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Die junghegelianischen Versionen der radikalen Religionskritik stellen die Geburtsstunde der verschiedenen Versionen der modernen politischen Theologie zwischen Sozialismus (Feuerbach, Marx, Bakunin) und Autoritarismus (Max Stirner) dar. Sie beruhen auf einer radikalen eschatologischen Reduktion der Christologie des Gottmenschen auf die beiden Körper des Subjekts als ideale Einheit von Mensch und Menschheit. Gegen deren finalisierende und totalisierende Effekte haben Heinrich Heine und Sören Kierkegaard eine heute aktuelle Konstellation der post-säkularen Aufklärung entworfen, die die Idee der realen Freiheit durch eine dialogische Beziehung zwischen Theologie und Philosophie zu sich selbst befreien will.
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Seitenzahl: 353
Veröffentlichungsjahr: 2024
Christoph Schmidt
Christoph Schmidt ist ordentlicher Professor für Philosophie, Religionswissenschaft und Germanistik an der Hebräischen Universität in Jerusalem. Seine Veröffentlichungen beschäftigen sich mit der Politischen Theologie im Kontext der christlichen, jüdischen und säkularen Moderne.
Christoph Schmidt
Zu Genese, Dialektik und Krise der politischen Theologie bei den Junghegelianern (Zwischen Feuerbach und Kierkegaard)
Europäische Verlagsanstalt
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Printed in Germany
EPUB: ISBN 978-3-86393-659-4
Auch als gedrucktes Buch erhältlich:
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Vorwort
Einleitung: Die Christologie und die zwei Körper des Subjekts I
Nachschrift: Das eschatologische Prinzip als Abschaffung der Sünde und Erfindung des Feindes. Der Schatten des eschatologischen Subjekts
Die Christologie und die zwei Körper des Subjekts II
1 Prolog
2 Von Hegels Christologie zur humanistischen Kritik der Theologie – Kairos, Kanon und Kenosis und die Genese der modernen politischen Theologie
3 David Friedrich Strauß’ Programm der Entmythologisierung und die Religion der Menschheit
4 Ludwig Feuerbach: Von der dramatischen Theologie des Gottmenschen zu einer dialogischen Utopie des Menschen
5 Karl Marx und Friedrich Engels: Existenz zwischen Eschatologie des Gottmenschen und politischer Ökonomie
6 Max Stirner: Der Gottmensch als Antithese: Das souveräne Selbst gegen das Gesetz der Menschheit
Nachschrift: Die negative Eschatologie und ihre Konfliktzonen: von der Utopie zum absoluten Ausnahmezustand der Moderne
Die Daniel-Apokalypse als politischtheologische Katharsis der Moderne: Heinrich Heine und Sören Kierkegaard als Vordenker einer post-säkularen Aufklärung
1 Heines Zur Geschichte von Religion und Philosophie in Deutschland und ihre Revision
2 Kierkegaard – Von der Freiheit des Glaubens zu einer Therapeutik der Existenz: der Gottmensch als Zeichen des Glaubens
Nachschrift: Der Auszug aus der eschatologischen Gefangenschaft
1 Die politische Theologie der Junghegelianer zwischen Carl Schmitt und Ernst Kantorowicz
2 Entwurf zu einer Skizze der Geschichte der modernen politischen Theologie zwischen Aufklärung und Carl Schmitt
3 Ein Gespenst geht um in der Zelle – Max Stirners imaginärer Besuch in Carl Schmitts amerikanischer Gefangenschaft: Ex Captivitate Salus
4 Jonas Flucht vor Gott – Die kritische Theologie der 20er Jahre im Gefolge Kierkegaards: Martin Buber und Karl Barth zwischen Eschatologie und Existenz
Anmerkungen
Die junghegelianische Philosophie der Freiheit und Religionskritik lässt sich als Versuch beschreiben, die Christologie des Gottmenschen in eine politische Eschatologie der zwei Körper des Subjekts als idealer Einheit von Mensch und Menschheit bzw. Existenz und Essenz umzuschreiben. Dabei geht es diesen kritischen Philosophien um eine radikale Transformation und zuletzt Negation der Theologie durch das Subjekt der Politik, die sich in den einander überbietenden philosophischen Konzeptionen des Verhältnisses dieser beiden Körper widerspiegelt. Diese Politisierung der Theologie findet zunächst in David Friedrich Strauß’ Leben Jesu von 1835 in der noch ganz im Gefolge Hegels formulierten allgemeinen Forderung nach der Übersetzung des christlichen Glaubens in eine Religion der Humanität ihren epochalen Ausdruck. Ludwig Feuerbach besteht im Wesen des Christentums von 1841 schon gegen Hegels theologisches „Gespenst“ auf einer restlosen Übertragung der Idee des Gottmenschen auf die Einheit von Mensch und Menschheit im Sinne der Verwirklichung einer dialogischen Freiheit und Gleichheit als Gemeinschaft der realisierten Liebe. Wenn Marx und Engels ihrerseits Feuerbachs Utopie als ein weiteres Surrogat des theologischen Gespenstes verwerfen und gegen alle utopischen Essentialisierungen auf die reale Existenz des Menschen in seiner konkreten sozio- ökonomischen Zerrissenheit zwischen Herrschaft und Knechtschaft verweisen, halten sie immerhin an der Notwendigkeit einer Restitution dieser Einheit der Menschheit durch die ausstehende Revolution fest. In diesen verschiedenen Transformationen des Gottmenschen auf die liberale, sozialistische und kommunistische Konstellation der Menschheit vermag Max Stirner in Der Einzige und sein Eigentum von 1844 lediglich die letzten „Lichtspiegelungen“ der Theologie erkennen, mit denen sich die „jemeinige“ individuelle Existenz nur wieder einem allgemeinen Gesetz und Wesen unterwerfen und ihre Freiheit aufopfern muss. Deswegen wollte er diese Einheit als letztes Residuum der Theologie in einer Antithese aufsprengen, die die Existenz des einzelnen Menschen in einer Art eschatologischen Kontraktion als souveränes Subjekt über das Gesetz der Menschheit stellt.
Die sich in dieser negativen Eschato-Logik abzeichnende politische Dialektik von Freiheit und Herrschaft sollten der späte Heinrich Heine und dann vor allem Sören Kierkegaard auf die in ihr wirksame totale Reduktion der Theologie auf die Philosophie zurückführen, um gegen die Verabsolutierungen bzw. Vergöttlichungen des Subjekts einerseits und gegen jede einseitige orthodoxe Restauration der Theologie andererseits die Idee der Freiheit der Existenz im Sinne einer anderen „postsäkularen“ Aufklärung als eine dialogische Beziehung zwischen Theologie und Philosophie zu sich selbst zu befreien.
Heine und Kierkegaard haben dabei den von der Moderne im Ganzen tabuisierten Begriff der Sünde als Instrument der Kritik der modernen Eschatologik wiederentdeckt und von ihm aus den dieser zugrundeliegenden Mechanismus und den inneren Zusammenhang von souveränem Subjekt und Feind aufgedeckt. Wenn nämlich die moderne Eschatologik mit der Theologie auf die Abschaffung der Sünde der Herrschaft bzw. der Herrschaft der Sünde zielt, setzt sie nicht nur auf eine absolute und „sündenfreie“ Souveränität des Subjekts (1), sondern sie projiziert das Prinzip der Sünde vielmehr auf den Feind des Subjekts, der sich seiner Selbstverwirklichung entgegenstellt. (2) Damit entwirft sich also das Subjekt nicht nur als wahres Vor- und Urbild der Projektion Gottes, sondern erzeugt im Feind das immer schon schuldige und sündige Gegensubjekt, so dass die ursprünglich auf die Utopie der Einheit der Menschheit ausgerichtete Eschatologie des Subjekts der Revolution die Antithese zwischen Souverän und Feind erzeugt, die die Utopie in den absoluten Ausnahmezustand einer unvermeidlichen Konfrontation verwandelt. (3)
Die folgenden Überlegungen liefern keine neuen Erkenntnisse zu den verschiedenen Versionen der junghegelianischen politischen Theologie, sondern versuchen, die bei diesen wirksame Eschatologik und Dialektik aus der Perspektive der Transformation der Christologie in die zwei Körper des Subjekts gleichsam schematisch zu rekonstruieren, um gegen ihre Totalisierungen und Finalisierungen der Freiheit die sich eröffnenden kritischen Strategien zu einer möglichen Rettung der Freiheitsidee nachzuzeichnen.
Dabei lässt sich diese Skizze von Ernst Kantorowicz’ bedeutender Untersuchung über die mittelalterliche politische Theologie der Monarchie inspirieren, die auf einer ähnlichen Analogie zwischen der Christologie und den „zwei Körpern des Königs“ beruht, zudem auch deren ideale Einheit in der frühen Neuzeit – zumal in Shakespeares Königsdramen – in einer Antithese zwischen dem sterblichen König und seinem institutionell abgesicherten Wesen auseinanderbricht. Dabei handelt es sich zunächst um eine historische Analogie, die sich freilich unter den Bedingungen der modernen Eschatologik des Subjekts der revolutionären Philosophie in einem fundamental anderen, ja katastrophischen Licht darstellt, aber jenseits dieser Analogie die grundsätzliche Frage nach der spezifischen Geschichte der modernen politischen Theologie aufwirft, wie sie sich in der junghegelianischen Philosophie in ihrer spezifischen eschatologischen Dialektik artikuliert. (4)
In den folgenden drei zentralen Kapiteln geht es zunächst um die Rekonstruktion der einzelnen Phasen der Transformation der Christologie des Gottmenschen in die verschiedenen Konstellationen des Subjekts, wie diese sich in den Versionen der junghegelianischen politischen Theologie nach Hegel – von David Friedrich Strauß, Ludwig Feuerbach, Karl Marx, Friedrich Engels bis Max Stirner – entfalten. Auf die Einleitung, die diese Geschichte zunächst in ihren Grundlinien entwirft (1), folgt eine ausführlichere Exposition der einzelnen Entwürfe der verschiedenen junghegelianischen politischen Theologien (2). Im dritten Kapitel sollen dann Krise und Kritik dieser Konstellationen, wie sie von Heinrich Heine und Sören Kierkegaard in ihrem inneren Zusammenhang zwischen der Dialektik von Freiheit und Herrschaft und der Dialektik von Theologie und Säkularisation analysiert worden sind, nachgezeichnet werden (3), um die andere Möglichkeit eines „Auszugs aus der eschatologischen Gefangenschaft“ zu entwerfen, mit der nicht nur Theologie und Philosophie, sondern auch Judentum und Christentum aus ihrer klassisch kanonischen Eschatologik der Aufhebung in eine dialogische Konstellation erhoben werden können.
Diese Hauptkapitel werden dabei jeweils von einer kommentierenden Nachschrift begleitet, in der die zentralen Konsequenzen der im Hauptkapitel entwickelten Überlegungen gleichsam auf einem diskursiven Nebenschauplatz ausgeschrieben werden.
So entfaltet die Nachschrift zu I den Mechanismus von Sünde und Feind, der die politische Eschatologik ermöglicht und das Verhältnis des eschatologischen Subjekts zu der aufzuhebenden Theologie (von Judentum und Christentum) bzw. zu den bestehenden Mächten als ultimative Feindschaft konstituiert.
Die Nachschrift zu II wird diesen Mechanismus in seinen Konsequenzen für die Transformation der Eschatologik mit ihren politischen Antithesen in einen absoluten Ausnahmezustand ausführen und die Effekte dieser Transformation für die Genese der neuen eschatologischen Feindbilder (des Klassen-, Rassen- und gnostisch-religiösen Feindes) in ihren totalen Konfrontationen beschreiben.
Die Nachschrift zum letzten Kapitel wird, ausgehend von der Rekonstruktion des Zusammenhangs zwischen der politischen Theologie von Ernst Kantorowicz und Carl Schmitt, zuerst eine kurze und vorläufige Geschichte der politischen Theologie der Moderne aus der Perspektive des junghegelianischen Paradigmas entwerfen. Die junghegelianischen Versionen der radikalen politischen Theologie bilden dabei deren Hochphase und stehen zwischen der ersten Phase der politischen Theologie der Aufklärung, die mit dem Entwurf der säkularen Utopien vom Reich Gottes als Reich der Freiheit und Menschlichkeit im 18. Jahrhundert einsetzt und in Hegels System ihren enzyklopädischen Ausdruck findet, und der dritten Phase, die mit Carl Schmitts Politischer Theologie von 1922 auch namentlich einsetzt und die in der junghegelianischen Philosophie angelegte Antithetik von Souverän und Feind durch eine letzte eschatologische „Kontraktion“ mit der Formalisierung des „Begriffs des Politischen“ in einer Art permanentem Ausnahmezustand festschreibt.
Hier wird es zuletzt um die an Heine und Kierkegaard anschließenden kritischen Versionen dieser politischen Eschatologik in Martin Bubers und Karl Barths existenziell dialogischer Theologie gehen, mit denen der Auszug aus der eschatologischen Gefangenschaft der Moderne (von Hegel bis Carl Schmitt) im Sinne einer Rettung der Idee der Freiheit auf existenziell – therapeutischer und politischer Ebene vollzogen und auf seine theo-politischen Voraussetzungen zurückgeführt werden kann. Diese Rettung zielt über die Dissoziation von Theologie und Philosophie zugleich auf eine Ent-Eschatologisierung des Verhältnisses von Christentum und Judentum, die gegen die klassisch kanonische Aufhebung des Judentums durch das Christentum und den orthodoxen Widerstand des Judentums gegen diese Eschatologik auch hier ein dialogisches Verhältnis zwischen beiden zu etablieren versucht. Die Rettung der Freiheit der Existenz erweist sich im Licht der junghegelianischen Eschatologik also als eine komplexe Strategie der post-säkularen, post-eschatologischen und post-kanonischen Dialogik, sie ergibt aber auch, dass die Geschichte der Existenzphilosophie nicht mit Kierkegaard beginnt, um von den späteren Existenzialdenkern säkularisiert zu werden, sondern dass sie selbst schon Reaktion und Ende eines gescheiterten Säkularisationsprozesses darstellt, der die Existenz und ihre säkulare Philosophie vor ihren eschatologischen, fundamentalistischen bzw. nihilistischen Exzessen abzusichern sucht.
„Seit der Zeit des Konzils von Chalzedon im Jahre 451 n.Chr. ist die Persönlichkeit von Jesus Christus nicht mehr so ein zentraler intellektueller Streitpunkt gewesen wie im 19. Jahrhundert. Wenn das Konzil die orthodoxe Definition von der göttlichen und menschlichen Natur von Jesus erstellte, […] interessierte sich das 19. Jahrhundert allerdings für den historischen Jesus und erzeugte Zweifel und Abfall vom dogmatischen Glauben.“1
Diese erstaunliche Feststellung eines Historikers zur Relevanz des christologischen Dogmas der beiden Naturen Christi in der Moderne, bezieht sich auf die Auseinandersetzung der jungen Hegelianer mit der politischen Theologie der Aufklärung, wie sie, von Lessing und Kant begründet, für diese Radikalen in Hegels Metaphysik zu ihrem vorläufigen Abschluss gekommen ist. Während Hegel den Geist im Sinne der Dialektik des Subjekts und der der Trinität nachgebildeten joachitischen Geschichtslogik2 von den drei Reichen – Vater, Sohn und Heiliger Geist – in dem Gottmenschen Christus vorgebildet sah, der sich im Selbstbewusstsein der Gemeinde als Reich Gottes und d. h. als Staat für alle Bürger verwirklichen soll, forderten die jungen Hegelianer eine radikale Emanzipation von dieser christlichen Metaphysik, die den Gottmenschen radikal humanisieren und d. h. von allen theologischen und politischen Formen der Herrschaft befreien sollte. Die beiden Körper Christi, der göttliche und der menschliche, wurden so als Zweiheit von Mensch und Menschheit säkularisiert, die nun ihrerseits in eine „negative“ Eschatologie der drei Reiche eingeschrieben wurde, nämlich in die drei Phasen der endgültigen Emanzipation von der Theologie und der Reduktion des Gottmenschen auf den Menschen in seiner Menschheit. Das Reich des Gottmenschen sollte nunmehr – so David Friedrich Strauß 1835 in seinem monumentalen Buch über das Leben Jesu – das Reich des Menschen und der Menschheit in einem neuen Zeitalter der Freiheit begründen, das Zeitalter der Humanität: „Diese Unterscheidung des historischen Christus von dem idealen, d. h. dem in der menschlichen Vernunft liegenden Urbilde des Menschen, wie er sein soll, und die Übertragung des seligmachenden Glaubens von dem ersteren auf das letztere, ist das unvermeidliche Ergebnis der neueren Geistesentwicklung; es ist die Fortbildung der Christusreligion zur Humanitätsreligion, worauf alle edleren Bestrebungen dieser Zeit gerichtet sind.“3
Mit dieser Transformation der Christologie in die Humanität initiierte der protestantische Theologe in der Tat eine zweite Revolution des Denkens, mit der sich eine ganze Generation der jungen Hegelianer einerseits gegen die politische Theologie der preußischen Monarchie kehrte, die sich, wie die Könige Friedrich Wilhelm III. und IV., auf die dogmatische Christologie stützte4, andererseits das Hegelsche System gegen die sogenannten Althegelianer stürzen und d. h. vollends humanisieren wollte.
Aber genau bei diesem Versuch ergab sich für diese Generation der radikalen Freigeister, Bruno Bauer, Karl Marx, Friedrich Engels, Michail Bakunin, Max Stirner und andere, die von 1841 bis 1843 in Hippels Weinstube auf der Friedrichstraße in Berlin zu Bier und Streit zusammenkamen, ein gewichtiges Problem, das sie in ihren Bann ziehen sollte: Wie sollte der Mensch in seiner Menschheit, wie sollte das Verhältnis dieser beiden humanisierten Körper des Subjekts in seiner Freiheit nach der Transformation des Gottmenschen eigentlich aktualisiert werden? An dieser Frage sollten sich tatsächlich die Wege der zukünftigen politischen Theologie der Moderne entscheiden, insofern die intendierte ideale Einheit der beiden Körper von Mensch und Menschheit zuletzt in einem radikalen Konflikt zwischen beiden auseinanderbrechen, und der einzelne Mensch – die Existenz – sich tatsächlich gegen seine Essenz, den allgemeinen Menschen bzw. die Menschheit und deren Gesetz von Freiheit und Gleichheit kehren und das Werk der Tötung Gottes durch die Tötung des Menschen als Metonymie für die Menschheit vollenden sollte.5
In der mittelalterlichen politischen Theologie begründete die Christologie die Lehre von den zwei Körpern des Königs, nämlich des real existierenden Königs und der Idee des Königs, und lieferte so eine theologische Legitimation der Monarchie. Diese Theologie der Monarchie gerät, das hat Ernst Kantorowicz6 in seinem meisterhaften Buch des gleichen Titels beschrieben, im ausgehenden Mittelalter in die Krise, wenn der Konflikt zwischen dem real humanen König und der Institution der Monarchie virulent wird und der reale König gegen die Idee aufbegehrt; ein Prozess, den Shakespeare in einigen seiner Meistertragödien auf die Bühne gebracht hat, und der mit dem endgültigen Tod des realen Königs auch das mögliche Ende der Monarchie symbolisiert.
Im 19. Jahrhundert werden wir allerdings Zeugen eines anderen Dramas auf der Grundlage der politischen Christologie, wenn der einzelne Mensch – d. h. seine sich nunmehr herauskristallisierende Existenz – sich gegen seine Essenz und d. h. hier die utopische Einheit von Mensch und Menschheit im Subjekt erhebt und damit die Konfiguration des Humanismus und der Demokratie in einem Akt souveräner Selbstermächtigung gezielt destruiert und sich so über das Gesetz der Humanität stellt. Über die radikale Religionskritik vollstreckt sich hier also eine ganze Dialektik von Freiheit und Herrschaft, noch bevor sie sich in einer konkreten historischen Konstellation darstellt.
Ludwig Feuerbach7 gedachte noch, die metaphysische Selbstentfremdung des Menschen von sich selbst dadurch aufzuheben, dass er den Gottmenschen als Werk der erotischen Einbildung und Projektion auf den realen Menschen reduzierte, dessen Selbst sich in der Einheit der zwei Körper, also über die Einheit des einzelnen Menschen in der Gemeinschaft der Menschheit, zu seinem wahren Selbst entfalten sollte. Gott war nur noch ein anachronistisches Gespenst, das über den Spiegel der Gottesliebe auf die Selbst- und Nächstenliebe des Menschen zurückgeführt werden konnte, wie die göttliche Trinität nur eine Phantasmagorie der wahren Gemeinschaft und dialogischen Intersubjektivität von Ich und Du symbolisieren sollte.
Marx8 und Engels haben diese philosophische Reduktion der Theologie auf die Philosophie zunächst als Vorlage für ihr materialistisches Denken adoptiert, dann aber auch schon als eine Fortführung der Theologie mit anderen Mitteln und d. h. als letztes Werk der idealistischen „Interpretation“ verworfen, um jetzt den wahren, den „historischen“ Menschen in seiner konkreten sozial politischen Existenz zu entdecken. Dieser würde sich gegen die Bedingungen seiner Unterdrückung durch die herrschende Klasse empören und die Welt nicht mehr nur interpretieren, sondern verändern. Die Menschheit war so in sich selbst immer schon entfremdet, weil sie in sich zwischen Herr und Knecht gespalten war. Erst die Revolution der geknechteten Existenz würde diese „ontologische Differenz“ aufheben, um damit freilich die wahre Einheit von Einzelnem und Gesellschaft, von Mensch und Menschheit über die ökonomische Logik in der Zukunft wieder herzustellen.
Hinter diesen und anderen Konstruktionen der Idee des Menschen in seiner Menschheit konnte Max Stirner9 nur das letzte Residuum der Theologie, das letzte theologische Gespenst des Gottmenschen wiedererkennen, insofern der Einzelne mit der Befreiung von Gott zwar nicht mehr dem Gesetz Gottes, sondern nunmehr dem Gesetz der Menschheit als einem neuen Prinzip der Gleichheit sich unterwerfen und seine Individualität aufopfern müsse: „Das Jenseits außer uns ist allerdings weggefegt, und das große Unternehmen der Aufklärer vollbracht. Allein das Jenseits in uns ist ein neuer Himmel geworden und ruft uns zu neuen Himmelsstürmen auf, der Gott hat Platz machen müssen, aber nicht uns, sondern – dem Menschen. Wie mögt ihr glauben, daß der Gottmensch gestorben sei, ehe an ihm außer dem Gott auch der Mensch gestorben ist?“10
Die existenziell-politische Kritik der Theologie als Kritik an der Einbildung des idealen Selbst – Bruno Bauer spricht tatsächlich von dem notwendigen Terror der Kritik gegen alle Theologie11 – erfasst zuletzt die politische Anthropologie selbst, und kehrt, indem sie je von Neuem an der jeweiligen Anthropologie die Spuren der Theologie ahndet, den einzelnen Menschen gegen das Prinzip der Menschheit. Damit setzt die Kritik zuletzt das souveräne Ich als das neue politisch theologische Subjekt der Moderne und die vorläufig letzte Konsequenz der negativen Eschatologie dieser Moderne ein, mit der sich ihr Ideal der Freiheit vollends in Herrschaft und Gewalt verkehrt.
Mit diesem gleichsam apokalyptischen Befund sollte aber diese Eschato-Logik der modernen politischen Theologie längst nicht erfüllt sein. Es waren zwei andere Junghegelianer, die nicht verschiedener voneinander sein konnten, nämlich Heinrich Heine12 und Sören Kierkegaard13, die diese Dialektik von Freiheit und Herrschaft auf dem Hintergrund der politischen Kritik der Theologie einer weiteren Kritik unterzogen, die die verborgene theologische Motivation der verschiedenen Versionen des revolutionären Humanismus mit dem von der Moderne im Ganzen tabuisierten Begriff der Sünde tatsächlich effektvoll dekonstruieren sollte: das Subjekt der eschatologischen Moderne entsprach in ihren Augen dem paradigmatischen Aufstand Adams gegen Gott und d. h. dem Versuch einer Selbstvergottung und Selbstermächtigung, mit der es nicht nur die Freiheit des Anderen bedroht, indem es ihn zum Inbegriff der Herrschaft und ultimativen Sünde und das heißt zum eschatologischen Feind erhebt, sondern sich selbst mit dieser Selbstermächtigung notwendig in Fesseln legt, um so tatsächlich in einer totalen Aufhebung der ursprünglich intendierten Freiheit des Subjekts zu enden. Beide erkannten in dieser Idolatrie des Selbst, das sich mit der Theologie auch von der Herrschaft der Sünde als der Sünde der Herrschaft emanzipiert haben will, den Effekt einer negativen Projektion: mit dem idealen sündenfreien Selbst erzeugt das eschatologische Subjekt tatsächlich immer schon den eschatologischen Feind als sein Schatten- und Gegensubjekt, den Katechon, Reaktionär und Konterrevolutionär, der seine Selbstverwirklichung verhindert.
Um den von dieser Moderne immerhin vorausgesetzten Begriff der Freiheit zu retten, suchten beide Denker die totalisierende eschatologische Reduktion der Theologie auf die Philosophie durch eine dialogische Beziehung zwischen Theologie und Philosophie im Geist einer anderen, selbstkritischen – wir würden heute sagen: postsäkularen – Aufklärung14 zu ersetzen, die sich ihrer Grenzen über diesen Dialog je von Neuem versichert.
Gegen die „erste“ Sünde der Abschaffung der Sünde durch das sich selbst verabsolutierende Subjekt der Moderne warnten sie dabei aber auch vor der möglichen „zweiten“ Sünde dieses Subjekts, das sich aus dem Projekt der Moderne und Aufklärung mit einer fundamentalistischen Geste im Ganzen zurückzieht und sich mit der Rückkehr zu Gott, Glauben und Sündenbewusstsein auch wieder den politischen Mächten und Autoritäten – sei es der Kirche oder der Monarchie – verschreibt und damit die Idee der existenziellen und politischen Freiheit revidiert. Die dialogische Beziehung zwischen Philosophie und Theologie ist bei Heine und Kierkegaard immer als eine Befreiung zur Freiheit gedacht, die sich ihrer endlichen Voraussetzungen in der Existenz des einzelnen Menschen bewusstwird und diese in selbstkritischer Wahrhaftigkeit auch auf der intersubjektiven und politischen Ebene in einer dialogisch verfassten Gesellschaft gegen alle eschatologischen Idolatrien und Totalitarismen zu bewähren sucht.
Die hier an einigen zentralen Stationen der junghegelianischen politischen Theologie zu entwerfende erste Skizze der Geschichte der zwei Körper des Subjekts der Moderne und ihrer immanenten (negativen) Eschatologie versteht sich zunächst als eine Art „apriorische“ Rekapitulation der hier waltenden Dialektik von Freiheit und Herrschaft, wie sie sich in der Sukzession der verschiedenen religionskritischen Konstellationen bzw. politischen Theologien zwischen Feuerbach und Stirner als Sukzession der Kritik konsequent entfaltet. Die eigentliche Pointe besteht darin, dass dieser Umschlag der Utopie der Freiheit und Einheit von Mensch und Menschheit in eine neue Form politischer Herrschaft, in der sich das souveräne Selbst zuletzt über und gegen das Gesetz der Menschheit stellt, vor jeder konkreten Dialektik der Aufklärung15 und vor der eigentlichen Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft in Nationalstaat und Kapitalismus, sich ganz allein aus der Dialektik von Theologie und Säkularisation und der darin wirksamen negativen Eschatologik bzw. deren verschiedenen Versionen der politischen Theologie ergibt. Stirners souveränes Selbst bezeichnet dabei nicht nur die letzte Konsequenz dieser Dialektik als Umschlag der Freiheit in blanke Herrschaft (1), sondern dieses souveräne Selbst erweist sich in einem absoluten Anspruch auf diese Freiheit (2), mit dem es sich schon notwendig in einem letzten Antagonismus gegen das bisherige Subjekt der Herrschaft als seinen seinerseits absoluten Feind stellt. (3) Stirners souveränes Selbst repräsentiert so tatsächlich immer schon die Quintessenz des eschatologischen bzw. revolutionären Subjekts, wie dieses sich in der historischen Realität im Ernstfall darstellt, wie dieses revolutionäre Subjekt erst im Kontext der historischen Konflikte seine konkreten ideologischen Wirkungen mit seiner ganzen Macht und Gewalt entfalten sollte. Das revolutionäre Subjekt erscheint hier immer schon in seiner ganzen eschatologischen „Kontraktion“ als der Souverän, der sich zuletzt über den Feind definieren muss.
Die in dieser Eschatologie sich jeweils neu ausschreibende Transformation des Reiches Gottes in das Reich der Freiheit bzw. des Gottmenschen in das Subjekt der Einheit von Mensch und Menschheit versteht sich jedenfalls explizit und allgemein als eine radikale, finalisierende und totalisierende Negation der Religion als Bedingung der Möglichkeit des jeweils wahren politischen Subjekts und seiner politischen Theologie, und das heißt dann auch spezifisch: als Negation der im christlichen Kanon – der Bibel – zusammengestellten Testamente des Judentums und des Christentums – des Alten und Neuen Testaments – durch das Subjekt der Moderne.
Wenn die eigentliche Moderne sich seit der Aufklärung folgerichtig als Aufhebung dieses doppelten Kanons von Judentum und Christentum in einem dritten Testament der Freiheit konstituiert, dann wiederholt sie dabei tatsächlich zunächst die Geste der christlichen Eschatologie, die das Judentum gegen sein eigenes messianisches Verständnis aufhebt, indem sie jetzt das Christentum politisch zu erfüllen behauptet und es ihrem Selbstverständnis zufolge grundsätzlich überholt und überflüssig macht. Gegenüber der „orthodoxen“ Verweigerung sowohl des Judentums gegen diese christliche Eschatologik, wie des nunmehr „orthodoxen“ Christentums gegen die Aufhebung durch die moderne Philosophie der Freiheit behauptet die moderne Eschatologik in ihren verschiedenen politischen Theologien nicht nur die absolute Realisierung eben dieser Freiheit, sondern mit deren vollkommener Realisierung gerade auch die Befreiung von der theologischen – rabbinischen wie priesterlichen – Denunziation des Menschen als einer schuldigen, sündhaften und erlösungsbedürftigen Kreatur, d. h. als Befreiung von dem Prinzip der Sünde. Gegen die klassische Theologie, die die Notwendigkeit der politischen Autorität des Souveräns aus eben dieser wesentlich unvollkommenen, bösen bzw. sündigen Natur des Menschen ableitet, zielt die moderne Eschatologie mit der Befreiung von der theologischen Autorität immer auch auf die Liquidation der Sünde, die sowohl bei den Rabbinern wie bei den Kirchenvätern die politische Autorität im Sinne der Herrschaft und Gnade Gottes legitimiert. Gerade weil der postparadiesische Mensch stets in der Gefahr der Sünde sich befindet, bedarf er der politischen Ordnung, um die nötige Zeit und Frist für deren Beherrschung und Bekämpfung zu erhalten, andernfalls er sofort Gottes Gericht verfallen würde. Das berühmte Prinzip des Katechons,16 „der oder das es aufhält“, aus dem 2. Brief des Paulus an die Thessaloniker (2:1–8), wird spätestens seit Augustinus als der Staat aufgefasst, der mit der Wiederkehr Christi auch das letzte Gericht aufhält. Es bildet die andere – politische – Seite der theologischen Begründung durch Gottes Vorsicht und Gnade, wie sie im zweiten Petrusbrief (3:9) ausgeführt wird: „Der Herr verzögert nicht die Verheißung, wie es einige für eine Verzögerung halten; sondern er hat Geduld mit euch und will nicht, daß jemand verloren werde, sondern daß jedermann Buße finde.“ Die moderne Eschatologie, die mit der Religion Gott und die Sünde vernichtet, zielt im Sinne der drängenden Verzeitlichung des geschichtlichen Zieles auf die Beseitigung dieses Katechons der staatlichen Herrschaft und Ordnung und fordert die politische Aktion der Befreiung ohne Aufschub und Verzögerung17 hier und jetzt. Sie zielt also, das meint der Name „Moderne“, auf die volle Selbstbestimmung des Menschen im „Hier und Jetzt“, also auf eine eschatologische Kontraktion der Geschichte in dem erfüllten Kairos und Augenblick, wo der Mensch, wie Lessing in seinen Thesen zur Erziehung des Menschengeschlechts feststellt, tatsächlich „das Gute tut, weil es das Gute ist“. Damit stellt Lessing in dem Traktat zur Erziehung des Menschengeschlechts die berühmte paulinische Formel der Sünde (Römer 7:19): „Das Gute, das ich will, tue ich nicht; das Böse, das ich nicht will, tue ich“, bewusst auf den Kopf. Diese Formel von der Sünde galt seitdem als die göttliche Rechtfertigung der staatlichen Obrigkeit, wie Paulus sie in Röm. 13:1 begründet.
Aber damit knüpft die moderne Eschatologie ihre Idee der Freiheit und die Realisierung der Menschheit – auch das zeigen die kritischen Analysen der „Sünde“ der souveränen Selbstermächtigung des modernen Subjekts bei Heine und Kierkegaard – nicht nur an die Abschaffung der Sünde, sondern sie projiziert diese Sünde immer schon potenziell auf denjenigen „Feind“, der sich als Religion, Katechon, Herrschaft, Reaktion oder Konterrevolution dieser eschatologischen Selbstverwirklichung eben entgegenstellt. Die utopische Projektion des wahren Menschen, als anthropologische Reduktion des Wesens Gottes erzeugt – gleichsam hinter den utopischen Kulissen – eine negative Projektion des zu überwindenden eschatologischen Feindes: den idolatrischen Schatten bzw. das Gegensubjekt der Moderne, dessen Schatten das utopische Subjekt auszulöschen sucht. Die Genese des eschatologischen Subjekts bezeichnet also immer schon die Geburt seines Gegen- und Schattensubjekts, d.i. des eschatologischen Feindes, der weit über alle Formen realer Konfliktualität – je nach Intensität der revolutionären Motivation – potenziell zum absoluten Feind avanciert. Als Macht und Autorität von Religion und Tradition, als ehemaliger eschatologischer Mitstreiter, der die Revolution verraten hat, oder als Klassen- und später Rassenfeind symbolisiert er in den nun möglichen Szenarien eines letzten, eines eschatologischen Endzeitkrieges die Verhinderung der absoluten Selbstverwirklichung des nunmehr selbst unschuldigen und sündenfreien Subjekts, das umso berechtigter ist, diesen an sich schuldigen und bösen Feind – die Inkarnation der Herrschaft – mit allen Mitteln der (Gegen)-Gewalt zu bekämpfen, ja zu beseitigen und zu vernichten.18
Das Prinzip der negativen Projektion gilt bei weitem nicht nur für den Reaktionär, der der Moderne abschwört, indem er zur Theologie zurückkehrt und mit dem Begriff der Sünde auch die klassisch theologische Legitimation der herrschaftlichen Obrigkeit übernimmt. Bei dem eschatologischen Feind handelt es sich von nun an um einen Katechon, der je nach revolutionärer Praxis in den verschiedensten Konfigurationen von der klassischen theologisch motivierten Macht bis zum bürgerlichen oder sozialistischen Feind der eschatologischen Verwirklichung auftritt.
Wenn die kürzlich von einem postmodernen Eschatologen aufgebrachte These überhaupt Sinn ergeben soll, die Moderne sei das „Paradigma des Lagers“, bzw. das Lager das „Paradigma der Moderne“19, dann tatsächlich nur als die letzte Konsequenz der sich radikalisierenden modernen Eschatologien selbst, die in ihren totalitären Formen sich endzeitlich gegen ihren eschatologischen Feind rüsten, diesen zum absoluten Feind erheben und damit zu dessen Internierung und Vernichtung ansetzen, ja ihre Autogenese an dessen Liquidation knüpfen. Diese Dynamik ergreift die modernen Emanzipationsbewegungen in dem Maße, wie sie ihre revolutionär eschatologische Motivation absolut setzen und im Sinne einer realen oder fingierten Ausnahme mit allen Mitteln des Totalitarismus gegen den Feind durchzusetzen bereit sind.
Etwas von diesem eschatologischen Mechanismus haftet seit den terroristischen Phasen der Französischen Revolution nicht nur fast allen Freiheitsbewegungen an, wenn sie auf dem Weg zu ihrer politischen, sozialen, antikolonialen oder feministischen Selbstbefreiung ihre notwendigen Feindbilder konstruieren, in der Auseinandersetzung dämonisieren und oft mit dem errungenen oder gerade verpassten Sieg nur noch als Kompensation für das Unbehagen an den Schwierigkeiten bei dem trotz allem notwendigen selbstverantwortlichen Gebrauch der Freiheit durch ritualisierte Schuldzuweisungen oder durch neue Strategien der direkten politischen Verfolgung perpetuieren.
Die Revolution kann den ihr eigenen Enthusiasmus des Auszugs und Aufbruchs in die Befreiung, den sie eschatologisch hypostasiert, ohnehin durch keine politische Realisierung zufriedenstellen. Das Surplus an eschatologischer Erwartung des Glücks, das die Idee der Befreiung über die negierte Idee der religiösen Erlösung utopisch überhöht, muss angesichts der immer nur partikularen und endlichen Umsetzung ihrer Ziele an der revolutionären Energie zehren und sich gegen die Effekte der Enttäuschung des Scheiterns entweder durch eine Art permanenter Neuauflage eschatologischer Zielsetzungen oder naheliegender: eben durch die Perpetuierung des Feindes zu legitimieren versuchen. Auf jeden Fall muss die reale Freiheit als verantwortliche Praxis des Alltags mit ihren prosaischen Lasten gegenüber der Glorie der Befreiung mit ihren poetischen Festen, Dramaturgien und politischen Ritualen schnell verblassen, langweilen, wenn nicht Überdruss erzeugen und zuletzt nur noch als Last empfunden werden.
Der in der politischen Eschatologie immer schon waltende „apriorische“ antitheologische Mechanismus von Sünde – Feind erhält die revolutionäre Bewegung, ergreift dabei sehr schnell auch die eigentlich gegenrevolutionären Bewegungen, den politischen, nationalen, und religiösen Katechon der Antimoderne, der gegen den eschatologischen Feind der radikalen Moderne neoorthodox, fundamentalistisch oder heute vor allem populistisch aufrüstet, um seinen Krieg nun seinerseits eschatologisch in konterrevolutionäre Apokalypsen einzuschreiben. Der Katechon erscheint hier zuletzt selbst als eine neue eschatologische Konfiguration, als deren vermeintlich letzte Konsequenz, wie sich das Selbst der egoistischen Macht bei Max Stirner als vorläufig letzte Konfiguration der von Feuerbach, Bauer und Marx eingeleiteten eschatologischen Kritik der Religion begreift.20
Dieser eschatologische Mechanismus der Selbsterzeugung des unschuldigen Subjekts und seines schuldigen Schattens zeichnet sich, bevor sie die junghegelianische Konstruktion des Bürgers und des Klassen- und später Rassenfeindes bestimmt, tatsächlich zuerst an der radikalen Religionskritik der jungen Hegelianer ab, die mit der preußischen Monarchie die klassische orthodoxe Religion liquidieren will, indem sie eben die Eschatologie dieser Religion als Strategie ihrer Selbstverwirklichung adoptiert und die Religion als den perfiden „Erfinder“ der Sünde zu ihrem ultimativen Feind erklärt.
„Wir haben dagegen den Menschen dem Himmel, d. h. dem geistigen Ungetüme, dem verkehrten Geiste, dem Gespenst, der Unbestimmtheit, der geistigen Illusion, der Lüge wieder abzugewinnen. ‚Wir haben nicht mit Fleisch und Blut zu kämpfen, sondern mit Fürsten und Gewaltigen, nämlich mit den Herren der Welt, die in der Finsternis dieser Welt herrschen, mit den bösen Geistern unter dem Himmel.‘ (Eph. 6:12). Wir haben mit dem letzten Feind des Menschen zu kämpfen, mit dem Unmenschen, mit der geistigen Ironie auf die Menschheit, mit der Unmenschlichkeit, die der Mensch gegen sich selbst begangen hat, mit der Sünde, da sie unendlich seiner Selbstsucht schmeichelt, indem sie ihn seinem wahren Maaße entrückt und mit der Glorie, d. h. mit dem grenzenlosen Dunst der himmlischen Unbestimmtheit umgibt.“21
Bruno Bauer übersetzt diesen endzeitlichen Kampf gegen den absoluten Feind der Religion und den Erfinder der Sünde schon in ein apokalyptisches Szenario der Eroberung der theologischen Bastille durch das Subjekt der Freiheit: „Die Begeisterung für die Freiheit, die sich selbst ins Gefängnis begeben, die Fesseln zerbrochen, die Gefangenen befreit und endlich das Gefängnis zerstört hat – soll sie nicht auf den Trümmern des Gefängnisses jubeln und die zerbrochenen Fesseln mit Verachtung zu Boden werfen. Das Feuer, welches das Innere des Gebäudes von unten bis oben ergriffen hat, wird endlich als ganze lichterlohe Flamme über dem zusammenstürzenden Gebäude schlagen.“22
Es dürfte also kein Zufall sein, dass die ersten radikalen Formen des Sünde-Feind-Mechanismus zunächst aus den gezielten Versionen der philosophischen Antireligion bzw. des Antichristentums und auch des neuen säkularen Antijudaismus der Linkshegelianer hervorgegangen sind, die mit der Religion eben den religiös sich legitimierenden Staat vernichten wollen. Feuerbach, Marx, Bauer und Stirner fordern eine radikale eschatologische Auflösung, ja „Vernichtung“ der Religion23, wobei sie zunächst im Christentum noch die Möglichkeit der für sie konstitutiven eschatologischen Transformation des Gottmenschen in die ethische Menschheit adoptieren, die sie – wie Bruno Bauer – zugleich dem gänzlich transzendenten Gott der Juden, der Abraham die Opferung seines Sohnes gebieten kann, absprechen.24
Die Antireligion der modernen negativen Eschatologie, auf dem Weg zum Auszug aus dem Land der Feinde in die vermeintlich sündenfreie Mündigkeit, entwickelt ihre eigenen Formen einer radikalen Feindschaft gegen das orthodox dogmatische, katholische und protestantische Christentum und erneuert zugleich den klassisch religiösen Antijudaismus durch die These von der jüdischen Unfähigkeit zur Säkularisation. Diese These formuliert Bruno Bauer im junghegelianischen Kontext mit seinen Thesen zur „Judenfrage“ 1843, auf die Marx im selben Jahr mit seinem Essay Zur Judenfrage reagieren sollte, wo er die Juden mit dem bürgerlichen Klassenfeind identifiziert, während Bauer diesen Antisemitismus dann seinerseits später in Das Judentum in der Fremde von 1862 schon in eine Lehre vom Rassenkampf umschreiben sollte.25
Was sich hier ex negativo abzeichnet, bestätigt noch einmal die kritische Diagnose von Heinrich Heine und Sören Kierkegaard über die Rolle der Sünde für die Konstitution der modernen Eschatologie des Subjekts, das sich in einem Akt der Selbstermächtigung vergöttlicht und durch die Abschaffung der Sünde von aller Schuld lossagt, um diese dem eschatologischen Feind – dem Schatten des Subjekts – aufzuladen. Die Einsicht in die unbewältigten theologischen Voraussetzungen der radikalen politischen Eschatologie der Linkshegelianer ließ sie den immanenten Zusammenhang von Eschatologie und Totalitarismus als paradoxen Effekt der von ihren Protagonisten gerade vollstreckten Sünde, d. h. der Inszenierung des Todes Gottes als Voraussetzung ihrer ultimativen Selbstermächtigung und Feindbestimmung erklären. Um die von dieser Moderne propagierte Idee der Freiheit auf der existenziellen und politischen Ebene vor ihren eschatologischen Exzessen und Totalitarismen zu bewahren, forderten sie dabei nicht nur eine neue dialogische Beziehung zwischen Religion und Philosophie jenseits der gegenseitigen Delegitimationen und eschatologischen bzw. orthodoxen Reduktionen, sie erkannten neben dieser postsäkularen Konstellation auch schon die nicht minder dringende Notwendigkeit einer post-eschatologischen Konstitution des jüdisch-christlichen Kanons. Wie die Philosophie die Religion nicht länger eschatologisch aufheben und damit negieren sollte, sondern Philosophie und Religion als selbstständige Partner erst in eine dialogische Beziehung der Freiheit eingeschrieben werden sollten, so musste diese Konstellation auch auf die kanonische Beziehung zwischen Judentum und Christentum zurückwirken: Nicht länger konnte das Christentum nur als die eschatologische Realisierung des Judentums dargestellt werden, mit der das Judentum dann immer schon zum potenziellen Feind erhoben wurde, sondern auch hier musste die eschatologische Ordnung und Reduktion durch eine dialogische und so gesehen „post-kanonische“ Relation ersetzt werden, die beide Religionen gleichberechtigt in einer dialogischen Relation nebeneinanderstellt. Heine und Kierkegaard waren sich der Konsequenzen ihrer post-säkularen bzw. posteschatologischen Auffassung der Beziehung zwischen Religion und Philosophie für die post-kanonischen Relationen zwischen Judentum und Christentum durchaus bewusst, auch wenn sie sie nur in Ansätzen ausgeführt haben. Heines Nebeneinanderstellung von Moses und Jesus als Verkünder der Freiheit des Glaubens, wie Kierkegaards Re-Theologisierung des Denkens durch die beiden „absurden“ Konstellationen des Glaubens bei Abraham und Jesus, mit denen die eschatologische bzw. ontotheologische Identität von Gott und Subjekt durch den unendlichen qualitativen Unterschied zwischen beiden endgültig aufgebrochen wird, weisen schon in die Richtung einer postkanonischen Verfassung der dialogischen Freiheit der Religionen als Spiegel der post-säkularen Relation zwischen Religion und Philosophie, wie diese sich auch schon bewusst in eine alternative, tatsächlich bei Lessing vorzufindende Tradition der Aufklärung stellt.
Ernst Kantorowicz hat in seiner berühmten Untersuchung über die zwei Körper des Königs1 die politische Theologie der elisabethanischen Monarchie analysiert, die sich auf dem Hintergrund des chalzedonischen Dogmas entfaltet. Der König als Abbild Christi trägt demnach in sich zwei Körper, den idealen ewigen Körper des Königtums und den sterblichen Körper des real existierenden menschlichen Königs. Die berühmte Formel „The king is dead, long live the king“ fasst diese christologische Doppelnatur für das allgemeine Bewusstsein zusammen. Kantorowicz erzählt aber in seiner brillanten Untersuchung auch, wie diese Theorie in der Krisenzeit der englischen Monarchie zu einer dramatischen Entgegensetzung des sterblichen gegen den ewigen König geführt hat, die dann vor allem in Shakespeares Dramen in ihrer Tragik auf der Bühne zur Darstellung kommt. Die Darstellung der konkreten Sterblichkeit des realen Königs entleert die Idee des idealen Königtums von aller Effektivität und wird so potenziell zum Symbol des Endes der Monarchie.
Der von seinen Feinden bedrängte König Richard II. verliert das Vertrauen auf seine ewige königliche Majestät und verfällt seiner Angst vor der eigenen körperlichen Gebrechlichkeit und Sterblichkeit, er erfährt an sich seine durch und durch temporale Existenzialität.2
… höhnt nicht Fleisch und BlutMit Ehrbezeugung; werft die Achtung ab,Gebräuche, Sitt und äußerlichen Dienst!Ihr irrtet euch die ganze Zeit in mir:Wie ihr, leb ich von Brot, ich fühle Mangel,Ich schmecke Kummer und bedarf der Freude.
So unterworfen nun, wie könnt ihr sagen, daß ich König bin?
Diese christologisch motivierte Dramaturgie der elisabethanischen Monarchie kodifiziert den Übergang von dem theologischen Weltbild zu der profan säkularen Tragödie des sterblichen Königs als Symbol für eine Humanisierung, die mit dem Ende der Theologie auch das Ende der Monarchie als eine „ewige“ Institution nahelegt. „Das heißt, daß der König im natürlichen Leib zum Verräter am König im politischen Körper geworden ist, am ‚hohen Körper des Königs‘. Richards Selbstanklage klingt wie eine Vorwegnahme der Anklage von 1649, der Anklage wegen des Hochverrats, den der ‚natürliche‘ König gegen den ‚politischen‘ begangen hat.“3
Neben dieser Analogie zwischen der Christologie und der Monarchie, die bei Shakespeare in der dramatischen Destruktion der chalzedonischen Einheit der Körper durch ihre existenziell bestimmte Antithese endet, hat Kantorowicz vor allem am Beispiel von Stauferkaiser Friedrich II. und Dantes politischer Theologie die Transformation dieser Christologie in säkulare Formationen einer durch Recht und Gerechtigkeit bestimmten Humanitas analysiert. So steht die Auffassung des Kaisertums bei Friedrich II. „nicht mehr in der Idee des christozentrischen Königtums“, sondern säkularisiert die christliche Beziehung zwischen Vater und Sohn – „ex exemplo patris et filii“ – in der juristischen Definition der Stellung des Kaisers vor dem Gesetz des Staates als „Pater et filius iustitiae“. „Der Cäsar muß deshalb zugleich der Vater und der Sohn der Gerechtigkeit sein, ihr Herr und Diener. Vater und Herr in der Schaffung der Gerechtigkeit und im Schutz des Geschaffenen; desgleichen soll er in ihrer Verehrung der Sohn der Gerechtigkeit und im Dienst an ihrer Fülle ihr Diener sein.“4 Dante hat diese Säkularisierung als eine gezielte Trennung zwischen „christianitas“ und „humanitas“ vollzogen, wenn er „das ‚Menschliche‘ aus dem christlichen Verband heraus[nahm] und […] es […] als Wert eigenen Rechts (isolierte). Das war vielleicht Dantes originellste Leistung auf dem Gebiet der politischen Theologie.“5 Indem Dante Papst und Kaiser nebeneinanderstellte, so dass der letztere keiner „päpstlichen Weihung“ bedurfte, „gelangte er zu der Konstruktion einer säkularisierten Imitation des religiösen Kirchenbegriffs.“6 Mit anderen Worten, Dante konstruiert ein „auf den Menschen konzentriertes Königtum“,7 das nicht nur die res publica Christiana, sondern die gesamte Menschheit umfassen soll. „Während große Teile der Menschheit (Juden, Mohamedaner, Heiden) nicht dem mystischen Leib angehörten, höchstens potentiell, umschloß Dantes humana civilitas alle Menschen.“8 Dante zielt so auf eine erste säkulare Umschreibung des mystischen Leibs Christi, des Gottmenschen, auf die Idee der Einheit von Mensch und Menschheit. „Dementsprechend erschien die Menschheit oder die humanitas dem Dichter quantitativ wie ein Mensch, eine einzige allumfassende Gemeinschaft, eine universale Körperschaft oder ‚eine gewisse Totalität‘ (quodam totum), welche Dante die humana universitas oder humana civilitas nannte.“9 Allerdings wird diese Körperschaft als säkularisierte Form des Corpus Christi stets als Einheit von Haupt und Körper, also von König und dem in Ständen sich differenzierenden Volk vorgestellt. „Und genau wie die Menschen geistlich in dem geistlichen Körper vereint sind, dessen Haupt Christus ist, […] so sind die Menschen moralisch und politisch in der res publica vereint, die ein Körper ist, dessen Haupt der Fürst ist.“10
Diese christologisch motivierte politische Theologie des späten Mittelalters erscheint schon wie ein Vorspiel zu ihren modernen Konfigurationen, in denen die Christologie zur Vorlage des neuen Humanismus nach der Aufklärung werden sollte. Sie erinnert insbesondere an die spezifische Logik der hegelschen Rechtsphilosophie, die die Idee des Gottmenschen auf die bürgerliche Gesellschaft und den Staat überträgt, die dabei allerdings noch durch die eine Person des Monarchen verkörpert werden sollten. Aber mit der Idee der Einheit der beiden Körper Christi als Vorbild für die Einheit von Mensch und Menschheit bildet Hegels politische Christologie die Vorlage für ihre junghegelianischen Nachfolger, die, indem sie diese Christologie vollends humanisieren und verzeitlichen wollten, die Geschichte der beiden Körper als Einheit von Mensch und Menschheit, von Individuum und Gesellschaft, bzw. Existenz und Wesen in eine dramatische Auseinandersetzung zwischen diesen beiden Körpern des Subjekts überführten. Die junghegelianischen Versionen der Transformation der Christologie in das Subjekt erinnert tatsächlich sehr genau an die von Kantorowicz am Beispiel Shakespeares entfaltete Dramaturgie dieser beiden Körper. Hier wird die eigentliche Dramaturgie der Transformation der Christologie in das Subjekt als Doppelnatur des Menschen qua Einheit von Mensch und Menschheit gestiftet (1), die dann über die Konkretisierung und Temporalisierung der Existenz des realen Menschen in eine Antithese verkehrt wird (2). Je mehr der einzelne reale Mensch als konkrete Existenz, als „Sein und Zeit“11 durch die Kritik der Theologie in den eigentlichen Fokus des Interesses gerät, desto mehr erscheint die Einheit der beiden Körper von Feuerbach bis Stirner als sich polarisierende Spannung zwischen diesen beiden Körpern, so dass zuletzt der einzelne Mensch, die Existenz, das allgemeine Subjekt bzw. die Idee der Menschheit, wie es tatsächlich später bei Heidegger heißen wird: im Sinne des eschatologischen Zeitgeistes der dreißiger Jahre „sprengt“.12
Mit anderen Worten: Kantorowicz’ Rekonstruktion der mittelalterlichen politischen Theologie hat nicht nur den inneren Zusammenhang zwischen Christologie und Subjekt am Beispiel des Königs herausgearbeitet, sondern diese Analogie auch schon als eine protomoderne Transformation und Säkularisation skizziert, die dann die modernen Versionen der politischen Theologie bestimmen sollte. Dabei findet das mittelalterliche Drama der beiden Körper des Königs dann ihre moderne Entsprechung in der Dialektik der beiden Körper des Subjekts als Mensch und Menschheit, mit der sich das utopische Subjekt in eine Konfiguration permanenter Gewalt verkehrt.