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Dies ist der erschütternde Bericht einer Frau, die als Jugendliche jahrelang vom eigenen Vater sexuell missbraucht und unter Drohungen zum Schweigen gebracht wurde. Für das gläubige Mädchen war diese Zeit das Fegefeuer auf Erden und selbst die Flucht aus ihrem Elternhaus konnte sie daraus nicht befreien. Die Dämonen des Missbrauchs verfolgten und beherrschten sie weiter in zwei unglücklichen Ehen. Ihre neurotischen Störungen, Panikattacken, ihr unverarbeiteter Ekel und Hass trieben sie eines Tages an den Rand des Abgrunds. Als sie nur mehr Selbstmord als Ausweg sah, erkannte sie, dass sie es ihren Kindern schuldig war, weiterzuleben, weiterzukämpfen. Am tiefsten Punkt ihres Lebens angekommen, nahm sie daher den Kampf um ihre seelische Gesundheit aktiv in die Hand. Brenda Leb schaffte das schier Unmögliche, bekämpfte verzweifelt ihre Dämonen, wandelte negative Energie in positive und tauchte ein in das warme Licht des Glücks. Wie neugeboren erkannte sie, dass Leid getarntes Glück sein kann.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Veröffentlichungsjahr: 2020
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Prolog
Kindheit
Fegefeuer auf Erden
Erste Liebe
Rebellion
Freiheit
Zweites Opfer
Flucht
Liebe auf den ersten Blick
„Alles ist in Ordnung!“
Nichts ist in Ordnung
Zweites Gefängnis
Leidenschaft, die Leiden schafft
Wenn du glaubst es geht nicht mehr ...
... kommt von irgendwo ein Lichtlein her
Neues Leben
Verzeihen
Die große Liebe
Epilog – die nächsten Jahrzehnte
Angi
Nachwort
Danksagung
Literaturhinweise
Brenda Leb
Mein Weg aus dem Fegefeuer
Missbrauch – Leid in der Dunkelheit
Die Autorin
Brenda Leb wurde 1960 in Wien geboren, ist verheiratet und Mutter von zwei erwachsenen Kindern. Ihre Autobiografie schrieb sie unter Pseudonym, um vorkommende Personen und deren Privatsphäre zu schützen.
Danach veröffentlichte die Autorin unter ihrem bürgerlichen Namen humorvolle Unterhaltungsliteratur sowie fesselnde Romane mit sozialkritischem Hintergrund. Sie schreibt für Leser die Unterhaltung, Humor, Spannung und Gefühle suchen.
Besuchen Sie Brenda Leb auf ihrer Homepage
https://www.brendaleb.at
Impressum
© urheberrechtlich geschütztes Material
Text von Brenda Leb © Copyright by Brenda Leb
www.brendaleb.at
Alle Rechte vorbehalten
© 2021 Brenda Leb
Autor: Brenda Leb
Umschlaggestaltung, Foto: Brenda Leb
Wie dieses Buch entstand
Ich bin ein Opfer von sexueller Gewalt. Als 20-Jährige schrieb ich mir erstmals die Wut und Verzweiflung über den erlebten und vor aller Welt verschwiegenen sexuellen Missbrauch meiner Jugend von der Seele. Wie unter Zwang tippte ich in den 80-er Jahren auf meiner kleinen Kofferschreibmaschine die schrecklichen Jugend-Erlebnisse, die mein Leben prägten, nieder. Ich tat dies ohne Hintergedanken, ohne für mich erkennbaren Grund.
Wahrscheinlich habe ich damals gehofft, dass mir das Schreiben hilft, meine schreckliche Vergangenheit zu bewältigen. Es war ein wichtiger Impuls, doch geholfen hat es mir damals (noch) nicht. Die von mir geschriebenen, losen Zettel verschwanden daher bald wieder achtlos in einer geheimen Schublade, weil ich in den kommenden Jahren immer tiefer von einem Unglück in das nächste geschlittert bin.
Wie alle Opfer von Gewalt war ich Gefangene meiner Ängste und meines innewohnenden Ekels. Die unangebrachten, aber existenten Schuldgefühle hemmten meine Entfaltung. Hass, Wut und Misstrauen beherrschten jahrelang mein Denken und Handeln, bis ich eines Tages suizidgefährdet am Rande des Abgrunds stand.
Als mich die Dämonen des Missbrauchs Jahre später verlassen hatten, erkannte ich den Unterschied zwischen ‘Überleben’ und ‘Leben’. Dass es Liebe, Glück und dieses für mich unbeschreibliche Gefühl, angstfrei leben zu können, auch für mich gab, erschien mir so ungewohnt, schön und neu, dass ich diese herrliche Zeit jahrelang einfach nur unbeschwert genoss.
‘Mein Weg aus dem Fegefeuer’ des Missbrauchs war steinig. Rückwirkend gesehen, aber auch sehr lehrreich.
Mehr als 20 Jahre nach deren Entstehung fand ich die vergilbten Zettel zufällig wieder in der Schublade. Mit der vagen Idee, aus diesen Zetteln mehr zu machen, beschloss ich damals, auch meinen weiteren Lebensweg aufzuschreiben.
Was daraus wurde, lesen Sie soeben.
Meine Erfahrungen schrieb ich vordergründig für Opfer von sexueller Gewalt, die an ihrer Vergangenheit verzweifeln. Als Ratgeber, Trostspender und als Hand, die ich symbolisch reiche. Ich möchte signalisieren: "Du bist nicht allein. Kämpfe auch du um dein Glück. Schau, es geht!"
Mein heutiges Glück nicht als Selbstverständlichkeit zu nehmen, sondern es mit anderen zu teilen, wurde für mich zum Lebenswerk.
Durch meine Autobiographie (die ich erstmals von 2005 bis 2018 bei einem kleinen Verlag veröffentlicht hatte) und meine Homepage offenbare ich, wodurch meine Seele Frieden fand: Durch Toleranz und Verzeihen.
Damit will ich aber keinesfalls behaupten, dass das für jedes Missbrauchsopfer der richtige Weg ist. Es gibt viele verständliche Gründe, warum verzeihen einfach nicht möglich ist.
Objektiv betrachtet wäre natürlich eine Anzeige der einzig zielführende Weg. Für jeden Nichtbetroffenen ist das sonnenklar.
Ich weiß jedoch aus eigener Erfahrung, dass viele ohnmächtige und verängstigte Opfer dazu einfach keinen Mut aufbringen können.
Außerdem, selbst wenn es den dafür nötigen Mut findet, wägt jedes Missbrauchsopfer die Folgen dieses Schrittes sorgsam ab. Unter Betrachtung meiner familiären Situation habe ich den konzilianten Weg gewählt, weil ich die belastenden Folgen einer Anzeige sicherlich nicht ausgehalten hätte. Glück und Friede kam in meine Seele tatsächlich erst, als ich den versöhnlichen Weg einschlug.
Ich weiß, dass es sehr viele Missbrauchsopfer gibt, denen ähnliches widerfuhr oder soeben gerade widerfährt. Erschüttert erkannte ich, dass Ähnliches in vielen Familien vorkommt.
Es gab kaum eine Frau, die, nachdem sie von meiner Vergangenheit erfuhr, nicht auch Details aus ihrem Leben erzählt hat. Manche waren direkt betroffen, andere erzählten von Betroffenen in der Familie oder im Freundeskreis.
Laut Statistik soll jedes vierte Mädchen Erfahrungen mit sexuellem Missbrauch haben. Ich glaube, dass die Dunkelziffer vielleicht sogar noch höher ist.
Warum ich das glaube?
Auch ich war ein Dunkelziffer-Kind. Daher scheine ich in keiner Statistik auf. Niemand wusste, was sich hinter den geschlossenen Türen meiner nach außen so heil wirkenden Welt tatsächlich abspielte.
Niemand!
Und auch heute würde es wohl niemand glauben können.
Doch das ist nicht relevant und ein schmutziges Staubaufwirbeln wäre nach so vielen Jahrzehnten aus meiner Sicht niemandem dienlich und deshalb auch nicht nötig.
Aus diesem Grund schrieb ich mein Buch unter Pseudonym und habe alle Namen verändert, auch, um vorkommende Personen zu schützen.
Alles, was in diesem Buch beschrieben wird, ist wahr und entstammt meinen Erinnerungen und Tagebuchaufzeichnungen. Lediglich wenige unwichtige Details musste ich in dichterischer Freiheit ausschmücken, weil meine Erinnerungen manchmal nicht bis in kleinste Einzelteilchen erhalten geblieben sind.
Kein Lektor hat dieses Buch korrigiert, weil ich wollte, dass jedes Wort von mir stammt. Wenn Sie demnach einen Fehler entdecken, lesen Sie bitte einfach weiter. Mir ist nämlich meine Botschaft wichtiger als Perfektion. Mit diesem Buch will ich in erster Linie (aber nicht ausschließlich) jedem Opfer von (sexueller) Gewalt helfen, mit der (Missbrauchs-) Vergangenheit fertig zu werden.
Aber auch für Therapeuten und Therapeutinnen ist dieses Buch, durch die tiefen Einblicke in die verängstigte Seele eines Missbrauchsopfers, als unterstützendes Sachbuch bedeutsam. Im Vergleich zu theoretischen Sachbüchern offenbart nämlich mein Bericht die kindliche Hilflosigkeit und deren schwerwiegende Folgen in emotionaler Weise.
Eine Psychologin, die sich hauptberuflich für Missbrauchsopfer einsetzt, wies darauf hin, dass durch mein Buch die oft unverständlich wirkende Handlungsunfähigkeit eines Missbrauchsopfers erst verständlich wird.
Vor allem aber will ich jedem verzagten Menschen Hoffnung schenken, weil man an meiner Geschichte erkennt, dass man auch mit einer sehr schrecklichen Vergangenheit glücklich werden kann.
Ich sitze vor dem PC auf meiner sommerlichen Terrasse und höre das fröhliche Plätschern des Wasserstrahls, welcher vom Springbrunnen auf die glitzernde Wasserfläche meines marmorfarbenen Steinbrunnens fällt. Die lila Rosen sind voll erblüht und verströmen einen süßen, betörenden Duft. Das bewusste Inhalieren dieses lieblichen Umfeldes zaubert auf mein Gesicht ein glückliches Lächeln.
Dieses heutige Glück scheint aufgrund meiner Lebensgeschichte eigentlich unfassbar, denn ich erlebte körperliche und seelische Gewalt, an der Frauen in den meisten Fällen zerbrechen. Ich wurde geschändet in einem Alter, in dem ich noch keine Frau war und ging durch alle Tiefen seelischen Leids, weil ich zum Schweigen gezwungen wurde und aufgrund dessen keine Hilfe erhoffen durfte.
Ich begann zu hassen und wollte meinen Peiniger töten. Dadurch war ich auf dem besten Wege, meine Seele zu vergiften. Mein Leben schien direkt in den Abgrund zu steuern.
Doch ich wurde glücklich und es scheint unglaublich, dass mein Missbrauch schon so viele Jahrzehnte zurückliegt, weil meine Erinnerungen noch so wach sind. Mir ist daher klar, dass ich diese furchtbare Zeit niemals vergessen werde. Es ist aber ein Segen für meine Seele, dass ich mich mit dieser peinvollen Realität auseinandersetzen kann, ohne daran zu verzweifeln. Ich verdränge meine Vergangenheit nicht und erzeuge damit keine seelische Blockade in mir, wie es viele Missbrauchsopfer aus Selbstschutz und Scham glauben, tun zu müssen.
Ich stehe dazu, dass meine Vergangenheit in all ihrer Grausamkeit stattgefunden hat und heile die Wunden meiner Seele selbst, indem ich meine schrecklichen Erlebnisse durch schöne Sinneseindrücke ersetze.
Wie in meiner Therapie erlernt, befülle ich meine Seele täglich durch bewusstes Wahrnehmen von schönen Bildern, angenehmen Klängen und Düften sowie intensiven Empfindungen. Einfache, kleine Dinge, wie das Betrachten einer aufgeblühten Rose oder das bewusste Hören von berauschender Musik, die jeden Menschen jeden Tag umgeben, lasse ich nicht an mir vorbeiplätschern, sondern sauge sie dankbar auf und speichere sie in meinem Inneren.
Ich habe gelernt, meine negative, ehemals selbstzerstörende Energie in positive, konstruktive, umzuwandeln.
Ich fühle mich, weil ich trotz meiner Vergangenheit einen Weg zum Glücklich-Sein fand, dazu berufen, mit der Dokumentation meiner Leidensgeschichte, Missbrauchsopfern zu helfen. Damit will ich denen, die wie ich misshandelt, entwürdigt und vergewaltigt wurden, vor Augen führen, dass das Leben trotzdem schön werden kann. Ich will Hoffnung schenken, weil ich weiß, dass viele Missbrauchsopfer über ihr Leid nicht sprechen können oder dürfen. Daher möchte ich ihnen einfach das Gefühl vermitteln, nicht allein zu sein mit diesem Schmerz.
Mein Buch soll weder anklagen noch verurteilen. Ich will einfach nur helfen.
Seit der erstmaligen Veröffentlichung meiner Lebensgeschichte hatte ich über meine Homepage unerwartet viel Kontakt mit anderen Missbrauchsopfern.
Das war neu für mich, weil ich bisher, außer meiner Schwester, keine Schicksalsgefährtinnen kannte und daher nicht wusste, wie es anderen Betroffenen bei der Bewältigung geht. Bedrückt musste ich erkennen, dass alle an der gleichen Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit leiden, unter der auch ich litt.
Mein Wunsch ist daher, jedem Missbrauchsopfer mit meiner Lebensgeschichte Hoffnung zu machen, damit sie an Ihre seelische Gesundung glauben. Ich beschreibe in meinem Buch die gleiche Hilflosigkeit und Verzagtheit, die jedes Missbrauchsopfer befällt.
Doch man liest auch, wie ich glücklich wurde. Ich glaube daher, dass es jeder schaffen kann, wenn man nur daran glaubt und nie die Hoffnung aufgibt.
Immerhin hätte ich von mir auch nie gedacht, dass ich mich so verändern kann – und doch geschah es!
Dabei hatte ich, bevor ich andere Betroffene kennen gelernt hatte, immer gedacht, meine Jugend wäre die schlimmste gewesen, die einem jungen Menschen passieren kann. Doch bei all dem Unglück, das mich getroffen hat, besaß ich, wie ich heute erkenne, das Glück, mich an alles Schreckliche noch genau erinnern zu können. Ich war schon fast eine Jugendliche, als es begann. Daher konnte ich mein Leid in Worte fassen und deshalb auch verarbeiten.
Viele Opfer jedoch, die ich kennengelernt habe, wurden in so frühkindlichem Alter missbraucht, dass ihnen jede Erinnerung an das Geschehene fehlt. Diese Betroffenen werden meist aus heiterem Himmel, oft erst in der Mitte ihres Lebens von schrecklichen Depressionen und Selbstmordgedanken niedergedrückt und wissen nicht einmal, warum!
Menschen mit diesem Schicksal spüren den gleichen körperlichen Schmerz, die Scham und Ohnmacht, die von ihnen als kleines Kind Besitz ergriffen hat, denn der erlebte Schrecken bleibt in der Seele gespeichert. Diese latente Anwesenheit lähmender Angstgefühle legt das Unterbewusste regelrecht in Fesseln. Der Geist kann aber aufgrund fehlender bildhafter Erinnerungen diese angstmachenden Gefühle nicht zuordnen. Die schrecklichen Geschehnisse der Kindheit können somit nicht aufgearbeitet werden.
Wer solch ein Schicksal erlitt, ist angewiesen auf Träume, die blitzartig auftauchen und zutreffend gedeutet werden müssen, um den latenten Missbrauch erkennbar zu machen.
Zudem sind Missbrauchsopfer auf verständnisvolle Mitmenschen noch mehr angewiesen als Menschen ohne Missbrauchserfahrung. Doch leider sind bei einer überraschend einsetzenden Depression Partner und persönliches Umfeld der Betroffenen meist überfordert und reagieren verständnislos.
Damit beginnt sich ein Teufelskreis für diese Opfer zu drehen. Sie werden von ihrer Umwelt nicht verstanden, spüren unerklärbare, vernichtende Gefühle, die aus der verletzten Kinderseele hochkommen und sinken oft, von zunehmenden Selbstzweifeln begleitet, immer tiefer in eine suizidale Ausweglosigkeit.
Ich hoffe daher, dass meine Leidensgeschichte auch Betroffenen, die bisher keine bewussten Erinnerungen haben, hilft, vergrabene Erinnerungen ins Bewusstsein zu rücken. Immerhin schreibe ich in meinem Buch auf, was mir geschah. Und ich schreibe detailliert und schonungslos offen. Vielleicht helfen meine Schilderungen sogenannte Erinnerungsblitze zu erzeugen, damit das Erlebte erkannt und (in einer Therapie) bewältigt werden kann.
Es gleicht zwar kein Missbrauch dem anderen, doch ich weiß inzwischen, aufmerksam geworden durch ein Buch von Ellen Rachut (Folgen sexueller Gewalt verstehen lernen, helfen lernen), dass Missbrauchs-Täter immer die gleiche Strategie anwenden, um ihre Opfer einzuschüchtern: Das Opfer wird vom Täter durch Ausspielung autoritärer Macht bewusst in eine hoffnungslose Isolation gebracht. Durch heimtückische Manipulation wird vom Täter meist sogar noch die Schuldfrage umgekehrt und das Opfer fühlt sich mitschuldig.
In so einem Fall kann sich der Täter ziemlich sicher sein, dass sein Opfer, manchmal sogar bis an sein Lebensende, aus Scham und Schuld nicht über den Missbrauch sprechen kann. Doch dessen ungeachtet ist die massive Machtausübung, mit welcher die abhängigen Opfer von ihren überlegenen Tätern in eine aussichtslose Ohnmacht gebracht werden, bei jedem Missbrauch gleich.
Dieser massive Machtmissbrauch wird, zusätzlich zu den begleitenden körperlichen Schmerzen, von jedem Täter erbarmungslos auf jedes Opfer ausgeübt, und zwar egal in welchem Alter und in welcher Weise der Missbrauch geschah oder geschieht.
Wie ich trotz meiner schrecklichen Vergangenheit glücklich wurde, wie ich es schaffte, meine negative Energie in positive umzuwandeln und wieso ich mich heute stark fühle, beschreibe ich in diesem Buch.
Um meine Geschichte aus heutiger Sicht zu beleuchten und um manche Geschehnisse direkt zu analysieren, lasse ich zu bestimmten Stellen im Buch in kursiver Schrift meine heutigen Überlegungen, Erklärungen und/oder daraus gewonnene Erfahrungen einfließen.
Ich dachte stets, dass man ein traumatisches Erlebnis, wie ich es hatte, nur mit einer Psychotherapie verarbeiten kann. Anders konnte ich es mir nicht vorstellen.
Doch meine Schwester Angela hat mich zu einer neuen Erkenntnis gebracht. Die Einblicke in die Seele einer Frau mit anderem Charakter, offenbarte mir eine viel offenere Sichtweise. Mir wurde klar, dass man sich auch dann zu einem reifen und glücklichen Menschen entwickeln kann, wenn man nicht den gleichen Weg geht, den ich gegangen bin.
Voll Verwunderung und Hochachtung erkannte ich, dass Angi, wie ich Angela nenne, in den vergangenen Jahren eine Entwicklung durchgemacht hat, die ich nicht für möglich gehalten hätte.
Es ist daher wichtig, bereits im Prolog zu erwähnen: Was mir geholfen hat, muss nicht für jeden genauso hilfreich sein. Der von mir eingeschlagene Weg zur Heilung meiner Seele hat mir geholfen und kann sicherlich denjenigen helfen, die, wie ich, übersensibel und nachgiebig sind. Wer grenzenlosem Leidensdruck ausgesetzt ist und sich selbst nicht helfen kann, wird meinen Weg der Bewältigung nachvollziehen können und sich in Therapie begeben – was ein guter und wertvoller Ansatz ist! Es gibt nämlich nur wenige Menschen, die eine so starke Persönlichkeit besitzen, dass sie mit einer qualvollen Vergangenheit ohne professionelle Hilfe fertig werden.
Eine erfahrene Psychologin der Wiener Hilfsorganisation ‘Die Möwe’ (https://www.die-moewe.at) wies darauf hin, dass der Hinweis auf die heilende Kraft einer Therapie in meinem Buch keinesfalls fehlen sollte.
Nachdem ich soeben eine Hilfsorganisation erwähnte, möchte ich Missbrauchsopfer dazu ermutigen, sich aktiv Hilfe zu suchen.
Auch, oder gerade deshalb, weil ich nicht den Mut fand, mich jemandem anzuvertrauen.
Warum gerade ich dazu ermuntere, wo ich es doch selbst nicht getan habe? Weil der Zugang zu Hilfe in den vergangenen Jahrzehnten wesentlich leichter geworden ist.
Heute haben bereits Schulkinder ein Handy oder Internet-Zugang. In den 70-er Jahren hatte nicht einmal jeder Haushalt ein Festnetz-Telefon.
Zudem werden Kinder heutzutage in Mitteleuropa (normalerweise) nicht mehr zu Marionetten erzogen. Man legt inzwischen, sowohl im Elternhaus als auch in der Schule, das Augenmerk darauf, die Persönlichkeit eines Kindes zu fördern und dessen Rechte zu achten.
In meiner Jugend hatten Kinder zu schweigen, wenn Erwachsene reden. Die ‘Brut’ sollte folgsam sein und ausgeprägte Persönlichkeiten wurden gezüchtigt, wenn sie sich Autoritäten nicht willenlos unterwarfen.
Als ich in den 70-er Jahren zum Missbrauchsopfer wurde, war die Prügelstrafe noch ein legitimes Erziehungsmittel und für Kindesmissbrauch gab es lächerlich geringe Strafen, falls einer ‘frechen Göre’, die ihren Vater ‘anschwärzt’, die Behörden überhaupt geglaubt hätten!
Diese Zeiten sind im mitteleuropäischen Raum gottlob Vergangenheit.
Die Prügelstrafe ist seit den 80-er-Jahren verboten und es gibt inzwischen nicht nur sensible Lehrer und Lehrerinnen sowie speziell geschulte Polizeibeamte, sondern auch viele Hilfsorganisationen, an die sich Opfer von Gewalt wenden können.
‘Die Möwe’ ist eine bekannte Hilfsorganisation, die seit 1989 in Wien tätig ist. Um Mut zu machen habe ich daher einige Auszüge aus deren Webseite hier eingefügt:
die möwe bietet Kindern, Jugendlichen und ihren Bezugspersonen kostenlos konkrete Unterstützung und professionelle Hilfe bei körperlichen, seelischen und sexuellen Gewalterfahrungen. Das zentrale Anliegen ist der Schutz von Kindern vor Gewalt und ihren Folgen. Wir handeln aus einer Haltung der Zuversicht und aus der Überzeugung, dass positive Veränderung möglich ist.
Auf Grundlage der Kinderrechtskonvention und des § 138 ABGB handeln wir parteilich auf Seite der Kinder und Jugendlichen und berücksichtigen ihre körperliche, psychische und soziale Gesundheit. Entscheidungen und Empfehlungen werden auf Basis einer nachhaltigen Sicherung des Kindeswohles getroffen.
Vertrauen ist die Basis jeder helfenden Beziehung. Alle Inhalte, die uns im Rahmen der klientenzentrierten Kinderschutzarbeit mitgeteilt werden, unterliegen den gesetzlichen Bestimmungen der Berufsgesetze, des Datenschutzes und der Sorgfaltspflicht.
Hätte es diese oder ähnliche Hilfsorganisationen (davon gibt es in Mitteleuropa inzwischen viele) in meiner Jugend bereits gegeben, wahrscheinlich hätte ich mich hilfesuchend hingewandt. Verzweifelt genug war ich jedenfalls.
Daher will ich im Prolog noch einmal ganz intensiv dazu ermutigen, sich Hilfe zu holen, auch, weil ich eines erkannt habe: Menschen, die sich an Kindern vergreifen, sind im Grunde feige.
Sie bringen nicht den Mut auf, sich ihre psychische Störung behandeln zu lassen. Sie gehen den Weg des geringsten Widerstandes und leben ihren Trieb einfach aus.
An Kleineren. Schwächeren.
Zu einer gesunden Beziehung mit gleichberechtigten Partnern nicht fähig, wird nach unten getreten.
Auf wehrlose Kinder.
Wer dieses Buch aber gerade liest, ist kein ganz kleines, total wehrloses Kind mehr.
Egal ob Kind, Jugendlicher oder Erwachsener: Das Missbrauchsopfer, das diese Zeilen soeben liest, will etwas an seiner bedrückenden Lebenssituation verändern.
Und das ist der erste und wichtigste Schritt in die richtige Richtung.
Daher mein Appell: Holt euch Hilfe!
Wartet nicht darauf, dass sich der Täter ändert.
Das wird nicht geschehen. Je länger sich ein Opfer unterdrücken lässt, desto massiver wird die Macht, die der Täter ausübt.
Ein Pädophiler wird sich nicht von selbst ändern!
Darauf zu warten, hat keinen Sinn.
Immerhin: Wollte er sich tatsächlich ändern, hätte er eine Therapie begonnen, bevor er sich an Kindern vergriff.
Daher kann nur das Opfer selbst etwas bewirken.
Indem es aktiv wird!
Nur wer sich hilfesuchend an Lehrer, Polizisten, Hilfsorganisationen oder sonstige Vertrauenspersonen wendet, dessen Schrecken wird ein Ende haben.
Anderenfalls bleibt es ein Schrecken ohne Ende.
Letzter Appell: Nehmt bitte auch keine Rücksicht auf wegschauende, untätige Mütter. Es ist nicht die Aufgabe eines Missbrauchsopfers, die Mutter zu schützen.
Umgekehrt sollte es sein!
Eine Mutter sollte ihr Kind beschützen und wenn sie es, aus welchen Gründen auch immer, nicht tut, dann holt euch den Schutz und die nötige Hilfe von außen und opfert euch nicht für eine untätige Mutter auf!
Die Mitarbeiter einer Hilfsorganisation sind geschult und außerordentlich rücksichtsvoll. Sie wissen um die Angst eines Opfers und auch, wie Triebtäter ticken.
Daher können und werden sie helfen!
Also: Mut!
Mir hat als Kind das letzte Quäntchen Mut gefehlt. Doch ich hatte nicht so ein Buch in Händen, ich wusste nicht, was ich heute weiß und ich war auch Jahre danach noch nicht stark genug, um mir selbst zu helfen.
Ich brauchte Hilfe.
Therapeutische Hilfe.
Das habe ich gottlob erkannt und mich in therapeutische Behandlung begeben.
Von zentraler Bedeutung ist daher, den Unterschied zwischen gespielter und echter Stärke zu erkennen, denn sehr oft überspielen Betroffene, die professionelle Hilfe bräuchten, mit einem demonstrativ starken Auftreten eine ausgeprägte Neurose.
Meist erst, wenn psychosomatische Krankheiten auftreten, sind Leidtragende bereit, sich hinter die Fassade blicken zu lassen.
Viele Frauen beugen sich gesellschaftlichen Konventionen. Allein die Tatsache, als Frau geboren zu werden, bedeutet oft auch noch heute, dass das sogenannte schwache Geschlecht doppelte Belastung tragen muss. Besonders hart trifft das alleinerziehende Mütter, wie ich eine war.
Frauen können sich ‘Schwäche zeigen‛ daher gar nicht leisten. Also wird Stärke demonstriert. Schwäche zuzugeben käme einem Versagen gleich (dies gilt jedoch sowohl für Frauen als auch für Männer). Daher meiden viele Betroffene den Weg zum Therapeuten. Vor allem, wenn sie allein Kinder großziehen müssen, Angst vor dem Verlust des gesellschaftlichen Ansehens oder noch größere Sorge haben, ihre Kinder zu verlieren.
Dabei kann oft nur der Therapeut wirklich helfen.
Auch ich ging seinerzeit heimlich zur Therapie und nur wenige gute Freundinnen wussten davon. Ich hoffe daher, dass ich mit meinem Buch unangebrachte Skrupel vor einer Therapie aus dem Weg räumen kann.
Wer allerdings, wie meine Schwester, eine willensstarke Persönlichkeit besitzt, wird sich mit Angelas Weg der Bewältigung identifizieren können. Angela spielt nicht die Starke, sie ist stark.
Die Aussagen meiner Schwester werde ich in diesem Buch deutlich erkennbar einfließen lassen (kursiv, beginnend mit „ANGI“) um klarzumachen, wie unterschiedlich Opfer von Gewalt mit ihrer Vergangenheit umgehen – und – trotzdem glücklich werden können.
Auch meine Schwester steht heute mit beiden Beinen im Leben. Wir gingen unterschiedliche Wege, doch wir haben beide das gleiche Ziel erreicht: Wir wurden glücklich!
Kapitel 3.1
Wie durch dichten Nebel blickend sehe ich in meiner Erinnerung die kleine Wohnung, in der ich gemeinsam mit meiner jüngeren Schwester Angela und meinen Eltern meine ersten acht Lebensjahre verbrachte.
Die Wohnung hatte kalte, feuchte Wände und bestand aus einem Zimmer und einer Küche. Kaltwasser und WC befanden sich am Gang. Für meine damals erst 16-jährige Mutter muss das Leben mit zwei Kleinkindern in dieser kleinen Wohnung unvorstellbar hart gewesen sein.
Meine Großmutter mütterlicherseits wurde im Krieg während eines Heimaturlaubes meines Großvaters schwanger. Opa musste zurück nach Russland und kam in Stalingrad in jahrelange Kriegsgefangenschaft.
Aus Briefen meiner Großmutter erfuhr er, dass meine Mutter Gerlinde kurz vor Kriegsende geboren wurde. Opa war einer der wenigen Soldaten, die die Kriegsgefangenschaft in Stalingrad überlebten und kam total entkräftet aus Russland zurück, als meine Mutter bereits im Schulalter war.
Die Nachkriegsjahre verbrachten meine Mutter und ihre Eltern in Wien, wie die meisten Menschen jener Zeit, in Armut und finanzieller Not.
Mutter war vierzehn Jahre alt, als sie Kaspar, meinen damals 22-jährigen Vater kennen lernte.
Mein Vater wuchs mit zwei Brüdern auf dem Land, ebenfalls in ärmlichen Verhältnissen, auf. Als er 16 Jahre alt war, starb seine Mutter nach langer Leidenszeit an ihrer schweren Krebserkrankung.
Sein älterer Bruder Herbert war damals 20 und Wilhelm, der Kleinste, erst zwölf Jahre alt.
Eine glückliche Kindheit hatte Vater nicht und ich weiß nicht, ob der jahrelange und qualvolle Tod seiner Mutter das einzige, negativ prägende Erlebnis seiner Kindheit war. Ich weiß lediglich, dass mein Großvater ein äußerst brutaler Vater gewesen sein soll.
Vater zog, kaum, dass er die Lehre in seinem Heimatort beendet hatte, nach Wien und fand Arbeit in seinem erlernten Handwerk. Hier bezog er die kleine Wohnung, in der später seine vierköpfige Familie Platz finden musste.
Meine Mutter lernte er kennen, als er die Wohnung meiner Großeltern renovierte. Er verliebte sich in die damals Vierzehnjährige und mit fünfzehn Jahren wurde meine Mutter schwanger. Obwohl zu jener Zeit noch illegal, dachte jeder anfänglich daran, dieses ‘Problem’ durch Abtreibung zu lösen.
Doch ich kam zur Welt, weil mein Vater mit der Geburt eines Sohnes rechnete. Ich sollte ‘Hermann’ heißen und enttäuschte Vater durch die unverzeihbare Tatsache, dass ich ein Mädchen war.
Nachdem über Mädchennamen nicht einmal nachgedacht worden war, bekam ich den Namen von Vaters damaliger Lieblingssängerin Brenda Lee.
Als Monate später meine Schwester unterwegs war, wurde nicht mehr an Abtreibung gedacht, da ich nicht als Einzelkind aufwachsen sollte und Vater noch immer auf einen Sohn hoffte. Angela kam 19 Monate nach mir zur Welt und ich glaube, mein Vater hat es nie überwunden, keinen Sohn zu haben.
Vielleicht wurden wir als ‘Strafe’, weil wir keine Buben waren, mit einer Strenge bei der Kindererziehung bedacht, die einer Dressur glich. Vielleicht war es aber lediglich der selbst erlebte Erziehungsstil, den Vater weitergab. Vater glaubte, wie viele Vertreter seiner Generation, dass eine ‘anständige Tracht Prügel’ das beste Erziehungsmittel sei.
Ziemlich sicher waren es aber auch fehlende Nerven, die Vater so oft ausrasten ließen. Er arbeitete hart, um Geld für eine größere Wohnung zu verdienen. Daher wollte er abends, wenn er müde und gereizt von der Arbeit heimkam, nicht von Baby-Gebrüll belästigt werden.
Mutter trachtete daher stets, uns Mädchen so ruhig wie möglich zu halten, damit Vater seine schlechte Laune nicht an uns ausließ. Dabei hatte sie es selbst nicht leicht. Ich kann mir im Zeitalter der Waschmaschine gar nicht vorstellen, was es heißt, in einer Wohnung ohne fließendem Wasser die Wäsche mit der Hand zu waschen, zu wringen und täglich einen Kessel voll Kochwäsche und Windeln am Herd auszukochen.
Mutter leistete diese Schwerarbeit mit 16 Jahren, also in einem Alter, wo junge Mädchen üblicherweise das Leben genießen.
Das Leben genießen konnte Mutter nie. Während ihre Altersgenossinnen tanzen gingen, lernte sie das Leben von der härtesten Seite kennen. Das Wasser musste sie in Kübeln vom kalten Gang in die Wohnung schleppen und am Herd erwärmen, bevor sie es zum Kochen, Reinigen oder Wäschewaschen gebrauchen konnte. Jedes Geschirrabwaschwasser musste ebenfalls in Eimern wieder zum WC am Gang befördert werden.
Zusätzlich hatte die Parterre-Wohnung pilzbefallene Wände und einen kalten Fußboden, weil von unten die Kellerkälte in die Wohnung drang.
Schon damals litt Mutter an einer unheilbaren, entzündlichen Krankheit, bei der sich die Wirbelsäule versteift. Dieses schmerzhafte Leiden kommt in Schüben und Mutter konnte und kann sich in einer Akutphase kaum bewegen. Ihre ersten, heftigen Krankheitsschübe hatte sie in jener Zeit, als Angela und ich noch Babys waren.
Als Angela und ich aus dem Gitterbettalter herausgewachsen waren, mussten wir uns aus Platzmangel ein Bett teilen. Sehr vage kann ich mich erinnern, dass wir oft das Bett der Eltern, welches im selben Raum wie das Kinderbett stand, quietschen hörten.
Wenn wir fragten: „Was quietscht denn da?“, keuchte Vater: “Mama und Papa spielen, seid leise und schlaft gefälligst weiter!“ Heute weiß ich, dass wir das Liebesleben unserer Eltern dadurch massiv gestört haben.
Aber in der Ehe meiner Eltern muss es auch andere, gröbere Probleme gegeben haben. Ich glaube mich zu erinnern, dass Vater oft nächtelang nicht nach Hause kam und Mutter sich wohl nur denken konnte, wo er diese Nächte verbrachte. Sicherlich irgendwo, wo es nicht nach eingeweichten Windeln roch, keine Wäsche zum Trocknen herumhing oder Kinder beim Geschlechtsverkehr fragten: „Was quietscht denn da?“
Vielleicht kann ich mich deshalb nicht erinnern, jemals von Mutter geküsst oder geherzt worden zu sein. Wie sollte Mutter für mich, ihr Kind, zärtliche Liebe empfinden? Wie sollte sie mich lieben oder über mich freuen? Ich war doch, allein dadurch, dass ich so unerwartet und unerwünscht in ihr Leben trat, die eigentliche Ursache ihres Unglücks.
Unbewusst dürfte sich diese Tatsache auf ihr Verhalten mir, bzw. uns Kindern, gegenüber, ausgewirkt haben.
Wenn ich heute versuche, mir das damalige Leben meiner Mutter vorzustellen, mit all ihrer Härte und Aussichtslosigkeit, kann ich vieles besser verstehen. Vor allem begreife ich heute die mögliche Ursache ihrer Gefühlskälte. Die fehlende Zärtlichkeit ließ in mir aber eine unstillbare Sehnsucht nach Mutterliebe entstehen, die mich mein Leben lang verfolgte.
Die Enge der Wohnung und die tristen Verhältnisse wären sicherlich jedem über den Kopf gewachsen. Mutter muss zu jener Zeit total überfordert und unglücklich gewesen sein. Doch sie beklagte sich nie, zeigte weder negative noch positive Gefühle. Sie blieb bei uns Kindern, zwar unnahbar, doch zuverlässig und pflichtbewusst. Täglich wurden wir zur selben Zeit gebadet und die Wohnung hielt sie genauso sauber wie unsere Kleidung, die sie aus Sparsamkeit durch Stricken oder Nähen teilweise selbst herstellte.
Trotzdem sah Mutter immer hübsch und adrett aus. Wenn ich heute Fotos von ihr aus jener Zeit sehe, erkenne ich eine schlanke, wunderschöne Frau, der man die Härte dieses Lebens nicht ansah. In meiner Schulzeit war Mutter nicht nur die jüngste aller Mütter, meist war sie auch die attraktivste. Ich war als Kind daher immer stolz, eine so schöne Mutter zu besitzen.
Doch wie gerne hätte ich gespürt, dass auch sie stolz auf mich ist, dass sie froh ist, dass sie mich hat. Doch die Stärke, die sie ihr Leben meistern ließ, verhärtete sie offenbar. Sie war unfähig, ihren Kindern Zärtlichkeit zu schenken. Ich kann zwar nicht behaupten, dass ich gespürt habe, ein ungewolltes Kind zu sein. Doch von Mutter geliebt, fühlte ich mich nicht.
Hätte ich nicht die Liebe meiner mütterlichen Großeltern, insbesondere die Liebe meiner Oma, gehabt, wäre ich ohne Nestwärme aufgewachsen. Oma liebte mich abgöttisch - und ich sie. Bis zum Schulalter war ich fast jedes Wochenende bei meinen Großeltern und diese Zeit ist in meiner Erinnerung als die schönste meiner Kindheit tief verankert.
Ich weiß heute, dass ich nur deshalb liebesfähig werden konnte, weil mir Großmutters Liebe die Basis dafür schaffte. Ich bin sehr dankbar, so eine Oma gehabt zu haben.
Die Liebe meiner Oma projizierte sich allerdings stark auf mich. Für meine Schwester, die sehr wild war, empfand Oma offenbar weniger Zuneigung. Dies mutmaßte ich deshalb, weil lange Zeit nur ich jedes Wochenende bei meinen Großeltern verbringen durfte. Oma machte keine Anstalten, auch Angela mitzunehmen. Bis Mutter dieser Ungerechtigkeit ein Ende bereitete.
Ich erinnere mich an das letzte Wochenende, an dem meine Großeltern wieder nur mich abholen wollten, denn an jenem Tag sprach Mutter ein Machtwort: „Entweder ihr nehmt beide, also auch Angela, mit zu euch, oder Brenda bleibt auch da!“
Meine Großeltern waren offenbar auf diese Situation nicht vorbereitet und fuhren ohne mich wieder heim. Ich kann noch heute den damals so heftig empfundenen Schmerz fühlen. Meine Großeltern fuhren weg und Mutter ging mit Angela und mir stattdessen in den Schlossgarten von Belvedere spazieren. Wie sehr hasste ich diese endlos lang empfundenen Spaziergänge ohne Aussicht auf einen Spielplatz.
Wenn ich heute die Entfernung von der damaligen Wohnung zum Schloss Belvedere betrachte, kann ich nicht verstehen, warum mir dieser kurze Fußweg so lange vorgekommen ist. Doch Kinderfüße sind klein und nachdem Mutter niemals spaßig war, blieben Belvedere-Ausflüge eine Riesenqual für uns. Ganz besonders dieser, wo ich mich doch so sehr auf Oma gefreut hatte.
Am kommenden Wochenende wurden Angela und ich von Oma abgeholt und seither verbrachten wir beide unsere Wochenenden bei den Großeltern. Angela durfte zwar jetzt auch zu Oma, doch ich fühlte mich von Oma trotzdem mehr geliebt.
ANGI: Dazu erwähnte Angi, dass sie keine Ungerechtigkeit empfunden hatte. Auch sie fühlte sich von Oma geliebt. Angis Erinnerungen an Oma offenbarten eine fröhliche, lebenslustige Frau. In meinen Erinnerungen war Oma zärtlich und liebevoll. Angi berichtete von Streichen, mit der Oma sie neckte, die ich nicht für möglich gehalten hätte, denn übermäßig humorvoll empfand ich Oma nicht. Ich erwähne dies, weil ich immer dachte, Angela litt darunter, von Oma weniger Zärtlichkeit bekommen zu haben. Doch Fakt ist, dass Angi sich bei Oma genauso wohl gefühlt hat, wie ich. Angi kann sich an Omas Fröhlichkeit, ich mich an ihre Zärtlichkeit erinnern. Wir beide bekamen von Oma das, was für uns wichtig war und erinnern uns demnach auch nur daran. Die Härte, die ich an Angela wahrnahm, war ihr angeborener Charakter. Angi war von Geburt an widerstandsfähig und was ich stets als Härte empfand, war in Wirklichkeit eine Fähigkeit, die mir fehlte: Durchsetzungskraft.
Wir Schwestern waren grundverschieden.
Ich war ruhig, mimosenhaft sensibel und nachgiebig wie ein Gummiband. Dieses Wesen brachte mir in der Familie Sympathien, weil ich kaum Ärger machte.
Angi hingegen war lebhaft, stark und unnachgiebig wie ein Stahlträger. Ihre überschäumende Dynamik trieb sie ständig zu neuem Unfug. Dadurch hatte sie wesentlich mehr Probleme mit unseren Eltern als ich. Die brutale Strenge, mit der Vater ihren Charakter zu brechen versuchte, war Ursache, warum Angela zu lügen begann.
Meine Artigkeit sehe ich jedoch nicht als Verdienst. Ich gliederte mich durch meine Nachgiebigkeit lediglich schneller in jede Gemeinschaft ein und war dadurch leichter zu lenken. Obwohl: Man könnte passender sagen - ich war leicht manipulierbar.
Trotzdem wurde auch ich für kleine Vergehen so heftig verprügelt, dass ich jedes Mal vor Angst in die Hosen machte. Einmal fasste ich eine Teekanne so ungeschickt an, dass sie zu Boden fiel und zerbrach. Daraufhin musste ich, nach der obligatorischen Tracht Prügel, auf Ketten knien und gleichzeitig eine Besenstange hochhalten. Dabei war ich doch nur tollpatschig gewesen.
Angela hingegen stellte ständig irgendetwas an und durch die regelmäßigen Prügel und Strafen, die sie dafür erntete, verschloss sie sich immer mehr. Sie log in der Schulzeit aus Angst vor Strafe und wurde so verhaltensgestört, dass meine Eltern ihr ohnmächtig damit drohten, sie in ein Kinderheim zu stecken - was sie aber gottlob nicht taten.
Meine Schwester versuchte ich aber erst als Erwachsene zu verstehen. In meiner Kindheit habe ich sie manchmal regelrecht gehasst, weil ich unter ihren Lügen und Ihrer kindlichen Falschheit schwer zu leiden hatte.
An eine Episode erinnere ich mich, als wäre sie gestern geschehen. Angi und ich hatten mit Plastilin, einer bunten Knetmasse, gespielt. Natürlich wussten wir, wo wir es nicht hin kleben durften. Angela ritt aber wieder einmal der Teufel und sie verklebte mit der weich gekneteten Masse feinsäuberlich das Türschloss unserer Wohnung.
Abends, als die Tat aufflog, fragte Vater: „Wer von euch beiden war das?“
Angela: „Ich nicht!“
Ich stritt es natürlich auch ab.
„Gut“, sagte Vater. „Wenn es keiner von euch beiden war, dann kriegt ihr beide eine Tracht Prügel! Vielleicht fällt euch dann ein, wer es gewesen ist.“
Gesagt, getan. Wir wurden beide verprügelt und nochmals befragt. Doch Angela stritt wieder alles ab. Sie bewies sich als wahre ‘Steherin‛. Selbst nach mehreren Prügel-Durchgängen blieb sie dabei, dass sie es nicht war!
Diesen Druck hielt ich nicht länger aus. Außerdem erkannte ich, dass Angi niemals ihre Schuld zugeben würde. Ich wünschte mir aber nur noch, dass diese ewigen Prügel endlich aufhörten, deshalb ‘gestand’ ich nach dem Motto: Besser ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende.
Der Schrecken war heftig, denn Vaters Wut war nicht zu bremsen. Die Prügel, die ich bekam, waren die Schlimmsten meiner ohnehin nicht rosigen Kindheit. Er schlug mit dem Kochlöffel so lange auf mein Hinterteil, dass meine Rückenansicht in einem Zoo sicher nicht von der eines Pavians zu unterscheiden gewesen wäre.
Besonders hart wurde ich deshalb bestraft, weil ich ohne Gefühlsregung meine ‘unschuldige‛ Schwester verprügeln ließ, ehe ich zugab, dass ich das Plastilin ins Türschloss geklebt hatte. Obwohl ich vor Schmerzen und Angst kaum mehr Kräfte hatte, musste ich, nachdem Vater endlich von mir abgelassen hatte, auf dem Holzboden knien und als Zusatz-Tortur die Hände auf den Kopf legen. Um mich weiter zu demütigen, begann er mit Angi vor meinen Augen zu spielen.
Die beiden lachten, scherzten und Vater sagte zu Angi: „Wenn du jetzt zu deiner Schwester siehst, weißt du, dass Lügen kurze Beine haben, vergiss das nie!“ Angela genoss es sichtlich, einmal als ‛Brave‘ im Mittelpunkt zu stehen und schien überhaupt keine Gewissensbisse zu haben. Doch meine Wut auf sie, die steckte tief.
Sie hatte jedoch nicht oft in unserer Kindheit die Möglichkeit, als die ‘Bravere‛ von uns beiden zu wirken. Wie sehr muss sie daher dieses Gefühl genossen haben, auch wenn es ihr nicht zustand. Im Laufe unserer weiteren Kindheit bekam sie kaum mehr die Möglichkeit, ihre Schuld auf mich abzuwälzen. Meine Eltern kannten uns beide und wussten aus Erfahrung bald genau, wer für Streiche verantwortlich war.
In der Schule wurden die Problemchen mit Angi zu Riesenproblemen. Sie ließ Mitteilungshefte verschwinden, wenn sie negative Nachrichten beinhalteten, schmiss ihr Hausarbeitsheft in den Mistkübel, wenn sie die Aufgaben nicht gemacht hatte und verdächtigte sogar ihre Lehrerin, das Heft verloren zu haben.
Einmal log sie Mutter vor: „Du brauchst nicht zum Elternsprechabend in die Schule kommen; die Frau Lehrerin ist krank. Aber es gibt sowieso nichts zu bereden, denn ich bin ganz brav in der Schule!“ Mutter glaubte es auch noch! Bis die ‛kranke‘ Lehrerin bei Mutter anrief und fragte, warum sie nicht zum Elternsprechabend gekommen war. Es hätte so vieles zu besprechen gegeben. Am Telefon erfuhr Mutter dann alles, was Angi verheimlichen wollte – und wieder wurde Angi gezüchtigt. Doch bei Angi brachten die Prügel, im Gegensatz zu mir, genau das Gegenteil dessen, was meine Eltern erreichen wollten.
Wurde ich verprügelt, versprach ich alles, was von mir erwartet wurde und versuchte tatsächlich, keine Fehler mehr zu machen. Dabei stellte ich absichtlich sowieso nie etwas an. Wenn ich gestraft wurde, für Folgen einer ungeschickten Handlung. Die Züchtigungen meiner Eltern waren demnach bei mir sehr erfolgreich: Ich wurde immer folgsamer und formbarer und - wie ich heute weiß - willenloser. Meine Eltern empfanden das als angenehm.
Ich musste daher als Erwachsene einen langen Weg gehen, um selbstbewusst zu werden.
Angi hingegen war nicht zu zähmen. Sie stellte immer Dummheiten an, log, wenn sie den Mund aufmachte und je härter meine Eltern sie anfassten, desto schwieriger wurde sie. Musste Angela knien, versprach sie nicht, künftig brav zu sein. Nein! Stur und wortlos kniete sie ihre Strafe ab.
Dabei muss ich erwähnen, dass sie eine bessere körperliche Konstitution hatte als ich. Langes Knien mit den Händen am Kopf oder oftmals einen Besen nach oben haltend, war für mich eine körperliche Qual, die ich kaum aushielt. Angi dagegen hatte kräftige Muskeln und war viel robuster und sportlicher als ich. Dadurch hatte sie mehr Durchhaltevermögen und ließ sich nichts anmerken. Das ärgerte meinen Vater maßlos und genau das bezweckte Angi.
ANGI: Als Erwachsene erzählte sie mir, dass auch sie oft nicht mehr konnte, aber sie wollte Vater keine Genugtuung geben und hätte sich eher auf die Zunge gebissen, bevor sie sich entschuldigt oder Besserung gelobt hätte. Kürzlich erzählte mir Angi, dass Vater sie einmal zwingen wollte, die ganze Nacht zu knien. Angi kniete stur ihre Strafe ab, bis sie umfiel und auf dem Boden einschlief. Ihr war es egal, denn, wie sie lachend fortfuhr: „Vater hat sowieso nicht gemerkt, dass ich am Boden geschlafen habe, denn er war ja auch schon eingeschlafen.“
Aus heutiger Sicht muss ich gestehen, dass ich sie für diese Haltung bewundere. Vater wollte sie durch Schläge zum Einlenken bringen, doch diesen Gefallen tat sie ihm nicht. Sie konnte Schmerzen unterdrücken und hart sein, eine Charakterstärke, zu der ich nie fähig gewesen wäre. Durch diese zur Schau getragene Gleichgültigkeit, mit der sie gegen Vaters brutale Erziehung protestierte, machte sie seine Unfähigkeit und Hilflosigkeit sichtbar. Diese Machtlosigkeit hat ihn maßlos geärgert und durch seinen Ärger fand Angi für die erlittenen Qualen Genugtuung.
So sehr ich Angi heute bewundere, zu jener Zeit war ich oft wütend auf sie, weil sie bei jeder Gelegenheit versuchte, mich für ihre Streiche verantwortlich zu machen. Wir spielten zwar häufig miteinander, doch viel öfter stritten wir.
Mit den Jahren begann ich allerdings Angelas Geschick und Tatendrang zu nutzen und ließ mir von ihr niedere Hilfsdienste erledigen. Für Lob tat sie einfach alles. Nachdem ich das erkannt hatte, lobte ich sie für jede Arbeit, die mir zuwider war, wenn sie diese für mich erledigen würde. Sie wuselte dann wie eine Biene umher und erledigte voll Stolz die Arbeiten, die mir nicht so leicht von der Hand gingen.
Die Symbiose stimmte: Angi fand Anerkennung und ich war lästige Arbeiten los.
Wenn ich an unser Zuhause denke, fröstle ich. Ich erinnere mich nämlich an permanente Kälte, die durch den Boden aus dem Keller hochkroch und Zugluft, die durch undichte Türen vom Gang in die Wohnung zog und unzählige Ameisen, die das frostige WC bevölkerten.
Unangenehm war zudem, dass ich mit Angi in einem Bett schlafen musste. Bei ihrem unruhigen Schlaf bedeutete das einen ewigen Kampf um die Bettdecke, sodass mir auch in der Nacht oft kalt war.
Angenehme Erinnerungen an diese Zeit fallen mir einfach nicht ein. Angi und ich mussten immer ruhig sein, sonst flogen die Ohrfeigen tief. Ein häufiger Auslöser für Schläge waren Angelas und meine Essgewohnheiten.
Wir waren schlechte Esser.
Fleisch bekamen wir kaum runter, überhaupt, wenn wir ein Fetträndchen erblickten. Hilfesuchend blickten wir dann immer, ob unser Kater mit sehnsuchtsgeweiteten Augen unter dem Tisch hockte und Mutter gerade mal aufstehen musste. Weil sie aber meist mit uns am Tisch saß, blieb die Sehnsucht unseres Katers oft ungestillt und Angi und ich mussten schlucken.
Gulaschfleisch löste bei mir regelmäßig einen Würgreflex aus. Entfuhr mir dieses unappetitliche, würgende Geräusch, mit dem ein Fleischstück aus dem Schlund in die Mundhöhle, oder gar auf den Teller zurück katapultiert wurde, gab es zusätzlich zum eigenen Ekel, einen Schlag auf den Hinterkopf. Und die nächste Mahlzeit des Tages wurde auch gleich gestrichen.
Unsere Eltern waren offenbar hilflos, weil wir so heikel waren. Ohne Gezeter aßen wir eigentlich nur Brot, Extrawurst, Obst und Beilagen. Fleisch, Gemüse, Salate, nicht einmal Schinken, konnten wir ohne Ekel essen!
Einmal kaute ich ein Stück Räucherspeck während einer einstündigen Autofahrt. Nachdem mein Brot schon aufgegessen war, konnte ich das letzte Stück Speck vor der Abfahrt einfach nicht mehr schlucken. Meine Eltern wollten aber schon mit dem Auto abfahren und reagierten stets gereizt, wenn ihre Pläne gestört wurden. Um deren Unmut nicht zu schüren, versteckte ich das geile Stück Fett in meinen Wangentaschen. Während der Autofahrt versuchte ich verzweifelt, das Stück zu schlucken. Doch ich schaffte es nicht. Als die Autofahrt vorbei war, suchte ich unbemerkt ein Gebüsch und spuckte meinen durchgekauten ‛Schatz‘ heimlich aus.
Aus heutiger Sicht ist mir klar, wie schwer Angi und ich zu ernähren waren. Mutter war und ist eine ausgezeichnete Köchin und wollte uns ausgewogen ernähren, doch wir verweigerten fast alles. Sie muss verzweifelt gewesen sein, dass es bei uns daheim ständig Querelen bei Tisch gab. Noch vor kurzem habe ich mir darüber keine Gedanken gemacht. Ich dachte, Angi und ich waren als Kinder einfach nur extrem heikel.
Nach dem Lesen der Autobiographie eines anderen Missbrauchsopfers erkannte ich aber, dass es womöglich einen Zusammenhang zwischen essen-können und Liebe-empfangen gibt. Auch die Missbrauchs-Autorin war ein ungeliebtes Kind wie Angi und ich und konnte nicht essen. Mir fiel zudem auf, dass ich bei meiner Großmutter sehr wohl gegessen habe und sie kochte nicht nur Speisen, die mir schmeckten. Ich erinnere mich, dass ich bei Oma prinzipiell immer gerne aß – sogar Fleisch und Gemüse!
Dazu passt auch die Tatsache, dass mein Mann in seiner Kindheit alles gegessen hat. Er hatte eine liebevolle Kindheit. Auch bin ich nicht heikel geblieben. Heute esse ich gerne und alles – empfange aber auch sehr viel Liebe. Diese Tatsachen zeigen, dass es einen Zusammenhang zwischen essen-können und Liebe-empfangen geben muss!
Liebe habe ich in meinem Elternhaus nicht empfangen. Jedenfalls keine spürbare. Die ständige Vorsicht, um nur ja nicht in eine schlagende Hand zu laufen, ließ in mir nur Angst keimen. Lediglich ein kleines Mädchen, mit der ich manchmal im Hof spielte, erhellt meine Erinnerung. Doch wenn ich nach dem Spielen wieder vor der Wohnungstür stand und anläutete, ließ mich schon der Klang der Türglocke wieder frösteln, weil ich wusste, nun musste ich wieder in diese beklemmende Wohnung.
Richtig geborgen und geliebt fühlte ich mich nur an den Wochenenden, wenn ich bei meinen Großeltern sein durfte. Omas Zärtlichkeit und Opas Fröhlichkeit waren für mich die seelische Glückstankstelle meiner Kindheit. Hier war ich unbeschwert und glücklich.
In einem Untermietzimmer bei Oma lebte auch der ältere Bruder meines Vaters, Onkel Herbert. Jeden Samstagvormittag, wenn Oma ein Mittagessen vorbereitete, ging Onkel Herbert mit Angi und mir in die Innenstadt. Er lud uns dann stets in eine Tom & Jerry-Kinovorstellung ein, was unsere Kinderherzen höherschlagen ließ.
Mit ihm spielten wir bei Oma die wildesten und lautesten Spiele. Niemand schimpfte oder schlug zu, wenn wir zu laut wurden. Nur bei Onkel Herbert konnten wir ausgelassen sein und durften toben. Für Angi war dieser Zustand das reinste Paradies und sie klebte förmlich an Onkel Herbert.
Er war auch der Einzige, der mich nicht Angela vorzog. Wahrscheinlich schnitt es ihm ins Herz, wenn er ansehen musste, wie Angi aufgrund ihrer Wildheit benachteiligt wurde. Er versuchte, dieses Manko auszugleichen und die liebevollsten Spitznamen, die Angi als Kind erhielt, bekam sie von Onkel Herbert.
Somit erhielt jeder, was er brauchte: Angi hatte Onkel Herbert, mit dem sie toben konnte, ich hatte Oma, die mir Zärtlichkeit schenkte.
Je schöner diese Wochenenden wurden, desto schrecklicher wurde es im Laufe der Zeit, wenn am Sonntagabend unsere Eltern kamen, um uns abzuholen. Ich weinte regelmäßig. Mit meinem verzweifelten Aufschrei: „Oma bei´m“ („ich will bei Oma bleiben“ im Kinder-bla-bla) wurde ich oft von Onkel Herbert geneckt, indem er mich mit einer Grimasse nachäffte.
Damit versuchte er meinen Kummer ins Lächerliche zu ziehen, wollte erreichen, dass ich lache und gleichzeitig aufhöre zu weinen, denn meine Eltern fanden mein Geplärr nicht zum Lachen.
Je älter ich wurde, desto hemmungsloser wurde aber das ‘Theater’, das ich aufführte. Bald konnte ich Oma überhaupt nicht mehr verlassen, ohne hemmungslos zu schluchzen. Das machte meine Eltern so zornig, dass ich wegen meiner Heulerei geschlagen wurde.
Ich bemühte mich daher, nicht zu weinen, versuchte an schöne Sachen zu denken, drehte die Augen nach oben bis sie schmerzten und sagte dabei „Ebba, Ebba.“ Aus irgendeinem Grund glaubte ich, dieses Wort würde mich am Weinen hindern. Manchmal funktionierte es. Doch meist war ich meinen Gefühlen - und Vaters Schlägen - hilflos ausgeliefert.
Nicht unerwähnt möchte ich lassen, dass meine Großeltern und Onkel Herbert nicht mit den Erziehungsmethoden meines Vaters einverstanden waren. Doch im Vergleich zu meiner Großmutter redete Onkel Herbert seinem Bruder nicht ins Gewissen, wenn wir vor seinen Augen geschlagen wurden oder knien mussten.
Oma konnte aber einmal nicht mehr zusehen. Als sie zu Besuch war und wir vor ihren Augen brutal verprügelt wurden, wollte sie uns schützen, indem sie flehte: „Sei doch bitte nicht so grob!“
Diese Einmischung ließ Vater aber nicht zu. Kurzerhand warf er Oma mit den Worten: “Ich erziehe meine Kinder selber!“ aus der Wohnung.
Nachdem Onkel Herbert das hohe Aggressionspotential seines Bruders kannte, vermied er es, ihn zu reizen, wenn Vater bereits am Ausrasten war. Er wusste, damit hätte er uns nicht geholfen.
An eine Anzeige wegen Kindesmisshandlung dachte in den 60-er-Jahren niemand, denn Schläge waren damals noch ein legitimes Erziehungsmittel.
Die wenigen schönen Erinnerungen an die Zeit in der kleinen Wohnung waren Vaters Spiele mit uns. Er war zwar während der Woche meist übelgelaunt, doch manchmal spielte er mit uns.
Meist saßen wir auf seinem Schoß und er begann ein Bild zu zeichnen. Wir mussten raten, was das Gezeichnete werden würde und wer es als erster erriet, hatte gewonnen. Dieses Spiel liebte ich, weil Vater ein talentierter Zeichner war.
Vor Lachen gebogen haben wir uns auch, wenn er uns kitzelte. Diese Erinnerungen sind die einzigen schönen Momente meiner Kindheit, wenn ich an Vater denke.
Ich kann mich nicht erinnern, dass Mutter je mit uns gespielt hat, außer Rummy in unserer Teenager-Zeit.
Doch als wir noch kleine Kinder waren, hatte sie keinen Draht zu uns. Sie ging nicht arbeiten und kümmerte sich den ganzen Tag um den Haushalt und um uns, doch ihre Fürsorge habe ich als gut organisiert, aber steril in Erinnerung.
Sie ging mit uns bei Schönwetter täglich in den Park, dort durften wir spielen, während Mutter auf einer Parkbank sitzend gemeinsam mit anderen Müttern einen Pullover nach dem anderen für uns strickte.
Am Abend gingen wir heim, wurden blitzsauber gewaschen, in das blitzsaubere Nachthemd gesteckt und schliefen im blitzsauberen Bett.
Auch kann ich mich nicht erinnern, dass Mutter mir je einen Gute-Nacht-Kuss gab, ein Einschlaf-Lied sang oder eine Einschlaf-Geschichte erzählte.
Das bedeutet aber nicht, dass sie uns nicht geliebt hat. Ich weiß, dass sie liebesfähig ist, aber sie kann es leider nicht zeigen.
Jedenfalls nicht ihren Kindern. Zu Tieren entwickelt sie eine so zärtliche Liebe, dass Angi und ich uns oft wünschten, mit Fell geboren worden zu sein. Wenn Mutter voll Stolz aus ihrer Geldbörse Fotos ihrer Katzen kramte und voll Liebe erzählte, wie unerzogen diese doch seien, spürten wir eifersüchtige Stiche, denn von uns beiden hatte sie kein Bild im Portemonnaie – dabei waren wir wesentlich folgsamer als ihre Katzen. Mutter muss offenbar schon als junger Mensch von Menschen so tief enttäuscht worden sein, dass sie nur Tieren Zärtlichkeit schenken kann.
Mutter ist sensibel, wirkt aber kühl. Sie schluckt Kränkungen, beschwert sich nie und diese Kränkungen kommen als Krankheiten zum Ausbruch.
Sie hatte meine geliebte, einfühlsame Oma als Mutter, doch Mutter öffnete sich offenbar niemandem, weder ihrer Mutter noch einer Freundin.
Ich kann mich nicht erinnern, sie je mit einer Freundin intensiv plaudern oder scherzen gesehen zu haben und das habe ich sicherlich nicht nur vergessen. Sie vergräbt ihre Probleme in ihrem Innersten, war stets ein Muster an Pflichtgefühl und Ordnung halten und hat leider nie gelernt, an sich selbst zu denken.
Kapitel 3.2
Bevor ich eingeschult wurde, habe ich mich vor der Schule gefürchtet. Daher war ich überrascht, wie angenehm der Schulalltag und liebenswert meine Lehrerin war. Diese Erfahrung war neu für mich. Ich dachte nämlich, alle erziehenden Autoritäten, wie Eltern oder Lehrer, sind streng und diktatorisch. Ich kannte ja nur diesen autoritären Erziehungsstil.
Außerdem haben mich meine Eltern mit ihren Erzählungen aus deren Schulzeit abgeschreckt: Vater wurde in seiner Schulzeit mit Rohrstäbchen gezüchtigt, Mutter bekam vom Lehrer die Ohren langgezogen, wenn sie vorlaut war. Daher hatte ich mich auf eine harte Zeit eingestellt. Dass uns die Lehrerin Wissen mit Einfühlungsvermögen beibrachte und Kinder antiautoritär disziplinierte, wenn jemand unartig war, empfand ich als neue, aber äußerst angenehme Erfahrung.
Besonders erfreulich fand ich an meinem neuen Lebensabschnitt, dass ich nun den halben Tag mit Gleichaltrigen verbrachte. Nachdem ich den Kindergarten nicht besucht hatte, genoss ich die Gesellschaft von Freundinnen. Daher war die Schulzeit für mich ein Segen, denn nun hatte ich auch während der Woche schöne Stunden und musste nicht mehr die ganze Woche auf das Wochenende bei Oma warten, um Freude empfinden zu können.
Den Religionsunterricht liebte ich besonders. Die Vorstellung von Gott als Schöpfer der Erde und des Teufels als Hüter der Hölle waren für mich so prägend, dass ich einen tiefen Glauben entwickelte. Ich fürchtete mich vor dem Teufel so sehr, dass ich mich hütete, Sünden zu begehen und wollte aus reinstem Herzen versuchen, ein guter Mensch zu werden.
Allerdings erlebte ich auch das peinlichste Erlebnis meiner Schulzeit in einer Religionsstunde. Wie bereits erwähnt, war mein Respekt vor den Lehrern so groß, dass ich nie gewagt hätte, während des Unterrichts unaufgefordert einen Ton von mir zu geben. Trotz der Tatsache, dass die Lehrerin liebenswürdig war, blieb mein eingeprügelter Respekt grenzenlos.
In jener Religionsstunde hätte ich aber besser doch einen Ton von mir geben sollen, nämlich die simple Bitte auszusprechen, auf die Toilette gehen zu dürfen. Doch meine Angst davor, getadelt zu werden, wenn ich unaufgefordert einen Pieps mache, war größer als meine Angst, in die Hose zu machen. Ich litt Höllenqualen und plötzlich konnten meine Schließmuskeln dem Überdruck der gefüllten Blase nicht mehr standhalten: Während ich in die Hose machte, heulte ich vor Entsetzten und Scham auf.
Das Aufsehen, das ich durch mein Missgeschick erzeugte, war weit größer, als wenn ich gefragt hätte, ob ich auf die Toilette gehen darf. Die Lehrerin war verständnisvoll und schickte die anderen Kinder auf den Gang.
Meine Mutter wurde angerufen, die mich mit frischer Wäsche abholte und die Putzfrau wischte das Malheur auf. Ich habe mich fürchterlich geschämt und erwartete nun auch noch eine Strafe von Mutter. Doch überraschenderweise hat sie damals nicht einmal geschimpft. Sie muss erkannt haben, wie peinlich die Situation für mich ohnehin schon war.
Als ich acht Jahre alt wurde, fanden meine Eltern eine größere Wohnung am Wiener Stadtrand, was für mich einen Schulwechsel bedeutete. Der Abschied von meinen Schulfreundinnen war schmerzlich für mich.
Es war das erste Mal, dass ich mich von Menschen trennen musste, die ich liebgewonnen hatte und einen Lebensabschnitt unwiederbringlich als beendet ansehen musste.
Nach dem letzten Schultag, vor der Schule, als meine Oma mich schon im Empfang genommen hatte, hielt mich meine damalige beste Freundin am Arm fest und sagte: „Ich bin so traurig, dich nie wieder zu sehen und wünsche dir viel Glück!“ Da begann ich zu weinen und dieser Abschiedsschmerz sollte sich meiner künftig bei jedem Abschied, welcher Art auch immer, bemächtigen.
Ich kann auch heute den Gedanken eines endgültigen Abschiedes kaum ertragen und es fällt mir schwer, mich an den Gedanken zu gewöhnen, eine bestimmte Umgebung oder bestimmte Menschen, mit denen ich einen Teil meines Lebens gegangen bin, nicht mehr zu sehen. Ich fange in solchen Situationen stets zu weinen an, was mir als erwachsener Mensch viel schlechter ansteht als damals, als Kind. Tränen sind leider mein großer Malus aus der Kindheit geblieben. Ich muss bei jeder Gelegenheit weinen, sei es aus Freude oder Zorn, vor Rührung oder Schmerz. Wenn ich eine tiefe Rührung spüre, steigen mir die Tränen wie von selbst in die Augen und ich finde keinen Weg, sie zurückzuhalten. Jeder 100 %-ige Trick (angeblich hilft festes Popo-Zusammenzwicken) funktioniert bei mir nicht. Wenn die Tränen aufsteigen, dann fließen sie auch schon und ich habe keine Chance, es zu verhindern. Nicht erst einmal habe ich mich dafür geschämt, vor allem, wenn es vor wildfremden Menschen oder in unmöglichen Situationen passiert. Schon als Kind nannten mich meine Eltern deshalb Heulsuse. Offensichtlich werde ich diesen Kosenamen mein Leben lang tragen müssen – mit zunehmendem Alter jedoch immer gelassener. Ich habe erkannt, dass man sich für sein Wesen nicht schämen sollte und außerdem sowieso hinnehmen muss, was nicht zu ändern ist.
In der neuen Wohnung hatten wir viel Platz. Wir besaßen ein Wohnzimmer, das größer war als die gesamte frühere Wohnung, ein großes, zentrales Vorzimmer, ein Schlafzimmer, ein Kinderzimmer, das ich mit Angi teilte, und sogar Bad und WC. Im Kinderzimmer standen Stockbetten und jedes Kind hatte einen Schreibtisch, was für uns reiner Luxus war.
Die Wochenenden bei Oma wurden zu jener Zeit automatisch eingestellt. Doch da wir unser eigenes Zimmer so beeindruckend fanden und sich zu jenem Zeitpunkt sowieso fast alles in unserem Leben verändert hatte, nahmen wir auch diese Veränderung ohne große Aufregung hin – wohl auch, weil uns Oma stattdessen jeden Freitag besuchte.
In der neuen Schule fühlte ich mich am ersten Schultag unbehaglich. Alle Schulkinder kannten sich vom Vorjahr und als ’die Neue‘ wurde ich intensiv gemustert. Nachdem ich sehr scheu war, saß ich schüchtern auf dem einzig freien Platz und fühlte mich ausgeschlossen und einsam.
Hätten mich nicht einige Mädchen angesprochen, säße ich vielleicht heute noch in der Schulbank in der letzten Reihe und würde nicht wagen, den Kopf zu heben. Das erste Mädchen, das mich ansprach, war Christa, ein sanftmütiges Mädchen mit dicken, blonden Zöpfen, die mich in die Klassengemeinschaft eingliederte.
Schon nach wenigen Wochen war ich integriert und fühlte mich so wohl wie in meiner vorherigen Schule. Christa und mich verband bald eine tiefe Freundschaft, die bis zum Ende unserer, ebenfalls gemeinsam verbrachten, Hauptschulzeit dauern sollte.
So schüchtern ich gegenüber Fremden war, so aufgedreht und gesprächig war ich, wenn ich von der Schule heimkehrte. Meine Eltern schüttelten regelmäßig den Kopf, wenn ich, noch bevor ich die Schuhe ausgezogen hatte, losplapperte und ihnen alle Erlebnisse, die mich im Laufe des Tages beeindruckt hatten, aufdrängte.
Am besten gefiel mir an meiner neuen Schule, dass Mädchen und Buben gemeinsam in der Klasse saßen. Zuvor ging ich in eine reine Mädchenschule, doch in einer gemischten Klasse zu sitzen, schien mir viel interessanter.
Aufgefallen sind mir zwei Buben, die den gleichen Schulweg hatten wie ich. Martin und Günter hatten ein schlechtes Elternhaus, was man an ihrem flegelhaften Benehmen feststellen konnte.
Doch ich erkannte das nicht sofort und anfangs bestaunte ich deren derbe Art, wie sie schimpften, auf die Straße spuckten oder sich über ältere Leute lustig machten. Sie brachten mich mit ihrer primitiven Art sogar zum Lachen. Zudem verwendeten sie Worte, die ich noch nie gehört hatte. Wenn ich naiv nach deren Bedeutung fragte, lachten die beiden idiotisch und gaben keine Antwort.
Wahrscheinlich hatten sie die ordinären Schimpfwörter von ihren Eltern oder Geschwistern (Martin hatte neun, Günter vier Geschwister) gehört und plapperten sie nach, ohne zu wissen, wovon sie sprachen. Mir konnten sie damit allerdings imponieren und das machte ihnen sichtlich Spaß.
Eines Tages, als wir vor meinem Haustor alberten, tuschelten Martin und Günter miteinander.
Martin flüsterte Günter etwas ins Ohr und rief plötzlich laut: „Na, tu´s doch, geh´ schon!“, und schubste Günter zu mir, der mir dadurch ein kurzes Busserl auf die Wange drückte. Günter wurde genauso rot wie ich und vor Scham verschwand ich wie ein Wirbelwind im Haustor.
Auch das erzählte ich aufgeregt meinen Eltern, doch sie maßen meinem Erlebnis keine Bedeutung bei. Ich hatte allerdings an jenem Tag das erste, sonderbar aufregende Herzklopfen meines Lebens gespürt, so bedeutungslos und unschuldig diese Begebenheit auch war. Dieses Erlebnis sollte sich aber nie mehr wiederholen können, denn schon bald hatte ich die beiden als ‘doof‛ abgeurteilt. Ich sonderte mich von ihnen ab und ging künftig allein oder mit Christa nach Hause.
Für Gerhard, unseren Klassenschönsten, begann ich, wie fast alle Mädchen unserer Klasse, zu schwärmen. Doch dieser nahm keine Notiz von mir. Das Angenehme an dieser harmlosen Schulschwärmerei war, dass ich nicht unglücklich war, als ich von meinem Schwarm nicht beachtet wurde. Dafür schien mir das andere Geschlecht mit meinen neun Lebensjahren noch zu bedeutungslos.
Als fast Zehnjährige erhielt ich aber auch die heftigsten Prügel, an die ich mich als Volksschülerin erinnern kann. Es war Adventzeit und in den Kellerräumen der Volksschule war eine Bücherausstellung, die ich nachmittags mit meiner Schwester besuchen durfte. Eiserne Regel war für uns stets, dass wir vor Beginn der Dunkelheit daheim sein mussten.
In der Bücherausstellung fragte mich Christa: “Möchtest du mit deiner Schwester anschließend in die Pfarre zum Seelsorgeunterricht kommen? Es dauert nur eine Stunde.“ Wir wollten.
Leider wurde es in dieser Stunde dunkel und wir wagten nicht, mitten im Unterricht zu gehen. Beim abschließenden ‘Vaterunser’ betete ich besonders inbrünstig, bat Gott flehentlich um Hilfe für die zu erwartende Strafe daheim. Wir liefen wie gehetzt heim, in der Hoffnung, dass Vater vielleicht noch nicht da war. Doch meine Gebete wurden nicht erhört.
Vater rollte gerade Winterreifen über den Gehsteig zu seinem Auto, als er uns im Laufschritt näherkommen sah. Vor allen Leuten auf der Straße zügelte er jedoch seinen sichtbaren Ärger.
Noch.
Was uns bevorstand, konnten wir jedoch an seinen zornig funkelnden Augen erkennen. Bevor ich erklären konnte, warum wir uns verspätet hatten, drohte er: „Na wartet nur! Geht inzwischen rauf, ich komme gleich!“
Und die Art, wie er das sagte, ließ uns erschaudern.
Mit schlotternden Knien liefen wir in die Wohnung. Dort verzog ich mich vor Angst sofort auf die Toilette und wagte mich nicht raus. Wenig später hörte ich, in meinem nur vorübergehend sicheren Versteck, wie Vater sich über Angela hermachte. Es war ein unbeschreiblich schreckliches Gefühl, als ich Vaters brutale Schläge auf Angelas Körper samt Angis Wehgeschrei hörte und wusste: Die nächste bin ich.
Als der Kochlöffel an Angelas Hinterteil zu Bruch gegangen war und meine kleine Schwester zum Knien ins Kinderzimmer geschickt wurde, brüllte Vater: "Brenda, komm raus da, aber sofort! Ich warne dich, lasse mich kein zweites Mal rufen!"
Kaum öffnete ich angstschlotternd die WC-Tür, zog Vater mich schon am Arm raus und schlug so lange mit dem nächsten Kochlöffel auf mich ein, bis auch dieser zerbrach und ich vor Angst und Schmerz in die Hose machte.
Warum wir uns verspätet hatten, wollte er erst wissen, als wir auf unseren schillernden Sitzflächen nicht mehr sitzen konnten.
Kapitel 4.1
Meine Kindheit endete für mich in der Hauptschulzeit. Bereits als Elfjährige durfte ich kein Kind mehr sein. Meine Kindheit wurde mir auf grausame Weise genommen, vom selben Menschen, der mir meine Kindheit als einen Zustand absoluter Unterwerfung und Hilflosigkeit, voll Schreck und Angst in Erinnerung beließ.
Gerade diese Ohnmacht einem Tyrannen gegenüber scheint die Vorbereitung auf die Qualen meiner Jugendzeit zu sein, denn ohne die unermessliche Furcht vor diesem Menschen, wäre vielleicht denkbar gewesen, dass ich mich einem anderen Menschen, vielleicht meiner Großmutter, anvertraut hätte und so meinem Schicksal entgangen wäre.
Aber seit wir in der neuen Wohnung wohnten, verbrachten Angi und ich die Wochenenden nicht mehr bei Oma, wodurch ich nicht mehr regelmäßig eine Vertrauensperson um mich hatte.
Somit war ich ihm durch jahrelang eingeprügelten Gehorsam schutzlos ausgeliefert: Meinem Vater.
Die Hauptschule war wieder eine reine Mädchenschule. Zu Schulbeginn war ich noch schüchtern und kleinlaut, doch schon bald wurde aus mir ein fröhlicher und temperamentvoller, manchmal vorlauter Teenager. Frech war ich jedoch nie, da ich meine Grenzen, teils aus Feingefühl, teils aus anerzogenem Gehorsam Erwachsenen gegenüber, kannte.
In die Schule ging ich gerne, weil ich beliebt war und die Zeit mit meinen Freundinnen genoss. Doch das Lernen interessierte mich nicht wirklich. Gott sei Dank war ich intelligent und lernte leicht, wodurch meine Faulheit nicht ins Gewicht fiel. Sehr gut war ich lediglich in den Fächern, die mich wirklich interessierten: Musik, Biologie, Turnen und Handarbeiten, später Stenografie und, als ich erstmals der Lehrerin zuhörte, auch Geschichte. Für die Haupt- und für mich uninteressanteren Lern-Gegenstände paukte ich hingegen erst in allerletzter Sekunde, um positive Schularbeiten schreiben zu können; diese Rechnung ging gottlob immer auf.
Unser Klassenvorstand, Frau Hofer, mochte mich. Immer wenn ich vorlaut war, schaute ich sie mit gespielter Unschuldsmiene an und lächelnd tadelte sie mich liebevoll mit den Worten: „Mein kleines Brendalein.“
Ich mochte sie auch, denn sie war gerecht und ließ uns auch mal toben.