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Brenda Leb wurde in ihrer Kindheit jahrelang von ihrem Vater sexuell missbraucht. ‘Mein Weg aus dem Fegefeuer’ war für die Autorin sehr steinig. Doch sie wurde stark, tolerant und glücklich. In diesem Buch erzählt sie von der Alzheimer Erkrankung ihres Vaters, der zwiespältigen Beziehung zu ihrer Mutter und wie sie am Arbeitsplatz in ein Burnout schlittert. Doch sie findet wieder Halt, erkennt ihr Potential, entdeckt ihre Kreativität. Bis sie der Verlust einer Liebe, die sie für unsterblich gehalten hat, und eine herbe Enttäuschung in eine tiefe Krise stürzen. Doch sie verbittert nicht, vertraut auf ihre Stärken, bleibt ihrem versöhnlichen Weg treu. Da hält das Leben für sie ein Geschenk bereit und während sich ein Kindheitstraum erfüllt, findet sie neues Glück, unbändige Lebensfreude und tiefe Erfüllung. ‘Die zwei Wölfe’ weist in eindrucksvoller Weise auf die dramatischen Folgen des Verdrängens hin. Nachdem Brenda als Einzige in ihrer Familie ihre traumatischen Erlebnisse in einer Psychotherapie aufgearbeitet hat, schenkt sie durch dieses Buch nicht nur wertvolle Einblicke in die eigene Seele.
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Veröffentlichungsjahr: 2024
Inhaltsverzeichnis
Widmung
Die zwei Wölfe
Vorwort
Prolog
Verdrängen
Mantel des Schweigens
Trübes Wasser
Mutterliebe
Hackelsberg
Nicht zufrieden
Katzenlauf
Aneinander gewöhnen
Ein kleiner Funke
Pflichten übernommen
Alleiner als allein
Andere Seite des Regenbogens
Das Hamsterrad
Kunde ist König
Schwarzer Freitag
Seelentumor
Nicht einmischen
Hängenlassen
Kreatives Herzblut
Sippenhaftung
Papa
Kirschenbäumchen
Impfung
Das Schaf
Fremdes Wesen
Verzeihen
Tusch, tusch, tusch
Gaumenzäpfchen
„Du kannst mich ...“
Laut und hoch
Friedliches Fest
Im gleichen Boot
Sack Futter
Persönliche Worte
Danksagung
Mehr von der Autorin
Impressum
Brenda Leb
Die zwei Wölfe
Jenseits des Fegefeuers
Das Buch
Als Jugendliche wurde Brenda Leb vom eigenen Vater jahrelang sexuell missbraucht. In ihrer Autobiografie ‘Mein Weg aus dem Fegefeuer’ beschrieb sie ihren steinigen Weg zur glücklichen Frau.
In diesem Buch erzählt sie von der Alzheimer Erkrankung ihres Vaters, der zwiespältigen Beziehung zu ihrer Mutter und wie sie am Arbeitsplatz in ein Burnout schlittert. Doch sie findet wieder Halt, erkennt ihr Potential, entdeckt ihre Kreativität. Bis sie der Verlust einer Liebe, die sie für unsterblich gehalten hat und eine herbe Enttäuschung in eine tiefe Krise stürzen. Doch sie verbittert nicht, vertraut auf ihre Stärken, bleibt ihrem versöhnlichen Weg treu. Da hält das Leben für sie ein Geschenk bereit und während sich ein Kindheitstraum erfüllt, findet sie neues Glück, unbändige Lebensfreude und tiefe Erfüllung.
‘Die zwei Wölfe’ weist in eindrucksvoller Weise auf die dramatischen Folgen des Verdrängens hin. Nachdem Brenda als Einzige in ihrer Familie ihre traumatischen Erlebnisse in einer Psychotherapie aufgearbeitet hat, schenkt sie durch dieses Buch nicht nur wertvolle Einblicke in die eigene Seele.
Impressum
© urheberrechtlich geschütztes Material
Text von Brenda Leb © Copyright by Brenda Leb
www.brendaleb.at
Alle Rechte vorbehalten
© 2024 Brenda Leb
Autorin: Brenda Leb
Umschlaggestaltung Brenda Leb
Die Autorin
Brenda Leb wurde 1960 in Wien geboren, ist verheiratet und Mutter von zwei erwachsenen Kindern. Ihre Autobiografien ‘Mein Weg aus dem Fegefeuer’ sowie ‘Die zwei Wölfe’ schrieb sie unter Pseudonym, um vorkommende Personen und deren Privatsphäre zu schützen.
Unter ihrem bürgerlichen Namen veröffentlicht die Autorin humorvolle Unterhaltungsliteratur und fesselnde Romane.
Besuchen Sie Brenda Leb auf ihrer Homepage
https://www.brendaleb.at
Dieses Buch widme ich meiner geliebten Schwester Angela.
Ein Cherokee-Indianer soll seinem Enkelsohn einst von dem Kampf erzählt haben, der in jedem Menschen tobt.
Er sagte: „Der Kampf wird von zwei Wölfen ausgefochten, die in jedem von uns wohnen. Einer ist böse. Er ist der Zorn, Neid, Eifersucht, Schmerz und Gier, die Arroganz, Schuld, das Selbstmitleid, Vorurteile und Minderwertigkeitsgefühle.
Der andere hingegen ist gut. Er ist die Freude, Friede, Liebe, Hoffnung und Heiterkeit, Demut, Güte, das Wohlwollen, die Zuneigung, Großzügigkeit, Aufrichtigkeit, das Mitgefühl und der Glaube.“
Der Enkel dachte einige Zeit nach und fragte dann: „Welcher der beiden Wölfe gewinnt?“
Der alte Cherokee antwortete: „Der, den du fütterst!“
Aus einer Überlieferung der amerikanischen Ureinwohner
Ich hatte eigentlich nicht vor, zu meiner Autobiografie ‘Mein Weg aus dem Fegefeuer’, eine Fortsetzung zu schreiben.
Doch dann überschlugen sich im vergangenen Jahr in meinem Leben die Ereignisse und ich erkannte, dass ich meine Autobiografie eigentlich um die neu gewonnenen Erkenntnisse aktualisieren sollte.
Doch das wollte ich nicht.
‘Mein Weg aus dem Fegefeuer’ ist ein gelungenes Werk (ja, ich klopfe mir selbst auf die Schulter), das bisher so positiv aufgenommen wurde, dass ich beschlossen habe, es keinesfalls zu verändern.
Nachdem man bei einer fertig gebackenen Torte im Nachhinein auch keine Zutaten mehr hinzufügen kann, wollte ich meine Autobiografie wie eine hübsch verzierte Geburtstagstorte behandeln: Gut geworden; kann und soll nur mehr konsumiert werden.
Aber ich kann eine neue Torte backen!
Und dazu entschloss ich mich. Nicht zum Tortenbacken – um ehrlich zu sein, das kann ich gar nicht so gut.
Nein, ich schrieb eine Fortsetzung zu meiner Autobiografie.
In diesem Buch beschäftige ich mich mit den Geschehnissen der Jahre 2000 bis 2024 und widme mich intensiv dem Verdrängen. Dieses Thema ist so komplex, dass ich es in meinem ersten Buch kaum erwähnt habe. Auch deshalb, weil ich die negativen Auswirkungen zum Zeitpunkt der Veröffentlichung noch gar nicht so intensiv bemerkt hatte.
Doch inzwischen sehe ich die fatalen Auswirkungen und möchte mit diesem Buch aufzeigen, wie wichtig eine Psychotherapie ist, wenn man schreckliche Dinge erlebt hat.
Ich will weder anklagen, verurteilen noch abrechnen, sondern einfach nur helfen.
Um vorkommende Personen schützen zu können, schrieb ich daher unter Pseudonym und änderte jeden Namen. Doch abgesehen von den erfundenen Namen blieb ich bei meinen Erzählungen an der Wahrheit. An meiner subjektiven Realität, die ich gerade bei Dialogen nach so langer Zeit vielleicht nicht immer Wort für Wort und ganz genauso wiedergeben konnte. Doch die Aussagen sind zutreffend und alles, das ich in diesem Buch niederschrieb, entstammt meinen persönlichen Erinnerungen.
Wer ‘Mein Weg aus dem Fegefeuer’ gelesen hat, wird meine Geschichte wohl kennen.
Falls Sie meine Autobiografie nicht gelesen haben oder sich nicht mehr erinnern können, gebe ich hier im Vorwort einen kurzen Überblick.
Ich wurde als 11-Jährige fünf Jahre lang von meinem Vater sexuell missbraucht und meine zwei Jahre jüngere Schwester Angela musste das gleiche Schicksal erleiden, nachdem ich mich aus Vaters Fängen befreien habe können.
Nach meiner gewaltvollen Kindheit und schrecklichen Jugend war ich keinesfalls glücklich geworden, sondern taumelte von einem Unglück ins nächste, weil mich meine Ängste, Störungen, mein innewohnender Hass und Ekel dominiert hatten.
Als ich eines Tages nur mehr Selbstmord als Ausweg gesehen habe, traf ich mit 30 Jahren endlich die richtige Entscheidung: Ich machte eine Psychotherapie.
Diese Behandlung meiner Seele hat nicht nur mein Leben, sondern auch das meiner Kinder gerettet.
Danach war mein Leben ein völlig anderes und ich erkannte den Unterschied zwischen überleben und leben.
In meinem neuen Leben lernte ich 1991 Georg, meine große Liebe kennen, den ich 2000 geheiratet habe.
Meine Kinder Albert und Roberta sind inzwischen erwachsen und ich bin in jedem Bereich meines Lebens glücklich geworden.
Weil dieses Glück gerade bei Opfern von (sexueller) Gewalt keineswegs eine Selbstverständlichkeit ist, habe ich ‘Mein Weg aus dem Fegefeuer’ geschrieben, um aufzuzeigen, dass man auch mit einer sehr schweren Kindheit und Jugend glücklich werden kann.
Ich sitze auf meiner frühlingshaften Terrasse und staune wie jedes Jahr über die unbändige Kraft der Natur.
Verholzte Rosenranken bringen grüne, saftige Blätter und wunderschöne Rosenblüten hervor. Und das in einer Pracht und Fülle, die man den im Winter verdorrt wirkenden Ästen niemals zutrauen würde.
Tatsächlich öffnet sich soeben die erste Knospe einer Englischen Kletterrose und präsentiert ihre unbeschreibliche Schönheit. Wie ein Kunstwerk ordnen sich verschwenderisch viele, samtig weiche Blütenblätter um die noch verborgene Fruchtkapsel und verströmen beim Öffnen einen berauschenden Duft.
Dutzende Knospen warten zwar noch auf ihre Entfaltung, doch diese erste, vorwitzigste, hat meine gesamte Aufmerksamkeit, weil sie durch ihre jungfräuliche Schönheit verspricht, was mich in den nächsten Wochen erwartet: Eine üppige, rosa Blütenpracht, die in ihrer verschwenderischen Fülle den Rosenbogen in einen rosa Traum verwandeln und mein Herz erfreuen wird.
Ich kann mich über die Wunder der Natur, die Schönheit aufblühender Rosen, aber im Besonderen die Keimkraft von Neuem noch immer wundern, mich daran erfreuen. Weil mir diese Wuchskraft offenbart, dass in jedem Abschied auch ein Neubeginn steckt.
Noch im Winter wirkte die Rose wie tot und nun erstrahlt der Rosenbogen im üppigen Rosa.
So wie ich.
Auch in mir ist im vergangenen Jahr etwas gestorben. Eine Liebe, die ich für unzerstörbar gehalten habe, war plötzlich abgestorben. Tot, wie der kahle Rosenbogen im Winter.
Doch ich habe selbst am Tiefpunkt, als mich Fassungslosigkeit und Trauer übermannt hatten, gewusst, dass ich es überstehen werde.
Mein Gottvertrauen und meine gesammelten Erfahrungen gaben mir diese Gewissheit.
Wie sang bereits Cat Stevens? ‘The first cut is the deepest.’
Jeder erinnert sich wohl an seinen ersten Liebeskummer! Wie hilflos ist man diesem Schmerz ausgeliefert! Man glaubt, nie wieder lieben zu können.
Nie wieder!
Und doch überleben wir diese Seelennot irgendwie und verlieben uns neu, lachen irgendwann wieder.
Und wir lernen daraus, was eben schon Cat Stevens gesungen hat: ‘The first cut is the deepest.’
Die nächsten Schnitte tun tatsächlich nicht mehr so weh. Weil man weiß, dass man jeden Schmerz überleben kann. Wenn man sogar diesen, ersten, so schrecklichen, überleben hat können?
Und auch, weil man weiß, dass wieder etwas Neues kommt. Wie die Rose, die aus dem knorrigen Gehölz im Frühling rauswächst und aus unansehnlichen Ranken unvergleichliche Schönheit werden lässt.
Wenn sich wo ein Fenster schließt, öffnet sich woanders eine Tür.
Auch in mein Leben ist strahlende Schönheit zurückgekehrt.
Ich habe nach einem schlimmen Verlust und einer herben Enttäuschung ein Glück gefunden, das ich noch immer nicht in seiner vollen Dimension fassen kann! Ich hätte doch nicht einmal für möglich gehalten, dass ich so etwas Wunderbares überhaupt erleben darf!
Ich! Die kleine Brenda, die sich nie etwas zugetraut hat!
Ein Traum hat sich für mich erfüllt, just, als ein Albtraum zu Ende gegangen war.
War es göttliche Fügung?
Scheint so!
Ich sollte offenbar den belastenden Teil meiner Vergangenheit, der mir nie gutgetan hatte, hinter mir lassen, um unbelastet und voll Freude das tun zu können, wofür ich schon mein Leben lang gebrannt habe!
Verdrängen.
Weitverbreitet. Vor allem in Familien, in denen Missbrauch stattfindet, Gewalt dominiert oder sonstige Dinge passieren oder passierten, ‘die niemanden etwas angehen‘.
Also in Familien wie meiner.
Ich schreibe zu diesem Thema nicht nur aus eigener Wahrnehmung, Erfahrung, oder was ich durch Gespräche mit Psychologen weiß.
Um objektiv über dieses Thema berichten zu können, habe ich recherchiert. Das Ergebnis meiner Nachforschung setze ich bewusst an den Beginn dieses Buches, weil dadurch die folgenden Erzählungen verständlicher werden.
Was ist Verdrängung überhaupt?
Es ist jedenfalls nicht das Gleiche wie Vergessen! Auch wenn es bei vielen Menschen so wirkt.
Bei meiner Mutter beispielsweise könnte man tatsächlich glauben, sie hätte alles vergessen, was es jemals an Negativem in unserer gemeinsamen Vergangenheit gegeben hat.
Doch das Vergessen ist ein inaktiver Prozess, läuft somit unbewusst ab. Die Verdrängung hingegen ist ein aktiver Prozess, der ständigen psychischen Aufwand erfordert, die sogenannte Verdrängungsarbeit.
Und was ist Verdrängung dann?
Verdrängen ist ein Abwehrmechanismus, der innerseelische oder zwischenmenschliche Konflikte reguliert, indem tabuierte oder bedrohliche Sachverhalte oder Vorstellungen von der bewussten Wahrnehmung ferngehalten werden.
Aus dieser Erklärung geht hervor, dass Verdrängen nicht nur etwas Negatives ist, denn dieser fundamentale Abwehrmechanismus sichert dem Menschen das seelische Überleben, indem es bedrohliche oder tabuisierte Vorstellungen und Erfahrungen vom Bewusstsein fernhält.
Würde ich ständig daran erinnert werden, dass ich irgendwann einmal auf glattem Eis ausgerutscht bin, würde ich doch nie wieder das Risiko eingehen bei Minusgraden das Haus zu verlassen.
Mir würde auch mein Frühstück nicht schmecken, wenn im Hintergrund das Radio läuft und ich nicht fähig wäre, beispielsweise grauenvolle Kriegsnachrichten ausblenden zu können.
Ich verdränge demnach im Alltag eine schreckliche Realität, um meine durchaus erfreuliche genießen zu können. Und das ist mein gutes Recht und macht mich nicht zu einem gefühllosen Ignoranten.
Demnach macht Verdrängen durchaus Sinn. Wir werfen seelischen Ballast und Bedrückendes ab, um unsere Ausgeglichenheit nicht zu gefährden.
„Glücklich ist, wer vergisst, was doch nicht zu ändern ist“, wird daher so gutgelaunt in ‘der Fledermaus‘ geträllert.
Aber wann wird es problematisch? Wann bekommt das Verdrängen eine dunkle, pathologische Dimension?
Wenn unsere Traumata und Erinnerungen quasi zu faulen beginnen. Was nämlich leicht vergessen wird: die verdrängten Bewusstseinsinhalte sind nicht wirklich vergessen und erledigt, nur weil man nicht mehr daran denkt. Sie wurden von uns doch nur in die Tiefen des Unterbewusstseins geschoben und dort arbeiten sie weiter, können massive Ängste, Blockaden und Störungen auslösen.
Wie bedrohlich der Schutzmechanismus des Verdrängens werden kann, zeigt sich an Menschen, die Extremsituationen wie Krieg, Missbrauch, Todesangst, Gewaltanwendung oder Folterungen ausgesetzt waren. Solch traumatische Erlebnisse können die Psyche so sehr überfluten und überfordern, dass sie jegliche Erinnerung an das Geschehen verweigert und aus dem aktiven Bewusstsein verbannt. Um sich vor dem Schmerz des Erinnerns zu bewahren, spaltet die Seele das auszulösende Erlebnis vollständig ab. Der Preis für dieses Rettungsmanöver, im Fachjargon Dissoziation genannt, ist hoch. Viele traumatisierte Menschen leiden unter Angstattacken, sozialer und emotionaler Isolation sowie zeitweiligem Realitätsverlust. Sie erleben sich als vollkommen hilflos, gefühlstaub, ausgebrannt, entwickeln starke Suchtneigungen und verweigern jede aktive Auseinandersetzung mit ihrer Situation.
Daher versuchen Trauma-Therapeuten ihre Patienten behutsam an das angstbesetzte Ereignis heranzuführen, um es schließlich bewusst aufzuarbeiten und zu bewältigen. Erst dann können die Betroffenen das zuvor abgespaltete Erlebnis wieder in ihre Lebensgeschichte einbinden und zuletzt auch den befreienden Abstand gewinnen.
Soweit zu meiner Recherche und ich weise darauf hin, dass die kursiven Stellen in diesem Kapitel aus dem Internet stammen und das Ergebnis meiner Nachforschungen sind.
Nun weiß ich, dass nicht alles, das im Internet steht, für bare Münze genommen werden kann.
Doch die Sätze, die ich wiedergegeben habe, decken sich absolut mit meiner eigenen Wahrnehmung.
Ich habe nämlich diesen befreienden Abstand zu meinen traumatischen Erlebnissen gewonnen, weil ich das große Glück gehabt habe, von einer hervorragenden Therapeutin auf diesem Weg aus meinem persönlichen Fegefeuer begleitet worden zu sein.
Seit über dreißig Jahren kann ich über meine Vergangenheit reden wie andere Menschen über ihre Einkaufsliste, lebe inmitten liebevoller Menschen und habe einen großen Freundeskreis.
Meine Ängste und Panikattacken haben mich schon während meiner Psychotherapie verlassen. Ich hatte also großes Glück, weil ich meine Probleme erkannt und meine Traumata in einer Psychotherapie aufgearbeitet habe.
Selbstverständlich hätte ich mir damals gewünscht, dass auch Angela, meine geliebte Schwester, ihre Probleme auf ähnliche Weise bewältigt, um, wie ich, ein glückliches Leben führen zu können.
Doch, wenn ich sie darauf angesprochen habe, hat sie stets behauptet, keine Probleme zu haben.
Wenn ich erwähnt habe, dass es kaum möglich sei, all den Schrecken, den Missbrauchsopfer in sich abgespeichert hätten, allein zu bewältigen und man mit so viel Ekel in der Seele nicht wirklich glücklich werden könne, hat sie behauptet, glücklich zu sein.
Wenn ich weiter in sie drang und sorgenvoll in ihre Zukunft blickte, blockte sie vollständig ab.
„Ich bin anders als du und brauche keine Psychotherapie. Ich bin sowieso zweimal zu deiner Psychologin gegangen.“
Ich fragte sie damals: „Wieso eigentlich nur zwei Mal?“
„Mehr war nicht nötig!“
„Aber zwei Sitzungen sind doch keine Psychotherapie“, habe ich mich damals gewundert.
„Ich habe auch keine Psychotherapie gebraucht, sondern einfach nur Hilfe, weil mir kurzfristig alles zu viel geworden ist. Die Psychologin hat mir damals sehr geholfen. Aber als es mir wieder besser gegangen ist, habe ich keinen Sinn darin gesehen, weiter hinzugehen.“
Angela hatte damals eine sehr belastende Zeit.
Der Arbeitsplatz, an dem sie sich rundum wohl gefühlt hatte, war aufgelöst worden und die neue Arbeitsstätte war für sie der blanke Horror.
Sie fand sich in der neuen Position nicht zurecht und hatte massive Probleme mit den neuen Kolleginnen. Angela fühlte sich von ihnen gemobbt und der Gedanke, ins Büro gehen zu müssen, wurde für sie irgendwann so unerträglich, dass sie sich schon vor dem Dienstantritt übergeben musste.
Ihr Körper rebellierte so heftig, dass Angela seinerzeit erkannt hatte, dass sie Hilfe benötigt.
Als sie sich hilfesuchend an mich gewendet hat, gab ich ihr daher die Telefonnummer meiner Psychologin.
Nach zwei Sitzungen fühlte sich Angela besser und kündigte ihren Beamtenjob um ‘nie wieder’ in einem Büro zu arbeiten.
Gleichzeitig beendete sie die Psychotherapie, bevor sie richtig begonnen hatte.
Der Wurzel allen Übels kam die Psychologin demnach nicht einmal in die Nähe, weil Angela nicht bereit war, darüber zu reden.
Nachdem eine Psychotherapie aber nur dann sinnvoll ist, wenn man sich selbst dazu entschließt, habe ich aufgehört, Angela mit meinen Ratschlägen und Sorgen, ihre seelische Gesundheit betreffend, zu ‘nerven‘.
Stattdessen begann ich zu glauben, dass robuste und willensstarke Menschen, wie meine Schwester, ein schweres Seelentrauma womöglich tatsächlich auch ohne psychische Hilfe verarbeiten können.
Angelas zur Schau gestelltes Glück begründete meine Annahme und ich dachte: Es sind doch nicht alle Menschen gleich!
Wahrscheinlich brauchen nur so sensible Menschen wie ich psychische Hilfe bei der Bewältigung einer schrecklichen Kindheit und Jugend.
Und diese Meinung habe ich in meiner Autobiografie, ‘Mein Weg aus dem Fegefeuer’, auch sehr deutlich zum Ausdruck gebracht.
Heute bin ich davon nicht mehr überzeugt, denn schon Sigmund Freud, der Begründer der Psychoanalyse, behauptete Ende des 19. Jahrhunderts: Wer unangenehme Gefühle permanent unterdrückt und verdrängt, wird über kurz oder lang krank.
Aus diesem Grund habe ich mich entschlossen, dieses Buch zu schreiben. Auch, weil ich meinen Irrtum aufklären möchte:
Jedes Opfer von (sexueller) Gewalt braucht psychische Hilfe.
Sigmund Freud wusste schon, was er behauptet hat.
Ich setze daher meine Autobiografie fort. Und zwar ab dem Moment, wo ‘Mein Weg aus dem Fegefeuer’ geendet hat. Also vor ungefähr zwanzig Jahren.
Indem ich erzähle, wie es mir, meinen Eltern und meiner Schwester in den vergangenen Jahren ergangen ist, welchen Weg wir beschritten haben, kann sich jede Leserin und jeder Leser selbst ein Bild davon machen, ob konsequentes Verdrängen von traumatischen Erlebnissen tatsächlich die beste Lösung für das eigene Glück ist.
Oder aber, ob hinsehen, Probleme erkennen und sich bei Bedarf psychische Hilfe zu holen, nicht doch wesentlich gesünder ist.
2018 und Rückblicke
Nachdem ich 2005 ‘Mein Weg aus dem Fegefeuer’ zum ersten Mal bei einem kleinen Verlag veröffentlicht hatte, gab ich das Buch auch Angela, meiner Schwester, zu lesen.
Wir sind uns durch dieses Buch noch nähergekommen, als wir es zu dem Zeitpunkt bereits gewesen sind. Unsere gemeinsame Kindheit und schreckliche Jugend hat uns nämlich so eng verbunden, dass wir fast zu einer Einheit geworden sind. Wir waren immer füreinander da.
Bedingungslos.
Da konnte kommen, was wollte! Und wer wollte! Niemand konnte sich zwischen uns drängen.
Vorbehaltlos waren wir für die Schwester da.
Hatte ich Liebeskummer, war Angi, wie ich meine Schwester liebevoll nannte, für mich da, tröstete mich, lud mich ein, lenkte mich ab, ließ mich weinen.
Hatte Angi Liebeskummer, hörte ich ihr zu, tröstete sie, lud sie ein, lenkte sie ab, ließ sie weinen. Monatelang, oft mehrmals täglich.
Ärgerte ich mich über die eine oder andere Macke meines Mannes, und, ja, die gab es auch, war Angela meine Ansprechperson.
Sie hatte sehr bald eine hervorragende Strategie gefunden, um mit ihm umzugehen. Wurde er ‘eckig’, dann zeichnete sie mit den Händen, begleitet von einem Quietschen, damit er ihr zuhörte, ein Viereck in die Luft und blickte ihn liebevoll an.
„Na, Georg, bist du schon wieder eckig? Komm, mein lieber Schwager, werde wieder rund, so haben wir dich nämlich viel lieber!“ Nach diesen Worten konnte mein Mann immer nur lächeln und schon war er wieder der Mensch, den wir alle so sehr liebten.
War mein Sohn in der Pubertät so, wie Jugendliche nun einmal in der Pubertät sind, war Angi für ihn da, regelte so manche Torheit still und heimlich, erzählte mir von manchen Vorkommnissen erst im Nachhinein und ich bin sicher, alles weiß ich noch immer nicht.
Sie wollte mich nicht aufregen und das aus gutem Grund, denn beim eigenen Kind reagiert jede Mutter wesentlich empfindlicher als bei Nichten, Neffen oder Nachbarskindern.
Bei Kindern anderer Mütter ist das Verständnis oftmals unbegrenzt.
Man hat doch keinen Handlungsbedarf, muss nicht regulierend eingreifen, wenn etwas aus dem Ruder läuft.
Das macht den Blick objektiver.
Doch beim eigenen Kind? Was stellt man sich als Elternteil für (selbst-) kritische Fragen, wenn sich das geliebte Kind einmal danebenbenimmt. Habe ich etwas falsch gemacht?
Warum macht gerade mein Kind solche Sachen?
Antwort: Warum nicht!
Jeder Jugendliche ist in der Pubertät neben der Spur.
Jeder Jugendliche!
Auch Corinna, die Tochter meiner Schwester. Obwohl Angela von ihrer Tochter nie gedacht hätte, dass auch bei ihrer Prinzessin etwas aus dem Ruder laufen konnte.
Doch als Angi eines Tages erfahren hat, dass ihre heiß geliebte Tochter, die sie stets mit einem so typisch mütterlich verschleierten, vor Liebe etwas verschobenen Blick gesehen hatte, sich in der Pubertät zu einer ausgesprochen delikaten Torheit hinreißen hatte lassen, brach für meine Schwester eine Welt zusammen.
Sie hat nicht fassen können, wie ihr Kind so etwas tun hatte können!
Ihr Kind!
Warum machte gerade ihr Kind solche Sachen?
Bei meinem Sohn, ja, gut.
Er war ein Junge! Außerdem, Albert war ja nicht ihr leibliches Kind. Und andere Kinder sind doch meist etwas schlechter geraten als die eigenen Schützlinge.
Das wird keine Mutter der Welt anders sehen können.
Außer vielleicht meine Mutter. Sie hatte nie einen sonderlich liebevollen Blick auf ihre Töchter. Vor Liebe gestrahlt, wenn sie von uns gesprochen hat oder gar mit Fähigkeiten ihrer Kinder vor anderen Müttern geprahlt, so etwas hätte und hat unsere Mutter nie getan.
Ihre Haustiere, Mamas Kätzchen, ja die waren süß, brav und niedlich.
Angela und ich waren Angela und ich.
Ihr schien nicht nur der normalerweise angeborene Mutter- sondern auch der Beschützerinstinkt zu fehlen.
Wer jahrelang beim Missbrauch der eigenen Töchter wegsehen, dem prügelnden Vater assistierend zur Seite stehen, und an der am Boden liegenden Tochter vorbeigehen kann, nachdem Vater sie im Affekt fast getötet hätte, und nicht einmal fragt, warum das zwölfjährige Kind röchelt, kann daher nur schlecht mit liebenden Müttern verglichen werden.
Aber ganz normale Mütter, wie Angela und ich, sehen das eigene Kind nun einmal durch einen vernebelnden Mutterfilter und nehmen den eigenen Sprössling dadurch in einem wesentlich helleren Licht als alle anderen Kinder dieser Welt wahr.
Und als dieser Mutterfilter durch Corinnas Schandtat etwas verrutscht war, fragte daher auch Angi:
„Warum macht meine Tochter solche Sachen?“
Ja. Warum?
Antwort: Warum nicht!
Jeder Jugendliche ist in der Pubertät eben neben der Spur.
Und mit den gleichen Worten, mit denen Angi mich einst beruhigt hatte, wenn mein Sohn sich danebenbenommen hat, brachte ich auch meine Schwester wieder in ihre innere Mitte.
Nachdem der Schleier gelüftet war, durch den Angela ihre Tochter stets betrachtet hatte und sie nun etwas klarer sah, erkannte sie, dass auch Corinna nicht immer der reinste Unschuldsengel war.
Dass wir uns aufeinander verlassen konnten, war aber auch in vielen anderen Bereichen unseres Lebens spürbar.
Als Angela nach dem Verlust ihres belastenden Arbeitsplatzes mit finanziellen Engpässen kämpfte, fand ich eine Lösung, um sie finanziell zu unterstützen, ohne ihren Stolz zu verletzen.
Sie putzte immer schon (für mich unverständlich) von Herzen gerne. Also kam sie alle zwei Wochen zu Besuch, stürzte sich mit Feuereifer über meinen vernachlässigten Haushalt, während ich für uns kochte.
Ich vergütete ihr diesen Hilfsdienst angemessen, damit sie finanziell besser über die Runden kommen konnte und wenn sie fertig war, plauderten wir nach dem Essen stundenlang bei Bier und Kaffee.
Nachdem Angi durch ihre Tätigkeit in meinem Haushalt das Gefühl hatte, kein Geschenk zu nehmen, war dieses Agreement für uns beide eine Win-Win-Situation.
Als Angi nicht mehr in der Lage war, schwere körperliche Arbeit zu leisten, überwies ich ihr monatlich einen Fixbetrag, damit sie auch künftig ihr Auskommen hatte.
Das war ihr dann zwar schon unangenehm und ich weiß, wie viel Überwindung es sie gekostet hat, meine Unterstützung trotzdem anzunehmen.
Doch sie konnte sich Jahre später revanchieren, als ich kurz vor meinem Pensionsantritt in unserer brütend heißen Dachgeschosswohnung nach einer rettenden Klimaanlage lechzte. Angi ging es damals finanziell wieder gut und mit einem kurzfristigen Kredit griff sie mir unter die Arme, damit ich die Klimaanlage noch vor dem Sommer anschaffen konnte und nicht auf meine Abfertigungszahlung im Herbst warten musste.
Ich nahm ihre Hilfe damals schon deshalb gerne an, weil ich ihr dadurch ein Gefühl der Gleichheit vermitteln konnte. Nicht nur ich helfe ihr. Auch sie hilft mir.
Lange Rede, kurzer Sinn: Wir konnten uns immer aufeinander verlassen und wussten: Solange die Schwester lebte, waren wir nie allein.
Es war für mich mein gesamtes Leben lang ein unbeschreiblich behagliches und beruhigendes Gefühl, zu wissen, immer einen liebenden Menschen an meiner Seite zu wissen. Einen Menschen, der für einen durch das Feuer geht und für den ich, ohne zu zögern das Gleiche tun würde.
Für mich war klar, dass es nichts gab, das uns trennen könnte. Dieses Wissen war für mich eine genauso fixe Konstante in meinem Leben, wie die Tatsache, dass die Sonne jeden Tag im Osten aufging.
Aus diesem Grund habe ich meine erste Autobiografie und auch dieses Buch meiner Schwester gewidmet.
Obwohl Angela zum Zeitpunkt der Widmung gar nicht gewusst hat, dass ich überhaupt ein Buch über unser gemeinsames Schicksal geschrieben habe.
Ich schrieb meine Lebensgeschichte nämlich heimlich. Nur mein Mann und meine zwei besten Freundinnen wussten davon. Sabrina und Alexandra haben mein Buch nicht nur korrekturgelesen, sondern drängten mich förmlich zur Veröffentlichung. Ich selbst hätte diesen Schritt ohne diesen starken Druck von außen möglicherweise gar nicht gewagt.
Warum?
Weil ich mir nicht sicher war, ob meine Identität durch das Pseudonym gut geschützt bleibt. Es wusste doch niemand von meiner Vergangenheit. Und so sollte es auch bleiben!
Warum mir das so wichtig war?
Aus Tradition?
Weil mir das schon seit meiner Missbrauchszeit erfolgreich eingetrichtert wurde?
Ja! Das penible Verschweigen war in unserer Familie doch bereits eine zur Meisterschaft erhobene Tradition geworden.
Aber, und das muss ich einschränkend erwähnen, dieses Phänomen gab und gibt es nicht nur in meiner Familie. Diese schamhafte Zurückhaltung erkenne ich fast in jeder Familie und diese Diskretion ist aus meiner Sicht auch verständlich.
Es muss doch in der Tat nicht jeder Nachbar wissen, dass nur einen Steinwurf entfernt Gewalt, Alkoholmissbrauch oder sonstige menschliche Abgründe das Familienleben dominieren.
Obwohl es gerade Nachbarn oft am schnellsten mitbekommen.
Trotzdem, ich verstehe, dass Menschen im Großen und Ganzen danach trachten, innerfamiliäre Spannungen nicht nach außen zu tragen.
Um Harmonieschwankungen im eigenen Heim auszubügeln, dafür hat man Verwandte oder Freunde, mit denen man sich austauscht.
Wenn man sie hat, wohlgemerkt.
Und wenn man sich diesen vertrauten Menschen öffnet.
Was ich getan hatte.
Meine besten Freunde, allen voran aber meine Partner wussten von meiner Vergangenheit.
Ich konnte mir eine enge Beziehung ohne diese Vertrautheit aber auch gar nicht vorstellen. Meine Vergangenheit hat mich doch geprägt, steuert mein Verhalten, macht aus mir das, was ich heute bin.
Wenn ich meinem Partner diesen elementaren Teil meines Lebens, der mein Handeln und Fühlen so stark beeinflusst, nicht erzählen würde, könnte sich doch keine echte Nähe entwickeln.
Für mich war diese Offenheit stets eine Selbstverständlichkeit und ich wäre demnach auch nie auf die Idee gekommen, meine Vergangenheit meinen Partnern vorzuenthalten.
Meine Schwester hingegen wäre nie auf die Idee gekommen, ihre Vergangenheit ihren Partnern zu erzählen. Weil sie befand, dass das niemanden etwas anging.
„Aber dein Liebster ist doch nicht niemand!“, habe ich sie seinerzeit irritiert angeblickt.
„Natürlich nicht!“, hat sie mir ihre Sicht der Dinge erklärt. „Aber ich will nicht, dass er meinen Vater in einem anderen Licht sieht. Er mag Papa. Wenn ich ihm aber sagen würde, was er mir als Jugendliche angetan hat, würde er ihn sicher nicht mehr mögen und ich könnte unser Familienleben vergessen. Aus diesem Grund sage ich es ihm besser gar nicht.“
„Aber Georg weiß es doch auch und er trifft sich trotzdem mit meinen Eltern. Ich habe also beides: meine Eltern und Georg, der mir durch diese Offenheit ein echter Vertrauter geworden ist. Wenn mir etwas auf der Seele brennt, kann ich es mit meinem Mann besprechen!“, versuchte ich zu erklären, für wie wichtig ich Vertrauen und seelische Nähe in einer Beziehung hielt.
„Ja, aber weißt du, ob er immer dichthalten wird? Denke nur an den irren Frank, der so gerne Gott gespielt hat“, erinnerte mich Angela an meinen längst vergangenen Expartner, der mein Leben gottlob nur wenige Monate erschwert hat.
Er hat meine Menschenkenntnis und mein Urteilsvermögen nachträglich sehr geschärft. Leider eben erst nachdem ich erkannt hatte, dass meine seinerzeitige Partnerwahl ein schwerer Fehlgriff gewesen war.
Und leider eben auch erst, nachdem ich einem offenbar geistig fehlgeleiteten Menschen mein tiefstes Geheimnis anvertraut hatte.
Ja, in diesem Punkt hatte Angi recht. Frank war als Geheimnisträger und Vertrauter vollkommen ungeeignet gewesen. Was ich seinerzeit auf sehr eindrucksvolle Weise erfahren sollte.
Dieser Mann hat nämlich eines Tages tatsächlich Gott gespielt. Er gefiel sich scheinbar in der Rolle des Richters so gut, dass er im betrunkenen Zustand meinen Vater anrief und ihn aufs Schärfste wegen seiner verwerflichen Taten verurteilte.
Diese Aburteilung an sich war gemeinverständlich. Immerhin konnte kein Außenstehender über das, was mein Vater getan hatte, anders denken.
An sich klingt demnach diese Aktion nachvollziehbar.
„Endlich hat jemand diesem Pädophilen die Meinung gegeigt!“
Ja! Die Verurteilung wäre verständlich gewesen. Aber nur, wenn sein Tun mit mir abgesprochen gewesen wäre!
Wenn ich es gewollt hätte!
Oder auch nur gewusst hätte!
Obwohl, wenn ich gewusst hätte, was er vorhat, hätte ich versucht, ihn daran zu hindern. Frank musste demnach seine Rolle als gerechter Gott-Vater förmlich hinter meinem Rücken spielen, um den größtmöglichen Effekt erzielen zu können: Er wollte doch diese so verlogene Familie spalten!
Das Geheimnis sollte offengelegt werden und der böse Vater sollte wissen, wie böse und schlecht sein Tun war. Und natürlich sollte der Böse auch wissen, wie abgrundtief der gerechte Frank ihn dafür verurteilte.
Die Unruhe, die der besäuselte Frank durch diese Aktion in unserer Familie verursacht hat, bescherte ihm das, was er in seinem Leben schmerzlich vermisste: Macht!
Das aber nur nebenbei erwähnt, denn über die seelische Krankheit dieses Mannes will ich mich nicht zu sehr vertiefen. Sein Motiv hat mich schon seinerzeit kaum interessiert, nachdem er mein Vertrauen missbraucht hatte.
Ich gestehe, die Seelennöte des sich selbst so kleinfühlenden Frank wurden mir sogar völlig egal, als ich erfuhr, was er damals getan hatte. Ich war nur geschockt.
Und nicht nur ich. Auch meine Schwester war hin und weg, machte mir Vorwürfe, warum ich so einem Irren unser Geheimnis anvertraut habe.
Meine Rechtfertigung, dass ich bis zu jenem Zeitpunkt nicht gewusst hatte, dass in Franks Kopf offenbar einige Rädchen nicht problemlos ineinandergriffen, wirkte zahnlos, nachdem Angi sowieso die Meinung vertrat, dass unsere Vergangenheit niemanden etwas anging.
Jetzt war es aber geschehen!
Das Geheimnis war kein Geheimnis mehr. Vater wusste nun, dass sich Brenda ihrem Freund anvertraut hatte!
Oh, wie schrecklich!
Und das, obwohl es doch in unserer Familie dieses in Stein gemeißelte Gesetz gab: Kein Wort nach außen!
Wie eindringlich hatte mir Vater als Kind diese Worte eingebläut!
Kein Wort nach außen!
Zur Untermauerung dieser eisernen Regel hatte er mich doch regelmäßig mit dem Tod bedroht. Damit ich nur ja nicht glaubte, er bluffe nur, hat er mich sogar eines Tages gewürgt. Um seiner Drohung den nötigen Nachdruck geben zu können, war ihm jedes Mittel rechtgewesen.
Und klein Brenda hat auch immer brav geschwiegen.
Und jetzt das?
Nun: Klein Brenda war halt nicht mehr die kleine Brenda.
Trotzdem fühlte ich mich in diesem Moment so.
Ich hatte etwas getan, das streng verboten war. Und obwohl ich inzwischen erwachsen war, kamen in mir wieder Ängste hoch.
Nicht, dass Vater mich nun töten würde.
Ich hatte damals bereits meine Psychotherapie hinter mir, war stark und selbstbewusst geworden und wusste, dass mir Vater gar nichts mehr tun konnte.
Nein, ich machte mir Sorgen um den Fortbestand unserer Familie.
Wie würde Vater reagieren? Es war klar, dass es ein klärendes Gespräch geben müsste!
Und so seltsam es klingt und wie niedrig Franks Motive auch gewesen waren, so hat seine Aktion durch die freigelegte Wahrheit auch etwas Gutes bewirkt.
Seine Offenlegung führte, wie ich im Buch ‘Mein Weg aus dem Fegefeuer’ sehr ausführlich beschrieben habe, zum letzten Akt meiner seelischen Heilung: Ich habe meinem Vater verziehen und diese Vergebung hat meiner Seele Frieden gebracht.
Wäre weiterhin der Mantel des Schweigens über allem liegengeblieben, hätte es weder eine Aussprache noch das Verzeihen gegeben. Es hätte doch gar keinen Grund gegeben, darüber auch nur nachzudenken.
2018 und Rückblicke
Für Angela war diese Episode mit Frank aber trotzdem der Beweis, wie richtig sie damit lag, unsere Missbrauchserfahrung nicht einmal mit ihrem Lebenspartner zu teilen.
„Das sehe ich nicht so“, konnte ich ihre Gedanken trotz meiner negativen Erfahrung nicht teilen. „Ja, es war ein Fehler, dass ich es Frank gesagt habe, aber nur, weil er krank im Kopf ist und ich das erst zu spät erkannt habe. Aus diesem Grund war aber diese Beziehung ein Fehler und nicht meine Offenheit. In einer guten Partnerschaft kann ich mir nach wie vor nicht vorstellen, dass ich diesen Teil meines Lebens meinem Liebsten vorenthalte. Mein Partner soll mich doch kennen und außerdem tut es gut, jederzeit darüber reden zu können.“
„Das muss ich nicht!“, hatte meine Schwester den Kopf geschüttelt.
„Aber du nimmst dir dadurch doch die Chance auf echte Nähe und tiefe Vertrautheit. Wie kannst du deinem Mann diesen Teil deines Lebens verheimlichen?“
„Weil dieser Teil meines Lebens vergangen ist. Aus und vorbei! Und aus diesem Grund muss ich darüber auch gar nicht mehr reden. Mir ist wichtiger, dass alles bleibt, wie es ist. Mein Mann würde Papa nicht mehr sehen wollen, wenn ich ihm Dinge aus der Vergangenheit erzähle, die heute gar nicht mehr wichtig sind.“
„Aber es ist wichtig!“, habe ich heftig widersprochen. „Und ich habe in meiner Psychotherapie erkannt, dass, nur weil es vorbei ist, es aber trotzdem nicht vorbei ist. Du hast doch aus nächster Nähe erlebt, wie mich meine unverarbeiteten Ängste und Panikattacken fast in den Selbstmord getrieben hätten. Zwanzig Jahre nach dem Missbrauch! Es war nämlich nicht vorbei“, habe ich mich bewusst wiederholt, um es Angi eindringlicher in ihr Bewusstsein bringen zu können. Als ich ihre Aufmerksamkeit hatte, wurde ich leiser, aber eindringlicher.
„Es ist bei niemandem vorbei! In unserem Inneren bleibt nämlich das, was geschehen ist, als unerledigtes Trauma abgespeichert, wenn wir es nicht aufarbeiten.“
Angi verdrehte allerdings die Augen.
„Bitte nicht schon wieder diese Gespräche über eine Psychotherapie. Glaube mir, so etwas brauche ich nicht, weil ich meine Probleme selbst lösen kann. Du bist schon immer übersensibel gewesen und daher war es für dich wohl nötig. Für mich aber nicht, weil ich ganz anders bin als du. Daher kannst du mich auch nicht mit dir vergleichen.“
„Ja, das stimmt“, habe ich damals zugestimmt und zu glauben begonnen, dass sich bei weniger sensiblen Menschen die Auswirkungen einer traumatischen Kindheit womöglich tatsächlich nicht so negativ auswirken.
„Aber ich bin trotzdem der Meinung, dass es hilfreich ist, darüber zu reden“, schoss ich nach, weil das meine feste Überzeugung war und ist.
„Ja, gut, wir beide reden darüber und das ist schön. Doch ansonsten muss es doch niemand wissen. Oder willst du tatsächlich, dass jeder Arbeitskollege weiß, dass du ein ehemaliges Missbrauchsopfer bist?“
„Nein, auf keinen Fall! Da hast du recht“, stimmte ich Angela zu.
Dieser Gedanke war in der Tat eine grauenhafte Vorstellung.
Vielleicht auch deshalb, weil meine Ex-Schwiegermutter, frustriert darüber, dass ich ihren geliebten Sohn verlassen hatte, mir vor vielen Jahren zum Abschied ein bösartiges: „Ich hoffe, du wirst jetzt glücklich, du ‘Vergewaltigte!’“ zugezischt hat.
Das letzte Wort hatte sie mit so einer giftigen und anklagenden Betonung ausgesprochen, als würde sie mich dafür verurteilen, dass ich in meiner Kindheit vergewaltigt worden bin. Mir stellte es damals die Haare auf.
War ich schuld daran, dass ich vergewaltigt worden bin?
Sollte ich mich dafür schämen, missbraucht worden zu sein?
Die bösartigen Worte meiner Ex-Schwiegermutter sollten mir diese Gefühle vermitteln. Und obwohl ich wusste, dass ihre Worte gemein und niederträchtig gewesen sind, wollte ich das Grauen, das bei dieser hasserfüllten Botschaft in meine Seele geströmt war, nie wieder erleben.
Wusste ich denn, ob andere Menschen nicht genauso dachten?
Daher war es mir auch immer so wichtig gewesen, dass niemand erfuhr, wer sich hinter dem Pseudonym Brenda Leb verbirgt.
Trotz seelischer Stabilität durch die Psychotherapie, und obwohl ich meine Vergangenheit nicht mehr verdrängte: Dass Brenda Leb im wahren Leben Brigitte Kaindl ist, die Frau, die man vielleicht vom Arbeitsplatz kannte oder aus der Nachbarwohnung kommen sah?
Nein, nein! Das durfte niemand wissen.
Damals war mir das unheimlich wichtig.
Damals!
Sie erkennen, dass ich damit inzwischen kein Problem mehr habe, nachdem ich es so freimütig niederschreibe.
Warum ich auf einmal kein Problem mehr damit habe?
Weil mir nach der Veröffentlichung meiner Autobiografie klargeworden ist, dass es überhaupt keinen Grund gibt, mich hinter meinem Pseudonym zu verbergen.
Ich habe die Erfahrung gemacht: Wenn man sich erst einmal öffnet, öffnen sich auch die anderen. Und da kommen Sachen ans Licht! Da werden mehr Leichen sichtbar als man in finstersten Kellern vermuten würde.
Damals habe ich festgestellt, dass Gleiches oder Ähnliches in vielen Familien vorkommt. Es gab kaum eine Freundin, die, nachdem sie über mein Buch von meiner Geschichte erfahren hatte, nicht Vergleichbares entweder von sich selbst oder Familienmitgliedern zu erzählen wusste.
Doch jeder verbirgt es vor den Augen Außenstehender.
Weil niemand immer nur Gutes erlebt.
Und jeder denkt: Das darf keiner wissen. Es war wie eine Erleuchtung und gleichzeitig befreiend, als ich erkannte, dass ich in ‘guter’ Gesellschaft war.
Ich hatte damals so viele gute, intensive und interessante Gespräche geführt. Immer mehr Frauen lernte ich über meine Homepage kennen und alle waren offen. In jener Zeit legte sich meine Scheu. Ich spürte die befreiende Wirkung des Öffnens, denn, selbst wenn eine Freundin mein Buch las und selbst keine Missbrauchserfahrungen gemacht hatte, so dachte sie trotzdem nichts Böses über mich.
Wieso hätte das eine Freundin auch tun sollen?
Aus meiner Ex-Schwiegermutter hatte doch einst lediglich die Enttäuschung über die zerbrochene Ehe ihres Sohnes gesprochen. Sie war an jenem Tag, als sie mir ihre diabolischen Worte an den Kopf geworfen hatte, vor Wut wohl kaum bei Sinnen.
Ich aber habe, damals selbst in einer schwierigen Lebenssituation, in meiner Unerfahrenheit und Übersensibilität die Worte einer hasserfüllten Frau für bare Münze genommen und gedacht, ihr Verhalten wäre repräsentativ für die Gesellschaft, in der wir leben.
Konsequent habe ich daher nach diesem Schockerlebnis meine Vergangenheit vor Außenstehenden im Dunkeln zu verstecken versucht. Mit einem Pseudonym das absolut blickdicht sein sollte.
Niemand sollte dahinterkommen können, wer Brenda Leb ist.
Niemand!
Ich war so überängstlich darauf fokussiert, dass ‘Niemand’ wirklich ‘Niemand’ blieb, dass ich die Veröffentlichung meiner Autobiografie ‘Mein Weg aus dem Fegefeuer’, sehr lange hinausgezögert hatte. Dabei verhielt ich mich, als würde etwas Schmutziges an mir kleben, weil man mich als Jugendliche beschmutzt hatte.
Erst als ich vom Verlag die Zusicherung erhielt, dass niemand den wahren Namen hinter einem Pseudonym erfährt, ging ich mit meiner Autobiografie an die Öffentlichkeit.
Um gerade durch dieses Buch zu erkennen, dass mein Schicksal keinesfalls so einzigartig war, wie ich gedacht hatte.
Ich war nicht das einzige Missbrauchsopfer in Wien, Österreich, Europa.
Im Gegenteil!
Viele Fischlein schwimmen in diesem trüben Gewässer. Um vor Blicken geschützt bleiben zu können, halten sich aber alle, wie ich, am sicheren Teichboden auf. Dort ist das Wasser zwar schlammig, doch dadurch kann man auch nicht gesehen werden.
Besser gut versteckt im Trüben als oben im hellen Licht.
Man weiß ja nie!
Dort oben könnte womöglich etwas geschehen das uns noch mehr schadet als uns unsere Vergangenheit bereits geschädigt hat?
Anfeindungen?
Verlust der Familie?
Davor fürchtete ich mich. Und aus diesen Gründen habe ich lange Zeit auch auf meiner Homepage meinen richtigen Namen nicht offenbart. Die Gefahr, dass meine Familie von meinem Buch erfahren könnte, war mir einfach zu hoch.
Was hatte ich mir damals doch für Gedanken gemacht!
Seltsamerweise am meisten darüber, was die über meinen Schritt dachten, die mich am meisten verletzt hatten. Die, die dafür verantwortlich waren, dass ich dieses Buch überhaupt geschrieben habe: Mein Vater, der mich meiner Kindheit beraubt hat und meine Mutter, die mich hätte beschützen sollen.
Die beiden, die mir eine liebevolle, sorglose Kindheit schenken hätten sollen, als Eltern aber so kläglich versagt haben, über die beiden machte ich mir sorgenvolle Gedanken?
Ja, tat ich!
Paradox, wenn man bedenkt, wie wenig sich die beiden je um mein Wohlergehen gesorgt haben.
Vaters Verbrechen war zwar inzwischen verjährt und eine Verurteilung demnach gar nicht mehr möglich. Doch ich dachte trotzdem an sein Ansehen und auch an das meiner Mutter. Ich wollte nicht, dass die Leute mit dem Finger auf die beiden zeigen. Vor dieser Ächtung wollte ich sie schützen.
Warum?
Weil ich sie viel mehr geliebt habe als sie mich.
Ich verhielt mich wie ein geschlagener Hund, der sein Herrchen trotzdem ergeben und hoffnungsvoll weiterliebt – in der Hoffnung, dass diese Liebe irgendwann erkannt wird und auf Gegenliebe stößt. Und der sich über jedes kleine Leckerli des Herrchens freut wie ein Schneekönig.
Meine erhaltenen Leckerlis waren damals ebenfalls der Grund, meine Bemühungen fortzusetzen. Deshalb achtete ich so penibel darauf, dass die schwarze Vergangenheit hinter verschlossenen Türen, also hinter dem Pseudonym, verborgen blieb.
Ich tat alles, damit die heile Welt, die wir uns zusammengeschnitzt hatten, so heil blieb, wie sie gewesen war.
Oder wäre das Wort ‘verlogen’ passender?
Immerhin: Heil war unsere Welt doch nie gewesen!
Aber für mich fast.
Immerhin, wenn man nicht sonderlich anspruchsvoll ist, und als Missbrauchsopfer konnte ich mir diesen Luxus nicht leisten, braucht man nicht viel, um glücklich zu sein.
Daher empfand ich meine Welt, jenseits des Fegefeuers, tatsächlich als heile Welt. Ich fühlte mich wohl im Schoße meiner Familie.
Ich konnte als erwachsene Frau mit Vater so herzhaft scherzen und lachen. Mein Mann und ich, wir machten sogar Urlaube mit meinen Eltern.
Ich habe mich dazu entschlossen, nur mehr die hellen Seiten meines Vaters sehen zu wollen und daher sah ich auch nur mehr seine guten Seiten.
Nachdem ich mit den Jahren viele Charakterzüge an meinem Vater finden konnte, die mir wichtig waren, war dieses ‘Heile-Welt-Spielen‘ für mich daher auch so wichtig geworden.
Wir hatten nämlich das gleiche Wesen. Ich bin eindeutig nach ihm geraten und deshalb fühlte ich mich zu ihm auch wesentlich mehr hingezogen als zu meiner Mutter. Natürlich erst, nachdem ich das, was mich früher an ihm abgestoßen hatte, nicht mehr gesehen habe.
Vater war warmherzig und großzügig. Mutter kühl und sparsam.
Vater war weich, Mutter hart.
Vater bemühte sich im Alter, ein guter Vater und Großvater zu sein. Wenn ich etwas von ihm gebraucht hatte, war er immer für mich oder seine Enkelkinder da.
Mutter konnte oder wollte auch als Großmutter nicht über ihren Schatten springen und Dinge tun, die sie auch früher nie getan hatte. Ihre gut versteckte Liebesfähigkeit empfanden auch meine Kinder bloß als nüchterne Höflichkeit.
Ja, sie tat, als wäre sie eine liebe Oma. Doch aufpassen wollte sie auf meine Kinder nie.
Vater hingegen machte mit meinem Sohn sogar Boots-Ausflüge in die Donau-Auen, lehrte ihn Pfeile schnitzen und machte ihn sehend für die Schönheit der Natur.
Er war ein guter Großvater und aus diesem Grund war die Milde, die ich Vater schenkte, nicht nur einem ‘Vergessen wollen’ geschuldet.
Ich liebte ihn für seine hellen Seiten, die dunklen ließ ich in der Vergangenheit.
Obwohl ich ihn selbstverständlich nie mit meiner Tochter allein ließ. So weit ging mein Vergessen nicht. Ein gewisses Maß an Vorsicht blieb in mir abgespeichert.
Mutter hingegen tat in jenen Jahren, was sie am besten konnte. Sie war eine hervorragende Köchin und mit ihrem messerscharfen Verstand eine kluge Strategin beim gemeinsamen Kartenspielen. Wenn sich nach einem delikaten Mahl beim ‘Bauernschnapsen’ Männer gegen Frauen bekriegten, erlebten mein Mann und Vater oft bittere Niederlagen, weil Mutter und ich als Team nahezu unschlagbar waren.
Im Kreise meiner Eltern erlebte ich als Erwachsene sehr viel Spaß und ein harmonisches Miteinander. Daher genoss ich dieses Familienleben auch so sehr. Ich hätte doch nie damit gerechnet, im Schoß der Familie jemals so etwas wie Normalität erleben zu können. Nicht, nach meiner Kindheit und Jugend.
Aus diesem Grund wollte ich auch das, was ich jetzt hatte, nicht verlieren.
Immerhin erhielt ich nun, was ich die gesamte Kindheit lang vermisst hatte: Elternliebe. Als Kind fühlte ich mich von meinen Eltern nie geliebt! Weder von Mutter noch von Vater. Als Erwachsene schon!
War es daher nicht verständlich, dass ich dieses Gefühl so sehr genossen habe? Ich hätte es doch immer gebraucht!
Endlich war es da! Hurra! Was für ein Leckerli!
Doch ich wusste stets, dass wir in einer Blase lebten, vergaß nie die Realität, blieb auf der Hut.
Wenn das Urvertrauen in seinen Grundfesten erschüttert wird, kann das Verhältnis nie so werden, wie es in einer vertrauensvollen, liebevollen Beziehung sein sollte.
Uneingeschränkt geliebt habe ich meine Eltern auch als Erwachsene nicht.
Das wäre bei meinen Erfahrungen aber auch gar nicht möglich gewesen.
Wenn einem Menschen, die man liebt und denen man vertraut, das Messer in die Rippen stoßen, kann man bestenfalls verzeihen, aber nicht vergessen.
Daher genoss ich mein Familienleben jenseits meines Fegefeuers mit einer Brise Vorsicht, war dabei aber durchaus zufrieden.
Ich hatte meinem Vater ehrlich verziehen, weil sich das Leben, wie es jetzt war, so unerwartet angenehm anfühlte.
Aber es gab noch einen anderen Grund, warum ich Vater vergeben hatte.
Einen viel Wichtigeren. Eigentlich den Wichtigsten.
Ich wollte keinen Hass in mir spüren. Nie mehr.
Die Jahre vor meiner Psychotherapie hatten mir gezeigt, was innewohnender Hass und Ekel auslösen konnte. Ich war ein hasserfüllter Mensch geworden, dachte nur mehr negativ, wollte sogar töten. Mich selbst, weil ich diesen Menschen, zu dem ich geworden war, nicht mehr ertrug.
In meiner Psychotherapie hatte ich gelernt, dass jedes negative Gefühl in meinem Inneren, jeder böse Gedanke wie ein Krebsgeschwür wuchert und die Seele vergiftet.
Es war für mich ein langer Weg gewesen, all die Wut, die in mir gesteckt hatte, aus mir herauszubekommen und mein Innerstes stattdessen mit Schönem zu befüllen. Doch es war die Mühe wertgewesen und als ich die Psychotherapie beendet hatte, wusste ich, dass ich künftig darauf achten musste, nur mehr Positives, Liebe und Frieden in meine Seele fließen zu lassen.
Konsequent wandle ich seither negative Gedanken, wenn sie kommen, in positive. Ich meide hasserfüllte Leute, lasse mich nicht von frustrierten, schimpfenden Menschen hinunterziehen.
Man kann an jeder, noch so schwierigen, unangenehmen oder schmerzhaften Situation auch Schönes sehen, wenn man nur will.
Jede Schwierigkeit ist in Wirklichkeit doch eine Herausforderung.
Daher habe ich meinen Blick dafür geschärft, nur mehr das Gute und Schöne um mich herum wahr- und aufzunehmen. Aus diesem Grund habe ich sogar an meinem Vater gute Seiten entdecken können. Und was hatte ich dadurch für schöne Jahre mit ihm.
Hätte ich meinen Vater weiterhin gehasst, hätte ich nicht nur diese harmonischen Zeiten nicht erlebt. Nein, was wirklich schlimm gewesen wäre: dieser Hass hätte meine Seele vergiftet.
Hass vergiftet immer die eigene Seele.
Der, den man hasst, spürt diese negativen Gefühle doch oft gar nicht. Hass und Wut richten sich aber nach innen und hätte ich zugelassen, dass mich diese negativen Gefühle weiterhin schwächen, hätte ich meinem Vater auch jenseits der Missbrauchszeit sehr viel Macht gegeben.
Macht über mich, die er sich, und das spreche ich ganz offen aus, nicht verdient hat! Es genügt doch, dass er meine Kindheit und Jugend zerstört hat. Die Macht, auch mein Erwachsenenleben zu zerstören, sollte er daher nicht besitzen.
Daher weg mit dem Hass, der mich bloß selbst krank gemacht hätte.
Meine Seele hat es verdient, rein bleiben zu können. Daher schiebe ich alle krankmachenden, negativen Gedanken konsequent von mir. Ich versuche nur mehr positive Empfindungen aufzunehmen, damit ausschließlich Gutes aus meinem Herzen in mein Bewusstsein kommt.
Und das funktioniert.
Hervorragend sogar.
Und genauso funktioniert das Verzeihen: Man schiebt die negativen Gedanken (Wut) weg und nimmt positive Empfindungen auf (Vergebung). Dadurch kommt ausschließlich Gutes aus dem Herzen ins Bewusstsein (Friede).
Dieses Verzeihen hat demnach meiner Seele gutgetan. Und es hat mir zusätzlich viele Jahre lang ein glückliches, familiäres Umfeld beschert. Daher war ich auch so bestrebt, dass dieses wohltuende Familiengefühl durch mein Buch nicht gefährdet wurde.
Ich bin sicher, dass Sie an dieser Stelle vielleicht den Kopf schütteln und denken: Solche Eltern hätte ich doch gemieden, oder angezeigt, oder gesteinigt, oder, oder ...
Objektiv betrachtet: Ja! Stimmt!
Sie haben absolut recht!
Ein Vater, der seine Töchter jahrelang misshandelt und sexuell missbraucht und eine Mutter, die pflichteifrig weggesehen hat, also, mit solchen Menschen verbringt ein Normalsterblicher doch keine Minute freiwillig.
Stimmt!
Außer, wenn es die einzigen Eltern sind, die man hat!
Wenn man nicht bekommt, was man liebt, muss man lieben, was man bekommt. Und ich habe diese Eltern nun einmal bekommen.
Ich glaube, meine Beweggründe, warum ich meiner Familie nicht den Rücken kehren wollte, habe ich nun ausführlich genug erörtert. Nun nehme ich wieder den roten Faden auf.
Meine Freundinnen drängten mich seinerzeit zur Veröffentlichung, ich hingegen zögerte und erst als ich meine Familie durch das Pseudonym gut geschützt glaubte, war ich bereit, meine Autobiografie zu veröffentlichen.
Selbstbewusst und leicht rebellisch werdend, begann ich zu realisieren, dass es wichtiger war, anderen Missbrauchsopfern mit meiner Geschichte zu helfen, als ängstlich den Deckel des Schweigens über eine Tat zu stülpen, an der ich überhaupt keine Schuld trage.
Wenn meine Familie trotz aller Vorsichtsmaßnahmen, trotz Pseudonym, doch durch irgendwelche Zufälle von meinem Buch erfahren würde, war es halt einfach Pech. Für meine Familie.
So, wie ich Pech mit meiner Familie gehabt habe.
Und mit dieser Einstellung, von Freundinnen unterstützt, habe ich letztlich mein Buch veröffentlicht.
Mein Stolz, als ich das Werk erstmals in Händen gehalten hatte, war unbeschreiblich.
Und gleichzeitig hatte ich mich wie eine Nestbeschmutzerin gefühlt.
Als ich in meiner Autobiografie zum ersten Mal geblättert hatte, habe ich nämlich gewusst, dass ich dieses Buch niemals jemandem in der Familie geben durfte.
Meinem Vater und meiner Mutter sowieso auf gar keinen Fall.
Aber auch bei meiner Schwester zögerte ich sehr lange.
Bis mir meine Psychologin ins Gewissen redete.
„Bei Ihnen in der Familie wurde schon viel zu viel geschwiegen. Sie helfen mit diesem Buch so vielen Frauen mit Missbrauchserfahrung. Gerade Ihrer Schwester wollen Sie damit nicht helfen? Glauben Sie nicht, dass Sie Ihre Schwester damit ziemlich klein machen?“
Nachdem das nie meine Intention gewesen ist, habe ich also meiner Schwester das Buch gegeben.
Und sie hat es gelesen.
Und sie war stolz auf mich, regelrecht überwältigt. Wir haben in weiterer Folge sehr viele ausführliche Gespräche geführt und sind uns gerade wegen des Buches noch nähergekommen.
Dann bewarb ich das Buch bei Hilfsorganisationen und erstellte meine Homepage. Im Freien Rundfunk Salzburg wurde ich von der Leiterin der Selbsthilfegruppe ‘Überlebt’ zu einem 30-minütigen Interview eingeladen (ist auf meiner Homepage zu hören) und eine Psychologin der Hilfsorganisation ‘die Möwe’ lud mich zu einem persönlichen Gespräch.
Ich hatte durch diese Aktivitäten plötzlich sehr viel Kontakt zu Mitarbeiterinnen von Hilfsorganisationen aber auch zu anderen Missbrauchsopfern.
All die geführten Gespräche und neu erhaltenen Eindrücke haben mich dazu bewegt, mein ursprüngliches Buch zu überarbeiten.
Ich habe nämlich eine neue Sicht auf viele Dinge erhalten! Das Kennenlernen anderer Missbrauchsopfer und deren Schicksale, die Worte der Psychologin mit der ich ein so intensives Gespräch geführt habe, die Sicht vieler Freundinnen.
Ja, ich hatte eine neue Wahrnehmung bekommen.
Eine objektivere.
Über den Missbrauch selbst. Über Unterschiede und Gleichheiten.
Über die sich heute bietenden Möglichkeiten, sich Hilfe zu suchen, die in meinem ersten Buch schlichtweg fehlten (weil ich sie nicht gekannt habe).
Daher wurde es mir zu einem Bedürfnis, ein umfassenderes Werk aus meiner Autobiografie zu machen.
Nachdem der Vertrag mit dem kleinen Selbstkostenverlag, bei dem ich das Buch erstmals veröffentlicht hatte, ausgelaufen war, habe ich 2018 ‘Mein Weg aus dem Fegefeuer’ neu veröffentlicht.
Mit meinem neuen Wissen.
Mit mehr Informationen für Missbrauchsopfer.
Mit besseren Formulierungen, weil ich mich sprachlich weiterentwickelt hatte.
Aber auch mit kritischeren Formulierungen, weil ich mich persönlich ebenfalls weiterentwickelt hatte.
Auch dieses zweite Buch gab ich meiner Schwester zu lesen.
Dieses Mal war sie aber nicht mehr so stolz und überwältigt.
Die kritischen Stellen, unsere Mutter betreffend, stießen ihr sauer auf.
In der ersten Auflage meines Buches hatte ich Mutter ständig in Schutz genommen. Ich fand hundert Gründe, um ihr jede Schuld von den zarten Schultern nehmen zu können.
Mama war doch selbst ein Opfer ihres tyrannischen Mannes.
Mama war doch so hilflos.
Mama war doch so schwach. Sie hat mir demnach wirklich nicht helfen können. So in etwa hörten sich meine seinerzeitigen, entschuldigenden Formulierungen an.
Inzwischen Mutter einer heranwachsenden Tochter, war aber bei der zweiten Veröffentlichung meine Sicht etwas differenzierter geworden. Als meine Tochter in das Alter kam, in dem ich gewesen war, als Vater mich zu missbrauchen begann, habe ich mir nicht vorstellen können, dass ich mein süßes, kleines Mädchen dem ebenfalls aussetze.
Dass ich schweigend wegsehe!
Und dass meine Mutter davon gewusst hat, war mir klar. Mein Vater hat mich doch sogar neben ihr liegend (!) benutzt. Als Frau bekommt man so etwas mit. Für mich war immer klargewesen, dass Mutter alles gewusst, aber geschwiegen hat.
Mit Sicherheit aus Hilflosigkeit.
Trotzdem: Sie hat geschwiegen!
Sie hat ihren eigenen Kindern nicht geholfen.
Auch nicht, als mich Vater fast getötet hätte. An jenem Tag hat er mich gewürgt, weil ich frei sein wollte. Ich habe nur mehr röcheln können, konnte bloß noch Klopfzeichen mit der Hand geben. Nachdem er seine Hände von meinem Hals gelöst hatte, hat er mich durch das Zimmer getreten und ich knallte auf den Boden.
Diese Geräusche haben meine Mutter im angrenzenden Schlafzimmer offenbar doch beunruhigt.
Sie ist nämlich aus dem Schlafzimmer gekommen, hat mich weinend und röchelnd am Boden liegen gesehen, ist an mir vorbeigegangen und hat sich nach dem Toilettengang wieder ins Bett gelegt.
Wortlos.
Sie hat mich nicht einmal gefragt, warum ich weine, warum ich röchle, ob ich Schmerzen habe.
Warum nicht?
Ich glaube, die Antwort liegt auf der Hand.
Und diese kritischen Überlegungen klangen in der zweiten Veröffentlichung viel deutlicher durch als in der ersten Ausgabe meiner Autobiografie. Alles verschleiernde, entschuldigende, das ich selbst nicht mehr glaubte, habe ich einfach weggelassen. Weil ich authentisch bleiben wollte.
Und darüber hat sich meine Schwester geärgert.
Damals hatten wir eine unserer ersten Auseinandersetzungen.
„Wie kannst du das über unsere Mutter schreiben?“, fragte Angi vorwurfsvoll.
„Weil es so gewesen ist!“
„Aber sie hat doch nicht anders können!“
„Würdest du bei deiner Tochter genauso wie Mama handeln?“
„Nein, ich nicht, aber ...“
„Nichts, aber!“, unterbrach ich sie barsch. „Ich würde auch nicht so handeln. Keine gute Mutter würde so handeln. Ich würde meinen geliebten Georg durch Sonne und Wind jagen, wenn er sich an meiner Tochter vergreifen würde.“
„Aber du darfst nicht vergessen ...“
„Ja, Angi, ich weiß!“, wusste ich, was jetzt kommen würde. „Mama war schwach, Mama war von Papa finanziell abhängig und er war auch zu ihr immer sehr brutal!“
„Ja, genau das wollte ich sagen. Und das stimmt doch auch!“, wurde Angela laut.
„Und deswegen überlässt man die eigenen Kinder einfach ihrem Schicksal?“
„Aber, es war für sie doch überhaupt nicht einfach“, begann Angela wieder nach Luft zu schnappen, war nun vollkommen im Verteidigungsmodus angekommen.
„Das weiß ich. Aber war es einfach für uns?“
„Nein, aber ...“
„Angi, wir waren Kinder – sie hingegen war erwachsen. Wir hatten wirklich keine Chance – sie allerdings schon. Sie hätte handeln können, nein, sie hätte handeln müssen!“
Bevor Angela wieder zu widersprechen begann, redete ich rasch weiter.
„Angi, ich weiß, wie schwer sie es gehabt hat. Aber in meinem Buch sollte und wollte ich ehrlich sein. Und die Wahrheit ist nun einmal, dass sie uns im Stich gelassen hat.“
„Aber, was hätte sie denn tun sollen?“, versuchte es Angela anders.
„Sich an ihre Mutter wenden? Oma war eine so liebe, gute und hilfsbereite Person. Sie hätte uns zur Not aufgenommen, sie hätte uns beschützt. Oder zur Polizei gehen? Ich weiß, ich habe es selbst nicht getan. Aber ich wiederhole mich: Ich war ein Kind. Sie war erwachsen!“
Daraufhin schwieg Angela eine Weile, wechselte das Thema.
„Aber trotzdem klingen einige Formulierungen, mit denen du sie beschrieben hast, schon sehr hart.“
„Welche meinst du?“
„Dass unsere Mutter nur zu Tieren zärtliche Liebe entwickeln kann, beispielsweise.“
„Stimmt das etwa nicht?“
„Schon, aber du beschreibst sie dadurch im Buch, als wäre sie lieblos.“
„Das habe ich nie behauptet“, stellte ich richtig. „Ich schrieb lediglich, dass sie zärtliche Liebe nur ihren Katzen schenken kann. Oder bist du jemals von ihr geküsst, geherzt oder in den Arm genommen worden?“
„Nein, aber sie kann das halt nicht.“
„Doch, bei Katzen schon“, widersprach ich und erinnerte Angi an ihre eigenen Worte. „Du selbst hast noch vor kurzem gesagt: ‘Schade, dass wir nicht mit einem Fell zur Welt gekommen sind. Dann nämlich würde unsere Mama uns lieben.’“
„Ja, das habe ich zwar gesagt, aber es ist doch ein Unterschied, ob ich es dir sage oder ob du es in einem Buch schreibst, das jeder Mensch lesen kann.“
„Da stimme ich dir zu und eben, weil auch ich diesen Unterschied kenne und meiner Mutter keinesfalls schaden will, habe ich das Buch auch unter einem Pseudonym geschrieben. Doch die Wahrheit verdrehen wollte ich nicht. In unserer Familie wurde genug verheimlicht, verdrängt und verschwiegen.“
2018
Bei diesem Gespräch mit meiner Schwester hatte ich das Gefühl, dass wir einander nicht mehr so blind verstanden, wie es bislang der Fall gewesen war.
Angelas Vorwürfe machten mich betroffen, denn wir hatten doch über unsere Eltern stets gleich gedacht. Warum jetzt auf einmal dieser Meinungs-Schwenk?
Ich konnte nicht verstehen, warum mich Angela so heftig kritisierte. Ich habe doch bloß geschrieben, was Sache war. Und worüber wir beide stets gleich gedacht haben.
Zumindest früher.
Es gab sogar einen Schwur zwischen uns beiden: „Liebe Schwester, versprich mir hoch und heilig: Sollte ich jemals auch nur ansatzweise so werden, wie Mutter, sag es mir, schlag mich, oder lasse dir sonst etwas einfallen. Aber verhindere bitte, dass ich so kalt werde wie Mama.“
Und nun?
Angelas Worte klangen, als wäre sie sauer auf mich.
Aber warum?
Hatte ich etwas geschrieben, das nicht der Wahrheit entsprach?
Nein! Angela hat sogar bestätigt, dass alles genauso gewesen ist, wie ich es beschrieben habe.
Verblüfft fragte ich mich, warum sich meine Schwester dann aber so sehr darüber aufregte, dass ich Mutter beschrieb, wie sie war.
Weil ich in meinem ersten Buch so viele Entschuldigungen für Mutters Verhalten gesucht und gefunden hatte?
Hatte sie erwartet, dass ich wieder eine imaginäre Käseglocke über Mutters Verfehlungen stülpe?
Die zahlreichen Entschuldigungsgründe mit denen ich in meiner ersten Veröffentlichung Mutters Verfehlungen zu erklären versuchte, hat damals absolut niemand nachvollziehen können. Das Einzige, das meine Freundinnen und fremde Leserinnen an meinem ersten Buch kritisiert hatten, war die Tatsache, dass ich Mutters Wegsehen so wortreich entschuldigt habe.
„Verzeih, Brenda, aber da konnte ich dir nicht folgen, denn für das Verhalten deiner Mutter gibt es keine Entschuldigung“, hörte ich damals von allen Seiten.
Niemand, wirklich niemand, konnte die von mir vorgebrachten Gründe, mit denen ich Mutters Tatenlosigkeit zu erklären versuchte, auch nur im Ansatz nachvollziehen.
Weil die von mir gesuchten Gründe und Entschuldigungen tatsächlich teilweise konstruiert gewesen waren!
Ich wollte die Wahrheit damals nicht so deutlich sehen.
Die Wahrheit, dass mich meine Mutter in Stich gelassen hat. Diese Tatsache wollte ich mir scheinbar nicht eingestehen, solange ich noch auf Mutterliebe hoffte.
Diese Hoffnung schwand bei mir aber immer mehr und daher habe ich meine Mutter in meiner Neuauflage beschrieben, wie sie ist. Ohne Scheuklappen.
Ich war bei diesem Telefonat mit Angela völlig irritiert, fragte mich, warum sie unsere Mutter plötzlich in Schutz nahm.
Meine längst vergessenen Befürchtungen, dass ich wegen der Veröffentlichung meines Buches Probleme mit Familienmitgliedern bekommen könnte, schienen sich auf einmal zu bewahrheiten.
Die Stimmung zwischen Angela und mir war nach diesem Telefonat tatsächlich ziemlich angespannt und das erste Mal in unserem Leben beendeten wir ein Gespräch mit einer Missstimmung.
Als mein Mann erkannte, wie verstört ich nach diesem Gespräch war, meinte er: „Nimm es nicht persönlich. Du hast nichts falsch gemacht. Deine Schwester ist halt anders als du und wird zudem deiner Mutter immer ähnlicher.“
„Aber sie hat doch nie so werden wollen“, verstand ich nicht. „Wir haben uns früher geschworen, dass wir beide nie so werden wollen, wie Mama.“
„Aber das kann man sich doch gar nicht vornehmen“, lächelte Georg. „Letztlich kommt Angela aber ganz nach deiner Mama.“
„Aber warum hat sie mich vorhin so attackiert?“, fragte ich verunsichert.
„Du weißt, dass Angela viel Zeit mit deiner Mutter verbringt, schon deshalb, weil sie in ihrer Nähe wohnt. Daher hat sie auch einen viel engeren und intensiveren Kontakt zu ihr als du. Und aus diesem Grund will sie sie nicht so sehen, wie du sie siehst.“
„Wie jeder unsere Mutter sieht!“, verbesserte ich ihn.
„Stimmt!“, nickte er. „Jeder, außer Angela!“, grenzte er ein.
„Aber früher hat sie sie doch genauso wie ich gesehen“, hakte ich weiter auf diesem Detail herum, wollte nicht verstehen, warum Angela ihre Meinung geändert hatte.
„Und jetzt eben nicht mehr“, hob Georg die Schultern, als gäbe es dazu nicht mehr zu sagen.
Und letztlich gab es dazu auch tatsächlich nicht mehr zu sagen.
Angela hat ihre Meinung geändert.
„Ich weiß, weil sie jetzt so viel Zeit mit ihr verbringt“, begann ich allmählich zu verstehen auf was Georg hinauswollte.
Nachdem mein Mann schweigend nickte, ergänzte ich meine Worte mit dem Zitat, das so gut auf unsere Familienverhältnisse passt: „Wenn man nicht bekommt, was man liebt, muss man lieben, was man bekommt.“
„So ist es“, nickte Georg abermals. „Und aus diesem Grund hat Angela wohl wehgetan, was du über eure Mutter geschrieben hast.“
„Aber es war doch die Wahrheit!“, maulte ich.