

„O doch, das älteste, das wir von unserm Herrn bewahren. Und dann“, Motecuzoma senkte die Stimme, als wolle er ein Geheimnis weitergeben. „Seht ihr den Helm bei den Geschenken? Ihn wünscht der Gott bis an den Rand mit Gold gefüllt zurück.“

„Wozu braucht ein Gott einen Helm voll Götterdreck?“, entfuhr es dem Priester-Weisen Sternfinder.

„Ja, wozu?“, bestärkte ihn der Oberpriester. „Braucht Er nicht vor allem Opferherzen?“

„Er wird auch sie erhalten. Yaopol-tzin, du begleitest die Gesandtschaft und nimmst Opfersklaven mit.“ Motecuzoma wollte die Beratung schließen, aber Sternfinder räusperte sich:

„Totecuiyo, Unser Herr! Wie zeigt sich uns der Fremde? Trägt er die Vogelmaske des Quetzalcoatl? Seinen Hut aus Jaguarfell? Sein Wind-Emblem, das man aus einer Meeresschnecke schneidet?“

„Er trägt nichts dergleichen.“

„Wie kannst du dir dann sicher sein, dass er es ist?“

Alle starrten Sternfinder an.

„Er wird sich zu erkennen geben“, sagte Motecuzoma schließlich.

„Wie soll dies geschehen?“

„Was rätst du mir?“

„Prüfe ihn! Vier Göttertrachten lass ihm übergeben.“

Motecuzoma nickte. „Vier verschiedene.“

„O Totecuiyo, deine Voraussicht bezeugt deine Weisheit. Möge der Ankömmling wählen. Die Welt ist vielleicht größer als wir ahnen.“

Motecuzoma behielt die Verwunderung ob dieser letzten Äußerung Sternfinders für sich. Ruhiger, als er sie empfangen hatte, entließ er die Priester. Er begann zu hoffen, dass der Fremde doch nicht Quetzalcoatl war.

Die königliche Trägerkarawane war der prachtvollste Zug, der Tenochtitlan je verlassen hatte. Fünf mal zwanzig Männer gingen unter der Last der Geschenke, und doppelt so viele schleppten in ihren Kraxen den Proviant. Dazu kamen etliche Priester sowie ein Heer von Dienern für die fremden Gäste. Alles wurde gesichert von einem Begleitschutz – vorn und hinten. Meldeboten, die den Verantwortlichen über alles auf dem Laufenden hielten – etwa, wenn Träger erkrankten, so dass er in der nächsten Stadt Ersatz für sie beschaffen musste. An Tlacotl, Speerschaft, hing alles. Er war erst Ende zwanzig, doch schon seit längerem die rechte Hand des Herrn Opossum, seinem einstigen Lehrer der Politik und Geheimdiplomatie. Opossum war Motecuzomas Emissär, der die Geschenke überreichen sollte. Als Herr-Des-Schwarzen-Hauses reiste er in einer Sänfte mit einem Baldachin und verhängten Seitenwänden. In die eingewirkten Blumen und Schmetterlinge auf dunklem Grund hatte er Gucklöcher einarbeiten lassen. ‚Schau, aber lass dich nicht durchschauen!‘, dachte Tlacotl, der nie auf die Idee verfallen wäre, dergleichen auch nur anzudeuten. Allerdings war Opossum mit lichtempfindlichen Augen geschlagen, seit er bei der letzten Sonnenfinsternis auf die verdunkelte Scheibe am Himmel gestarrt hatte. Nur wenn der Zug die Sonne im Rücken hatte, ließ Opossum die Vorhänge aufschlagen. Dann ertönte ein warnender Pfiff. Ein Diener rannte nach Wasser, während die anderen die großen Fächer für ihren Herrn zu bewegen begannen. Kam die Sonne dann wieder von vorn, wurden die Vorhänge erneut geschlossen.

Die Reise dauerte sechs Tage; Tlacotl hörte bald auf, an Opossum zu denken. Er dachte nicht einmal mehr an die fremden Gäste. Sie würden denen gleichen, die er vor einem Jahr gesehen hatte. Zügig führte er die Karawane am Popocatepetl vorbei, umging ebenso zügig die Stadt der Grünfederschlange, so dass er nach drei Tagen den größten Markt der Region erreichte, wo Proviant und ausgeruhte Träger zu besorgen waren, und zog, den Freistaat Tlaxcallan zur Linken und vor sich den Sternenberg – den höchsten Gipfel, den er kannte – weiter in östlicher Richtung. Die Ortschaften wurden rarer. Tlaxcallan wurde immer kleiner, vom Sternenberg sah er nur noch den weißen Kegel, der auf den Wolken zu schweben schien: Der Abstieg ins Tiefland begann. Tlacotls Zeitgefühl schwand, während die Landschaft ein unwirkliches Gepräge annahm. Hatte der Menschenwurm eben einen Bergkamm erklommen, auf einem Weg aus Sand und Geröll, vorbei an dornigen Büschen, grauen, staubigen Zypressen und riesigen Säulenkakteen, schob er sich bald schon, Glied für Glied, den meerwärts abfallenden Hang hinab, wo üppiger Nebelwald ihn aufnahm. Ohrenbetäubender Lärm, verursacht von Vögeln und Affen, drang aus dichtem Blattwerk und hinter fransigen Moosflechten hervor. Es wurde immer heißer, und die feuchte Luft legte sich auf die Lungen. Tlacotl wollte Rast einlegen lassen, als Opossum sein verschwitztes Haupt durch den Vorhang steckte.

„Wir sollten heute noch eine Stadt erreichen. Hier möchte ich nicht übernachten.“

Tlacotl musste die Leute antreiben, doch eine Stadt erreichten sie nicht. Immerhin wich der Nebelwald vor kultiviertem Land zurück. Kakaopflanzungen, Baumwollsträucher unter Kapokbäumen rückten ins Bild, an Palmen rankende Vanille-Orchideen mit Knospen, Blüten und Früchten in den Achseln fleischiger Blätter. Schwarze Blumen nannte man sie, obgleich die grünlich-gelbe Schönheit nicht einen dunklen Tupfen vorwies. Erst wenn sie welkte, wenn die einer Vulva ähnliche Blüte in sich zusammenfiel, färbte sie sich braun bis violett. Es blieb ein Auge, der Fruchtknoten, stehen, um eine zunächst grüne und dann schwarze Schote voll des köstlichsten Marks auszubilden.

Am nächsten Mittag erreichten sie ihr Ziel. Tlacotl führte den Zug durch eine ausladende Schleife zum Meer hinab, die gleißende Wasserfläche zur Rechten, um Opossum zu schonen. Schon kamen die Palmhütten der Fremden in Sicht, und Opossum ließ vorn den Vorhang aufschlagen. Schon kündigte sich auch der Tributeinnehmer an. Opossum stieg aus der Sänfte. Feierlich schritten der Herr-Des-Schwarzen-Hauses und der Tributeinnehmer, jeder mit einem Strauß bunter Blumen, ins Lager der Fremden. Hinter ihnen gingen die Priester. Tlacotl folgte mit der Trägerkarawane.

Vor der größten Palmhütte hielten sie an. Davor saß der Anführer der Fremden in einem hohen, runden Stuhl. Von ihm mochten gefährliche Kräfte ausgehen. Um sie zu bannen, steckten die Priester das Kopalharz in ihren Räucherlöffeln in Brand, und der Fremde versank mit seiner ganzen Umgebung in den weißen, süßlich duftenden Schwaden.

Sobald diese sich verzogen, tauchte zunächst ein runder Hut mit Feder und einer breiten Krempe auf, dann eine gerade Nase, ein bärtiges, huldvolles Antlitz, schließlich ein schwarzer Überwurf mit güldenen Schleifen, darüber eine Kette mit einem ovalen Goldanhänger, den Tlacotl von seinem Standort aus nicht gut erkennen konnte. Es mochte sich um ein Vogelei handeln, denn für ein Schlangenei erschien er ihm zu groß.

„Was hat er nur alles an?“, fragten sich die Priester, die sich von Tlacotl die Göttertrachten geben ließen. „Er ist gekleidet, als gelte es, sich vor den kalten Winden des Totenreichs zu schützen.“ Tlacotl musste lächeln. Unter dem Überwurf trug der Fremde ein dickes Wams mit langen Ärmeln bis an die Handgelenke. Leib und Schenkel waren von einer Haut aus Stoff umspannt, selbst seine Füße steckten in geschlossenen Schuhen mit kniehohen Röhren.

Die Priester, in luftigen Sandalen und Hemden, nahmen die Trachten entgegen, um den Fremden zu prüfen.

„Wartet noch“, sagte Tlacotl. „Der Herr-Des-Schwarzen-Hauses muss ihn zuerst begrüßen.“

„Ja, und?“, wunderte sich der Oberpriester des Tezcatlipoca. „Wir müssen da sein, wenn er fertig ist.“

„Das kann dauern, Yaopol-tzin. Der Gott nimmt seine Rede nicht direkt entgegen. Dafür hat er zwei Zungen – eine Frau und einen Mann.“

„Er braucht Dolmetscher?“

„So sieht es aus.“

Im Vergleich zum Vorjahr hatte sich die Verständigung etwas gebessert. Damals hatte man nur mit Händen und Füßen geredet. Tlacotl brachte sich weiter nach vorn. Die Priester beorderte er je zwei und zwei an seine Flanken. Auch der Fremde hielt nun eine Rede. Der Dolmetscher – ein Mann mit seltsam blauen Augen in einem braungebrannten Gesicht und mit den langen, wirren Haaren eines fastenden Priesters – öffnete den Mund.

„Was sagt er?“, fragte der Oberpriester.

Tlacotl zuckte die Achseln. Es hörte sich nach einer Maya-Sprache an, die er nicht verstand.

Die Frau übernahm das Reden. Sie trug nach Landessitte eine ärmellose Bluse über ihrem Wickelrock.

„Mein Gebieter fühlt sich geehrt“, sagte sie in korrektem Nahuatl zum Herrn-Des-Schwarzen-Hauses. „Motecuzoma ist ein großzügiger Fürst, der einen Gast zu empfangen weiß.“

Opossum verneigte sich.

Tlacotl winkte den Dienern zu. Tücher wurden vor dem Fremden ausgebreitet. „Die Kalenderräder, schnell!“

Sofort erschienen die kreisrunden Scheiben, gefolgt von Tieren aus Silber und Gold. Die Augen des Gastes erstrahlten. Seinen Mund umspielte ein Lächeln; sein Antlitz wurde heller mit jedem neuen Stück, das die Diener platzierten.

Tlacotl gab das Zeichen für den Einsatz der Schneckentrompete. Ein dunkler, weittragender Ton erschallte. Vier Priester schritten in die Mitte und legten die Tanztrachten der Götter aus.

Der Fremde lächelte noch immer, doch er schien nicht zu begreifen. Unentschieden glitten seine Blicke von der Türkismaske des Feuergottes zu der regengrünen Federkrone, dann zu dem kegelförmigen, mit Sternen besetzten Nachthelm des Tezcatlipoca und wieder zurück, bis sie endlich an der Vogelmaske mit dem goldenen, bezahnten Schnabel haften blieben, die Quetzalcoatl gehörte.

Die Priester setzten sie ihm auf. Sie schälten ihn aus seiner dicken Kleidung und legten ihm das Hemd mit roter Borte und das goldene Wind-Emblem an. Zwischen den Schenkeln zogen sie ihm den göttlichen Prunkschurz hindurch und befestigten an seiner Hüfte den runden Spiegel aus Obsidian, in dem die Götter die Welt erkennen.

Da wurden die Priester von Ehrfurcht erfasst, erblickten sie doch ihren Herrn Quetzalcoatl. Ihm musste geopfert werden. Ohne zu zögern begannen sie, sich mit Agavendornen zu stechen und das Blut auf Papierstreifen tropfen zu lassen. Diese legten sie in eine Schale, die sie vor Quetzalcoatl auf den Boden stellten.

Sie waren im Begriff, sich demütig zurückzuziehen, als der Gott, der bislang keine Regung gezeigt hatte, ganz plötzlich ergrimmte. „Waren dies all eure Geschenke?“

Nur der Oberpriester des Tezcatlipoca besaß den Mut zu einer Antwort: „Erheischt unser Herr ein menschliches Herz?“

Der Gott gab keine Antwort. Der Oberpriester versprach ihm ein Herz.

Der Gott erhob die Hand. „Deines etwa?“ Der Mann zu seiner Rechten zog ein langes Schwert und setzte es dem Oberpriester an die Brust.

„Wie du es wünschst“, erwiderte dieser mit belegter Stimme.

Der Gott lachte verächtlich. „Diese Rolle spiele ich nicht!“ Dann riss er sich die Maske ab. „Deine Götter sind alle falsch. Sie betrügen dich. Du darfst für sie nicht töten!“

Der Oberpriester vereiste. „Wer bist du, dass du so redest?“

„Ein Freund, der euch wohlgesonnen ist. Ich wurde entsandt, um euren Großen Sprecher zu treffen.“

„Was willst du von ihm?“

„Ihm vom wahren Gott berichten.“

Neben den Oberpriester trat der Herr-Des-Schwarzen-Hauses. „Wen soll ich dem Großen Sprecher denn melden?“

„Den Abgesandten des Großen Sprechers des Landes Caxtillan.“

„Hast du auch einen Namen?“

„Don Fernando Cortés.“

„Ton Pelnanto“, sagte die Frau.

„Und du?“

„Marina.“

„Malina? Malin-tzin?“

„So nennt mich mein Herr. Eigentlich heiße ich Ce Malinalli.“

Das hieß Eins-Drehgras und bedeutete den Tag, an dem sie geboren war.

„Malin-tzin“, zischte der Oberpriester, dem der Zusammenhang entgangen war. Noch zu aufgewühlt von dem unerhörten Vorfall eben, war er ganz auf den Fremden fixiert. „Der Gesandte heißt also Malintzin: Der-Die-Dinge-Verdreht.“

„Wer ist der Mann zu seiner rechten Seite?“, fragte der Herr-Des-Schwarzen-Hauses weiter. „Mir ist, als hätte ich ihn schon einmal gesehen.“

Der Gesandte stellte vor: „Pedro de Alvarado.“

Er war ein ausnehmend schöner Mann mit gelben Haaren. Darum nannte Tlacotl ihn Tonatiu, „Sonne“. Er hatte im vergangenen Sommer mit den Totonaken getanzt. Während Tlacotl noch daran dachte, dankte der Gesandte für die Geschenke und lud den Herrn-Des-Schwarzen-Hauses in sein Wasserhaus ein.

„Ich werde deine Gegengabe an Land erwarten“, erklärte Opossum. Der Gesandte, damit nicht zufrieden, erhob sich von seinem Sitz. Lächelnd fasste er den Emissär am Arm. Sonne trat neben den Tributeinnehmer, auch Tlacotl und die Priester erhielten unverhoffte Begleiter.

„Ich fühle mich geehrt“, sagte Opossum notgedrungen und ließ sich von dem Fremden zu einem großen Boot am Ufer führen. Dieses war, anders als die Einbäume Mexikos, aus Planken zusammengefügt und viele Male breiter als diese. Opossum stieg ein, erhobenen Hauptes, aber mit gesenkten Lidern, um von den Wellen nicht geblendet zu werden. Das Boot legte ab in Richtung der Wasserhäuser, die ein Stück weit entfernt auf dem Meer zu sehen waren.

„Jenes ist es!“, rief der Gesandte. Stolz wies er auf das Schiff in der Mitte, es war das einzige mit einer wehenden Fahne am höchsten Mast. Tlacotl erkannte ein blaues Kreuz und etliche Punkte, welche beim Näherkommen zu gebogenen Linien wurden.

„Amicisequamurcrucem, etsinosfidem …“ deklamierte der Gesandte, ohne dass eine Übersetzung gefolgt wäre. Der Oberpriester hielt die Äußerung für einen Zauberspruch. „O schwarzer Gott“, stieß er zwischen den Zähnen hervor und meinte damit Tezcatlipoca, „mach, dass Malin-tzin das Blut in den Adern verklumpt!“

Das Ruderboot erreichte das Schiff mit der Fahne und wurde hochgezogen. Oben führte der Gesandte seine unfreiwilligen Gäste herum. Tlacotl sah ein großes hölzernes Rad mit Speichen, das man drehen konnte, und hohe Masten voller Seile, von denen gefaltete Planen hingen. Wenn diese Planen ausgespannt waren wie Vogelschwingen, wusste er, setzte der Wind das Schiff in Bewegung. Er sah auch lange Rohre, die über die Brüstung schauten. Doch über all dies staunte er weniger als über die enormen Ausmaße des Wasserhauses. Tlacotls gesamte Verwandtschaft – und die füllte leicht ein ganzes Dorf – hätte sich hier einrichten können.

Der Gesandte streckte den Arm aus. „Von dort sind wir gekommen!“ Opossum fühlte sich genötigt, mit ihm auf das gleißende Meer zu schauen. „Ich erkenne nichts“, erklärte er wahrheitsgemäß.

„Nichts als Wasser“, sagte der Gesandte. „Den größten Teil der Reise begleiten nicht einmal Vögel das Schiff, und dennoch liegt jenseits Caxtillans Küste.“

Dann sagte er, dass er unbesiegbar wäre. „Seht nur meine Macht!“ Er legte seine Hand auf eins der dicken Rohre auf der Brüstung und gab einen Befehl. Dann trat er ein Stück zur Seite. Der Mann, der schon die ganze Zeit dabeigestanden hatte, entzündete nun einen langen Span und schob ihn von hinten ins Rohr. Tlacotl hörte es zischen und puffen, das Rohr vibrierte, und dann schoss eine Kugel donnernd aus der Mündung. Unter Tlacotl erbebten die Planken. Er verlor das Gleichgewicht, er hatte Angst wie nie zuvor im Leben. Dazu noch der Gestank nach faulen Eiern! Das Rohr schien wie ein großes, wildes Tier gefurzt zu haben. Naserümpfend stand Tlacotl auf und klopfte sich den Umhang ab. Er sondierte die Umgebung: Wo waren die anderen?

Opossum klammerte sich an die Brüstung. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er der Kugel nach, die gerade tosend ins Wasser fiel. Andere aus seinem Gefolge hielten sich die Ohren zu. Nur dem Oberpriester war keine Furcht anzusehen. Als sich der Qualm verzogen hatte, baute er sich vor dem Fremden auf:

„Malin-tzin! Du magst sehr viel Macht besitzen. Doch du bist gar nichts vor Tezcatlipoca. Wenn Unser Herr die Erde beben lässt, hört niemand mehr deine Feuertrompete.“

Der Gesandte lächelte nur. Er ließ Geschenke für den Großen Sprecher bringen: seltsame Kleidungsstücke aus Stoff, Schnüre blauer Perlen und einen wie Zahnschmelz schimmernden Kelch. Abermals bat er um Audienz bei Motecuzoma. Er könne anders nicht mehr vor seinen eigenen Herrscher treten. Dann entließ er seine Gäste.

Opossum wäre beim Einsteigen ins Boot beinahe fehlgetreten. Er konnte kaum noch etwas sehen. Das Meer bestand aus Licht – aus Licht, das in den Augen schmerzte.

Die Rückkehr der Gesandtschaft vollzog sich heimlich, in der Nacht, wie die eines Handelszuges – aber nicht, um sich vor Neid und Missgunst abzuschirmen, sondern weil der Herr-Des-Schwarzen-Hauses sich der dürftigen Gaben des Fremden schämte. Barfuß und in einem Überwurf aus rauem Agavenstoff trat er vor den Großen Sprecher – er, ein Kronratsmitglied! Er wirkte mitgenommen. Seine Augen waren entzündet, er blinzelte und schien zu frieren. Ihm blieben alle Worte in der Kehle stecken, so dass der Oberpriester ihm die Stimme leihen musste. Hätte Opossum nicht durch Gesten jedes Wort bezeugt, Motecuzoma hätte nicht ein einziges davon geglaubt. Der Fremde, dem er mit Ehrfurcht begegnet war, schmähte die Götter! Jener Fernando Cortés Malin-tzin war ein falscher Quetzalcoatl – zu schwach, die Maske des Gottes zu tragen, zu schwach, ein Opfer entgegenzunehmen.

„Er pflegt nur weißes, süßes Brot zu essen, das so leicht wie Maisstroh ist – auch gedörrtes Obst und Fleisch“, erklärte der Oberpriester. „O Totecuiyo, er ist nur ein Mensch. Wiewohl ein böser, eine üble Menscheneule. Ohne Grund hat er dem Herrn-Des-Schwarzen-Hauses eine Krankheit angehext. Und, Totecuiyo, er verachtet unsere Sitten. Er ist nicht würdig, dass du ihn empfängst.“

„Ist es denn üblich, den Gesandten eines fernen Landes abzuweisen?“

„Würdest du je einen Boten entsenden, der sich derart befremdlich benimmt? Jener Mann verursacht Lärm! Er hat schreckliche Feuertrompeten. Wenn er aus ihnen schießen lässt, dröhnt es wie Donner in den Bergen, und es blitzt dazu! Das schreckt die kleinen Leute auf. Sie werden noch die Flucht ergreifen, ihre Felder brachliegen lassen.“ „Übertreibst du nicht?“

„Es wäre besser, wenn er wieder dorthin führe, von wo er kam.“

„Nach … Caxtillan?“ Dem Großen Sprecher fiel Sternfinders Vermutung ein. „Glaubst auch du, Yaopol-tzin, an eine andere Küste, die nicht der Himmel ist?“

„Ich maße mir nicht an zu spekulieren. Eines aber weiß ich sicher, Totecuiyo: Jenem Malin-tzin kannst du nicht trauen. Hüte dich vor ihm!“

Motecuzoma folgte dem Rat des Oberpriesters und brach den Kontakt zu dem Fremden ab.

3

Jadefisch erfuhr davon nicht das Geringste. Er konzentrierte sich ganz auf die Musik und spielte endlich makellos, er beherrschte das Blumenlied des Tezcatlipoca. Dennoch stimmte etwas nicht. „Gutes Handwerk“, lobte Eins-Affe, aber er schloss die Augen nicht mehr. Jadefisch war nicht zufrieden. Er wusste, dass er unter seinen Möglichkeiten blieb.

„Spotte nur! Vor meiner Erwählung habe ich besser gespielt.“

„Deine Flöte könnte klingen, als käme sie aus dem dreizehnten Himmel.”

„Dann hast du die Augen geschlossen.”

„Und du verspieltest dich.”

„Wie soll ich besser werden, wenn du mir das Zeichen nicht gibst?“

Eins-Affe nickte, tat ihm aber den Gefallen nicht. Jadefisch begann zu provozieren. Er flötete bald falsch, bald richtig, bald schlecht, bald gut, manchmal hinreißend – und beobachtete dabei Eins-Affe aus den Augenwinkeln. Es war lächerlich. Sie hatten beide Angst, der Lehrer wie der Schüler – Eins-Affe vor einem Rückfall Jadefischs und dieser davor, nicht weiterzukommen. Jadefisch fand einfach nicht heraus, wann er Eins-Affe betörte. Seine Willkür brachte ihn dabei allmählich von der überlieferten Weise ab. Ein eigener Gestaltungswille regte sich in Jadefisch und ließ ihn mit dem Muster spielen, das Tezcatlipoca den ehrwürdigen Vorfahren enthüllt hatte.

Der Priester-Weise beschloss einzugreifen. „Du darfst die Melodie nicht ändern.“

„Ich versuche lediglich, ihr Leben einzuhauchen.“

„Das vermagst du nur, wenn dich Tezcatlipoca leitet. Allein Sein Atem darf sich in der Blumenflöte bewegen.“

Jadefischs Brauen gingen nach oben. „Sternfinder, das verstehe ich nicht.“

„Die Macht des Blumenliedes kommt von unserm Herrn Tezcatlipoca. Er ist es, der damit die Menschen bezaubert – nicht du.“

„Aber …“

„Du bist nur Sein Gefäß. Mach dich leer, damit Tezcatlipoca in dich eintreten kann.“

Jadefisch legte die Flöte zur Seite. „Wozu bemühe ich mich eigentlich, wenn Ihm die leere Hülle genügt?“

„Jadefisch! Willst du Tezcatlipocas Nähe nicht? Seine Süße, Seinen wunderbaren Duft der kleinen weißen Puffmaisblüte?“

Jadefisch besann sich. „Doch, natürlich.“

„Dann öffne dich. Mach dich leer.“

„Wie, Sternfinder? Soll ich alles, was ich bin, vergessen?“

Sternfinder betrachtete Jadefisch besorgt. Eine dunkle Kraft schien ihn anzutreiben. Das Blumenlied des Tezcatlipoca wurde seit undenklichen Zeiten unverändert weitergegeben. Warum genügte es Jadefisch nicht, es so gut wie möglich zu spielen? Was bewog ihn, vom Muster abzuweichen? Er durfte sich Tezcatlipoca nicht entgegenstellen, noch sich mit Ihm identifizieren. Sonst würde ihn der Gott wie eine Eierschale zerbrechen.

„Wie hast du als Tempelschüler deine Skorpione gefangen?“

„Meine Skorpione?“ Jadefisch verzog angewidert das Gesicht. Die Knaben wurden nachts hinausgeschickt, um giftige Tiere zu sammeln. Die Priester brauchten sie für ihre schwarze Götterfarbe. Damit würde man auch Jadefisch bald bemalen.

„Wie konntest du sie fangen, Jadefisch?”

„Wie man es mich lehrte, Sternfinder.”

„Dachtest du dabei an deine Lehrer? Deine Freunde? Deine Feinde?” „Gewiss nicht.”

„Dachtest du, dass du gestochen werden, dass du gar sterben könntest?”

„Ich weiß nicht mehr. Ich glaube, ich habe an gar nichts gedacht.”

„Nur der Skorpion ist da. Er kriecht über den Boden. Er bewegt seine Scheren. Du, Jadefisch, bist nicht da. Deine Hände funktionieren ohne dich. Dein Geist ist leer wie das Gefäß für deine Beute.”

Fing Jadefisch an zu begreifen? Er sah den Priester-Weisen aufmerksam an.

„Nur der Skorpion ist da”, wiederholte dieser monoton. „Er kriecht, er bewegt seine Scheren.” Endlich entspannte sich Jadefisch. Hatte er verstanden?

Nun, in gewisser Weise. Jadefisch erinnerte den Skorpion und über ihm die feuchte Hand des Kindes. Woran dachte der Stachelbewehrte? Dass er gefangen, ja, zerstoßen werden könnte? Er tanzte, sein kopfwärts gebogener Schwanz mit dem Giftstachel zuckte im Takt, und seine Scheren wippten. Er behexte den ängstlichen Jäger, der seinen Bewegungen folgte, bis er ganz benommen war. Gegriffen hat ihn dann Ayo, Jadefischs Freund. Irgendjemand, irgendetwas rettete ihn immer.

Irgendetwas lag auch in der Luft. Die Menschen schienen auf etwas zu warten. Das mochte der erste Regenfall sein. Wenn jetzt kein Wasser kam, verdorrten die Saaten. Auf dem Weg zum Unterricht begegnete Jadefisch nun den Armen der Stadt, die sich vor dem Palast einfanden. Motecuzoma öffnete für sie den Speicher. Das tat er immer um die Jahreszeit, sobald der Hunger seine Fratze zeigte. Der Regen also. Unterschwellig aber spürte Jadefisch weitere Zeichen des Wandels. Eins-Affe, der um die Mittagszeit gern ein Nickerchen machte, blieb seit ein paar Tagen hellwach, und der Priester-Weise war nicht mehr immer bei der Sache. Neuerdings vergaß er, Jadefisch zu stechen, und ließ zu guter Letzt den Agavendorn im Priesterhaus liegen.

Auch der Amtsvorgänger hatte sich verändert. Einmal traf Jadefisch ihn auf der Straße. Flöte spielend kam er daher. Aber er glitzerte und glänzte nicht wie früher, trug keine goldenen Schellen mehr. Die schwarze Bemalung fehlte, sein Haar fiel nicht mehr lose herab, sondern war hochgesteckt wie bei einem verdienstvollen Krieger. Oh – und Mädchen hatte er bei sich. Als er Jadefisch erkannte, blieb er orakelnd vor ihm stehen. „Merkwürdige Dinge geschehen. Fremde sind an der Küste erschienen. Du wirst Unglaubliches erleben.” Dazu vernahm Jadefisch das irritierende Lachen der Frauen. Das Gottesabbild trieb wohl Schabernack mit ihm. Oder doch nicht?

Schließlich kam der große Festtag des Tezcatlipoca, an dem Sein Erwählter Tenochtitlan verließ. In einem bunt bemalten Boot paddelte man ihn südwärts über den See, um ihn an einem leeren Strand