Dieser Sommer mit Jente - Enne Koens - E-Book

Dieser Sommer mit Jente E-Book

Enne Koens

0,0

Beschreibung

Marie ist wütend: Ihre Eltern ziehen in ein Neubaugebiet. Viel lieber wäre sie in ihrem alten Zuhause in der Nähe ihrer besten Freundin Zoe geblieben. Aber schon am zweiten Tag lernt sie Jente kennen, die in ihrer neuen Straße wohnt. Von da an sind die Mädchen unzertrennlich. Eine Kuhle in einer Wiese wird zu ihrem geheimen Ort, wo sie Comics lesen, Süßigkeiten essen und in den Himmel schauen. Die beiden verbringen einen unvergesslichen Sommer. Jente hat die tollsten Ideen, oft ein wenig zu toll, bisweilen sind sie auch gefährlich … Eine Geschichte von Freundschaft und Verrat und darüber, wie wichtig es ist, manchmal Nein zu sagen.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 177

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Enne Koens

DIESERSOMMERMITJENTE

Mit Bildern vonMaartje Kuiper

Aus demNiederländischenvon AndreaKluitmann

Von Enne Koens und Maartje Kuiper erschien außerdem im Gerstenberg Verlag Ich bin Vincent und ich habe keine Angst, das für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert war und den Leipziger Lesekompass erhielt.

Die Übersetzung dieses Buches wurde von

der niederländischen Stiftung für Literatur gefördert.

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel Die Zomer met Jente

bei uitgeverij Luitingh-Sijthoff B.V., Amsterdam

Copyright Text © 2019 Enne Koens

Copyright Illustrationen © 2019 Maartje Kuiper

Deutsche Ausgabe Copyright © 2023 Gerstenberg Verlag, Hildesheim

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Übersetzung: Andrea Kluitmann

ISBN E-Book 978-3-8369-9202-2

ISBN Druck-Ausgabe 978-3-8369-6126-4

www.gerstenberg-verlag.de

Für Mare, Karin und Afke, Marieke und Hanneke, Lea, Marloes, Sabine, Annet und Ruth, Hanna und Laura, Mascha und Lideke, Andrea, Joke, Rosha, Anu und Emilie, Fré, Chris, Robin, Fransje, Anouk, Paulien, Victorine, Audrey, Marieke, Nicole, Gabby, Jantien, Tjitske, Salome, Inkie, Izaira, Elsbeth und Tessa.

Danke fürs Spielen!

Inhalt

Prolog

Teil 1 Die Bananenstraße

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Teil 2 Die allerbeste Freundin

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Teil 3 Schulanfang

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Prolog

»Hast du Angst?«, fragte sie.

Ich wollte sagen, dass ich keine Angst hatte. Wirklich nicht. Bestimmt hatte sie selbst Angst. Aber ich schaffte es nicht, auch nur ein einziges Wort herauszubringen. Ich klammerte mich an das Metallgeländer der Brücke. Meine Knie wurden weich. Zehn Meter unter mir glitzerte das Wasser. Wenn ich fiel, würde ich es wahrscheinlich nicht überleben. Meine Jacke würde sich vollsaugen, meine Sneaker würden meine Füße schwer machen, zu plump zum Schwimmen. Das Wasser war kalt, denn der Sommer war vorbei. Ich stellte mir vor, wie ich versuchen würde zu schwimmen, die Arme ausstrecken, aber ich wusste, dass meine Kraft nicht ausreichen würde, um oben zu bleiben. Meine Beine würden sich verkrampfen. Ich würde untergehen, das Wasser würde sich unerbittlich über mir schließen. Nie würde ich es bis zu der Leiter schaffen, über die die Jungs im Sommer aus dem Kanal kletterten.

»Dann mach schon!«, schrie sie, die Augen zusammengekniffen.

Warum hatte sie nie Angst?

Ich traute mich nicht mehr, nach unten zu schauen, also richtete ich den Blick auf die Lichter in der Ferne. Ich wünschte, ich wäre dort, in unserem warmen Haus, bei meinen Eltern. Den ganzen Sommer über hatten wir zugesehen, wie die Jungs von der Brücke sprangen, um das Wasser bis in den Himmel raufspritzen zu lassen. Jetzt war es Herbst und es war dunkel. Der Strand war leer.

»Nun zeig mal, dass du kein Baby bist!« Sie stand schon mitten auf der Brücke.

Ich schaute hinab. Die Angst biss sich an meinen Beinen hoch, die Tiefe machte mich schwindlig und mein Atem pfiff zwischen meinen Rippen. Mein ganzer Körper sagte Nein.

Drei Monate schienen eine Ewigkeit her zu sein. Als blasse Stubenhockerin war ich hier angekommen. Damals brauchte ich mich noch nichts zu trauen, denn damals kannte ich Jente noch nicht.

TEIL 1

Die Bananenstraße

Das Viertel von Städteplanern ausgedacht,

eilig aus Brettern, Mauern, Beton gemacht.

Ein Parkplatz, ein Spielplatz, bunte Fassaden,

Schuppen, Häuser und Gärten, alles schnurgerade.

Eine Kirche gibt es hier nicht,

dafür unendliches Himmelslicht.

Vor zehn Jahren noch war hier Polderlandschaft.

Ein Bauernhof hier, ein Bauernhof dort,

bis zum Horizont Wiesen in einem fort

und in weiter, weiter Ferne die Stadt.

1

Ich schaute hinauf zu dem Haus. Das war er also: der Ort, an dem mein neues Leben anfangen sollte. Es gab noch keinen Vorgarten. Bretter führten von der Straße bis zur Haustür. Ein Haus, so groß, dass bestimmt drei Familien darin wohnen könnten, aber niemand zum Spielen. Niemand, bei dem ich vorbeigehen und klingeln konnte. Ich hasste meine Eltern, und das Gefühl machte mir Angst. Nie zuvor war ich jemals so wütend gewesen, auf niemanden.

»Kommst du mit, Marie? Mal schauen, wie es drinnen ist«, sagte meine Mutter und sie stieg aus dem Auto.

Widerwillig öffnete ich die Tür und folgte ihr.

Vor unserem Haus stand ein riesiger Umzugswagen, seine großen Räder tief im Schlamm versunken. Die Möbelpacker hatten schon mit dem Ausladen angefangen. Einen Karton nach dem anderen schoben sie aus dem Wagen, lasen das Etikett, riefen einander Anweisungen zu und trugen alles hinein, nach hinten, nach oben, und stellten die Kartons irgendwo vor die weißen Wände.

Bis jetzt hatte ich mich geweigert, hierherzukommen. Ich hatte alle Ausflüge, die Papa und Mama vorgeschlagen hatten, abgelehnt. Wenn ich das Haus nicht sehen würde, wäre es, als sei es gar nicht da. Als sei es irgendeine Erfindung. Etwas, was Mama sich ausgedacht hatte. Wie sie manchmal auch aus dem Nichts heraus vorschlug: Wollen wir nächstes Jahr Urlaub in Florida machen? Und darüber verlor danach auch nie mehr jemand ein Wort. So konnte es auch mit diesem Haus an der Bananenstraße laufen.

Ich ging durch das Haus und sah mir nacheinander alle Zimmer an. Alles war weiß und gerade und groß. Und alles war noch ganz.

»Kann ich unters Dach ziehen?«, fragte ich Papa, als ich wieder nach unten kam.

Wir hatten abgemacht, dass ich das Zimmer vorne bekommen würde, aber das Dachzimmer war schöner.

»Nein. Das wird das Arbeitszimmer«, sagte mein Vater. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn.

»Bitte, bitte?«, bettelte ich.

Er schaute auf, zögerte. Ich wusste sofort, dass ich meinen Willen bekommen würde. Er wollte mich so gern wieder froh sehen. Alles war besser als die Szenen der letzten Monate. Ich wollte das hier nicht. Ich wollte auf meiner alten Schule, in meiner alten Stadt bleiben. Aber die furchtbar wichtige Arbeit meiner Mutter war hier in der Nähe, und nur weil sie dann abends öfter mit mir und meinem Vater zusammen essen konnte, statt sich um acht Uhr die Reste aufzuwärmen, waren wir umgezogen. Ich hatte gar nicht aufhören können zu weinen, als sie mir erzählten, was sie vorhatten. Ich hatte meine Sachen quer durchs Wohnzimmer geworfen. Ich hatte fast eine Woche nicht mit ihnen gesprochen. Bloß »Ja« und »Nein«. Und danach hatte ich versucht zu erklären, warum ein Umzug unmöglich war: Ich konnte nicht ohne Zoë sein. Mein liebstes Nachbarmädchen und meine Fast-Schwester.

Ich bin in Afrika geboren, aber seit meine Eltern wieder in die Niederlande gezogen waren, wohnte ich neben Zoë. Wir gingen in dieselbe Kita. Wir klauten einander die Schnuller, sobald wir das konnten, wir steckten uns gegenseitig an unserem Schnodder an und zogen einander an unseren ersten Haaren. Und danach gingen wir in dieselbe Schule. Jeden Morgen liefen wir zusammen hin, wählten uns gegenseitig, wenn wir Gruppen bilden mussten, und machten immer dieselben Fehler im Erdkundetest (aber das lag daran, dass wir nebeneinander saßen und sehr gute Augen hatten). Ich konnte nicht ohne sie.

»Gefällt dir das Zimmer sehr?«, fragte mein Vater.

Das Dachgeschoss war groß und leer. Man konnte dort Fußball spielen. Man konnte eine Hängematte aufhängen. Man konnte das Bett unter das Fenster stellen und die Sterne betrachten, wenn man keinen Schlaf fand.

»Da oben ist das beste Zimmer«, sagte ich.

»Einverstanden, dann bitte die Möbelpacker, deine Sachen dahin zu bringen«, beschloss mein Vater.

Papa baute mein Bett auf und schraubte mein Regal an die Wand. Ich packte meine Sachen aus, legte meine Kleider in den Schrank und stellte die Bücher in mein Bücherregal. Danach klebte ich fünf Buchstaben auf meine Tür. Ein M, ein A, ein R, ein I und ein E. MARIE. Die Fotorahmen mit Fotos von mir auf Papas Schoß, im Schwimmbad mit Mama und Wange an Wange mit Zoë schlug ich mit kleinen Nägeln an die Wand.

»Zufrieden, Arie?«, fragte mein Vater. Er nannte mich immer Arie, weil er fand, dass das schön klingt.

Als ich nach unten kam, machte meine Mutter auf dem Campingkocher, den wir immer mit in die Ferien nahmen, etwas zu essen. Sie hatte ihn auf den alten Kühlschrank gestellt.

»Ich musste mit dem Auto zum Supermarkt«, sagte sie lachend. »Also habe ich gleich für drei Tage eingekauft.«

Ich warf einen Blick in den Topf. Couscous und Kohl. Ich öffnete den Kühlschrank, um zu schauen, was da war. Möhren, Käse und Schwarzbrot. Meine Mutter kaufte nie leckere Sachen; sie lebte von Kapern und Quinoa. Eklig. Erst wenn mein Vater im Laufe der Woche wieder einkaufen würde, bekäme ich Chips und Schokocreme.

»Der Supermarkt ist nicht mal ein echter Supermarkt«, erzählte sie. »Er ist im grünen Viertel, an den Bahngleisen. In Containern, nur vorübergehend.«

»Wie weit von hier?«, fragte ich.

»Zu Fuß eine Viertelstunde, schätze ich.« Sie zeigte aus dem Fenster nach rechts.

Ich nickte.

»Ich gehe raus.«

»In einer Viertelstunde essen wir!«, rief sie.

Sie hatte nicht Nein gesagt, also zog ich die Tür hinter mir zu und überlegte mir, dass ich immer noch sagen könnte, ich hätte sie nicht gehört.

Draußen schaute ich in alle Richtungen. Ein unangenehmes Gefühl überkam mich. Hier gehörte ich nicht hin, ich wollte nach Hause.

Aber das hier war mein Zuhause. Ich schaute über die Schulter: graue Dachpfannen, gelbe Ziegelsteine, weiße Fensterrahmen. Genau wie bei den Nachbarn und den Nachbarn der Nachbarn und den Nachbarn der Nachbarn der Nachbarn.

Es gab vier Viertel, hatte mir mein Vater erklärt, als er mir die Bauzeichnungen zeigte: ein gelbes, ein rotes, ein grünes und ein blaues. Er zeigte auf unser Haus am Rand des Neubaugebiets; dahinter fingen die Wiesen an. Vom Dachboden aus hatte ich das gerade auch gesehen: Wiesen, und ganz hinten in der Ferne die Stadt. Zu weit, um zu Fuß dorthin zu gehen. Gelangweilt schlenderte ich durch die Straße und kickte Steinchen weg, die mir vor die Füße sprangen. Was sollte ich hier? Fast alle Häuser standen noch leer und es war sonnenklar, dass hier überhaupt nichts los war. Es gab nichts außer trauriger Langeweile in ödem Grau und Grün.

Wenn Zoë hier wäre, würden wir Blumen pflücken und Ketten daraus machen. Aber Zoë war nicht hier, also war das Einzige, was ich wollte, wie ein Hund zurück nach Hause laufen. Die gesamten 105 Kilometer mit der Nase auf dem Boden, der Fährte der Autoreifen folgend, zurück zur Kirchgasse. Heimweh war überall. Es färbte die Gehwegplatten und die Dachpfannen, kroch durch meine Arme, drückte mir den Hals zu und füllte meinen Magen. Ich hatte schon den ganzen Tag keinen Appetit.

Plötzlich hörte ich eine Tür knallen. Ein Mädchen mit roten Locken rannte auf die Straße. Ich schaute sie an. Sie war so mager wie ein Straßenhund und zu wütend, um mich wahrzunehmen. Mit geballten Fäusten stand sie vor ihrem Haus.

»Ihr seid so gemein!«, rief sie und setzte sich auf den Boden.

Ich konnte nicht gut sehen, wie alt sie war, aber ich schätzte, nicht viel älter als ich. Sie warf Steinchen gegen ein Auto, das auf der anderen Straßenseite parkte.

Die Haustür hinter ihr ging auf.

»Lass das!«, schrie ihre Mutter.

Das Mädchen griff nach neuen Steinchen und warf sie fest gegen das glänzende Metall. Ich stand nah genug dran, um zu sehen, dass sich im Lack kleine Dellen bildeten.

Ihre Mutter kam nach draußen gerannt, griff sie am Arm und zerrte sie ins Haus. Das Mädchen wehrte sich wütend.

»Nein!«, rief sie schrill.

Die Tür schlug hinter ihnen zu. Ich drehte mich um und ging zurück.

Als ich wieder ins Haus kam, saß mein Vater mit einem Bier auf der Trittleiter.

»Hast du die neue Nachbarschaft ein wenig ausgekundschaftet, Arie?«

»Ja.«

»Und?«, fragte er hoffnungsvoll.

»Öde.«

»Wieso öde?«

»Die Hälfte der Häuser steht leer und in der anderen Hälfte wohnen keine Kinder.«

»Das glaubst du nur«, sagte mein Vater. »Das hier wird ein Kinderparadies. Morgen kommen wieder Möbelwagen und neue Leute und Kinder an.«

Ich sah ihm ins Gesicht und schüttelte trotzig den Kopf. »Ich habe nur ein einziges Mädchen gesehen und das war blöd.«

»Woher weißt du das?«

»Das weiß ich eben«, sagte ich so entschieden wie möglich.

»Das kannst du nicht jetzt schon wissen.«

Ich schaute ihm in die Augen. »Ich weiß das immer sofort.«

Mama stellte sich neben mich. »Du solltest dir schon ein wenig mehr Mühe geben, es hier schön zu haben, Marie«, sagte sie leise.

Ich warf ihr einen wütenden Blick zu. Gib dir selbst ein wenig mehr Mühe, dachte ich. Aber das traute ich mich natürlich nicht laut zu sagen.

Sie schaute mich besorgt an. Das geschieht dir recht, dachte ich und ich stampfte wütend die Treppe rauf zu meinem neuen Dachzimmer.

2

Am nächsten Morgen, als ich zum ersten Mal in unserem neuen Haus aufwachte, wusste ich ganz kurz nicht, wo ich war. Draußen hörte ich Vögel singen. Ich schaute um mich, sah meine eigenen Sachen in einem fremden Zimmer und erst dann fiel es mir wieder ein. Ich tastete neben meinem Bett, fand meinen Kopfhörer und hörte mir mein Lieblingslied an. Mit geschlossenen Augen war ich einfach zu Hause. Gleich würde ich bei Zoë klingeln, wir würden uns in ihr Zimmer zurückziehen und zu ihrer kleinen Schwester sagen, wir könnten sie jetzt gerade nicht gebrauchen. Das hier war unser Revier. Abzischen, und zwar sofort! Wir hatten wichtige Sachen zu erledigen, wie unsere Fingernägel lackieren, und ich würde Zöpfchen in Zoës krause Haare flechten, superdünne Zöpfchen, weil ich das so gut konnte. Wir würden über die Schule schwatzen und darüber, was wir später werden wollten. Der Tag würde uns einfach so zwischen den Fingern hindurchflutschen, sodass es plötzlich schon wieder fünf Uhr war und wir uns entscheiden mussten, wo wir zu Abend essen würden. Ihr Vater machte Roti mit grünen Bohnen und mein Vater schob Pizza in den Ofen, weil es Fußball im Fernsehen gab. Solche Tage waren die besten.

Schließlich musste ich doch die Augen aufmachen und mein neues Zimmer sehen. Widerwillig stieg ich aus dem Bett. Unten waren meine Eltern schon wieder bei der Arbeit. Das Parkett war geliefert worden. Im Stehen aß ich im Wohnzimmer ein Brot. Wir hatten noch keinen Tisch und auch keine Stühle, nicht einmal eine Küche. Viele der Möbel aus unserem Zwergenhaus hatten wir zurückgelassen, weil sie hier nicht hinpassten. Ich schaute zu, wie mein Vater Holzbretter in einer Ecke des Zimmers stapelte und meine Mutter die Länge mit einem Bleistift markierte, um sie danach entsprechend zuzusägen.

»Hilfst du mit?«, fragte meine Mutter.

Ich nickte, und während ich die Bretter für meine Mutter festhielt, dachte ich an gestern.

Ich kniete auf der Rückbank im Auto, um ihr durch die Heckscheibe nachwinken zu können. Papa und Mama saßen vorn. Zoë stand mitten in der Gasse in ihrem weißen Pyjama, die braunen Locken vom Schlaf ganz wirr. Sie winkte, als würde ihr Leben davon abhängen. Gerade noch, als ich sie zum allerletzten Mal umarmt hatte, die Arme möglichst fest um sie geschlungen, spürte ich ihren Atem an meinem Hals und ich flüsterte: »Du bleibst meine beste Freundin, für immer.« Sie nickte und kämpfte mit den Tränen.

Ich sah sie an. »Niemand kann dich ersetzen.«

»Weiß ich«, sagte sie und tapfer schluckte sie ihre Tränen runter.

»Ich rufe dich ganz oft an«, sagte ich.

Warum waren Erwachsene nur so gemein? Sie verstanden doch, dass wir nicht ohneeinander sein konnten? Aber wir konnten nichts daran ändern. Ab heute würden jeden Tag genau hundertfünf lange Kilometer zwischen uns liegen. Ich winkte, so fest ich nur konnte, bis Zoë sich in einen kleinen Punkt verwandelt hatte. Wir bogen um die Ecke. Dann drehte ich mich um und schnallte mich an. Ich weinte geräuschlos, bis ich eine Schnoddernase hatte. Meine Wangen waren wund und taten weh.

»Geht’s einigermaßen?«, fragte Mama, aber ich antwortete nicht. Alles war ihre Schuld.

»Es wird schon wieder gut, Marie«, sagte sie.

»Wie soll denn das gehen?«, fragte ich. Ich schaute zwischen den Vordersitzen hindurch zu meinen Eltern. Ich konnte sie nur von der Seite sehen, mein Vater konzentrierte sich auf die Straße, meine Mutter runzelte genervt die Stirn. Mein Blick glitt an ihrer Kleidung hinab: adrettes Grau und Weiß, wie immer.

»Das werden wir schon sehen«, sagte sie, und das fand ich die blödeste Antwort, die ich je im Leben gehört hatte.

Mein Vater hatte das Telefon angeschlossen, damit ich Zoë anrufen konnte. Es stand einsam auf dem Betonfußboden. Ich rief sie sofort an. Später würde es nicht mehr gehen, weil sie erst mal nach Curaçao in die Ferien flog. Ich erzählte ihr von meinem Zimmer und wir verabredeten, dass sie zu Besuch kommen würde, sobald sie wieder da war. Noch fünfundzwanzig Tage, zählten wir. Ich versprach, ihr einen Brief zu schreiben und ihr darin alles zu erzählen, was ich erlebte. Und ich würde jeden Tag an sie denken.

Aber natürlich kam alles ganz anders.

»Kommst du mit?«, fragte meine Mutter, nachdem ich aufgelegt hatte.

»Wohin?«

»Zu den Nachbarn, uns vorstellen und sie zum Straßenfest einladen.«

»Nein«, sagte ich.

»Warum nicht?«, fragte sie.

»Darum nicht«, sagte ich stur. Wenn sie das nicht kapierte, hatte ich auch keine Lust, es ihr zu erklären.

Ich ging nach draußen. Ohne darüber nachzudenken, schlenderte ich in Richtung der Wiesen. Mit den Armen drückte ich die hohen Gräser zur Seite und bahnte mir einen Weg. Das Gras reichte mir bis zur Taille. Je weiter ich kam, desto höher war es. Dazwischen wuchsen Disteln mit großen lilafarbenen Blüten und Bärenklau mit Stängeln, so dick wie Babyarme. Ich ging weiter. Ich ratschte die Samen von den fleischigen Stängeln, trat Brennnesseln nieder, um sie unschädlich zu machen. Irgendwo stieß ich auf eine Kuhle. Da stampfte ich alle Pflanzen flach, damit ich mich auf den Rücken legen konnte. Das Blau war grün umrandet. Wolken tauchten auf und verschwanden. Als schnaubende Pferde und Krokodile mit schnappenden Mäulern zogen sie an mir vorbei. Ein Ritter auf seinem Ross. Ein Schiff mit Kanonen.

Während ich in den Himmel schaute, lauschte ich dem unbekannten Rascheln und Rauschen: dem wachsenden Gras, den Wassertropfen, die zwischen den Halmen herabrannen, den Schnecken, die große Bissen von den saftigen grünen Blättern nahmen, den Ratten und Feldmäusen, die sich ihren Weg über den Boden suchten. Der Wind wehte, das Gras wogte hin und her, federte hoch und wieder zurück, wie die Wellen im Meer. In der Ferne hörte ich das Brausen einer Autobahn hinter der Lärmschutzwand. Das Brausen übertönte alles, sogar meine wütenden Gedanken.

Plötzlich fiel etwas auf mich.

3

Ich schrie, weil ich nichts sah. Was auch immer da auf mich gefallen war, es war schwer und es bewegte sich. Und es schrie auch.

Wir lagen wie ein Knäuel auf dem Boden im Gras. Hände, Füße, Beine. Das Wesen schob mich von sich und dann erst konnte ich es erkennen.

Ein Mädchen. Zerrissene Jogginghose, Zahnspange. Sie roch seltsam: nach Holz und Zigarettenrauch. Ich erkannte sie. Es war das Mädchen, das gestern das Auto mit Steinchen beworfen hatte. So schnell ich nur konnte, setzte ich mich auf.

Mit einer Grimasse rieb sie sich über das Knie. »Autsch.«

Einen Moment war es still.

»Bist du auch neu?«, fragte ich dann. Blöde Frage.

»Alle sind neu hier«, sagte sie.

»Ja, natürlich«, beeilte ich mich zu sagen, »aber wie neu bist du?«

»Ich bin jetzt seit drei Tagen hier.«

»Ich seit zwei Tagen«, sagte ich.

Ihre Augen funkelten. »Ich bin dir gefolgt. Hast du’s gemerkt?«

»Nein«, sagte ich. »Bis du auf mich gefallen bist.«

Sie lachte ausgelassen. »Ich bin gestolpert, aber ich kann supergut schleichen.«

Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte. War sie total kindisch oder im Gegenteil überhaupt nicht? Ich musterte ihr Gesicht. Blass und spitz. Sommersprossen. Wie ein Junge, aber eindeutig ein Mädchen. »Warum bist du mir gefolgt?«, fragte ich.

»Ich musste wissen, was du vorhast«, sagte sie. »Ist das deine Kuhle?«

Ich zuckte die Achseln. Nichts hier gehörte bisher irgendwem. »Wir können sie uns teilen«, schlug ich vor.

»Einverstanden«, sagte sie zufrieden. »Ich wohne in Nummer 37. Und du?«

Ich stand auf und zeigte auf unser Haus.

Unsere Köpfe überragten das Gras nur knapp.

»Dort, das …« Ich wollte sagen: das gelbe Haus, aber gelb waren sie alle.

»Okay.« Sie drehte sich zu mir. »Willst du mein Zimmer sehen?«

Ohne meine Antwort abzuwarten, griff sie nach meiner Hand und zog mich mit sich durch das Gras. Als wüsste ich den Weg nicht. Erst als wir vor ihrem Haus standen, ließ sie mich los. Sie zog eine Kordel mit einem Schlüssel unter ihrem T-Shirt hervor.

Eine Sekunde später standen wir in ihrem Wohnzimmer. Ihre Mutter und ihr Vater saßen am Tisch. Sie schauten gleichzeitig auf.

»Das ist …«, sagte das Mädchen und dann schwieg sie. »Wie heißt du eigentlich?«

»Marie«, sagte ich. »Und du?«

»Jente«, sagte sie und wir lachten, weil wir vergessen hatten, danach zu fragen.

»Das ist also Marie«, wiederholte sie zufrieden. »Und sie kommt zum Spielen her.«

Ihr Haus war fünf Häuser von unserem entfernt und alles war im Prinzip genau gleich, bloß eben anders. Die Wände waren grau statt weiß. Unten lag Teppichboden und an der Wand stand ein großes braunes Sofa. Ihre Eltern waren nicht beim Anstreichen oder Sägen, sie hatten die Fußböden und Wände machen lassen. So einen großen Fernseher wie ihren hatte ich noch nie zuvor gesehen und die Küche war auch schon fertig.