Kasino - Martina Sahler - E-Book

Kasino E-Book

Sahler, Martina

0,0
14,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

1848. Claire hat es geschafft, sie lebt endlich ihren Traum: Croupière im berühmten Kasino von Baden-Baden. Alles scheint perfekt, bis Edouard Bénazet, der nach dem Tod seines Vaters die Geschäfte der Spielbank übernommen hat, eine neue Frau an seiner Seite präsentiert. Es ist die attraktive junge Sophie, die mit ihrer Schwester Viktoria nach dem Tod des Vaters auf der Suche nach neuen Glück nach Baden-Baden kam. Sie sieht in Claire eine Konkurrenz, die sie loswerden muss, je schneller, desto besser. Doch Claire lässt sich nicht ins Handwerk pfuschen ...

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 494

Veröffentlichungsjahr: 2025

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhalt

 

CoverÜber das BuchÜber die AutorinTitelImpressumVerzeichnis der Figuren123456789101112131415161718192021222324Nachwort und Dank

Über das Buch

 

1848. Claire hat es geschafft, sie lebt endlich ihren Traum: Croupière im berühmten Kasino von Baden-Baden. Alles scheint perfekt, bis Edouard Bénazet, der nach dem Tod seines Vaters die Geschäfte der Spielbank übernommen hat, eine neue Frau an seiner Seite präsentiert. Es ist die attraktive junge Sophie, die mit ihrer Schwester Viktoria nach dem Tod des Vaters auf der Suche nach neuen Glück nach Baden-Baden kam. Sie sieht in Claire eine Konkurrenz, die sie loswerden muss, je schneller, desto besser. Doch Claire lässt sich nicht ins Handwerk pfuschen …

Über die Autoren

 

Martina Sahler und Heiko Wolz haben als Duo zahlreiche erfolgreiche Jugendbücher veröffentlicht. Für ihren historischen Roman WEISSE NÄCHTE, WEITES LAND wurde Martina Sahler mit dem HOMER LITERATURPREIS in Silber ausgezeichnet, Heiko Wolz erhielt unter anderem das Literaturstipendium des Freistaats Bayern.

Martina Sahler und Heiko Wolz

KASINO

Neues Spiel, neues Glück

Roman

Vollständige eBook-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

  

Dieses Werk wurde vermittelt durch die

Michael Meller Literary Agency GmbH, München.

  

Copyright © by Martina Sahler und Heiko Wolz

  

Copyright © 2025 by

Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6–20, 51063 Köln, Deutschland

  

Vervielfältigungen dieses Werkes für das Text- und Data-Mining bleiben

vorbehalten. Die Verwendung des Werkes oder Teilen davon zum

Training künstlicher Intelligenz-Technologien oder -Systeme ist untersagt.

  

Textredaktion: Anna Hahn, Trier

Umschlaggestaltung: Johannes Wiebel | punchdesign, München

Umschlagmotiv: © dlyastokiv – stock.adobe.com; Sakedon smotrivnebo –

stock.adobe.com; SG – design – stock.adobe.com

eBook-Produktion: Dörlemann Satz, Lemförde

  

ISBN 978-3-7517-7515-1

luebbe.de

lesejury.de

Verzeichnis der Figuren

(reale Charaktere sind mit * gekennzeichnet)

Neu in Baden-Baden

Viktoria Winter, 36, Professorentochter und Privatlehrerin mit Vergangenheit in Baden-Baden

Sophie Winter, 24, Viktorias eigensinnige jüngere Schwester

Isolde Winter, 69, die schwerhörige Tante der beiden

Im Kasino

Claire Engel, einzige Croupière in Baden-Baden

Edouard Bénazet*, ab 1848 Leiter der Spielbank

Suzanne Bénazet*, seine Mutter

Karl Lindemann, Assistent der Geschäftsführung

Theo Vlissing, Sicherheitsbeauftragter

Frederic Culot, oberster Croupier mit zweifelhaftem Ehrgefühl

Yves Heger, ebenfalls Croupier

Claude Duchamp, neu eingestellter Croupier unter Claires Anleitung

Estelle Rosenberg, Garderobiere mit losem Mundwerk

Odette Friedländer, Estelles Hilfe an der Garderobe

Hercule, Barmann

Im Grandhotel am Park

Martin Salbach, Direktor des Hotels

Albrecht Salbach, 16, sein Sohn

Jules Fournier, von den Gästen sehr geschätzter Concierge

Ludwig, Portier

Gäste in Baden-Baden

Willem de Jong, Gewürzhändler aus den Niederlanden

Anton Cuminer, Koch, und seine Frau Marie aus Landsberg am Lech

Irina und Wolfram von Bergfels, Grafenpaar aus Gernsbach

Nikolai Grigorjewitsch Orlowski, russischer Kulturfreund mit seinen Anhängern

u.v.a.

Sonstige Personen

Beate Leberecht, Theo Vlissings Schwester und Gattin des Badearztes Dr. Günther Leberecht

Friedrich Leberecht, neuer Arzt in der Stadt und Günthers Neffe

Madame Celeste, Wahrsagerin, und ihr Enkel Etienne

Hagen Götzendorfer, Revolutionär mit radikalen Absichten, mit seinen Gleichgesinnten Simon Becker, Julius Haberland u.a.

Valentin Jagendorf, Polizist, der mit der Aufklärung eines überraschenden Fundes beauftragt wird

1

Baden-Baden, Anfang März 1848

»Huhu! Ist hier jemand?«

»Sei nicht albern.« Viktoria Winter sah sich nicht weniger interessiert in der Villa an der Lichtentaler Allee um als ihre Schwester Sophie. Doch es wäre ihr nicht eingefallen, wie ein kleines Mädchen auf ein Echo zu hoffen, indem sie die Hände zum Trichter formte und zur stuckverzierten Decke hinaufrief. Aber gut, dass sie sich weder von der Wesensart noch äußerlich ähnelten, wussten sie nicht erst seit diesem Tag, an dem sie ihr neues Zuhause inspizierten.

Ihre weiten Röcke raschelten, als sie sich über das Parkett im Foyer bewegten und in alle Ecken und Zimmer schauten. Tante Isolde folgte ihnen in ihrem schmucklosen schwarzgrauen Kleid. Irgendwo tickte eine Standuhr, und die Krallen von Schoßhund Pauli klackerten im schnellen Takt auf dem Holzboden. Der Pudel hetzte kläffend voraus. Tante Isolde rief ihn zurück, aber Pauli tat selten, was man von ihm erwartete.

»Vielleicht spukt der Geist des Engländers noch in diesem Gemäuer?« Sophie trat an eine Kommode, fuhr mit dem Finger über die Oberfläche und zog eine Spur in den Staub. »Bloß mit dem Putzen scheint er es nicht so ernst zu nehmen.«

»Erstens ist er nicht tot, zweitens hat er selbst nie hier gewohnt.« Viktoria strich sich eine der langen und im Nacken von einem Samtband gehaltenen Schillerlocken aus dem Gesicht. Mausblond, so nannte sie ihre Haarfarbe. Unauffällig und in ihren Augen wenig attraktiv. Sie gab sich Mühe, wählte Garderobe, die harmonierte. Heute trug sie das grün-rot karierte Kleid, das ihre Schultern frei ließ und ab der Taille weit ausgestellt war. Die Krinoline darunter brachte den Rock in Form, obwohl Viktoria gern darauf verzichtet hätte. Das Reifgestell war unpraktisch – ein Hindernis, wenn man schnell gehen oder Treppen steigen wollte –, aber in ihrer Position konnte man nicht aus der Rolle fallen.

Viktoria wusste um ihre seriöse Ausstrahlung, eine sechsunddreißigjährige Frau, unverheiratet, aber als Privatlehrerin ein geachtetes Mitglied der Gesellschaft. Zumindest war sie das in Tübingen gewesen. In Baden-Baden musste sie sich diesen Ruf erst wieder erarbeiten.

»Er hat die Villa für sich und seine Geliebte gekauft«, fuhr sie, an Sophie gewandt, fort. »Angeblich wollte er sie ihr als Geschenk präsentieren.«

»Und sie hat abgelehnt! Was für eine dumme Person! Mit einem Mann, der einem ein solches Geschenk macht, hat man ausgesorgt.« Sophie raffte ihr fliederfarbenes Kleid und eilte in den Salon. Der Rocksaum war mit Stoffblüten verziert, die sich auch als Schmuck in ihren brünetten Haaren wiederfanden.

Viktoria konnte verstehen, dass die meisten Menschen nur Augen für Sophie hatten, wenn sie nebeneinander spazierten. Sie war zweifellos die Hübschere von ihnen und legte es stets darauf an, zu gefallen. Im Gegensatz zu Viktoria war sie eher klein, hatte die Rundungen an den richtigen Stellen und wusste sie in Szene zu setzen. Wenn sie doch nur einmal einen passenden Mann kennenlernen würde! Unter den vielen, mit denen sie angebandelt hatte, war bislang kein geeigneter Heiratskandidat gewesen, abgesehen davon, dass Sophie sich gar nicht festlegen wollte. Da schalt sie die Frau, die die Villa und ein Leben mit dem Engländer abgelehnt hatte, als töricht und hielt ihr eigenes für ein großes, lustiges Spiel! Rief in den Raum, wartete auf ein Echo und lachte, wenn es ausblieb. Aber das Leben würde ihr schon eine Antwort geben – und am Ende musste sie nehmen, was auf dem Heiratsmarkt übrig blieb.

Außerdem hielt Viktoria wenig davon, jemanden als »dumm« zu bezeichnen, den man nicht kannte. Sophie war überaus schnell in ihren Urteilen und dann kaum noch von ihnen abzubringen. Aber was wusste sie denn, warum diese Frau abgelehnt hatte?

»Es hieß, der Mann sei verrückt gewesen«, entgegnete sie, obwohl sie den Begriff nicht mochte. In gebildeten Kreisen sprach man inzwischen anders über solche Zustände, doch Sophie hätte es so ausgedrückt und vielleicht fand Viktoria auf diese Art Zugang zu ihr. Der Immobilienmakler, einer von der geschwätzigen Sorte, hatte sich ähnlich geäußert und sich in aller Ausführlichkeit über den Engländer ausgelassen. Bedford hieß er, wenn sie sich richtig erinnerte. George. Vermutlich hatte der Händler ihnen verdeutlichen wollen, welches Glück sie hatten und dass eine solche Villa in Baden-Baden ein Schnäppchen war. Viktoria und ihr Vater hätten auch ohne diese Erklärungen zugeschlagen.

»Ich bin nicht verrückt! Ein wenig mehr Respekt bitte!« Tante Isolde hob die Stimme, wahrscheinlich, um sich selbst zu hören, wenn sie schon nicht verstand, was andere sagten. Dass sie halb taub war, stritt sie jedoch vehement ab.

Sophie ging nicht auf sie ein, hatte dafür eine klare Meinung zu Viktorias Einwand: »Von mir aus hätte er ein ganzes Bündel an Schrullen haben können. Ich hätte nicht Nein gesagt, wenn er mir das hier zu Füßen gelegt hätte. Weiß man, wer die Angebetete war? Eine Einheimische?«

Viktoria schüttelte den Kopf. »Der Makler kannte sie nicht. Er freute sich nur diebisch darüber, das Haus so schnell losschlagen zu können, da dieser Mister Bedford weit unter dem üblichen Preis blieb, weil er offenbar mit diesem Kapitel seines Lebens schnellstmöglich abschließen wollte. Vater und ich haben nicht gezögert.«

Unvermittelt stieg die Trauer in ihr hoch. Wie viel Zeit musste vergehen, bis sie den Schmerz als Teil von sich akzeptierte?

Vor vier Wochen hatte ihr Leben wie ein langer ruhiger Fluss vor ihr gelegen. Ihr Vater Claudius Winter, an der Tübinger Universität Professor für Geschichte, hatte zuvor über einen befreundeten Kollegen von der günstigen Villa erfahren. Er hatte schon länger damit geliebäugelt, für seine Töchter eine Investition in die Zukunft zu tätigen. In Absprache mit Viktoria erwarb er das Haus im europaweit berühmten Baden-Baden, um es zu vermieten. Von den Einnahmen hätten Viktoria und Sophie gut leben können. Aber nun war alles anders gekommen, denn das alte Herrenhaus am Rande von Tübingen, in dem die beiden Schwestern mit dem Vater und Tante Isolde gewohnt hatten, war bis auf die Grundmauern abgebrannt. Und Claudius Winter war in den Flammen gestorben.

Viktoria würde niemals den Tag vergessen, als sie vom Privatunterricht im Hause des Freiherren von Gülding heimgekehrt war und das Feuer aus allen Stockwerken schlug. Sophie erledigte Einkäufe, Tante Isolde besuchte einen Tuchhändler in der Stadt, nur der Vater hatte in seiner Bibliothek gesessen, den Flammen hilflos ausgeliefert. Später hieß es, er habe sich wohl zwischen den uralten Büchern, die er studierte, eine Zigarre angezündet und sei darüber eingenickt. Das Feuer musste sich inmitten der staubtrockenen Bände rasend schnell ausgebreitet haben.

Viktoria drehte sich der Magen um, wann immer ihr diese Bilder ins Gedächtnis schossen. Ihr Zuhause gab es nicht mehr. Der Vater war tot. Sie waren auf sich gestellt. Viktoria als Ältere nahm die Rolle des Familienoberhaupts ein. Keine einfache Aufgabe mit der Trauer und dem Wissen, dass Sophie sich keinen Deut bemühte, mit ihren vierundzwanzig Jahren endlich erwachsen zu werden. Und dann diese Villa! Ein Renditeobjekt hatte sie sein sollen, mehr nicht. Ob sie sich hier jemals so heimisch und geborgen fühlen würden wie in Tübingen?

Sie schauten sich weiter um. Im Parterre gab es einen Salon mit Zugang zur Terrasse. Daneben befanden sich das Esszimmer, ein Gästezimmer und die Wirtschaftsräume, die Tante Isolde eingehend inspizierte. Sie war seit Viktorias Geburt ihr Kindermädchen gewesen, später hatte sie den kompletten Haushalt der Winters geführt, nachdem die Mutter nach Sophies Geburt im Kindbett gestorben war. Viktoria konnte sich noch gut an die Mutter erinnern, sie war ja einige Jahre älter als ihre Schwester. Wie sie Viktoria im Holzfass gebadet und ihr Haar zärtlich mit Seife shampooniert hatte. Wie sie ihr Zöpfe geflochten und im Spätsommer den duftenden Pflaumenkuchen gebacken und ihr in kleinen Stücken auf einem Teller ins Zimmer gebracht hatte. Ihr Vater hätte vermutlich nicht gewusst, wie er diese große Verantwortung allein hätte tragen sollen, wenn damals nicht seine unverheiratete Schwester Isolde zur Stelle gewesen wäre.

»Wie trostlos.« Sophie zupfte an einem Leinentuch, das über dem einzigen Sessel im Salon drapiert war. Darunter kam ein mit rotem Samt bezogenes Sitzmöbel hervor, unbenutzt, wie es schien. »Ich hatte das alles frischer in Erinnerung nach unserem ersten Besuch.«

»Im Februar hatten wir Glück, es war ein blauer Wintertag mit viel Licht. Heute jedoch«, Viktoria wies mit dem Kinn durch die Terrassentür in den Garten, »ist alles grau. Es sieht aus, als würde es jeden Moment sintflutartig regnen.«

»Es regnet doch gar nicht!«

Viktoria näherte sich mit dem Mund Tante Isoldes Ohr und sprach lauter: »Später wird es regnen!«

»Gut, dass wir ein Dach über dem Kopf haben.« Wenn Tante Isolde grinste, sah sie aus wie ein kleines Nagetier. Ihre Augen glommen.

»Es ist erst gut, wenn wir fertig eingerichtet sind. So kann man hier doch nicht wohnen!«, rief Sophie und zog die Taftgardinen von den Fenstern, damit ein Hauch mehr Licht einfiel.

Viktoria gab ihrer jüngeren Schwester recht, sah aber einen weiteren Grund für die triste Stimmung, die über der Stadt lag wie die Wolkendecke. Im Februar war Baden-Baden noch von einem anderen Geist beseelt gewesen. Da hatte der roi de Bade, wie die Einheimischen den Spielbankdirektor Jean Jacques Bénazet ehrerbietig genannt hatten, das Zepter fest in der Hand gehalten. Vor wenigen Tagen war er verstorben. Keiner konnte sagen, wie es mit dem Kasino und der Stadt weitergehen würde. Alle Augen waren auf seinen Sohn Edouard gerichtet, der sich noch nicht dazu geäußert hatte, ob er die Leitung übernehmen oder die Lizenz verkaufen würde. Immerhin war die Beziehung von Vater und Sohn Bénazet von Querelen begleitet gewesen, hieß es. Der Senior galt als eigensinniger Lebemann, der Junior als penibler Korinthenzähler. Viele bezweifelten, dass er den Glamour halten würde. Es blieb abzuwarten, ob Baden-Baden weiterhin die Reichen, Adeligen und Schönen anzog oder zur Provinzstadt verkam. Davon hing auch der Wert dieses Hauses ab, in dem sich Viktoria in dieser Stunde zu orientieren bemühte.

Ohnehin war die Gesellschaft im Wandel. Das sah eine wie Sophie vielleicht nicht, aber Viktoria war Politik nicht gleichgültig. Als Lehrerin empfand sie es als ihre Pflicht, ihren Schülerinnen und Schülern nicht nur Wissen zu vermitteln, sondern ihnen die Welt begreiflich zu machen. Das schaffte sie nur, wenn sie selbst reflektierte, und ihre eigenen Gedanken hatten dazu geführt, dass sie sich für die Forderungen des einfachen Volkes nach Mitbestimmung begeisterte. Der Druck der unteren Klassen, die nach mehr Teilhabe und besseren Lebensbedingungen verlangten, ähnelte dem, was Frauen wie die Schriftstellerin Louise Otto-Peters für die weiblichen Mitglieder der Gesellschaft forderten. Vor Kurzem hatte sie in einem Artikel erklärt, dass Frauen nicht weniger fähig seien als Männer, über ihr Schicksal zu entscheiden. So inspirierende Worte! Viktoria war zutiefst davon überzeugt, dass der Kampf für die Rechte des Volkes, wie er in diesen Tagen in allen großen Städten Deutschlands ausgetragen wurde, und die Frauenbewegung untrennbar miteinander verbunden waren.

»Wenigstens befanden sich bei unserem ersten Besuch in den oberen Schlafzimmern drei Betten«, nahm Sophie ihre Ausführungen zu den Möbeln im Haus wieder auf. »Und in den Wirtschaftsräumen wird das Tantchen uns schon was kochen können, sobald wir eingekauft haben.«

»Ich kann noch nichts kochen, ich muss erst einkaufen!«, rief Tante Isolde.

Sophie kicherte, und auch Viktoria konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. Revolutionäre Ideen waren das eine, Tante Isolde und die Ankunft in einem neuen Heim das andere. Ohne die gute Seele wären sie in der Vergangenheit kaum zurechtgekommen. Sophie und sie waren von Privatlehrern unterrichtet worden. Handarbeiten und Fechten, Klavierspielen und Latein. Wie man sich selbst durchs Leben brachte, das war ihnen beiden während ihrer Jugendjahre fremd geblieben. Viktoria hatte sich nie dafür interessiert, wie lange Kartoffeln im Salzwasser kochen mussten oder welchen Braten man sonntags servierte. Sie hatte immer ihre Bücher gehabt – und was darin nicht stand, hatte sie dem Vater mit vielen Fragen entlockt. Niemanden hatte es gewundert, dass sie später selbst als Lehrerin unterrichtete.

Wieder der Kloß im Hals beim Gedanken an den Vater. Und noch etwas anderes bedrückte sie: Ihr Erbe würde nicht ewig reichen. Der Vater hatte in die Villa investiert, doch weil es keine Mieteinnahmen gab, da die Schwestern sie selbst bewohnten, mussten sie ein eigenes Einkommen erwirtschaften. Deshalb würde Viktoria sich baldmöglichst nach einer guten Anstellung umsehen. Auch in der Sommerhauptstadt Europas sollten Jungen und Mädchen auf die Welt da draußen vorbereitet werden.

Pauli war inzwischen über die freischwebende Treppe im Foyer nach oben gehetzt und kläffte dort munter weiter die halbleeren Räume an. Tante Isolde nahm die Stufen in Angriff. Mit ihren neunundsechzig Jahren ging sie zwar gebeugt, dennoch war sie, wenn es darauf ankam, wieselflink. Abgesehen von ihrer Schwerhörigkeit und ihren weißen Haaren merkte man ihr das Alter nicht an.

»Das Zimmer mit Blick auf die Lichtentaler Allee ist meines!«, sagte Sophie, als sie an Viktoria vorbeisprang und die Tante auf der Treppe überholte.

»Du mit deinen Ansprüchen«, rief Viktoria ihr nach. »Warum sollte das beste Zimmer deines sein?«

»Weil ich es zuerst entdeckt habe! Und es ist ja kleiner als die anderen, oder etwa nicht? Also wirf mir keinen Egoismus vor.«

Tatsächlich warf Viktoria ihrer Schwester mehr als nur Selbstbezogenheit vor. Aber sie würde nicht mit ihr streiten. Nicht heute. Sie würde das mittlere Zimmer beziehen, den größten der oberen Räume. Für Tante Isolde blieben dann gleich zwei, die allerdings kaum mehr waren als Abstellkammern: in dem einen konnte sie schlafen, in dem anderen ihrer Näherei nachgehen, ein Hobby, das sie mit Leidenschaft betrieb. Die Schwestern hatten schon manches Mal von ihren Talenten profitiert, wenn sie Jacken und Röcke für sie entworfen hatte. So grau sie sich auch selbst kleidete, unter ihren Händen entstanden wahre Schätze.

Pauli würde sein Plätzchen in ihrem Reich auf Stoffresten bekommen. Die Tante liebte den Pudel. Gut für das Tier. Ihn hätte ein ungewisses Schicksal erwartet, nachdem der Vater ihn Sophie als Welpen geschenkt hatte. Wie sie um ein Haustier zu ihrem sechzehnten Geburtstag gebettelt hatte! Und wie rasch ihr Interesse abgeklungen war, als ihr auffiel, dass ein Hund nicht bloß auf dem Schoß kuschelte und dankbar die Hand leckte, sondern man ihn füttern und mit ihm rausmusste. Tante Isolde hatte diese Pflichten klaglos übernommen und einen Freund fürs Leben gefunden. Obwohl Pauli kaum auf sie hörte, war er ihr treu ergeben und würde sie vor jedem Angreifer mit Krallen und Zähnen beschützen.

Demnächst würden die restlichen Möbel für die Villa geliefert. Sie hatten bei einem örtlichen Schreiner Sessel, einen Esstisch mit Stühlen und Sofas in Auftrag gegeben, damals mit dem Gedanken, dass sich ein möbliertes Haus leichter vermieten ließe. Alles in klassischen Formen und Mustern, damit man sich nicht zu schnell daran sattsah und es sich jemand mit persönlichen Akzenten zu eigen machen konnte. Nun lag das in ihrer Verantwortung.

Sophie stürmte in ihr Zimmer, die Tante besichtigte mit Pauli ihre Räumlichkeiten. Viktoria ließ sich auf ihr Bett plumpsen und schaute sich um. Die Wände waren kahl, es fehlten Bilder und bunte Stoffe. Nebenan hörte sie Tante Isolde rumoren. Offenbar rückte sie das Bett vom Fenster weg. Es schepperte und polterte auf dem Parkettboden. Ihre Nähmaschine und die Utensilien ihrer privaten Schneiderei waren den Flammen zum Opfer gefallen. Sie hatten alles neu bestellt. Weitere Kosten, die es aber brauchte, damit sich die alte Dame wohlfühlte. Viktoria liebte sie von Herzen, auch wenn ihre Schwerhörigkeit mitunter an ihren Nerven zehrte.

Genau wie Sophies Übermut. Sie steckte den Kopf in Viktorias Zimmer, ihre Augen funkelten. »Und? Gehst du ihn gleich besuchen?« Viktorias fragender Blick ließ sie auflachen. »Na, deinen Verflossenen, wen denn sonst?«

Viktoria sog die Luft scharf ein. »Ich weiß nicht, wovon du redest.«

Sophie rollte mit den Augen. »Ihr hattet keine Liebelei, jaja. Aber du warst in ihn verliebt. Der Vater einer Schülerin, oder?«

Warum hatte sie ihrer Schwester damals bloß anvertraut, dass auch ihr die Liebe nicht fremd war, als sie auf Besuch in der Heimat gewesen war? Dass Sophie es nicht vergessen hatte, war eine Schande. Seit feststand, dass sie nach Baden-Baden ziehen würden, bohrte sie nach. Dabei war es schon so lange her, dass es gar nicht mehr wahr sein konnte.

»Hör auf damit, Sophie. Ich will nicht darüber reden. Ich verbiete dir, es noch einmal anzusprechen.«

»Sei nicht so steif, Viktoria! Wir sind Schwestern, wir sollten keine Geheimnisse voreinander haben. Ich erzähle es dir auch immer, wenn ich jemanden habe.« Sie setzte sich neben Viktoria aufs Bett.

»Und ich wünschte, ich würde es nicht jedes Mal erfahren!«, gab Viktoria zurück. »Ich kann mir all die Männer überhaupt nicht merken, die du an der Nase herumgeführt hast.«

Sophie lachte hell auf. »Ich auch nicht!«

So war ihre Schwester: leichtfertig und oberflächlich bis zur Dummheit. Nein, sie musste sich nicht für die aktuelle Politik und das Aufbegehren des Volkes interessieren. Es würde reichen, wenn sie unter ihr flatterhaftes Leben einen Schlussstrich zöge und sich einen Mann suchte, der ihr eine Stütze in unruhigen Zeiten sein konnte. Viktoria würde sich nicht ewig für sie verantwortlich fühlen.

»Also, wirst du deinen Liebsten nun treffen oder nicht?«, beharrte sie trotz Viktorias Verbot.

Viktoria stieß ein Seufzen aus. Nein, natürlich würde sie den Mann, der für sie auf immer mit Baden-Baden verbunden war, nicht aufsuchen. Aber so populär die Stadt an der Oos auch war, so überschaubar war sie nach wie vor. Früher oder später würden sie sich über den Weg laufen. Und dann? Sie würden höflich Konversation betreiben. Wenn er sich überhaupt an sie erinnerte. Danach würden sie wieder auseinandergehen, ein jeder würde sein Leben weiterleben und fertig.

»Du siehst aus, als wärst du damals wirklich sehr in ihn verliebt gewesen«, stellte Sophie überraschend einfühlsam fest.

Viktoria nahm ihre Hand. »Ach, ich weiß nicht, ob das, was du verliebt nennst, etwas mit mir zu tun hat. Wir denken und fühlen so unterschiedlich, Sophie. Ich war damals noch zu jung, und es hätte sowieso nie etwas aus uns werden können.«

Sophies Augen wurden groß. »Er war verheiratet!«, platzte sie mit ihrem Verdacht heraus. »Das ist es! Und er ist es noch. Deshalb willst du keine Verbindung mehr zu ihm haben.«

»Schlimmer, Sophie. Viel schlimmer. Und jetzt …« Sie lehnte sich mit der Schulter gegen Sophie und drückte sie so vom Bett, »… verschwinde aus meinem Zimmer und geh mir nicht länger auf die Nerven.«

Sophie tat gekränkt, flog aber schon lachend davon. Viktoria atmete auf und ließ sich rücklings aufs Bett fallen. Willkommen in Baden-Baden.

Sophie hatte es sich nicht anmerken lassen, aber sie war maßlos enttäuscht darüber, wie sich die Villa ihnen an diesem Tag präsentierte. Immerhin lag sie an der Lichtentaler Allee, einer der berühmtesten Straßen Europas, wo die Leute die neueste Mode präsentieren, wo Dichter flanieren und Pferdekutschen die Adeligen des Landes hin und her kutschieren sollten. Im Haus jedoch roch es muffig, von den Wänden hallte es. Als sie die Terrassentür öffnete, um einen Blick in den Garten zu werfen, entfuhr ihr ein tiefer Seufzer. Sicher, es war erst März, kein Wunder, dass nur vereinzelt Schneeglöckchen und Krokusse blühten. Aber dieser Acker sah nicht aus, als würde er sich im Lauf der Saison zu einem Schmuckstück entwickeln. Nirgendwo keimte es, nirgendwo sprossen frische Triebe. Sie sah weder Rosen noch Obstbäume, die im Frühsommer Blüten austreiben würden. Alles war voller Unkraut und von Büschen umgrenzt, deren Namen sie nicht kannte. Der Boden war matschig, zwischen den Kieswegen wuchs Moos. Fröstelnd durchquerte sie das Grundstück, bis sie das niedrige schmiedeeiserne Tor in der Mauer erreichte, durch das man Zugang zur Allee hatte. Sie stützte sich darauf, spähte nach links und rechts.

Die Saison hatte noch nicht begonnen. Um diese Jahreszeit machte es keinen Spaß, sich in der schicksten Garderobe zu zeigen. Zum Plaudern schienen die wenigen Menschen, die die baumbestandene Straße entlangliefen, nicht aufgelegt zu sein. Alle schienen ein Ziel zu haben, keiner machte einen reichen oder adeligen Eindruck. Vermutlich Einheimische auf ihrem Weg zur Arbeit. Einzig ein Mann fiel ihr auf. Zylinder, Weste, tadelloses Jackett nach der neuesten französischen Mode, enganliegende Hose um schlanke Beine. Der gepflegte Bart um seine markanten Züge verlieh ihm etwas Weiches. Er ging würdevoll, zügig, aber ohne erkennbare Eile, und als sein Blick den ihren traf, verharrte er. Er sah sie an, zunächst irritiert, dann wieder mit formvollendeten Manieren. Schließlich lüpfte er den Zylinder, verbeugte sich und blieb ein paar Sekunden in dieser Haltung, um seine Anerkennung auszudrücken.

Sophie war es gewohnt. Genau wie sie gewohnt war, nonchalant auf eine solche Aufwartung zu reagieren. Sie neigte den Kopf, zeigte beim Lächeln ihre kleinen Zähne, ihre Schläfenlocken wippten. »Bonjour, Monsieur.«

»Enchanté, Madame.« Er lenkte seine Schritte auf sie zu, zweifellos ermuntert durch ihre Begrüßung, blieb dann vor dem Mäuerchen mit dem Zaun stehen.

Sophie richtete sich kerzengerade auf, hob das Kinn und bemühte sich um einen möglichst kühlen Gesichtsausdruck. Es wollte ihr nicht recht gelingen. Zu sehr freute sie sich darüber, dass an diesem tristen Tag ein Lichtstrahl in ihr Dasein fiel. Dieser Monsieur mit seinen breiten Schultern und den grünen Augen gefiel ihr ausgesprochen gut.

»Sie müssen die neue Besitzerin der Villa sein. Willkommen in Baden-Baden. Ich hoffe, Sie hatten einen komplikationsfreien Einzug?«

Wie gewählt er sich ausdrückte! Mit französischem Akzent. Ein Adeliger, der zur Beerdigung Bénazets angereist war? Wenn nicht bereits seine Kleidung darauf hingewiesen hätte, wüsste Sophie spätestens nach seinen wenigen Worten, dass sie es mit einem höhergestellten Mitglied der Gesellschaft zu tun hatte. Viel hing davon ab, ob sie in den ersten Tagen in ihrem neuen Zuhause Bekanntschaften zu solchen Menschen einfädelte. Dann konnte ihr auch die feuchte Witterung die Stimmung nicht vermiesen.

»Wir sind vor wenigen Stunden eingetroffen, ja. Unsere Möbel werden leider erst noch geliefert, aber in der Villa befindet sich zum Glück alles, was man in den ersten Tagen braucht.«

»Ihr Gatte hatte ein glückliches Händchen, dieses Haus zu erwerben. Sobald die Saison startet und das Wetter besser wird, werden Sie Ihre Freude an der herrlichen Aussicht haben. Sie sind hier mitten am Puls von Baden-Baden.«

Sein Lächeln ließ ihr die Knie weich werden. Ohne Frage einer der attraktivsten Männer, die sie in den vergangenen Monaten kennengelernt hatte, und das waren, musste sich Sophie eingestehen, nicht wenige gewesen.

»Es gibt keinen Gatten«, erwiderte sie und freute sich, als sich daraufhin ein rötlicher Schimmer auf seine Stirn legte. »Und sagen Sie doch bitte Mademoiselle zu mir. Ich bin Sophie Winter.« Sie reichte ihm über den Zaun die Hand, er hauchte einen Kuss darüber. Sein Atem kitzelte ihre Haut.

»Wie außerordentlich entzückend, Ihre Bekanntschaft zu machen, Mademoiselle Winter. Mein Name ist Claude Duchamp.«

»Freut mich, Monsieur Duchamp. Ich bin mit meiner Schwester Viktoria und unserer Tante Isolde in diese Villa eingezogen. Mein Vater hat sie kurz vor seinem Tod gekauft. Wir hätten nicht vermutet, dass sie so schnell unsere letzte Zuflucht werden würde.«

»Mein Beileid zum Tod des Herrn Vater. Obwohl ich andererseits dem Schicksal dafür danke, dass es eine bezaubernde Frau wie Sie in meine neue Heimat verschlagen hat.«

»Sie sind kein Badener?« Wieder legte sie den Kopf schief. Sie wusste, dass Männer es mochten, auf diese Weise angeschaut zu werden. Als hätte Sophie nur darauf gewartet, von ihnen die Welt erklärt zu bekommen.

»Aber nein, Mademoiselle, ich komme direkt aus Paris.«

Ihr Interesse wuchs. »Und was führt Sie in den Schwarzwald?«

»Nun, Ihnen wird bekannt sein, dass hier das berühmteste Kasino Europas steht. Umso berühmter, da das Glücksspiel in meinem Heimatland bedauerlicherweise verboten wurde. Hier an der Oos trifft sich ab Mai die Hautevolee. Das Kasino trägt seinen Teil dazu bei. Es gibt neben der Trinkhalle und dem Kurhaus zahlreiche andere Amüsements wie Theater und Konzerte. Wer etwas auf sich hält, der verbringt seinen Sommer in dieser herrlichen kleinen Stadt mit all den Grandhotels, die im Lauf der vergangenen Jahre wie Pilze aus dem Boden geschossen sind. Eigentum in dieser Stadt zu besitzen ist von großem Wert, Mademoiselle! Sie können sich glücklich schätzen. Ich bewohne leider nur ein wenig geräumiges Appartement am Stadtrand.«

Das war ein Dämpfer. Sie hätte ihn mindestens für einen Gast in einem der besagten Hotels gehalten, wenn nicht für einen Villenbesitzer. Allein dieser teure Duft nach Sandelholz und Bergamotte, den er verströmte …

Er zuckte die Achseln, verzog den Mund. Wahrscheinlich hatte er ihr die Enttäuschung angesehen. »Dies wird meine erste Saison als Croupier in der Spielbank, doch ich habe Hoffnung, dass es nicht die letzte bleiben wird. Als der ältere Monsieur Bénazet seine Geschäfte noch in Paris führen durfte, war mein Vater einer seiner besten Croupiers. Deshalb haben er und sein Sohn mich eingestellt und mit Vorschusslorbeeren überschüttet, wenn ich das so sagen darf. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis ich mir ein neues, repräsentableres Zuhause zulege, Mademoiselle Winter.«

Ein Croupier? Nicht dass dieser Claude nach seinen Ausführungen für mehr als ein Abenteuer infrage kam. Sein Beruf jedoch hatte etwas Faszinierendes an sich. »Sicher erleben Sie viel Aufregendes mit den Reichen und Schönen?«

»Das wird sich herausstellen. Die Saison beginnt erst noch. Ich will nur jetzt schon in die Spielbank, um mich mit den Örtlichkeiten vertraut zu machen. Morgen kommt dann meine Vorgesetzte dazu, damit wir unsere Arbeitseinteilung besprechen können.«

Sophie klappte der Kiefer herunter. Sie musste sich verhört haben. »Ihre Vorgesetzte? Eine Frau?«

Claude legte den Kopf in den Nacken beim Lachen. »Oh, verstehe, das irritiert Sie. Muss es aber nicht. Madame Claire Engel ist die erste Croupière, die es jemals im Baden-Badener Kasino gegeben hat. Sie gilt als umsichtig, klug und souverän, eine bessere Spielleiterin hätten sich die Herren Bénazet nicht ins Haus holen können, heißt es. Sie ist seit vergangenem Jahr dabei und soll mich an die Hand nehmen, bis ich mich eingearbeitet habe.« Er stutzte kurz. »Ich hätte übrigens vermutet, dass Sie zumindest schon einmal von ihr gehört haben. Sie wäre beinahe in diese Villa gezogen.« Er zuckte die Schultern. »Es kam dann anders. Wie das Schicksal so spielt.«

Diese dumme Person. Sophie lief es heiß und kalt den Rücken herunter. Die Frau, die diese Villa ausgeschlagen hatte, war Croupière in der Spielbank und diesem stattlichen Mannsbild vorgesetzt! Wie verrückt konnte die Welt sein?

»Nein, sie sagt mir nichts.« Sie senkte den Blick, schlug die Augen auf und sah ihn von unten an. »Aber das kann man ja ändern. Ich könnte Sie am Roulettetisch besuchen kommen.« Duchamp zog den Kopf leicht zurück. Schnell fügte Sophie an: »Selbstverständlich würde mich entweder meine Schwester Viktoria«, innerlich machte sie sich eine Notiz: die eher nicht!, »oder meine Tante Isolde begleiten. Auch wenn sich die Zeiten in mancher Hinsicht zu ändern scheinen und Frauen wie Madame Engel Spielleiterinnen sein dürfen, so bin ich doch eher vom alten Schlag und würde es nicht wagen, als Frau allein die Spielbank zu besuchen.«

»Also …« Die Röte erreichte seine Ohren. »Zweifellos können Sie gerne der Spielbank einen Besuch abstatten. Bitte haben Sie nur Verständnis, dass ich dann keine Zeit für Sie erübrigen kann, was ich sehr bedauern würde! Ich bin da nicht zu meinem Vergnügen. Ich muss hochkonzentriert sein und darf mir keinen Fehler erlauben. Madame Engel sähe es bestimmt nicht gern, wenn ich mich von einer bezaubernden Mademoiselle, wie Sie es sind, ablenken ließe.«

Was Madame Engel gern sah und was nicht, war Sophie vollkommen egal. Doch diesen Gedanken behielt sie wohlweislich für sich. Claude Duchamp könnte empfindlich darauf reagieren, wenn sie diese Frau, die ihn unter seine Fittiche genommen hatte, infrage stellte. So nickte sie ihm nur zu und wandte sich ab, um zur Villa zurückzukehren.

»Mademoiselle Winter!«, rief er sie ein bisschen atemlos zurück. »Selbstverständlich habe ich Freizeit, und ich könnte mir nichts Schöneres vorstellen, als Sie zu einem Ausflug durch die Stadt und die Umgebung auszuführen!«

Sie hörte, wie angestrengt er Luft holte, wandte sich nur hoheitsvoll um. »Man wird sehen«, gab sie von oben herab zurück, vertraut mit dem Spiel, wie man Männer um den Finger wickelte. Claude Duchamp war das ideale Opfer. Wie sein Blick auf ihren Lippen geruht hatte! Er war nur ein kleiner Croupier, kein Mann mit Macht, kein Mann mit Geld, und dennoch hatte er einen Charme, dem sie sich nur schwer entziehen konnte. Trotz des grauen Wetters, dem verwilderten Garten und dem fehlenden Glamour freute sich Sophie nun doch auf das, was Baden-Baden ihr zu bieten hatte.

2

 

Der König von Baden-Baden war tot. Claire Engel konnte es nicht fassen, dass der so vital wirkende Jean Jacques Bénazet einfach umgefallen und verstorben war. Er hatte noch so viel vorgehabt mit der Stadt und dem Kasino! In ihrem neuen Appartement am Leopoldsplatz holte Claire ihre Kleider, Badeutensilien und Bücher aus der großen Reisetasche und verstaute alles in den Schränken. Dabei gingen ihr all die Szenen durch den Kopf, die sie mit dem berühmten Spielbankdirektor verband. Wie er über sie gelacht hatte, als sie sich bei ihm mit dem Wunsch, Croupière zu werden, vorstellte. Wie er später, nach ihrer Station an der Garderobe, anerkennend genickt hatte, nachdem er sie am Spieltisch beobachtet hatte. Wie er sie in sein Allerheiligstes gerufen hatte, um ihr mitzuteilen, dass er ihr in seinem Haus einen Platz als Spielleiterin anbot. Und dann das letzte Mal, dass sie sich begegnet waren, im vergangenen Jahr, am Ende der Saison, als er ihr gemeinsam mit seinem Sohn Edouard verkündet hatte, dass ihnen eine Festanstellung vorschwebte. Hatten die beiden überhaupt geahnt, dass sie ihr damit ihren Lebenstraum erfüllten?

Nach der frohen Nachricht hatte es Claire zunächst wieder in ihr Heimatdorf gezogen. In Sinzheim betrieben ihre Eltern und ihr Großvater die Gaststätte Zum Bären, unterstützt von ihren jüngeren Schwestern, den Zwillingen Flora und Justine. Natürlich hatte sie sich gefreut, alle wiederzusehen. Sie hatten gemeinsam gefeiert, dass es Claire gelungen war, als Croupière in einem der berühmtesten Kasinos der Welt Fuß zu fassen, obwohl zumindest die Eltern anderes für sie im Sinn gehabt hatten. Ihr Großvater, von dem sie im Hinterzimmer der Herberge alles über das Glücksspiel gelernt hatte, hätte jedoch nicht stolzer sein können. Gleichzeitig traf ihn die Enttäuschung am heftigsten, als Claire nach der allgemeinen Freudenstimmung von ihrem Halbbruder Hermann und seinen kriminellen Machenschaften erzählte. Der Großvater war immer sein Fürsprecher gewesen, hatte darauf beharrt, dass er nur vom rechten Weg abgekommen war, man ihn aber mit helfender Hand dorthin zurückgeleiten konnte. Wie sehr er sich getäuscht hatte! Nun hoffte auch er, dass er sich nicht mehr in der Heimat blicken ließ.

Claire zog ihre Kasino-Kleider aus der neu gekauften Truhe, die gleich unter dem Fenster im Schlafzimmer ihren Platz gefunden hatte: drei braun-grüne Roben, gerade geschnitten und ohne Krinoline zu tragen. Sie waren hochgeschlossen, an den Armen enganliegend und ohne jeden Schnickschnack gestaltet. Die Direktoren hatten sich nach ihrer Anstellung Gedanken darüber machen müssen, wie sie eine Spielleiterin ausstatten sollten. Die männlichen Kollegen trugen akkurat geschnittene Anzüge in Schwarz mit weißen Hemden, gestreiften Westen und hohen Kragen. Für eine weibliche Croupière gab es kein Vorbild, auf das sie zurückgreifen konnten, aber Claire hatte von Anfang an geliebt, was die örtliche Schneiderin für sie entworfen hatte. Sie genoss es, in dieser Bekleidung, eine farblich passende Samtschleife im Haar, das Kasino zu betreten. Sie sah darin elegant und souverän aus, fand sie, unterschied sich aber deutlich genug von den herausgeputzten weiblichen Gästen.

Bald würde sie die Kleider wieder tragen dürfen! Ab morgen würde sie Claude Duchamp einarbeiten, damit der bis zum Start der Saison bereit war. Sie lächelte bei der Erinnerung daran, dass sie zunächst angenommen hatte, er solle ihren Platz einnehmen. Die Herren Bénazet hatten schnell klargestellt, dass sie Claire behalten wollten. Mehr noch, dass sie ihr zutrauten, für den jungen Mann verantwortlich zu sein. Eine Aufgabe, die eigentlich dem Ersten Croupier Frederic Culot zustand, der ein entsprechend langes Gesicht gezogen hatte. Die Herren Bénazet hatten ins Feld geführt, dass er in den vergangenen Wochen keinen stabilen Eindruck erweckt hatte. Etwas hatte den sonst so selbstbewussten Mann in seinen Grundfesten erschüttert. Vielleicht würde Claire ja in dieser Saison erfahren, was ihn so belastete, obwohl ihre Beziehung zu ihm schwierig war.

Die meisten Entscheidungen der vergangenen Monate hatte Bénazet senior getragen. Claire wurde der Hals eng bei der Vorstellung, dass nun der kühlere Edouard der Spielbank vorstand. Sie hoffte, dass er sie als Croupière ebenso schätzte wie sein Vater, aber sicher war das nicht. Edouard war keiner, der das Herz auf der Zunge trug. Er wog einen Gedanken lieber dreimal ab, bevor er ihn aussprach – das genaue Gegenteil seines impulsiven, kreativen Vaters. Vielleicht würde er aus Prinzip alle Entscheidungen, die sein alter Herr getroffen hatte, unter seiner Federführung rückgängig machen. Claire schluckte trocken. Es blieb abzuwarten. Sie konnte nur weiterhin ihr Bestes geben.

Tasche und Truhe waren ausgepackt. Außer diesem Raum, von dem aus Claire einen herrlichen Blick über die Altstadt hatte, besaß das Appartement einen Wohn-Ess-Bereich mit Kohleofen, den sie sowohl zum Heizen als auch zum Kochen nutzen konnte. Es gab einen Buffetschrank, in dem Lebensmittel, Porzellan, Besteck und Töpfe ihren Platz fanden. Sie trat an das große Fenster, sah hinaus auf die schönste Silhouette der Stadt: das beeindruckende Kurhaus mit der benachbarten Trinkhalle inmitten der gepflegten Parkanlage. Herrliche Gebäude, in denen sich das gesellschaftliche Leben abspielte. Schräg fielen die Sonnenstrahlen auf die Szenerie. Claire liebte diese Aussicht schon jetzt. Im Gegensatz zu ihrer Unterkunft in der vergangenen Saison, als sie bei Martha Seibold ein winziges düsteres Zimmer mit Sicht auf einen von Unkraut überwucherten Hinterhof bewohnt hatte, hatte sie hier das Gefühl, durchatmen zu können. Alles war hell und freundlich und nach ihrem Geschmack mit Holzmöbeln, bunten Stoffen und samtbezogenen Sesseln eingerichtet. Nie brauchte sie hier zu befürchten, dass jemand von außen das Ohr gegen die Tür drückte, um sie auszuspionieren. Dem Hausbesitzer gehörten drei weitere Gebäude in der Stadt, er selbst wohnte auf einem Landgut und schaute nur hin und wieder nach dem Rechten. Die Miete war hoch, aber angemessen. Claire zahlte sie gern für die Freiheit und Unabhängigkeit, die sie in diesen vier Wänden empfand. Bei Martha Seibold mit ihrer Haube, mit der sie wie eine Schildkröte aussah, hatte sie immer gemeint, ihren heißen Atem im Nacken zu spüren.

Ihr Unwohlsein in der vergangenen Saison, obwohl sie ihren Lebenstraum verwirklichen konnte, hing aber nicht nur mit der Vermieterin zusammen. Vor allem ihr Halbbruder war dafür verantwortlich gewesen, nachdem er unvermittelt aufgetaucht war. Claire fröstelte es, obwohl die Märzsonne trotz des nahen Abends selbst durch die Fensterscheiben schon wärmte. Hermann hatte sie in höchste Gefahr gebracht, als er inmitten der illustren Gesellschaft im Spielbankbetrieb auf Beutezug gegangen war. Mit geübten Fingern hatte er den Damen die Banknoten aus den Handtaschen geklaubt und den Herren die goldenen Uhren aus den Westen. Er war ein Dieb und Betrüger, der sie ihre Anstellung gekostet hätte, wenn er aufgeflogen wäre. Als Croupière musste sie über einen einwandfreien Leumund verfügen. Ein kriminelles Familienmitglied hätte zur sofortigen Entlassung geführt.

Letzten Endes war alles gut gegangen, und überhaupt: Genug der trüben Gedanken!

Sie freute sich auf den Start der Saison in wenigen Wochen. Und bereits morgen durfte sie wieder Kasinoluft schnuppern! Zuvor stand am heutigen Abend noch ein Treffen an, auf das sie ebenfalls seit dem Mittag hinfieberte. Ihr väterlicher Freund Theo, Sicherheitsbeauftragter im Kasino, hatte sie unten an der Post in Empfang genommen, als sie aus der Kutsche gestiegen war, und sie gleich zum Abendessen ins Haus der Leberechts eingeladen. Ihre Rückkehr musste gefeiert werden, hatte er lachend verkündet.

Im letzten Jahr waren die Dîners im Ärztehaus zur lieben Gewohnheit geworden. Dort lebte Theo mit seiner Schwester Beate und ihrem Mann, dem Badearzt Dr. Günther Leberecht, unter einem Dach. Es fühlte sich gut an, das Ehepaar neben Theo zu ihren Freunden zählen zu können. Sie hatten Claire schnell ins Herz geschlossen und manch heiteren Abend mit Riesling und Rinderbraten an der Speisetafel miteinander verbracht. Nun würde sich vermutlich einiges ändern, denn es gab einen weiteren Gast: Kurz vor ihrer Abreise im November hatte Claire Friedrich Leberecht getroffen, Günthers Neffen, ebenfalls Arzt wie der Onkel und zukünftiger Teilhaber der Praxis. Ob er sich inzwischen eingelebt hatte?

Claire verspürte einen kurzen Stich bei der Frage, ob er vielleicht sogar jemanden kennengelernt hatte, während sie weg gewesen war. Beate hatte nicht gezögert, darauf hinzuweisen, dass er ledig war. Als Arzt war er eine gute Partie, darüber hinaus sah er gut aus. In Sinzheim hatte Claire oft an ihn gedacht. Ob er sich auch noch an sie erinnerte, wenn sie heute bei den Leberechts auftauchte? Nun, das würde sie nicht herausfinden, indem sie hier herumstand und den Blick aus dem Fenster genoss. Sie ging ihre frisch im Schrank verstauten Kleider durch, entschied sich für das lichtgelbe, hielt es an den Schultern hoch, stellte sich vor den bodentiefen Spiegel und beschloss, dass es am besten geeignet für diesen Abend war. Dazu würde sie den Samthut mit den sonnengelben Bändern tragen und einen Hauch Lippenrot auftragen. Mehr nicht.

Eine Stunde später senkte Beate Leberecht verschwörerisch die Stimme und beugte sich an Claires Ohr, nachdem sie ihr die Tür geöffnet hatte. »Wie wunderbar, dass du endlich zurückgekehrt bist. Wir haben deine Gesellschaft vermisst. Vor allem Friedrich hat heute die Stunden gezählt. Du hättest erleben sollen, wie nervös er den ganzen Tag war.«

»Ach, Beate, hier hat sich ja gar nichts verändert.« Lachend begrüßte Claire ihre Gastgeberin mit Küsschen auf die Wange. »Ich freue mich, wieder bei euch zu sein.« Sie hob den Rock für die letzte Stufe. Sie war den Weg vom Leopoldsplatz zu Fuß gegangen. Um halb sechs stand die Sonne zwar schon tief, warf aber noch ihren goldenen Schein über die Dächer der Stadt. Sie hatte die Luft eingesogen und die schmucken Häuserfassaden hinauf- und hinuntergeblickt, in die Läden gespäht und sich die Auslagen angesehen. Erstaunlich, dass sich Baden-Baden nach nur einem Jahr schon mehr nach einem Zuhause anfühlte als Sinzheim, wo sie aufgewachsen war.

»Du siehst zauberhaft aus!« Beate schritt in ihrem bronzefarbenen Kostüm voran ins Speisezimmer. »Friedrich wird begeistert sein.«

Unauffällig stieß Claire die Luft aus. Sosehr sie Beate mochte, mitunter konnte sie anstrengend sein. In ihr Weltbild passte es nicht, dass Claire in einem Männerberuf arbeitete. Und noch weniger konnte sie nachvollziehen, dass eine Frau freiwillig allein durchs Leben ging und nichts unternahm, um diesen Zustand zu ändern. Hoffentlich hielt Beate sich beim Essen mit ihren Andeutungen zurück! Nicht dass Friedrich annahm, Claire habe sie um ihre Unterstützung gebeten.

Im Speisezimmer sprangen die drei Herren von ihren Plätzen auf, als Claire hinter Beate den Raum betrat. Mit ausgebreiteten Armen kam Günther auf sie zu und drückte sie ergriffen an sich. Theo grinste ihr nur zu und nickte, sie hatten sich ja schon an der Post getroffen. Dann stand plötzlich Friedrich vor ihr, nicht größer als sein Onkel, aber seine aufrechte Haltung verlieh ihm Präsenz. Seine dunklen, lockigen Haare sahen aus, als bekäme er sie nur mit Mühe gebändigt. Sie gaben ihm etwas Jungenhaftes, doch in seinen tiefblauen Augen lag ein großer Ernst. Und Neugier. Auf sie? Sie erinnerte sich gut an diese Augen, die nach der ersten Begegnung im November in manchen Nächten in ihren Träumen aufgetaucht waren. Ihre Fingerspitzen kribbelten, als er ihre Hand nahm und sich darüber verbeugte.

»Wie schön, dass diese Abendgesellschaft nun endlich komplett ist mit Ihnen, Mademoiselle Engel. Wir haben Sie in den Wintermonaten schmerzlich vermisst. Ich freue mich sehr.«

»Auch mir haben die Gespräche an der Tafel und das ausgezeichnete Essen im Ärztehaus gefehlt.« Claire war froh, dass sie es schaffte, das Unsichere aus ihrer Stimme herauszuhalten. Ihr Beruf brachte es mit sich, dass sie selbst in ungewöhnlichen Momenten die Fassung bewahrte. Es war dennoch etwas anderes, zwei Spieler bei einer Meinungsverschiedenheit zur Räson zu rufen, oder einem Mann gegenüberzustehen, der einen vom ersten Moment an fasziniert hatte. Die Haare waren ein bisschen länger als im November, als hätte er keine Zeit gefunden, einen Friseur aufzusuchen. Unter seinen Augen lagen hellbraune Schatten. Arbeitete er zu viel? Aber in seinem Blick sah sie Enthusiasmus und Lebensfreude. Nein, Friedrich war kein Mann, der sich über zu wenig Freizeit beklagen würde oder es bereute, Arzt geworden zu sein.

Er bot Claire den Ellbogen an und führte sie zu ihrem Platz.

Sie plauderten munter durcheinander. Günther erzählte Anekdoten aus der Praxis, ohne die Namen der Patienten zu nennen, und sie lachten ein ums andere Mal hellauf. Theo berichtete, welche Gäste jetzt schon in der Stadt eingetroffen waren und sich im Grandhotel eingemietet hatten, weil sie den Beginn der Saison kaum erwarten konnten. Beate gab die neuesten Stadtgeschichten zum Besten. »Wusstet ihr, dass die Villa an der Lichtentaler Allee, die dein … äh … Bekannter, Claire, erworben hatte, inzwischen weiterverkauft ist?«

Claire nippte an ihrem Grauburgunder. »Tatsächlich? Sie ist herrlich, die Leute werden sich sicher wohl darin fühlen.«

»Ihr Bekannter?« Friedrich musterte sie von der Seite, rückte das Besteck um seinen Teller zurecht, obwohl es akkurat dalag.

»Ich …«

Beate kam Claire zuvor. Sie machte eine wegwerfende Handbewegung. »Vorbei und vergessen, diese Geschichte mit dem Engländer. Der war ein bisschen …« Sie senkte den Blick und ließ vielsagend den Zeigefinger in Höhe der Schläfe kreisen.

»Meine Teuerste, ich muss doch bitten.« Günthers Wangen hatten sich nach den ersten Gläsern Wein merklich gerötet. »Es gehört sich nicht, so despektierlich über ihn zu sprechen. Er war nicht gut für Claire, sicher, aber für seine wechselnden Stimmungslagen konnte er nichts. Er gehört in ärztliche Behandlung, und ich hoffe, dass er das in seiner Heimat angegangen ist.«

»Er war und ist eine Gefahr für sich selbst und für andere. Zum Glück ist er jetzt weit weg«, meldete sich Theo zu Wort.

Claire hob die Stimme, um sich über das anschwellende Murmeln Gehör zu verschaffen. »George ist ein liebenswerter Mann, aber ich habe seine Vorstellungen von einer gemeinsamen Zukunft nicht geteilt. Diese Villa zum Beispiel hatte er für uns beide erworben, ohne vorher mit mir darüber zu reden …« Sie machte eine Pause, ehe sie weitersprach. »Unsere Beziehung ist mit dem Ende der Saison zerbrochen, und das ist auch gut so. Ich weine ihm nicht nach, aber ich denke auch ohne Groll an ihn.« Sie wandte sich an Beate, bemüht, die Aufmerksamkeit weg von George und sich zu lenken. »Was sind das für Leute, die da eingezogen sind?«

Beate hob die Schultern. »Wie man hört, zwei Schwestern aus Tübingen, die eine Mitte zwanzig, die andere Mitte dreißig. Ich muss noch herausfinden, warum sie nicht verheiratet sind. Ich halte euch auf dem Laufenden.«

»Oh, dessen können wir uns sicher sein«, nuschelte Günther in sein Glas und nahm einen weiteren kräftigen Schluck. Claire fing Friedrichs Blick auf, der sich das Lachen verbiss wie sie. Claire fühlte eine angenehme Verbundenheit. Alle griffen zu, als das Dienstmädchen Platten mit aufgeschnittenem Grillschinken, Kartöffelchen und Krautsalat vorhielt. Das Menü war rustikaler, als Claire es in Erinnerung hatte, aber es würde ihr zweifellos munden. Der Braten verbreitete einen köstlichen Duft.

»Weißt du, Claire, wir haben die Küche ein bisschen umgestellt«, erklärte Beate, als hätte sie ihre Gedanken erraten. »Friedrich mag es gern deftiger, als die französische Küche gemeinhin ist. Ich hoffe …«

Friedrich hob übertrieben eine Hand, um Beate zu unterbrechen und die Augen aller auf sich zu lenken. »Keineswegs, liebe Tante, hättest du wegen mir etwas umstellen müssen! Ich fand dein Essen von Anfang an köstlich.«

Beate wiegte den Kopf. »Mag sein, aber ich habe doch gemerkt, dass du beim Rehrücken, Schäufele und Landjäger eher nachgelegt hast als beim Coq au vin oder Pâté en Croûté.«

Friedrich stieß ein tiefes Lachen aus und ließ es dabei bewenden. Ein wenig von sich eingenommen wirkte er, auch wenn er Beate widersprochen hatte. Als sei es nur recht und billig, dass man sich nach seinen Wünschen richtete. Eine Eigenheit, die Claire fremd war.

»Haben Sie sich schon gut in der Praxis eingelebt, Monsieur Leberecht?«, brachte sie das Thema nonchalant auf ihn.

»Ach, papperlapapp«, warf Günther dazwischen und hob das Glas. »Selbstverständlich macht ihr nicht so ein Gewese, sondern duzt euch! Wir sind hier unter Freunden, nicht wahr?«

Beate, Theo und Friedrich hoben sofort ihre Gläser. Claire hielt nicht viel davon, zu schnell zu vertraulich zu werden. Als Croupière wusste sie, dass eine gewisse Distanz hilfreich war. Sie hätte lieber ein paar Tage oder Wochen gewartet, bis sie zur vertrauten Anrede überging, doch ein weinseliger Günther Leberecht war nicht zu bremsen. Jetzt abzulehnen, hätte einen herben Fauxpas bedeutet, den sie so schnell nicht wieder ausbügeln konnte. Sie rang sich zu einem Lächeln durch, stieß ihr Glas gegen das der anderen und sah Friedrich an. »Dann gerne Claire.«

In seinen Augen blitzte es, ob vor Belustigung oder Freude vermochte sie nicht festzustellen. »Ich bin Friedrich, aber das weißt du ja.« Er lächelte, bevor er sich wieder seinem Teller widmete. Obwohl alles herrlich roch, verspürte Claire auf einmal wenig Appetit. Ihre Gedanken kreisten um diesen Mann, der dicht neben ihr saß und einen gänzlich anderen Eindruck machte als bei ihrer ersten Begegnung.

Eine Weile hörte man nur das Klappern des Bestecks und das Gluckern der Weinflasche, wenn das Dienstmädchen nachschenkte.

»Es ist so furchtbar, dass Jean Jacques Bénazet von uns gegangen ist«, bemerkte Claire mit Blick zu Theo. »Weiß man schon, wann die Beerdigung sein wird?«

Theo schob sich eine Gabel voll Krautsalat in den Mund und nickte. »In zwei Wochen gibt es eine Trauerfeier für alle, die ihn kannten.«

»Ich werde auf jeden Fall daran teilnehmen«, erklärte Claire. »Ich habe ihm viel zu verdanken. Und ich mache mir Sorgen, wie es ohne ihn weitergeht. Was ist dein Eindruck, Theo? Wird der Junior das Werk seines Vaters fortführen? Oder dreht sich der Wind?«

Theo zuckte die Achseln. »Er hat eine andere Art, so viel ist sicher. Aber seine Mutter wird schon darauf achten, dass alles weiterhin in geordneten Bahnen verläuft. Sie ist eine sehr kluge Frau.«

»Kluge Frauen sind ein Gewinn für die Gesellschaft«, warf Friedrich ein und wechselte unversehens ins Politische, das ihm offenbar am Herzen lag: »Gerade in diesen Zeiten, da man sich auf nichts mehr verlassen kann. Zum Glück, muss ich sagen, zum Glück! Das Bürgertum hat ein Recht, Mitsprache zu fordern. Die Revolution kommt genau zur richtigen Zeit. Die Franzosen haben uns Mut gemacht, an den bestehenden Machtverhältnissen zu kratzen. Sie haben uns gezeigt, was möglich ist, wenn das Volk zusammenhält und sich nicht mehr alles gefallen lässt!«

»Ich gebe dir recht«, erwiderte Günther, klang aber weniger enthusiastisch und sprach bedachter. »Die Ideale von Freiheit und Gleichheit finden aus gutem Grund Widerhall. Man muss nur aufpassen, dass es keine Radikalisierung gibt. Die hat selten zu etwas Gutem geführt.«

»Da stimmte ich dir gern zu, Onkel, aber wenn liberale Tendenzen im Deutschen Bund rigoros unterdrückt werden, muss man gegensteuern. Friedrich Hecker und Gustav Struve sind bewundernswerte Männer, von denen man im Lauf dieser Revolution noch so einiges hören wird!«

»Du kennst diese Radikaldemokraten?«, fragte Claire.

Friedrich schloss kurz die Augen und hob eine Schulter. »Man kommt mal hier, mal dort herum. Zu meinem Bekanntenkreis gehören illustre Männer aus allen Lagern.«

»Ein Mann von Welt, der sich auf dem politischen Parkett zu Hause fühlt?« Claire achtete darauf, nur einen Hauch von Spott in ihre Bemerkung zu legen. Friedrich entging er offenbar.

»Wenn du es so nennen willst«, gab er zufrieden zurück. »Ich halte es für wichtig, nicht im Elfenbeinturm zu leben, nur weil wir den medizinischen Eid geleistet haben. Ich will teilhaben an allem, was in unseren Landen passiert. Deswegen überlege ich auch, in den Schützenverein einzutreten, in dem inzwischen viel mehr debattiert wird als nur die beste Schießtechnik. Vereine sind in diesen Zeiten das probate Mittel, sich gesellschaftlich zu engagieren und politische Kompetenz zu schulen. Wenn du magst, mache ich dich gern mit dem Vereinsvorsitzenden bekannt. Vielleicht nimmt man dich auf?«

Claire spürte ein jähes Unwohlsein. Eine Selbstgefälligkeit sprach aus seinen Worten, die ihr gegen den Strich ging. »Braucht eine Frau denn einen Mentor, um Mitglied in einem Verein zu werden? Hat nicht Hecker jüngst eine Schrift veröffentlicht, in der er die Frauen und Mädchen lobte? Sie zeigten sich mutiger und begeisterter als die Männer, allen voran jemand wie Amalie Struve.« Wie wichtig es war, sich durch die tägliche Lektüre der örtlichen Zeitungen zu bilden! Es fühlte sich gut an, Friedrich etwas entgegenzuhalten.

»Das sind Einzelfälle«, tat er es mit einer lapidaren Geste ab. »Und ich weiß auch nicht, ob es sinnvoll wäre, wenn du dich als Croupière so wie eine Amalie Struve engagieren würdest. Das fällt auf dich zurück in deiner Welt der Reichen und Adeligen.«

»Danke für den Hinweis, ich kann durchaus selbst einschätzen, worauf ich mich einlassen kann und wovon ich mich distanzieren sollte«, gab Claire bissiger zurück, als sie es beabsichtigt hatte. Der Schinken auf ihrem Teller war inzwischen kalt geworden. Obwohl sie keinen Appetit verspürte, aß sie ihn, in kleine Stücke geschnitten, auf, um Beate nicht zu brüskieren.

»Ach, Kinder, nun streitet doch nicht!« Günther hob erneut sein Glas, und alle taten es ihm nach.

»Wir streiten nicht, Onkel«, widersprach Friedrich. »Ich liebe den Austausch von Gedanken, und Claire ist eine besonders gebildete Frau, wenn auch etwas stur.«

Alle lachten, sogar Theo. Claire blieb stumm. Im Gegensatz zu Beate. »Davon abgesehen«, warf die Hausherrin ein, »was sich neckt, das liebt sich!«

Das war der Punkt, an dem Claire gerne Besteck und Serviette abgelegt und die Gesellschaft verlassen hätte. Aber das wäre unhöflich gewesen, und auch nicht fair gegenüber ihren Freunden, die sich so auf ihr Kommen gefreut hatten. Wenigstens bemerkten zwei der drei Herren im Raum ihr Unwohlsein. Günther warf gepresst ein: »Lass mal gut sein, Beate.« Theo verdrehte die Augen. »Du wieder.«

»Wenn der Schützenverein nichts für dich ist, Claire«, fuhr Friedrich weniger einfühlsam fort, »gibt es hier zahlreiche Geselligkeitsvereine, deren Mitglieder sich nach dem Vorbild adeliger Salons in den Gasthäusern zu zwangloser Konversation treffen.«

Claire beobachtete die revolutionären Ereignisse mit Interesse und hielt viel davon, demokratische Organisationsformen zu erlernen und Gesellschaft und Politik umzustrukturieren. Aber es war nicht ihr Hauptinteresse, ihr Engagement galt ihrem Beruf. Und schon gar nicht wollte sie sich von einem, der erst seit wenigen Wochen in Baden-Baden lebte, belehren lassen, was es hier gab und was nicht. Immerhin hatte sie ihm eine Saison voraus!

»Tatsächlich könnte ich mir eine Mitgliedschaft bei der Liedertafel Aurelia oder auch im Turnverein vorstellen, wenn ich irgendwann mehr Zeit habe. Aber keine Sorge, Friedrich, wenn es so weit ist, ersuche ich aus eigenem Antrieb um Aufnahme, du musst dich nicht bemühen.« Sie wünschte, sie würde sich nicht so von ihm provozieren lassen. Aber mit seiner Art weckte er ihren Widerspruchsgeist. Was er von sich gab, wollte sie verwerfen und korrigieren, damit er aufhörte, so zu tun, als wüsste er alles besser! Schließlich war sie kein kleines Mädchen, das man belehren musste, sondern eine junge Frau, die beruflich in einer Männerwelt Fuß gefasst hatte.

Friedrich hob beide Hände und pustete die Wangen auf. »Bitte verzeih, wenn ich zu aufdringlich war. Ich wollte nur helfen. In der politischen Welt passiert gerade zu viel, als dass man die Augen davor verschließen könnte.«

Da, schon wieder! Sie war durchaus fähig, sich eine eigene Meinung zu bilden. Oder reagierte sie überempfindlich?

Ein Blick zu Theo verunsicherte sie noch mehr. Ihr alter Freund schmunzelte! Glaubte er wie Beate, dass der Schlagabtausch Bedeutung hatte und sich etwas anbahnte? Himmel, als Sicherheitsbeamter sollte er über bessere Menschenkenntnis verfügen!

»Keiner verschließt die Augen«, schaltete er sich nun in die politische Diskussion ein. »Wie denn auch? Gerade erst hat die Baden-Badener Gemeindeverwaltung eine Petition eingereicht, in der sie Pressefreiheit, Volksbewaffnung, Schwurgerichte und die Vereidigung der Truppen auf die Verfassung forderte. Großherzog Leopold hat ohne große Umstände zugestimmt. Die ganze Stadt ist vom revolutionären Geist beseelt.«

»Es wird schärfere Töne geben.« Günther wischte sich über die Stirn, der Wein war ihm zu Kopf gestiegen. »Ich will nicht wissen, wohin uns die Forderung nach einer Bürgerwehr bringen wird. Bürger, die mit der politischen Lage unzufrieden sind und mit Waffen ausgestattet werden, sind eine enorme Gefahr. Einer muss nur den Anfang machen, dann gibt es einen blutigen Volksaufstand.«

»Muss nicht sein«, widersprach Friedrich. »Eine solche Bürgerwehr könnte die öffentliche Ruhe und Ordnung garantieren und die liberalen Errungenschaften gegen republikanische Übergriffe verteidigen.«

»Ohne mich«, erklärte Günther.

»Ich bin auch nicht dabei«, erklärte Theo, und Friedrich verstummte achselzuckend, um sich seinem Essen zu widmen. Er hatte sich wohl mehr Zuspruch erhofft.

Der Abend verlief weit weniger erfreulich, als Claire es sich ausgemalt hatte. Friedrich entpuppte sich als selbstverliebter Mann, der sich Frauen gegenüber allzu gönnerhaft gab. Ja, er sah gut aus, und vermutlich hatte er reichlich Kontakte zu wichtigen Mittelsmännern der Revolution und anderen relevanten Leuten. Aber musste er damit angeben? Musste er Claire behandeln, als benötigte sie seine Fürsprache? Wie enttäuschend, dass sich ihr erster Eindruck vom Herbst so schnell verflüchtigte und er sich als derart aufgeblasen erwies. Beates Versuche, sie und Friedrich zusammenzubringen, störten sie an diesem Abend mehr, als es unter normalen Umständen der Fall gewesen wäre. Und dann die politischen Themen am Tisch. Die deutschen Lande waren im Umbruch, ja, der Wind wehte schärfer. Niemand wusste, wohin die Revolution das Volk bringen würde. Claire hoffte von Herzen, das die allgemeine Unzufriedenheit mit der Monarchie zu keinem blutigen Aufstand führen würde, wie Günther angedeutet hatte.

Mehr noch hoffte sie, dass dies alles ohne Einfluss auf den Spielbankbetrieb blieb. Claire würde natürlich niemals die Augen vor der Not anderer verschließen und helfen, wenn sie konnte. Doch was war falsch daran, auch an die eigene Zukunft zu denken? Zu hoffen, dass Edouard Bénazet sich seines Vaters würdig erweisen und das Kasino, alle Mitarbeiter und Gäste wie ein erfahrener Kapitän sicher durch diese unruhigen Zeiten manövrieren würde?

3

Ende März 1848

»Ich vermisse ihn so, Edouard.«

Edouard Bénazet legte seine Hand auf die seiner Mutter Suzanne, die sich auf dem Weg über die Lichtentaler Allee und später über die Friedhofsstraße bei ihm untergehakt hatte. »Ich doch auch, Maman. Ich kann immer noch nicht glauben, dass das Schicksal ihn aus dem Leben gerissen hat. Vater hat nie kränklich gewirkt.«

Das Wetter meinte es gut mit der Trauergesellschaft, die sich an diesem Samstagvormittag vom Kurhaus aus wie ein Schwarm Raben auf den Weg zum Baden-Badener Hauptfriedhof gemacht hatte. Eine knappe halbe Stunde, bei der man die Lungen mit frischer Luft füllen und die ersten duftenden Vorboten des Frühlings aufsaugen konnte. An den Eichen, Birken, Buchen und Kastanien leuchteten zarte hellgrüne Triebe, in den Blumenbeeten steckten Narzissen und Tulpen ihre Köpfe in das milde Sonnenlicht.

»Wenn wir allein waren«, flüsterte seine Mutter, damit das Gesagte unter ihnen blieb, »hat er manchmal meine Hand genommen, sie auf sein Herz gelegt und gefragt, ob ich es stolpern fühlen kann.« Sie schluckte schwer. »Wie oft habe ich ihm gesagt, er solle Dr. Leberecht aufsuchen. Doch dein Vater war keiner, der sich eine Schwäche hätte anmerken lassen.« Sie senkte den Kopf, ihre Stimme erstickte in Tränen. »Ich hatte immer so eine unbestimmte Angst um ihn, aber dann kam es doch überraschend.«

»Er hat Großes geleistet«, bemerkte Edouard, weil er wusste, dass es seiner Mutter gefiel, wenn er sein Andenken hochhielt. Natürlich stimmte er zu, dass sein Vater viele Dinge ins Rollen gebracht und diesem einst verschlafenen Städtchen im Schwarzwald seinen Stempel aufgedrückt hatte. Sein unternehmerischer Esprit hatte die Menschen mitgerissen, und die Regierung in Karlsruhe hatte ihn gewähren lassen. Ein Mann, den die Einheimischen und Gäste geliebt hatten – großzügig und fantasievoll, sein Kleidungsstil salopp und originell. Edouard machte sich keine Illusionen, dass er sich mit seiner eleganten Ausstrahlung nicht nur äußerlich von dem Senior unterschied. Er würde dem Spielbankbetrieb und den kulturellen Attraktionen der Stadt einen neuen Anstrich geben und dabei vorsichtiger und diplomatischer vorgehen als der roi de Bade. Dem Vater hatte man allein wegen seines Charmes Bitten nicht abgeschlagen. Dieses Charisma fehlte ihm, das wusste er selbst. Dafür besaß er Eigenschaften, die diesen Mangel ausglichen.

Sie hatten die Friedhofskapelle erreicht. Die Menschen bevölkerten das kleine Gotteshaus. Diejenigen, die keinen Platz fanden, standen rund um das Gebäude herum, die Gesichter gesenkt, die Hände gefaltet. Die Musik einer Handvoll Streicher hallte zwischen den Steinwänden und hüllte die Gäste wie eine Wolke aus getragenen Tönen ein.

Edouard nahm seinen Zylinder ab und hielt ihn in den behandschuhten Händen. Sein Frack mit der Weste und dem hochgeschlossenen Hemd saß tadellos, maßgeschneidert. In nichts anderem fühlte er sich wohl. Die italienischen Lederschuhe mit der weißen Applikation glänzten im Licht der Kandelaber. Seine Mutter neben ihm zog ihr mit Spitze umhäkeltes Schnupftuch aus dem Ärmel und betupfte ihre Augen. Das klassische Stück, Franz Schuberts Stabat Mater, schien etwas in ihr zum Fließen zu bringen. Sie war eine Frau, die gemeinhin ihre Gefühle unter Kontrolle hielt, aber den langjährigen Gefährten zu verlieren, überstieg ihre Kräfte.