Die Zuckerbaronin - Martina Sahler - E-Book

Die Zuckerbaronin E-Book

Sahler, Martina

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Beschreibung

Bayern, 1908. Martha Schinder hat ihr Temperament und die Abneigung gegen Obrigkeiten von ihrem Vater geerbt, dem Schmugglerkönig vom Bayerischen Wald. Besessen davon, seiner Familie ein besseres Leben zu ermöglichen, verschiebt er gemeinsam mit seinen drei Töchtern große Mengen des begehrten Saccharins, die Konkurrenz zum teuren Zucker, über die Grenzen nach Österreich und Böhmen. Als Martha sich beim Erntedankfest Hals über Kopf in den Industriellensohn Alexander verliebt, ahnt sie nicht, in welchen schweren Konflikt sie diese Liebe stürzen wird. Denn Alexander ist der Erbe eines Zuckerimperiums. Und vom illegalen Treiben der Schinderschwestern darf er um keinen Preis erfahren ...

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Inhalt

CoverÜber dieses BuchÜber die AutorenTitelImpressumFigurenverzeichnis PrologTEIL 112345 TEIL 26789101112TEIL 313141516TEIL 417181920212223EpilogNachwort

Über dieses Buch

Bayern, 1908. Martha Schinder hat ihr Temperament und die Abneigung gegen Obrigkeiten von ihrem Vater geerbt, dem Schmugglerkönig vom Bayerischen Wald. Besessen davon, seiner Familie ein besseres Leben zu ermöglichen, verschiebt er gemeinsam mit seinen drei Töchtern große Mengen des begehrten Saccharins, die Konkurrenz zum teuren Zucker, über die Grenzen nach Österreich und Böhmen. Als Martha sich beim Erntedankfest Hals über Kopf in den Industriellensohn Alexander verliebt, ahnt sie nicht, in welchen schweren Konflikt sie diese Liebe stürzen wird. Denn Alexander ist der Erbe eines Zuckerimperiums. Und vom illegalen Treiben der Schinderschwestern darf er um keinen Preis erfahren …

Über die Autoren

Martina Sahler und Heiko Wolz haben als Duo zahlreiche erfolgreiche Jugendbücher veröffentlicht. Für ihren historischen Roman WEISSE NÄCHTE, WEITES LAND wurde Martina Sahler mit dem HOMER LITERATURPREIS in Silber ausgezeichnet, Heiko Wolz erhielt unter anderem das Literaturstipendium des Freistaats Bayern. DIE ZUCKERBARONIN ist der Auftakt zu ihrer ersten gemeinsamen historischen Romanreihe.

Martina Sahler

Heiko Wolz

DIEZUCKERBARONIN

M a r t h a s G e h e i m n i s

H i s t o r i s c h e r R o m a n

LÜBBE

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Originalausgabe

Copyright © 2023 by Martina Sahler und Heiko Wolz

Copyright deutsche Originalausgabe © 2023 by Bastei Lübbe AG, Köln

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Michael Meller Literary Agency GmbH, München.

Textredaktion: Anna Hahn, Trier

Umschlaggestaltung: Johannes Wiebel | punchdesign, München

Einband-/Umschlagmotive: © stock.adobe.com: Kathy | LiliGraphie | SusaZoom | bietau | cduschinger

eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7517-4249-8

luebbe.de

lesejury.de

Figurenverzeichnis

(Hauptfiguren sind fett gesetzt, reale Figuren und Orte mit * gekennzeichnet)

Um 1906/1908

In Polderfeld

Korbinian Schinder, geb. 1856, Fuhrunternehmer und Schmugglerkönig vom Bayerischen Wald

Barbara Schinder, geborene Heusing, geb. 1862, seine Frau

Martha, geb. 1888, die älteste Tochter, dem Vater ähnlich

Gwendolyn, geb. 1891, die mittlere Tochter, gilt mit ihren Begabungen als Wunderkind

Helena, geb. 1894, die jüngste Tochter, verrückt nach Tieren

Max Arenburg, geb. 1850, Korbinians bester Freund, der für die Sozialdemokraten in den Deutschen Reichstag gewählt wird

Benno Meininger, geb. 1884, Korbinians bester Mitarbeiter

Cilly, geb. 1894, Bennos Schwester, besucht die Schule in Deggendorf und ist mit Helena befreundet

In Ornbach

Leopold Wallendorf, geb. 1850, Direktor der Donau Zucker AG

Annegret Wallendorf, geb. 1853, seine Frau

Alexander Wallendorf, geb. 1887, Erbe von Gut Theresienberg und der Donau Zucker AG

Vinzenz Winkler, geb. 1887, verheiratet mit Kathi, Bauer, Alexanders bester Freund

Florian Köhler, geb. 1886, Schreinersohn, macht das Freundestrio mit Alexander und Vinzenz komplett

In Deggendorf*

Walter, geb. 1851, und Edith Lanz, geb. 1852, Textilfabrikanten und mit den Eheleuten Wallendorf befreundet

Veronika Lanz, geb. 1886, ihre einzige Tochter

In Waidreut und Kahlmühlen (nahe der böhmischen Grenze)

Gustav Böch, geb. 1860, Mesner in der Waidreuter Pfarrkirche und Mittelsmann für Korbinians Schmuggelhandel

Pfarrer Wildner, der die Osterprozession nach Böhmen anführt

Alfons Hartler, geb. 1859, neuer Gendarm in Kahlmühlen, in zweiter Ehe verheiratet mit der zwanzig Jahre jüngeren Anna, die er beeindrucken will

In Englingen (auf deutschem Gebiet nahe der schweizerischen Grenze)

Rupert Vogel, geb. 1849, Zöllner mit dem Lebenssinn, den Saccharin-Schmuggel zu unterbinden

Agathe Vogel, seine altersschwache Tante, die ihn nach Strich und Faden gängelt

In Buchel (auf schweizerischem Gebiet nahe der deutschen Grenze)

Andrin Brunner, geb. 1889, und Loris Brunner, geb. 1888, schweizerische Brüder, die das Gemischtwarengeschäft ihres Onkels Beat für den Schmuggel von Saccharin nach Deutschland nutzen

Weitere Figuren in den Jahren 1878 bis 1898

In Baltimore*, USA

Constantin Fahlberg*, geb. 1850, entdeckt 1878 das Saccharin; Max Arenburgs Cousin

Eleonore Lewis, geb. 1847, seine Haushälterin

Ira Remsen*, geb. 1846, Begründer der chemischen Fakultät der Johns-Hopkins-Universität und eine Zeit lang Fahlbergs Vorgesetzter

In Polderfeld

Kuno Heusinger, geb. 1830, und Mechthild Heusinger, geb. 1831, Eltern von Barbara Heusinger, betreiben eine Schneiderwerkstatt

Adele Schinder, geb. 1826, Korbinians Mutter

In Ornbach

Ignatz Wallendorf, geb. 1815, Vater von Leopold Wallendorf, dem Wahnsinn verfallen

Friedl Wagner, geb. 1818, und Hannelore Wagner, geb. 1819, Eltern von Annegret Wallendorf mit einem Stellmacherbetrieb

In Deggendorf*

Georg von Basnitz, geb. 1834, Direktor der Kreditabteilung der Deggendorfer Bank

In Leipzig*

Adolph List*, geb. 1823, Techniker und Fabrikant; Constantin Fahlbergs Onkel

Adolph Moritz List*, geb. 1861, Chemiker und Adolphs Sohn

Prolog

Ostern 1906, deutsch-böhmische Grenze bei Waidreut

Die Schneeschmelze hatte erst Ende März eingesetzt. Drei Wochen später lagen noch immer grauweiße Überreste auf den Feldern. Die Sonne trocknete die Wege, aber im Schatten der Wälder zogen sie sich nass und voller Schlamm durch die Landschaft. Birken, Weiden und Haselnuss streckten ihr Grün vor den dunkleren Tannen dem Himmelsblau entgegen, auf den Wiesen blühte der Löwenzahn, gelbe Inseln zwischen den Waldstücken. Zartes Summen, Brummen und Flattern schienen den Duft von etwas Neuem aufzuwirbeln.

Korbinian Schinders Kutschwagen fuhr auf breiten Rädern, die sich gut auf dem weichen Boden lenken ließen. Auf der Anhöhe, die sie nun erreichten, brachte er die Pferde zum Stehen. Das Fell der Kaltblüter dampfte, das Geschirr klirrte, als sie ihre Köpfe schüttelten. Unten im Tal kringelte sich der Rauch aus den Schornsteinen, die Menschen dort saßen beim Frühstück.

Auch sie wollten Rast machen. Korbinian sprang vom Bock und hielt seiner Frau Barbara die Hand hin, um ihr den Abstieg zu erleichtern. Ihre Kleidung war wie die der drei Töchter an diesem Tag ungewöhnlich schwer, sie mussten noch einige Stunden aushalten, dann würden sie von der in den Säumen, Falten und Taschen eingenähten Last befreit sein. Und ein Stück wohlhabender, wenn alles klappte. Aber was sollte schon passieren?

Der Rastplatz auf dem Hügel war mit seinen beiden grob gehauenen Holzbänken und dem Tisch dazwischen gut gewählt. Einkerbungen übersäten die Platte, manche von Zeit und Witterung geschaffen, andere mit der Klinge als Liebesbeweis eingeritzt. Barbara breitete ein kariertes Tuch aus, nahm Brett und Messer aus dem Korb und schnitt Scheiben von Brot und Käse ab. Korbinian strich versonnen die Narbe entlang, die sich seitlich seiner rechten Braue bis zum Kinn zog, während er seine Frau betrachtete. In der Vormittagssonne brannte die alte Verletzung, aber es war ein vertrauter Schmerz. Er hatte gelernt, damit zu leben. Über den Tisch hinweg streichelte er Barbaras Hand. »Nimmst du dir auch genug, meine Donaunixe, ja?«

»Ja, Lieber, keine Sorge. Aber sag nicht Donaunixe. Das bin ich nicht, und überhaupt ist das heidnischer Unsinn.« Sie hatte ebenso leise gesprochen wie er, doch die anderen am Tisch spitzten die Ohren.

»Aber du bist schön wie die Isa, das weißt du.«

Die älteren Töchter und Korbinians Mitarbeiter Benno Meininger unterdrückten ein Lachen. Aber sollten sie sich ruhig darüber amüsieren, dass man nach zwanzig Jahren Ehe noch so verliebt sein konnte. Was Barbara und ihn miteinander verband, war das Glück seines Lebens. Nur Helena, die Jüngste, machte große Augen. Sie rutschte näher, angelockt von den geflüsterten Worten. »Wer ist die Isa?«, wollte die Zwölfjährige wissen und griff nach einer Scheibe Brot. Martha, die Älteste, klopfte ihr auf die Finger.

»Warte, bis die Mutter allen gegeben hat!«

»Jetzt lass sie halt, Martha, du bist zu streng.« Korbinian legte den Arm um Helena und küsste ihr den Scheitel.

Martha warf ihren zimtbraunen Zopf über die Schulter, ihre Miene verriet, was sie von der Sache hielt, aber sie schwieg. Korbinian wusste es ja selbst: Von den Töchtern kam Helena am meisten nach der Mutter und machte ihm damit das Herz weich. Das Gesicht, die schmale Statur, der blonde Haarkranz.

Während Barbara Brot und Käse austeilte, eilte Benno zum Fuhrwagen, kramte in seinem Rucksack und kehrte mit einem emaillierten Napf mit Schnallenverschluss zurück. Er öffnete ihn und stellte ihn in die Mitte des Tisches. »Wurstsalat, greift zu!« Alle aßen ihre Käsebrote, stocherten mit ihren Gabeln im Salat herum, Helena ließ ein lautes Mmh vernehmen. Auch die anderen lobten Benno und langten zu. Er hatte früh beide Elternteile verloren und lernen müssen, sich selbst zu versorgen. Das schaffte er meisterlich.

Die Blicke, die Benno Martha zuwarf, während sie genüsslich kaute, entgingen Korbinian nicht. Es war ihm recht. Auf den Jungen war Verlass. Dass sich etwas zwischen ihm und seiner Ältesten entwickeln könnte, war nicht geplant gewesen, passte aber in den Traum von einer starken unabhängigen Sippschaft.

Helenas Frage nach der Isa hing in der Luft. Gwendolyn, die Mittlere, nahm sich der Jüngsten an. »Die Nixe Isa ist eine Schwester der Loreley und herrscht über das Schloss am Fuße des Jochensteins«, sagte sie. »Zwischen Passau und Untergrießbach. Es heißt, sie tauche in flimmernden Kleidern und mit einem Blumenkranz geschmückt in hellen Mondnächten auf und zeige sich den Fischern.«

Korbinian nickte ihr lächelnd zu, bevor er sich an Helena wandte: »Die Isa hat Haare wie Mutter und du, und sie ist genauso wunderschön wie ihr.«

Aber die Jüngste war mit ihren Gedanken schon woanders.

»Was tust du da?« Martha sprang auf, als Helena von der Bank rutschte, ihre Brotreste zerbröselte und die Krumen einer Handvoll Spatzen zuwarf, die voller Freude auf diese unverhoffte Mahlzeit heranflatterten. Schnell vergrößerte sich die Zahl, die Vögel pickten die Bröckchen auf.

»Ich bin satt«, rief Helena. »Ich will mir einen Blumenkranz wie die Isa winden, bevor wir weiterfahren.«

»Beim nächsten Mal frag zuerst, ob ein anderer dein Brot noch will. Nichts an Wildvögel, Helena«, bat Barbara, wie immer im genau richtigen Ton. Bestimmt, aber nicht zu streng. Korbinian stand oft hilflos daneben, wenn die Schwestern sich stritten oder eine von ihnen getadelt werden musste.

Eine Viertelstunde später traten sie den letzten Rest des Weges an. Bald lag Waidreut vor ihnen. Korbinian saß auf dem Kutschbock, seine Frau neben ihm, die drei Töchter und Benno machten es sich auf dem Lastkarren bequem. So gut das eben ging. Man holte sich ohnehin blaue Flecken bei der wackeligen Fahrt. Die in ihren Kleidern verborgenen Päckchen mussten zusätzlich drücken. Außer den im Stoff eingenähten Tüten befanden sich zwischen ihren Füßen vier Säcke mit zwei weiteren Zentnern.

Saccharin.

Vor einer Woche hatte Korbinian mit Benno die gelben Pakete mit den weißen Kristallen an der deutsch-schweizerischen Grenze in Empfang genommen. Auf jeder einzelnen Tüte stand die Anleitung: »Man löse den Inhalt in einem halben Liter warmen Wasser auf. Ein Teelöffel dieser Lösung entspricht der Süßkraft von drei Stück Würfelzucker.« Als wüssten die Leute nicht selbst, wie es verwendet wurde! Seit sich die Mehrheit der Menschen Rübenzucker nicht mehr leisten konnte oder wollte, war dieser von Gott gegebene Ersatz heiß begehrt. Kein Wunder, dass die Mächtigen der Zuckerindustrie den Politikern das Messer an den Hals gedrückt und diese den Süßstoff daraufhin verboten hatten – nicht nur in Deutschland, auch in Frankreich, Belgien und Spanien. Nur die Schweiz sah keinen Grund, Produktion und Vertrieb einzuschränken. Das Land hatte sich regelrecht zur Saccharin-Oase entwickelt. Alle Schleichhändler hielten enge Verbindungen zur Alpenrepublik.

Korbinian versorgte den gesamten Bayerischen Wald mit dem Süßstoff. Was übrig blieb, verscheuerte er mit seinem Fuhrunternehmen an die Österreicher. Die Pakete ließen sich wunderbar in Umzugsgut verstauen. Aber heute reisten sie nach Böhmen. Dort konnte der Arme-Leute-Zucker für fünfundzwanzig Reichsmark pro Kilo verkauft werden! Ein unfassbarer Gewinn stand ins Haus, wenn man bedachte, dass sie selbst nur sechs Mark pro Kilo an die Schweizer bezahlten. Korbinian pflegte ein Netz von Mittelsmännern weit über den Bayerischen Wald hinaus, aber in diesem Fall hatte ihm sein bester Freund Max, der für die Sozialdemokraten als Vertreter von Niederbayern im Deutschen Reichstag saß, den entscheidenden Tipp gegeben: In Waidreut hatten die Menschen eine spezielle Art der Schmuggelei entwickelt, bei der große Mengen an Saccharin über die Grenze geschleust werden konnten. Korbinian hatte sofort den Kontakt herstellen lassen. Eine solche Gelegenheit musste man beim Schopf packen.

»Wie sehe ich aus?«, hörte er Helena von hinten. Wahrscheinlich hatte sie sich aus den gepflückten Gänseblümchen einen Kranz geflochten und auf ihren Kopf gesetzt.

»Bildschön bist du«, antwortete Benno. Korbinian grinste in sich hinein. Seine Jüngste hatte ein untrügliches Gespür dafür, wer ihr die richtige Antwort geben würde. »Wie deine Schwestern«, fügte sein Mitarbeiter hinzu. Martha pustete die Luft aus, Gwendolyn reagierte nicht. Vermutlich war sie in den Gedichtband vertieft, den sie sich als Reiselektüre mitgenommen hatte.

»Anstatt Vögel zu füttern und Kränze zu winden, solltest du dich lieber auf die Aufgabe konzentrieren, die vor dir liegt«, drang Marthas Stimme über das Rattern der Räder nach vorn. »Weißt du noch, was Vater dir eingeschärft hat?«

»Ja doch! Ich soll fromm gucken und zügig gehen.«

»Halte dich daran, sonst ruinierst du alles.«

Neben Korbinian wandte Barbara sich lächelnd um. »Du brauchst nicht frömmlerisch zu tun, Helena. Es ist Ostern, wir feiern die Auferstehung des Herrn, da kann man wohl ein wenig Gottesfurcht voraussetzen.«

Korbinian unterdrückte ein Glucksen. »Du meinst, wie dieser Pfarrer Wildner?«

Barbara sah ihn erschrocken an. »Du hast mir erzählt, dass der Geistliche den Schmuggel bei seiner Prozession für gutheißt, weil er davon überzeugt ist zu helfen. Niemand wird betrogen, die armen Familien aus dem Böhmerwald kommen mithilfe der zusätzlichen Einnahmen durch die bittersten Zeiten. Nur deswegen habe ich zugestimmt, dabei zu sein.«

»Du hast recht, Nixe, da hatte ein treuer Kirchendiener mal einen wahrhaft gesegneten Einfall.«

Barbara musterte ihn skeptisch von der Seite. »Verspottest du mich?«

Korbinian lächelte, streichelte ihr Bein, fühlte den kratzigen Filz ihres Rockes. Ihre Schmugglergarderobe war praktisch, aber dennoch sah er sie lieber in ihren leichten Leinenkleidern. »Mach dir keine Sorgen, Barbara, der Herrgott schaut mit Wohlwollen auf uns herab, da bin ich mir sicher.«

Damit gab sich seine im christlichen Glauben erzogene Frau zufrieden.

»Wer den geldgierigen Zuckerindustriellen ein Schnippchen schlägt, ist immer auf der richtigen Seite«, fügte Martha hinter ihnen hinzu.

Korbinian brummte bestätigend. Er betrieb seine Schmuggelgeschäfte seit acht Jahren, nie hatte ihn deswegen ein schlechtes Gewissen gequält. Was taten sie Schlimmes, abgesehen davon, dass es vom Gesetz her verboten war? Der rechte Weg, von dem die Pfaffen von ihren Kanzeln predigten, war es dennoch. Menschen wie die Schinders sorgten dafür, dass die Leute ihren Brei und Tee, den Kuchen und die Milch für die Kinder süßen konnten. Daran war nichts Verwerfliches. Dass sie dabei selbst Geschäfte machten … Wer ging schon einem Erwerb nach, ohne seinen eigenen Lebensunterhalt damit zu bestreiten?

Der heutige Tag stand unter einem guten Stern. Zum ersten Mal schlossen sie sich der Osterprozession aus dem bayerischen Waidreut über die Grenze nach Böhmen an. Korbinians Fingerspitzen kribbelten bei der Vorstellung, wie sie singend und lachend mit dem Geld in den Taschen heimfahren würden. Danach hätten sie sich eine Pause verdient. Benno würde seinen Anteil bekommen, und vermutlich würde er das meiste davon zurücklegen, um die Ausbildung seiner Schwester zu finanzieren. Ein verlässlicher Junge, ging es Korbinian durch den Kopf. Einer, der auch gut für die Frau sorgen wird, die er sich nimmt.

Sein Blick wanderte über die Schulter. Martha kam in ihren Ansichten über soziale Gerechtigkeit und mit ihrem Schaffensdrang am ehesten auf ihn. Schade, dass sie eine Frau war, aber mit Benno an ihrer Seite hätte er den Sohn, den er sich als ältestes Kind gewünscht hatte. Ob sie in diesem Jahr Hochzeit feiern würden? Wenn es nach Benno ging vermutlich schon. Seiner Miene nach zu urteilen wäre ihm heute lieber als morgen. Bei Martha war Korbinian sich nicht so sicher. Hatte sie überhaupt bemerkt, dass der Junge ein Auge auf sie geworfen hatte? Und würde sie einsehen, dass sie sich mit ihren achtzehn Jahren allmählich festlegen sollte? Darüber hinaus konnte ein Enkelsohn nicht früh genug kommen. Korbinian wollte nicht bereits am Krückstock laufen, wenn der Junge das Alter erreichte, in dem er ihm beibringen würde, was er über den Schmuggel wissen musste.

Sein Blick streifte Gwendolyn. Sie begleitete die Familie nicht gern bei den Touren, ihre Nase steckte so tief im Buch, dass nur ihr aschblonder Scheitel zu sehen war. Sollte sie sich mit den Gedichten nur von dem törichten Gedanken ablenken, etwas Unrechtes zu tun. Irgendwann würde sie wie ihre Mutter erkennen, dass Moral allein nicht satt machte oder das Brennholz für den Winter bezahlte. Auch Barbara war keine Verfechterin der Schmuggelei, fügte sich aber. Letzten Endes wusste sie selbst, dass sie das Richtige taten. Für sich und für andere.

Korbinian schnalzte und zog die Zügel der beiden Pferde, als sie den Ortseingang von Waidreut passierten. Auf dem Weg waren ihnen nur wenige Menschen begegnet, auch hier waren die Straßen leer. Die meisten Bewohner besuchten an diesem späten Ostermontagmorgen die Kirche, aber ihr Kontaktmann sollte zu Hause anzutreffen sein. Laut Beschreibung wohnte er mitten im Ort.

Barbara holte einen Spickzettel aus der Rocktasche, ohne dass Korbinian sie nach der Adresse gefragt hätte. Nach so vielen Jahren Ehe verstand man sich ohne Worte.

»Mesner Gustav Böch.« Sie sah sich in der von der Pfarrkirche dominierten Ortschaft um, durch die sie langsam rollten. »Da.« Sie wies auf ein Haus mit einem umlaufenden Balkon, das im Schatten des Gotteshauses stand. Korbinian lenkte den Fuhrwagen an den Straßenrand, hielt unter der Empore, von der aus ihnen eine lebensgroße barocke Holzfigur zuzuwinken schien.

»Na, wer erkennt ihn?«, fragte Korbinian.

Gwendolyn beugte sich vor. »Der heilige Nepomuk. Der Brückenheilige und Patron des Beichtgeheimnisses.«

Martha klatschte spöttisch. »Heute kann er mal beweisen, dass er Brücken schlagen und ein Geheimnis für sich behalten kann.«

Korbinians Lachen rollte in seinem Brustkorb. »Außerdem ist er der Schutzpatron der Böhmen. Sie erwarten ihn bestimmt sehnsuchtsvoll.« Er stieg wieder vom Bock und half seiner Frau herunter. Die Mädchen und Benno kletterten ebenfalls von der Ladefläche, ächzten leise unter der Last in ihren Kleidern und rieben sich Beine und Rücken. Nach der langen Fahrt genossen sie es, sich zu strecken.

»Ihr wartet hier«, wandte sich Korbinian an seine Töchter und Barbara. Benno bedeutete er mit einem Kopfrucken, ihn zu begleiten. Die Tür des Hauses öffnete sich, und ein kleiner Mann mit Halbglatze und kugelrundem Bauch trat heraus. Korbinian und Benno stellten sich vor.

»Wie viel Kilo habt ihr dabei?« Gustav Böch hielt sich nicht mit Plaudereien auf.

»Du hast geschrieben, dass exakt zwei Zentner in die Figur passen. Die haben wir in Säcken. Den Rest haben sich die Frauen in die Röcke eingenäht.«

Böch stieß einen Pfiff aus. »Das gibt einen schönen Reibach. Kommt, helft mir, den Nepomuk vom Balkon zu holen.«

Kurz darauf stand die Figur in ihrem blau-gelben Gewand, mit dem Wallehaar und dem dunklen Bart auf der Straße und starrte selig Löcher in den Himmel. Helena ging an den Heiligen heran und pochte ihm mit der Faust auf den Kopf. Ein dumpfes, hohles Geräusch erklang. »Willst du wohl aufhören!« Barbara zog Helena zurück und bekreuzigte sich hastig dreimal. Derweil fingerte Böch am Rücken der Statue herum. Ein Riegel klackte, eine Geheimtür öffnete sich, die in den Scharnieren quietschte. Korbinian lugte hinein. Das perfekte Versteck. »Die Figur wird schwer werden. Können wir sie überhaupt tragen?«

»Keine Sorge, mit vier Mann kriegen wir das hin, wie geschrieben.« Böch blickte sich in der Runde um und sah den Fuhrunternehmer dann fragend an.

»Bis auf Benno sind alle meine Leute an den Feiertagen bei ihren Familien«, erklärte Korbinian entschuldigend. »Es muss also zu dritt gehen. Oder wir suchen uns jemanden aus dem Dorf, der …«

Martha trat mit trotzig erhobenem Kinn einen Schritt vor. »Ich bin der vierte Mann.«

Böch runzelte die Stirn. »Die Statur hast du, aber wenn dir unterwegs die Kraft ausgeht …«

»Wird sie nicht«, unterbrach Martha ihn.

Er betrachtete sie und nickte dann zur Kirche. Von dort erklang der Abschlussgesang der Messe. »Meinetwegen. Jetzt lasst uns keine Zeit verlieren. Schafft die Säcke heran.«

Barbara machte große Augen. »Wir füllen ihn hier auf der Straße? Was, wenn uns jemand sieht?«

Böchs Lachen klang wie das Blöken eines Schafs. »Jeder hier weiß von der süßen Füllung, die wir dem Nepomuk alle zwei Wochen verpassen. Hunderte Hungerlöhner und Familien profitieren seit Monaten von dem Erlös, Pfarrer Wildner persönlich führt die Prozession an.«

»Was ist mit der Gendarmerie? Ist die Polizei im Grenzgebiet nicht besonders wachsam?«, setzte Barbara nach.

Böch winkte ab. »Der alte Fallgruber verlangt seinen Anteil. Der wird den Teufel tun und sich ein solches Geschäft entgehen lassen.«

»Und den Zöllnern auf der böhmischen Seite ist es nicht verdächtig, dass ihr alle zwei Wochen nach drüben prozessiert?«

»Verdächtig? Ein vom Pfarrer angeführter Umzug? Glaubt mir, keiner würde es wagen, dem Geistlichen Unrecht zu unterstellen oder gar die Heiligenfigur zu untersuchen. Aber wenn ihr die Hosen voll habt, verkauft mir die Ware, und ich besorge mir selbst drei Leute. Ich kenne genug, die mitmachen würden.«

Korbinian spürte den Blick seiner Frau, doch er schüttelte den Kopf. »Und wir gehen mit schmalerem Gewinn im Geldbeutel heim? Nichts da. Du bekommst deine Provision, wie über Max Arenburg vereinbart. Um den Rest kümmern wir uns.«

»Dann los, her mit dem Zeug!«

Die Glocken der Pfarrkirche erklangen, das Geläut zog übers Land, schreckte einen Schwarm von Saatkrähen auf. Das Portal des Gotteshauses öffnete sich just in dem Moment, als sie die Reste aus dem vierten Sack in den Bauch des Nepomuk stopften. Böch drückte kraftvoll die Tür auf dem Rücken der Statue zu und schob den Riegel vor. Die Kirchgänger traten heraus.

»Schließen sich uns noch andere an?«, fragte Gwendolyn mit gerunzelter Stirn.

Böch nickte. »Wir sind immer mindestens zwanzig Leute. Manche gehen aus purem Vergnügen oder Frömmigkeit mit, andere haben über Schweizer Freunde Material bekommen, das sie drüben versilbern wollen.«

Eine Menschengruppe bildete sich um die Schmugglerfamilie und den Mesner. Alle waren im besten Sonntagsstaat gekleidet, die Frauen in Tracht mit geschmückten Hüten, die Männer in Filzjacken und Lederhosen. Sogar ein Kind war dabei, ein pausbäckiges Mädchen mit grünem Rock, gekreuzten Bändern über der Bluse, einem tellerrunden Hut mit Strohblumen auf dem Kopf und einer Kerze in der Hand, deren Flamme im Wind tänzelte.

Wie eine Krähe flatterte Pfarrer Wildner heran. Der Talar umwehte seine hagere Gestalt. »Alles bereit für unsere Prozession?« Zwei jugendliche Messdiener schleppten das große Holzkreuz, unter dem der Geistliche der Gemeinde sogleich voranschritt. Dazu stimmte er »Der Heiland ist erstanden« an, schwenkte das Weihrauchfass, und schon hallte das Halleluja seiner Schäfchen über die Straßen von Waidreut. Hinter ihm hielten die Jungen das Kruzifix empor, dahinter stöhnten Korbinian, Böch, Benno und Martha unter dem süßen Nepomuk. Sie stemmten ihn halb auf ihren Schultern, für alle gut sichtbar.

Neben ihnen hielt Barbara Helena an ihrer Rechten und Gwendolyn an der Linken. Zwei Dutzend Waidreuter folgten ihnen mit gesenkten Köpfen, die Hände gefaltet, viele beteiligten sich an dem weithin hörbaren Gesang. Der harzig-frische Weihrauch wehte über sie hinweg, mischte sich mit dem Duft der Wiesenblumen und Ackerböden, Birken und Fichten.

Am Ende der Siedlung tauchten vereinzelte Häuser und Höfe auf, die schon zu Kahlmühlen gehörten. Dort lag das Gasthaus »Zum Lochner«, in dem sie nach getaner Arbeit einkehren wollten, dahinter das Gebäude der Gendarmerie, aus der Ferne an dem Emailleschild zu erkennen, das in der Brise hin und her schwang. Barbara sang des Pfarrers »Das neue Morgenrot erglüht« aus voller Kehle mit. Die Sorge in ihren Augen konnte das jedoch nicht verbergen. Vielleicht sollte Korbinian sie beim nächsten Mal zu Hause lassen? Auch Gwendolyn würde vor Freude in die Luft springen, wenn er ihr gestattete daheimzubleiben. Anders Helena. Sie war gern auf diesen Ausflügen dabei, entdeckte immer wieder Neues. So auch jetzt: Sie löste sich von der Hand der Mutter und lief zu einer jungen Katze an den Straßenrand. Das dürre Tier richtete den Schwanz auf und strich dem Mädchen um die Beine. Helena streichelte sie hingebungsvoll, während die Prozession weiterzog. Barbara und Gwendolyn hielten Schritt mit den anderen, Helena blieb zurück. »Jetzt komm!«, rief Barbara über die Schulter, doch ihre mahnenden Worte verschmolzen ungehört mit dem Gesang.

Der Weg führte bergan, eine der steileren Anhöhen in diesem Gebiet hinauf. Links und rechts wechselten sich Schluchten, Wälder und Wiesen ab.

Erst auf Höhe der Gendarmerie holte Helena sie wieder ein, ein tanzendes Bündel Lebensfreude in Korbinians äußerstem Sichtfeld. Sie lief auf flinken Füßen, der schwere Saum des Rockes schlenkerte um ihre Waden. In der nächsten Sekunde trat sie darauf und fiel der Länge nach zu Boden. Die Naht riss. Gelbe Päckchen verteilten sich auf dem Weg. Gleich mehrere brachen auf, der kristallene Inhalt rieselte heraus, stob im leichten Wind auf. Der Gesang erstarb abrupt. Einige, die das Unglück nicht mitbekommen hatten, stiegen ihren Vorgängern in die Hacken. Eine helle Kinderstimme erhob sich, und jedes Brummeln, jedes »Pass doch auf!« verstummte, als das Mädchen im grünen Rock und mit der mittlerweile erloschenen Kerze in der Hand rief: »Mama, schau, jetzt schneit’s doch noch mal!«

Den Dienst so kurzfristig an einem Ostermontag anzutreten war nicht das, was sich Alfons Hartler vorgestellt hatte, als man ihm vor einem Monat mitgeteilt hatte, dass er auf eigenen Wunsch von Passau nach Waidreut versetzt werden würde. Er hatte dringend um einen neuen Bezirk gebeten, Hauptgrund dafür waren die außerehelichen Affären seiner zwanzig Jahre jüngeren Frau Anna, über die man sich in der ganzen Stadt das Maul zerriss. Vielleicht kam sie in diesem abgelegenen Ort zur Ruhe mit ihren bald dreißig. Vielleicht konnte sie ihm endlich das Zuhause schenken, das er sich seit dem Tod seiner ersten Frau vor vier Jahren und der Auswanderung der Kinder nach Amerika sehnlich wünschte. Hatte er nicht ihr zuliebe auf das Trinken verzichtet, das ihn zuletzt fest im Griff gehalten hatte? Jetzt war es an der Zeit, dass sie ihm dafür etwas zurückgab.

Geplant gewesen war die Einweisung in seinen neuen Dienst für kommende Woche. Aber Werner Fallgruber hatte am gestrigen Ostersonntag in aller Früh auf Alfons’ Dienststelle in Passau angerufen und mit derart belegter Stimme sein Leid geklagt, dass Alfons erst einen Defekt in der Leitung vermutet hatte. »Ich weiß, dass Sie es nicht müssten, Hartler, aber bitte kommen Sie früher. Ich liege mit Fieber und komme partout nicht auf die Beine! Gott sei Dank hat meine Schwester mir ein Bett in ihrem Haus bezogen und kann mich pflegen. Doch jemand muss auf dem Posten sein. Und wenn es nur dafür ist, dass sich niemand darüber beschwert, dass keiner da ist. Also, können Sie es einrichten?«

Alfons hatte gegrummelt, Anna würde auf die Schnelle nicht mit umziehen, er würde die Tage allein in der Dienstwohnung über der Wache verbringen müssen. Aber seiner Pflicht würde er nachkommen, da brauchte sich der Kollege Fallgruber keine Sorgen machen.

Es gab einen Assistenten, Bert Borchert, einen Polizeianwärter, der den Schreibkram erledigte und dem diensthabenden Gendarm in allen Belangen zur Seite stand. Aber der war über Ostern bei seiner Familie in Südtirol und wurde erst Mitte der Woche zurückerwartet.

Alfons schaute sich in der karg eingerichteten Wache um: ein verschrammter Holzschreibtisch, auf dem eine Schreibmaschine, ein Stifthalter, ein Stempelrondell, Feder und Tintenfass und hölzerne Ablagekästen standen, zwei Stühle, ein Tresen, ein Regal mit einigen wenigen verloren wirkenden Aktenordnern. Entweder hatten Fallgruber und sein Gehilfe die Bürger gut im Griff – oder sie waren Schlafmützen, denen die Leute auf der Nase herumtanzten. Alfons nahm sich vor, durchzugreifen und sich Respekt zu verschaffen.

Er streckte sich. Die Uniform musste er dringend erneuern, Hemd und Jacke waren ihm deutlich zu kurz an den Armen, die Hose endete eine Handbreit über den Knöcheln. Es war schwer, ein passendes Modell für seine lange Gestalt zu finden. Immer korrekt saß hingegen der breite Ledergürtel mit Knüppel, Taschenlampe, Handschellen und Waffenholster. Den Stock hatte Alfons schon geschwungen, wenn ihm ein Betrunkener auf der Passauer Maidult blöd gekommen war. Die Schusswaffe hatte er noch nie abfeuern müssen, aber sie verlieh ihm das beruhigende Gefühl, in jeder Situation die Kontrolle behalten zu können. Er setzte sich an den Schreibtisch und begann sich durch die Ablage der Vorkommnisse zu arbeiten, die Fallgruber zuletzt beschäftigt hatten. Ein gewisser Bauer Leidinger hatte Anzeige erstattet, weil der Nachbar die Kühe heimlich auf seiner Wiese weiden ließ. Kaufmann Grimmer hatte einen jungen Ladendieb auf die Wache gezerrt, der Apotheker beschwerte sich über … Hartler sah auf, als von draußen Gesang ertönte. Eine religiöse Prozession? Sie schien direkt zur Grenze zu wandern. Wie schön, ein kirchlicher Festumzug zwischen den Ländern! Alfons mochte es, wenn sich die Völker verständigten und gemeinsam feierten, statt gegeneinander in den Krieg zu ziehen. Es gab genug Elend in der Welt.

Im nächsten Augenblick drang eine helle Mädchenstimme herein, und Alfons horchte auf. Schnee? Jetzt noch? Und so plötzlich? Durch die Fenster schien doch die Sonne. Alfons erhob sich und schob die Gardine beiseite. Draußen schwirrte der Pfarrer wie ein Vogel mit seinen Schwingen, ganz außer sich. Dahinter setzten fromme Leute eine Figur des Heiligen Nepomuk mit aller gebotenen Vorsicht ab und eilten zu einem Gewimmel von Gläubigen um ein zweites, am Boden liegendes Mädchen. Es musste ausgerutscht sein. Etwas Weißes wehte um sie herum. Aber wie Schnee sah es nicht aus, eher war es Mehl oder Zucker oder … Der lederne Gürtel knarzte, als Alfons sich vorbeugte und die Augen zusammenkniff. Die gelben Tüten auf dem Weg. Und da fielen der kleinen Kröte weitere aus dem Kleid. Saccharin! Seit die Schweiz sich mit der Süßstoff-Produktion hervortat, florierte der Schleichhandel damit. Hier hatten ein paar schräge Gesellen offenbar eine besonders perfide Art des Schmuggels im Sinn. Sie hatten sich unter die gutgläubigen Katholiken gemischt, um ihre schändliche Ware über die Grenze nach Böhmen zu bringen! Aber diese Tour würde Alfons ihnen vermasseln.

Er eilte um den Tresen und riss die Tür auf. Schnell trat er auf den Weg. »He, ihr da!«, rief er dem Mädchen und dem Mann zu, der ihr soeben auf die Beine half. Der Pfarrer zerrte sich den gestärkten Kragen vom Hals, weil er offenbar unter Luftmangel litt. Kein Wunder, wenn er so gotteslästerlich hintergangen wurde! Die Gläubigen liefen durcheinander wie die Ameisen, plapperten aufgeregt miteinander. Nicht leicht, sich da einen Überblick zu verschaffen. Wer gehörte hier wahrhaft zur Prozession, wer hatte sich dazugeschlichen? Alfons schob sich nach vorn und stand plötzlich dem Nepomuk gegenüber. Lebensgroß schaute der Heilige ihn an, sein Blick durchdringend. Alfons verneigte und bekreuzigte sich schnell, um ihm die Ehre zu erbringen, die ihm gebührte. Als er aufsah, war das Mädchen auf den Beinen und lief, gestützt von dem Mann, davon. Nein, jetzt warf der Kerl sie sich kurzerhand über die Schulter und rannte los. Weitere Menschen verteilten sich in alle Richtungen. Aus dem voluminösen Faltenrock einer Frau löste sich ebenfalls ein gelbes Paket, klatschte auf den Boden und offenbarte seinen Inhalt. Klein und schmächtig, wie sie war, würde Alfons sie am ehesten erwischen, auch wenn sie sich jetzt mit einem anderen Mädchen aus dem Staub zu machen gedachte. Im Vorbeilaufen nickte er dem Pfarrer zu: »Auf mich können Sie sich verlassen, Hochwürden!«

»Wieso?«, krächzte der Geistliche. »Wie … was … wer sind Sie?«

Die Vorstellung musste warten, Alfons setzte zur Verfolgung an. »Bringen Sie Ihre Prozession zu Ende, Hochwürden, ich kümmere mich um das Pack!«

Hatte man sie hereingelegt, um ans Saccharin zu gelangen? Böch hatte doch versichert, dass die Gendarmerie auf ihrer Seite war. Und sah der baumlange Mann, der sich seinen Weg bahnte, nicht aus, wie eigens für ein Schauspiel in die viel zu kleine Uniform gesteckt? Das orangerote Haar brannte wie ein Glorienschein, der entschlossene Blick gab den Ausschlag: Es handelte sich wohl tatsächlich um einen Mann des Gesetzes! Die aufgeregten Stimmen ringsum bestätigten es. Korbinian versuchte, sich zu orientieren. Da lag seine Tochter mit ihrem schwer bepackten Kleid, der Blumenkranz im Straßendreck.

»Steh auf, Helena, schnell!« Sosehr Martha sich immer wieder über die Schwester aufregte, jetzt war die Angst in ihrer Stimme nicht zu überhören. Sie kämpfte sich vor, aber Benno zog sie an der Hand fort. Guter Junge!

»Wir müssen fliehen!«, sagte Barbara. In ihren Augen standen Tränen, ihr Atem ging keuchend. Sie hielt die leichenblasse Gwendolyn an der Hand.

»Lauft!«, ächzte Korbinian, beugte sich zu Helena hinab und half ihr auf. Sie taumelten ein paar Schritte, dann bückte er sich, umfasste ihre Hüften und warf sie sich über die Schulter. Er überzeugte sich, dass alle genau das Richtige taten: Sie flüchteten in verschiedene Richtungen. Auch andere Teilnehmer der Prozession nahmen die Beine in die Hand, vermutlich diejenigen, die selbst ein paar Pfund drüben in Böhmen versilbern wollten. Die übrigen blieben, und in Korbinians Rücken lamentierte der Pfarrer: »Was für ein Unglück, ach, was für ein Unglück! Der heilige Nepomuk stehe uns bei!«

»Lass mich runter, Papa!« Korbinian setzte Helena nach einigen hundert Metern im Schutz der Häuser Waidreuts ab und legte den Zeigefinger an den Mund. Gemeinsam lauschten sie. Kraftvoll hämmerte Korbinians Herz gegen seine Rippen, während er um Luft rang. Die erste Erleichterung darüber, dass der Polizist ihnen nicht auf den Fersen war, wich der Frage, ob er wirklich aufgegeben hatte. Oder verfolgte er jemand anderen aus der Familie? Instinktiv hatte Korbinian den Weg ins Tal gewählt. Aber was war mit Barbara und Gwendolyn? Wohin waren Benno und Martha gelaufen?

Er rang mit sich. Der Gendarm hatte ihn nur von hinten gesehen. Konnte er unverfänglich wieder hinaufgehen, angeblich angelockt vom Tumult? Konnte er …?

Ein ferner Schuss brachte den Gedanken zum Schweigen.

Korbinian zuckte zusammen.

Ein zweiter Schuss.

»Papa?« Helena grub die Finger in seinen Arm. Den Schmerz spürte er nicht. Ein Zittern lief durch seinen Körper, seine Knie drohten nachzugeben. Er musste sich an der Wand des Hauses abstützen, hinter dem sie sich verbargen. Erst dann konnte er um die Ecke zur Anhöhe lugen. Dort setzte sich die Prozession in Gang, als wäre nichts geschehen. Andere Männer hatten sich gefunden, die den Nepomuk hochwuchteten. Die Waidreuter fingen sogar wieder an zu singen, als wollten sie den Tod übertönen, der sie auf einmal fast greifbar umgab.

»Komm, Helena.« Er zog seine Tochter hinter sich her, den Berg hinauf und links in die Wälder, wohin er Barbara zuletzt mit Gwendolyn hatte laufen sehen. Er schrak zusammen, als Benno und Martha aus einem Gebüsch traten, nahm beide wortlos in die Arme.

»Wir müssen Mutter und Gwendolyn finden«, drängte Martha und schloss sich ihm und Helena mit Benno an, als sie nun, sich immer wieder hinter Bäumen versteckend, weiterschlichen. Korbinian hielt die Nase in die Luft, die den Gestank nach Schwarzpulver mit sich trug.

Da war Gwendolyn! Allein. Er ließ jede Vorsicht fahren, stürzte auf sie und den steinigen Abgrund zu, an dem sie hockte, die Arme um die Knie geschlungen. Summend wiegte sie sich hin und her. Sie reagierte nicht, als er ihren Namen rief, schaute starr an ihm vorbei. Jetzt waren Martha und Helena an ihrer Seite. Sie zogen die Schwester in die Höhe, doch sämtliche Kraft schien ihr aus den Beinen zu fließen. Sie sackte in sich zusammen, während sie die Augen nicht von der Schlucht abwandte. Korbinian trat näher. Benno hielt ihn, als er wie ein gefällter Baum in die Tiefe zu stürzen drohte.

Etwa fünf Meter unter ihnen lag Barbara auf den Felsen. Ihr Blick war gebrochen, aus einer Schädelwunde lief das Blut auf den Stein. Auf ihrer Brust funkelte das Medaillon, das Korbinian ihr einst geschenkt hatte.

Schreie dröhnten in seinen Ohren. Martha und Helena. Sie hatten ebenfalls hinabgeschaut, taumelten zurück. Er hingegen konnte nicht wegsehen. Seine Donaunixe, umspült vom kalten Wasser des Bachs.

»Was ist passiert, Gwendolyn?« Seine Stimme klang in seinen Ohren nach einem Fremden. Er wandte sich der Tochter zu, sah ihre leeren Augen, das leichenblasse Gesicht. Vorsichtig umfasste er ihre Schultern, stierte sie an, schüttelte sie leicht, damit sie sich aus ihrer Schockstarre löste.

Endlich bewegte sie die Lippen. »Wir … wir sind gelaufen, immer schneller, und dann war da auf einmal der Abgrund.«

»War der Gendarm hinter euch?«

»Zuerst ja. Da waren so viele, die geflohen sind. Er hat einen Jungen gepackt, aber der hat sich losgemacht, und er ist ihm nach. Dann fiel ein Schuss … und noch einer und Mutter ist …« Schluchzend und am ganzen Körper zitternd brach sie ab.

Neben dem Entsetzen über Barbaras Tod loderte ein unbändiger Hass in Korbinian auf. Hass auf diesen Mann, der ihm das Liebste genommen hatte. Denn schuld war er, so oder so.

»Vielleicht … vielleicht lebt sie noch?«, drang Gwendolyns erstickte Stimme zu ihm.

Er schüttelte den Kopf. Zu mehr reichte es in seiner Not nicht. Selbst diese winzige Bewegung zerbrach ihn in tausend Stücke. Benno neben ihm atmete schwer, er drückte seine Schulter. »Dort drüben geht es hinab. Ich hole den Fuhrwagen, dann können wir sie nach Hause schaffen. Der Gendarm wird sicher nicht hierherkommen.«

»Das soll er wagen.« Korbinian ballte die Fäuste so fest, dass seine Unterarme brannten.

»Er war allein. Der hat mit den Leuten zu tun, denen er nach ist.«

Korbinian setzte sich hin. »Ich werde Wache halten.«

Benno eilte im Laufschritt davon. Die drei Mädchen ließen sich schweigend neben ihrem Vater nieder.

TEIL 1

Oktober 1908, Bayerischer Wald bei Deggendorf

Verlust und Liebe

1

Ornbach

Alexander Wallendorf blickte aus dem Fenster der Kutsche auf die mit ihren Handwagen vorbeiziehenden Bauern. Nach dem heutigen Markttag war die Straße vor dem Deggendorfer Bahnhof von den Menschen verstopft, die auf ihre Höfe zurückkehrten. Die Rückengestelle der Bäuerinnen waren am Morgen vermutlich schwer bepackt gewesen, jetzt trugen die Frauen ebenso leicht daran wie an dem Lächeln auf ihren Gesichtern. Sie hatten sicher ordentlich Geld eingestrichen. Auch die restliche Ware auf den Ladeflächen der von den Männern geführten Handkarren war überschaubar. Ein paar Äpfel kullerten umher, Kartoffeln, Kürbisse, Kohl – Früchte und Gemüse, die das ertragreiche Donautal seinen Bewohnern im Spätsommer schenkte. Zwischen den Bauern mit ihren Holzwagen tuckerten einige Automobile, hupten, wenn sie nicht vorankamen. Die neumodischen Fahrzeuge prägten das Straßenbild immer mehr, obwohl sich nur die besser gestellten Bürger die Anschaffung leisten konnten. Während des Studiums hatte sich Alexander manchmal von einem Kommilitonen chauffieren lassen, dessen Eltern ihn großzügiger ausstatteten als seine, und sich angeschaut, wie man einen Mercedes bediente. Vielleicht würde er seinen alten Herrn jetzt, da er wieder daheim war, überreden können, sich ein motorisiertes Fahrzeug zuzulegen. Es widerstrebte ihm zwar, bei solchen Fragen auf das Wohlwollen des Vaters angewiesen zu sein, aber noch lagen die Dinge so, dass Leopold Wallendorf das Sagen hatte.

Kutscher Josef knallte mit der Peitsche, die Pferde zogen kräftiger an, das Bahnhofsgebäude mit seinem Flachsattelbau blieb hinter ihnen zurück. Alexander lehnte sich gegen die gepolsterte Kutschwand, während sie Deggendorf Richtung Donauhafen verließen. Am Morgen war er noch in Leipzig gewesen, einer richtigen Stadt im Vergleich zu den beschaulichen Orten hier im Bayernwald. Dennoch war er froh, nach der Handelsbetriebslehre wieder zu Hause zu sein. Nein. Er freute sich, in die Heimat zu kommen, das war ein Unterschied.

Seine Rückkehr war für den Sommer geplant gewesen, hatte sich aber verzögert, weil er die Abschlussprüfung beim ersten Versuch in den Sand gesetzt hatte. Erst beim zweiten Mal hatten ihm die Prüfer die Urkunde überreicht, begleitet von mahnenden Worten zu seiner Arbeitseinstellung. Lisa, die Schankmagd im Auerbachs Keller, die sich in ihn verliebt hatte wie die Margarete in den Faust, hatte ihm wohl zu sehr die Zeit versüßt. Von ihr wussten seine Eltern natürlich nichts, die Liebelei war ohnehin Geschichte. Von seinem Versagen im ersten Anlauf hätten sie besser auch nichts erfahren, aber wie hätte er ihnen das verheimlichen sollen? Immerhin konnte er sicher sein, dass es ein Familiengeheimnis bleiben würde. Die Mauern aus Standesdünkel und Ansprüchen um die Wallendorfs waren so massiv wie die von Gut Theresienberg. Nichts drang nach außen, was dem sorgsam arrangierten Bild schaden könnte.

Alexander rieb sich den schmerzenden Rücken, während sie die Stelle passierten, an der die Isar in die Donau mündete. Die Fahrt mit dem Zug von Leipzig nach Deggendorf war weit komfortabler gewesen als der Rest des Weges mit der Kutsche. Sein Vater forderte seit vielen Jahren eine Nebenbahn von Deggendorf in Richtung Ornbach – oder besser: direkt zu seiner Fabrik. Aber es gab nicht genügend Mitstreiter, die ein solches Vorhaben unterstützten, und so mühte sich die Droschke die Straße durch den Wald hinauf zu den Feldern rund um Ornbach.

Die Baumreihen lichteten sich. Alexander rutschte zur Fensterscheibe und lugte in der nächsten Kurve nach vorn auf den Höhenzug. Eichen erhoben sich inmitten der Äcker, in ihrem Schatten ein paar Büsche und Gehölz, Schutz für Hasen und Mäuse vor den am Himmel kreisenden Bussarden. Dort drüben hatte er als Kind um diese Jahreszeit ein verletztes Kitz in einem Weizenfeld aufgehoben, das Herz hatte unter dem gepunkteten Fell heftiger geschlagen als sein eigenes. In seiner Erinnerung hörte er den hellen, durchdringenden Ruf nach dem Muttertier, ein Geräusch wie von einer Katze. Heute leuchteten nur wenige Felder im satten Korngelb. Der Großteil der Flächen lag zerwühlt, an den Rändern Berge der Schätze, die sie hervorgebracht hatten.

Zuckerrüben.

Der Kutscher lenkte sein Gefährt durch den steilen Ort, vorbei am Postamt, dem Rathaus, dem Gasthof, der Kirche, an der Schule, die Alexander nur ein Jahr besucht hatte. Seine Eltern hatten einen Hauslehrer eingestellt, der mehr aus ihrem Sohn hatte machen sollen als einen Bauern oder Schreiner. Die Freundschaft zu Vinzenz und Florian, denen er in diesem einen Schuljahr begegnet war, hatte das allerdings nicht beendet. Früher waren sie eine Bande aus fünf Kerlen gewesen, doch die anderen beiden, Söhne von Tagelöhnern ohne Zukunft, suchten ihr Glück in Amerika, wie so viele. Der Industriellensohn und die Arbeiterjungen – seine Eltern hatten das immer verhindern wollen. Aber in den höheren Kreisen, in denen die Wallendorfs Bekanntschaften gutgeheißen hätten, hatte Alexander sich nie wohlgefühlt.

Er hatte Vinzenz geschrieben, seinem engsten Vertrauten und der Erste von ihnen, der dem Junggesellendasein den Rücken gekehrt hatte. An die Kette gelegt hatte seine Kathi ihn nicht, zumindest was den Spaß mit Freunden anging. Aber ob das Schreiben ihn rechtzeitig erreicht hatte? Insgeheim hoffte Alexander, dass Vinzenz und Florian ihn willkommen hießen. Die Kutsche rollte die Einfahrt zum Gut hoch, unter dem steinernen Bogen hindurch in den Hof und dort eine Runde über den Kies, damit die Bediensteten Zeit hatten, nach draußen zu stürzen.

So lange wollte Alexander nicht warten. Er klopfte gegen das Kabinendach. »Halt an, Josef!« Er öffnete die Tür, kaum dass die Droschke stand, streckte den Kopf heraus, blinzelte in die Abendsonne. Eine Brise trug die Süße später Rosen aus dem Garten mit sich, mischte sie mit dem erdigen Duft des Oktobers und dem der Ställe. Über allem lag das ureigene Aroma nach Melasse aus der Fabrik, das Alexander wie nichts anderes mit seiner Heimat verband. Rauchfahnen waberten aus den Schloten hinter dem Gutshof. Wegen dieses Geruchs nächtigte sein Vater ab Beginn der Produktionskampagne stets bei offenem Fenster. Selbst im November oder Dezember blieb es dabei, auch wenn der Teich am Anwesen dick mit Eis bepackt war und Alexanders Mutter Annegret in ein eigenes Zimmer flüchtete, weil sie so fror. Leopold Wallendorf behauptete, selbst im Schlaf riechen zu können, sollte etwas in dem Prozess nicht stimmen, bei dem aus Rüben weißes Gold in Form von Kristallzucker hergestellt wurde.

»Alexander!«

Annegret Wallendorf erschien an der Pforte des Haupthauses. Als sie den Saum ihres hochgeschlossenen Kleids hob, um auf ihn zuzulaufen, kamen flache Lederstiefel zum Vorschein. Er hatte seine Mutter nie in Schuhwerk mit Absätzen gesehen, sie überragte die meisten Menschen ohnehin. Auch jetzt, als sie vor ihm stand, musste selbst er, groß wie er war, nicht zu ihr hinabschauen. Wieder einmal wurde ihm bewusst, von wem er das ungewöhnlich helle Blau seiner Augen und das Haselnussbraun seiner Haare hatte. Als kleiner Junge hatte er sich vor anderen Leuten hinter ihrem Rock verborgen. Diese Schüchternheit hatte er abgelegt. Ablegen müssen. Der Vater wollte keinen Schwächling als Sohn. Er sollte seiner Stellung in der Gesellschaft gerecht werden.

Der Loyalität, die seine Mutter dem Vater in diesen Dingen entgegenbrachte, stand Alexander zwiespältig gegenüber. Einerseits hatte es ihm als Kind Sicherheit gegeben, dass die Eltern zusammenhielten. Andererseits hätte er sich ihre Unterstützung gewünscht, wenn der Vater ihn am Arm gepackt hatte, um ihn zu züchtigen. Ein zerbrochenes Glas, ein unbedachtes Bauernwort. Alexander hatte den Schmerz in ihrer Miene gesehen, wenn das ordentliche Sitzen am Tisch ihm in den Tagen danach Tränen in die Augen getrieben hatte. Trotzdem hatte sie nicht gegen die Ansichten ihres Mannes zur Erziehung aufbegehrt.

»Mein Junge, wie schön, dass du da bist!« Sie umarmte ihn, küsste ihn links, rechts, links auf die Wangen. »Wie war die Fahrt?«

Alexander verzog das Gesicht. »Ich bin froh, dass sie vorüber ist.«

»Die Strapazen sieht man dir nicht an. Du siehst gut aus.« Sie lächelte. »Bist du erleichtert, dass du das Kapitel Leipzig nun abgeschlossen hast?«

»Das nächste wird nicht lange auf sich warten lassen.«

Annegret gab ein Lachen von sich, wurde aber gleich wieder ernst. »Ja, dein Vater hat Pläne. Wie immer. Und Hoffnungen.«

Das war keine große Überraschung. Inwiefern diese Pläne Alexanders eigenen Vorstellungen entsprachen, musste sich zeigen, und die Hoffnungen stellten sich nur allzu oft als Erwartungen heraus. Aber wie sich seine Zukunft gestalten würde, darüber mochte er an diesem Tag nicht nachdenken.

Eine Bedienstete lief heran, einen Strauß Rosen in den Händen, den sie Alexanders Mutter präsentierte. Annegret begutachtete das Gebinde, zupfte an ihm herum und entfernte einige geknickte Blätter. Dann nickte sie dem Mädchen zu, das daraufhin ins Haus eilte.

»Ihr erwartet Gäste?«, schloss er.

»Dein Vater hat wichtige Leute zum Abendessen eingeladen.« Seine Mutter ging ihm voran.

»Dann muss ich mich entschuldigen.« Er unterdrückte den Impuls, die Krawatte zu lockern. »Die Reise war anstrengend, ich möchte die Koffer auspacken. Ich brauche ein bisschen Zeit zum Ankommen, bevor ich mir eine Gesellschaft antun kann.«

»Ausruhen kannst du dich im Alter, Alexander.« Sie lächelte über die Schulter. »Es ist wichtig, dass du dabei bist. Enttäusche uns bitte nicht. Deine Garderobe liegt schon bereit. Aber geh erst Vater begrüßen. Er erwartet dich in der Bibliothek.« Sie stieg die steinernen Stufen hoch.

Er blieb stehen, die Wärme in seinem Rücken schwand, als sich eine Wolke vor die Sonne schob und die Kälte des Windes ihn traf. Der Geruch der Fabrik wurde stärker.

»Verzeihung.« Kutscher Josef hatte einen Burschen herangerufen, mit dem er die Koffer hinauftrug. Alexander ließ die beiden vorbei und folgte ihnen durch die schwere Holztür mit dem von einem Steinmetz gestalteten Wappen der Familie.

Ein Kronleuchter erhellte das Foyer mit den holzgetäfelten Wänden, der vertraute Geruch nach Eichenholz und Essigreiniger empfing ihn. Aus der Küche drangen Topfklappern und der Duft von gekochtem Gemüse, in der oberen Etage polterten Josef und der Bursche mit seinem Gepäck. Alexander sehnte sich danach, sich auf dem Bett auszustrecken und für ein paar Stunden die Augen zu schließen. Auf der Fahrt hierher hatte er nicht die Ruhe dazu gefunden. Aber gut, er würde nicht am ersten Tag einen Streit mit den Eltern heraufbeschwören, sondern sich an das halten, was sie vorbereitet hatten. Es sei denn, seine Freunde ließen sich blicken! Mit Vinzenz und Florian würde er seine Schläfrigkeit im Handumdrehen überwinden.

Er wandte sich nach links, lief durch den Salon bis vor eine zweiflügelige Tür. Dort blieb er stehen, nahm einen tiefen Atemzug, bevor er klopfte und nach kurzer Aufforderung eintrat.

Leopold Wallendorf war von gedrungener Gestalt mit kräftigem Nacken und einem Backenbart. Das Monokel vor dem linken Auge wirkte zerbrechlich. Als könnte ein Stirnrunzeln die Silberfassung zerquetschen und das Glas zum Springen bringen. Er sah auf. »Willkommen, mein Sohn.« Er schob einige Papiere auf dem Tisch hin und her, nahm eins auf und kritzelte etwas mit seinem Füllfederhalter an den Rand.

»Guten Abend, Vater.«

»Schön, dich wieder zu Hause zu haben. Wir haben viel zu besprechen! Schau dir das hier an.« Er winkte ihn heran. Alexander ging um den Schreibtisch herum, nahm den Geruch nach Moos und Tabak wahr, der zu seinem Vater gehörte wie der von Melasse zur Fabrik, und hörte das leise Pfeifen bei jedem Atemzug in seiner Brust. Vor Alexanders innerem Auge blitzten die Bilder aus der Kindheit auf, wenn sein Vater nach der Rute gegriffen hatte. Ich mache das nicht gern, aber du weißt, dass du es verdient hast, nicht wahr, mein Sohn? Die Angst von damals steckte ihm an manchen Tagen noch in den Knochen, doch er kämpfte dagegen an. Er war ein erwachsener Mann, er würde sich nicht mehr einschüchtern lassen.

Mit den Fingerknöcheln klopfte der Senior auf die Blätter, Tabellen voller Namen und Zahlen. »Sechshundert Mann. Die Kampagne wird gewaltig.«

Die Zuckerrüben wurden im März und April gesät, Anfang September geerntet und bis weit in den Dezember hinein in der Fabrik verarbeitet. Rund um die Uhr. Eine Mammutaufgabe, den Nachschub zu jeder Zeit sicherzustellen, damit die Maschinen ohne Leerlauf arbeiten konnten. War der Verdampfungsvorgang einmal gestartet, durfte er nicht unterbrochen werden.

Alexander überflog die Zahlen. Über das Jahr kamen sie mit rund hundert Angestellten aus, in der letzten Saison hatten sie dreihundert zusätzliche Männer beschäftigt. Für diese Kampagne also die doppelte Menge. »Haben wir für eine solche Auslastung denn ausreichend Lieferanten?«

»Die Ernte war gut. Außerdem habe ich frühzeitig Verträge mit fränkischen Bauern geschlossen, bevor der Fürst sich die Rüben von dort unter den Nagel reißen konnte.«

Der Fürst – Albert von Thurn und Taxis, der mit seiner in Regensburg ansässigen Bayerischen Zucker AG den Markt dominierte, ihr härtester Konkurrent. Leopold Wallendorf musste unglaubliche Mengen an Rüben geordert haben, wenn er so viele Arbeiter einstellte. Die Ackerknollen aus Franken zu beziehen bedeutete, sie mit der Bahn herzuschaffen. In Deggendorf mussten sie umgeladen und dann auf Fuhrwerken nach Ornbach gekarrt werden. Hoffentlich hatte sein Vater sich bei den zusätzlichen Ausgaben nicht verkalkuliert. Aber wann war das schon geschehen? Nicht umsonst stand die Donau Zucker AG dort, wo sie jetzt war. Selbst im fernen Berlin kannte man ihren Namen und den der Familie.

Wallendorf, das bedeutete Zucker.

Ein anderes Papier erregte Alexanders Aufmerksamkeit. Neben Leopold Wallendorfs Parteibuch, das ihn als Mitglied der Nationalliberalen Partei Deutschland auswies, lag eine Zeichnung vom Ornbachtal mit der Fabrik. Auf der gegenüberliegenden Seite, als Verlängerung hinab bis ins Dorf, standen in einer langen Reihe Häuser, die es gar nicht gab. »Du planst eine Werkssiedlung?« Vor drei Jahren hatte er seinen Vater nach Augsburg begleitet, um dort das zur Spinnerei gehörende Kammgarnquartier zu besichtigen, ein Wohnviertel für die Werktätigen.

Leopold nickte. »Wir werden expandieren und können uns nicht länger nur auf Einheimische verlassen. Es werden Arbeiter mit ihren Familien herziehen, und die brauchen was zum Wohnen. Sie sollen sich hier wohlfühlen. Ein Zuhause haben.« Alexander betrachtete seinen alten Herrn verwundert von der Seite. Hatte er etwa seine soziale Ader entdeckt? Doch sogleich fügte der Senior an: »So leisten sie gute Arbeit.« Das klang schon eher nach ihm. Leopold Wallendorf hatte nicht nur als Vater eiserne Prinzipien. Von seinen Angestellten verlangte er Einsatz bis zur Selbstaufgabe. Niemals ging er Kompromisse ein, die der Produktivität im Wege standen.

»Wird dir der Gemeinderat bei diesem Vorhaben zustimmen?«, fragte Alexander.

»Das lass mal meine Sorge sein.« Er zwinkerte seinem Sohn zu, als hätte er gescherzt. Dann warf er einen Blick auf die Standuhr und beugte sich wieder über die Listen und Zahlen. »Es wird Zeit, die Gäste treffen jeden Moment ein.« Er lächelte, was sein Gesicht in tausend Falten zerspringen ließ. »Zeig dich von deiner besten Seite.«

»Aber immer doch, Vater.« Alexander erwiderte das Lächeln höflich. »Wer kommt eigentlich?«

Hinter Leopolds Monokel blitzte es. »Lass dich überraschen. Es wird ein für alle angenehmer Abend, versprochen.«

Derlei Andeutungen waren ungewöhnlich für seinen Vater. Er war ein Mann der klaren Worte, aber Alexander beließ es dabei und erinnerte sich an etwas, das ihm in Deggendorf eingefallen war. »Die Fahrt mit der Kutsche war übrigens wieder einmal eine Katastrophe.« Er drehte die Schultern, um anzudeuten, wie verspannt er war. »Hast du mal über die Anschaffung eines Automobils nachgedacht?«

Leopold stierte ihn an. »Ich bin zu alt, um das Lenken eines solchen Fahrzeugs noch zu erlernen. Josef braucht man mit derlei gar nicht erst zu kommen, und eigens einen Chauffeur für ein einziges Fahrzeug einzustellen, der die meiste Zeit nur Däumchen dreht, kommt gar nicht infrage.«

Es passte zu seiner Art, eine solche Überlegung nur auf sich zu beziehen.

»Ich bin jung genug.« Alexander lächelte, um seinen Worten die Schärfe zu nehmen. Mit einer fordernden Haltung kam er nicht weit. Er musste seinen Vater mit guten Argumenten überzeugen. »Außerdem kann ich dich fahren, wenn ich es erst einmal beherrsche, die Ausgaben für einen Chauffeur können wir also sparen. Wir könnten zu Beginn eines für uns erwerben. Wenn die Entwicklung so rasant weitergeht wie bisher, könnten wir später mit weiteren Fahrzeugen den Rübentransport unterstützen.«

Sein Vater winkte ab. »Pferdewagen sind gut genug, bis die Bahnstrecke irgendwann ausgebaut wird. Und ein Automobil für dich allein – nun«, jetzt erwiderte er das Lächeln, »beweise mir, dass du es verdienst. Dann werden wir sehen.« Damit wandte er sich wieder seinen Unterlagen zu.

Alexander verabschiedete sich mit einer angedeuteten Verbeugung. Kurz darauf atmete er in seinem alten Zimmer durch. Das Bett war frisch bezogen, in den Regalen standen seine Bücher, neben dem Kleiderschrank seine Koffer und ein Herrendiener, an dem eine gebügelte Hose, ein weißes Hemd, Kummerbund und Fliege hingen. Nebenan war ihm ein Büro eingerichtet worden. Er warf nur einen kurzen Blick hinein – ein Schreibtisch, halb so groß wie der seines Vaters, ein Bürostuhl, ein Aktenschrank, ein niedriger Tisch mit zwei Sesseln für Geschäftsgespräche. Ein Raum, der nichts mit ihm zu tun zu haben schien.

Gleich am Tag seiner Rückkehr ein offizielles Essen. Geschäftspartner, Gemeinderäte, wer auch immer. Das mochte vielleicht vergnüglich für seinen Vater sein, er selbst stellte sich besser auf todlangweilige Stunden ein. Er zog sich um und band die lästige Schleife, als vom Hof das Geklapper einer Kutsche die Ankunft der Gäste ankündigte.

Er verließ das Zimmer und stieg die Stufen hinab. Noch war niemand nach draußen geeilt, um die Eingetroffenen zu begrüßen. Mit Schwung öffnete Alexander die Tür – und stand einer jungen Frau im Dirndl gegenüber, feinster blauer Stoff, ein dazu passendes Collier. Die nachtschwarzen Haare trug sie kunstvoll zu einem Knoten geschlungen, zwei Strähnen umrahmten ein ebenmäßiges Gesicht. Das rechte Auge schien eine Spur größer zu sein als das linke, das sich unter einem leicht hängenden Lid versteckte. Überraschenderweise war es dieser Makel, der sie hübsch machte. Sie knickste und schürzte die Lippen beim Lächeln. »Grüß Gott.«

»Der junge Herr Wallendorf!« Erst jetzt bemerkte Alexander den Mann schräg hinter ihr. Der Vater? Wie Leopold Wallendorf war er gut genährt und verbarg es nicht. Er streckte den Bauch heraus, auf feisten Wangen saß eine Nickelbrille, und seine Glatze glänzte derart vom Schweiß, dass der Sonnenuntergang sich darin spiegelte. »Wie schön, Sie in Ihrem Elternhaus anzutreffen. Darf ich Ihnen meine Frau Edith und unsere Tochter Veronika vorstellen?« Neben dem Mann stand eine Dame mit faltigem Hals. Die Ähnlichkeit zwischen der Mutter und der Tochter war deutlich ausgeprägt, auch wenn sich ein grauer Schleier des Alters über Erstere gelegt hatte. Wer waren diese Leute?

»Entschuldigen Sie, mein Vater unterhält viele Kontakte, und sicher sind wir uns schon einmal begegnet. Die Schuld liegt bei mir, dass ich mir Ihren Namen nicht merken konnte.«

Eine Hand legte sich von hinten auf seine Schulter. Leopold Wallendorf schob sich neben seinen Sohn und breitete die Arme aus. »Walter Lanz, Textilfabrikant aus Deggendorf, nebst Gattin Edith. Wie schön, Sie hier zu haben. Und das Fräulein Veronika! Ausgezeichnet, dass Sie es einrichten konnten. Sie sehen bezaubernd aus! Findest du nicht auch, Alexander?«

Er deutete ein Nicken an. Die junge Frau war eine Attraktion. Aber was verband seine Eltern mit einem Textilfabrikanten und seiner Familie?

Während sich Leopold Wallendorf dem Ehepaar zuwandte, sie in Plaudereien verwickelte und durch das Foyer geleitete, trat die junge Frau an der Eingangstreppe auf ihn zu. »Ein wunderbares Anwesen haben Sie hier.« Sie sah sich um, die Aufforderung war offensichtlich. Alexander kam ihr gern nach. Jede Minute draußen war eine weniger auf dem Schlachtfeld aus Handel, Profit und Politik drinnen. Auf etwas anderes konnte dieses Treffen nicht hinauslaufen. Er bot ihr den Arm und führte sie die Stufen hinab.

»Ich zeige Ihnen gern alles, Fräulein Lanz.«

Vor dem Tor führte neben dem Weg ins Tal ein weiterer in großem Bogen um das Gutshaus und die Nebengebäude. Als sie außer Sichtweite des Haupthauses waren, stieß Veronika erleichtert die Luft aus. »Entschuldigen Sie, aber in Gegenwart meiner Eltern bin ich immer etwas angespannt.«

Er grinste über ihre Offenheit. »Ich kenne das. Und bitte, sagen Sie Alexander zu mir.«

»Veronika. Und jetzt zeigen Sie mir Gut Theresienberg, Alexander.«

Sie schritt schneller aus, betrachtete die Scheunen, die Unterkünfte der Bediensteten, den Fuhrpark mit den verschiedenen Kutschen und den Rosengarten, den Alexanders Mutter hatte anlegen lassen. »Sie haben keine englischen Sorten, nicht wahr? Die würden sich hier gut entwickeln.«

»Sie kennen sich aus?« Er schaute an ihr vorbei zur verlassenen Pferdewiese. Zu schade, dass Josef die Tiere schon in die Ställe gebracht hatte. Alexander hätte gern seinen Hengst Zeus begrüßt.

Veronika winkte ab. »Nur ein bisschen. Ich liebäugele mit dem Gedanken, mir einen Garten anzulegen, und wenn ich mir etwas vornehme, dann versuche ich, es perfekt zu machen.« Sie wies zu einer Ruhebank zwischen den Rabatten. »Da fehlt zum Beispiel ein Spalier«, sagte sie mit einem Lachen.

Alexander war der Garten seiner Mutter von Herzen egal, aber dass diese Veronika kein Blatt vor den Mund nahm, erstaunte und gefiel ihm gleichermaßen. Sie sprach aus, was ihr in den Sinn kam. Das konnte doch ein amüsanter Abend werden.

Am östlichen Ende des Anwesens breiteten sich die Produktionshallen, Vorratslager und Packhäuser der Zuckerfabrik aus, massive Steingebäude in u-Form mit Satteldächern. Mit Blick auf den sich aus den Türmen der Anlage kräuselnden Dampf hielt Veronika den Handrücken vor die Nase. »Daran muss man sich erst gewöhnen.«

»Das ist mir bis heute nicht gelungen«, gestand er.

»Sie werden in der Fabrik mitarbeiten?«

»So ist es geplant. Ich habe soeben die Lehre beendet, es wird sich zeigen, wie mein Vater und ich uns arrangieren.«

»Sie sind der einzige Sohn, nicht wahr? Dann gibt es zumindest keinen Ärger mit Mitstreitern.«

Alexander hob die Schultern. »So lasten aber auch sämtliche Erwartungen auf mir allein.« Er betrachtete Veronika und hatte das Gefühl, ihr gegenüber ebenso offen sein zu können wie sie es ihm gegenüber war. »Manchmal zweifle ich daran, alle Ansprüche zu erfüllen.«

»Mir als einziger Tochter müssen Sie das nicht sagen! Wir scheinen viel gemeinsam zu haben.« Sie lächelte ihn an. »Aber jetzt sollten wir unsere Eltern nicht zu lange auf uns warten lassen.«

Er deutete auf die andere Seite. »Wenn wir hierherum gehen, kommen wir an den Pferdeställen vorbei. Es ist kein großer Umweg um den Teich.«

»Nein, danke. Die Kutschfahrt hierher hat genügt, und wir müssen ja noch zurück. Wahrscheinlich stinkt mein Kleid morgen noch nach Gaul, und ich muss es zum Reinigen geben.«

Na schön, es würde sich sicher bald eine freie Stunde für die Tiere ergeben. Er bot ihr erneut den Arm und geleitete sie ins Haus.

Im Speisesaal schmückte der Rosenstrauß den Tisch zwischen den Efeugestecken, die Annegret für diesen Anlass im Ort in Auftrag gegeben haben musste. Die Vorsuppe wurde serviert, kaum dass Alexander Veronika den freien Stuhl neben seinem zurechtgerückt und sich selbst gesetzt hatte. Das Aroma von Gemüse, Sahne und Majoran stieg dampfend von den Tellern auf. »Habt ihr zwei ein bisschen die Zeit vergessen, hm?« Leopolds Augen blitzten, bevor er sich wieder seiner Suppe zuwandte.

Walter Lanz wirkte zufrieden und drückte kurz die Hand seiner Frau, während er Alexander und seine Tochter über den Rand seiner Nickelbrille hinweg betrachtete.

»Die Suppe duftet köstlich, verehrte Frau Wallendorf«, sagte Edith Lanz. »Ob es wohl möglich ist, von Ihrer Köchin das Rezept für unsere Küche mitzunehmen?«

»Aber natürlich! Und warten Sie, bis das Hühnchen in Weißwein serviert wird, meine Liebe! Ein Gedicht! Ich finde es immer wichtig, den Angestellten neue Impulse zu geben.«

»Bei uns ist das die Aufgabe unserer Tochter«, schaltete Walter Lanz sich ein. »Sie hat ein gutes Händchen im Umgang mit den Bediensteten, nicht wahr, Veronika-Schatz?«

»Man tut, was man kann.« Neben Alexander probierte Veronika mit gespitzten Lippen von der Suppe.

»Sie ist an so vielem interessiert«, nahm Edith Lanz den Faden auf. »Sie stickt wunderbar und hat ein Händchen für Dekoration. Und erst ihr Umgang mit Kindern!« Sie legte ihrem Mann vertraulich die Hand auf den Arm. »Weißt du noch, wie der achtjährige Sohn unserer Köchin gesagt hat, er würde sie vom Fleck weg heiraten?«

Sie lachten beide, das Ehepaar Wallendorf stimmte ein. Veronikas Miene war unergründlich, und Alexander fragte sich, was hier vor sich ging.