»Dieses widerliche Gemetzel«. Über das Leid der Tiere und den Vegetarismus - Voltaire - E-Book

»Dieses widerliche Gemetzel«. Über das Leid der Tiere und den Vegetarismus E-Book

Voltaire

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Beschreibung

»Was ist abscheulicher, als sich ständig von Leichen zu ernähren?«, fragte im Jahr 1772 ein eifriger Verfechter des Vegetarismus – der niemand anderes war als der große Voltaire. Über mehrere Jahre hatte er sich immer wieder dem Schicksal von Nutztieren gewidmet und dabei stets für eine vegetarische Ernährung plädiert. Dieses Problem der menschlichen Verantwortung für das Leid der Tiere verbindet er mit umfassenderen und älteren philosophischen Anliegen, angefangen mit der Thematik des Bösen.   Mit einem Nachwort von Tobias Roth.

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Seitenzahl: 82

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Voltaire

Dieses widerliche Gemetzel

Über das Leid der Tiere und den Vegetarismus

Aus dem Französischen übersetzt von Ulrich BossierNachwort von Tobias Roth

Reclam

E-Book-Leseproben von einigen der beliebtesten Bände unserer Reihe [Was bedeutet das alles?] finden Sie hier zum kostenlosen Download.

 

 

RECLAMS UNIVERSAL-BIBLIOTHEK Nr. 14075

2023 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Covergestaltung: Cornelia Feyll, Friedrich Forssman

Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Made in Germany 2023

RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN978-3-15-962194-4

ISBN der Buchausgabe 978-3-15-014075-8

www.reclam.de

Inhalt

Tiere

Das Denken der Tiere

Mitgefühl gegenüber den Tieren

Gespräch zwischen dem Kapaun und dem Masthuhn

Fleisch, Fleischverbote, Gefahren des Fleischverzehrs

Hund

Lachen

Mitleid ein Gebot der Menschlichkeit

Über Indien

Ein Erlebnis in Indien

Die Briefe des Amabed

Die Prinzessin von Babylon

Über das Böse

Zu dieser Ausgabe

Nachwort

Zum Autor

Zum Autor des Nachworts

Tiere

Wie erbärmlich, wie armselig ist doch die Behauptung, Tiere seien Maschinen ohne Verstand und Gefühl, die ihre Verrichtungen immer auf die gleiche Weise vollführen, die nichts lernen, nichts vervollkommnen, usw.1

Wie denn! Dieser Vogel, der sein Nest im Halbkreis anlegt, wenn er es an einer Mauer befestigt, der es im Viertelkreis baut, wenn es sich in einer Ecke befindet, und auf einem Baum im Kreis: Dieser Vogel arbeitet jedes Mal gleich? Dieser Jagdhund, den du drei Monate lang abgerichtet hast: Kann er nach dieser Zeit nicht mehr, als er vor deinem Unterricht konnte? Der Kanarienvogel, den du eine Melodie lehrst – pfeift er die augenblicklich nach? Wendest du nicht eine beträchtliche Zeit auf, ihn zu unterrichten? Hast du nicht bemerkt, dass er sich vertut und sich korrigiert?

Kommst du, weil ich mit dir spreche, zu dem Urteil, dass ich über Gefühl, Gedächtnis, Gedanken verfüge? Nun denn: Ich spreche nicht mit dir. Du siehst mich betrübt nach Hause kommen, voller Unruhe nach einem Schriftstück suchen, den Schreibtisch öffnen, in den ich es meiner Erinnerung nach eingeschlossen habe, es finden, es mit Freuden lesen. Du urteilst, ich hätte Gefühle wie Betrübnis und Vergnügen verspürt und besäße Erinnerungs- und Erkenntnisvermögen.

Übertrage nun dieses Urteil auf den Hund, der seinen Herrn verloren hat, der auf allen Wegen mit schmerzlichem Gejaule nach ihm gesucht hat, der ins Haus rennt, aufgeregt, besorgt, treppauf und treppab, von Zimmer zu Zimmer, der seinen geliebten Herrn endlich in dessen Kammer findet und ihm seine Freude durch sein sanftes Jaulen, seine Luftsprünge und seine Liebkosungen bezeugt.

Nun packen Barbaren diesen Hund, dessen Fähigkeit zur Freundschaft die des Menschen so wundersam übertrifft. Sie nageln ihn auf einen Tisch und sezieren ihn bei lebendigem Leibe, um dir seine Gekrösevenen zu zeigen. Du entdeckst in ihm all die gleichen Organe des Empfindens, die sich auch in dir befinden. Antworte mir, Verfechter der Maschinenthese: Hat die Natur in diesem Tier alle Anlagen für das Empfinden bereitgestellt, damit es nicht empfindet? Hat es Nerven, um empfindungslos zu sein? Unterstelle doch nicht der Natur einen derart unangemessenen Widerspruch.

Aber die Meistergelehrten fragen, was die Seele der Tiere sei. Ich verstehe diese Frage nicht. Ein Baum hat die Fähigkeit, in seine Fasern den Saft aufzunehmen, der ihn durchfließt, Knospen für seine Blätter und seine Früchte zu entwickeln; wollt ihr mich nun fragen, was die Seele dieses Baumes ist? Er hat diese Gaben empfangen; das Tier hat die Gaben des Gefühls, des Gedächtnisses und einer gewissen Anzahl Gedanken empfangen. Wer hat all diese Gaben gemacht? Wer hat all diese Fähigkeiten verteilt? Jener, der das Gras auf den Feldern wachsen und die Erde um die Sonne kreisen lässt.

Die Seelen der Tiere sind substantielle Formen, sagte Aristoteles, und nach Aristoteles sagte es die arabische Schule, und nach der arabischen die aquinische Schule2, und nach der aquinischen Schule die Sorbonne, und nach der Sorbonne niemand mehr.

Die Seelen der Tiere sind Materie, tönen andere Philosophen. Sie hatten damit nicht mehr Erfolg als die vorigen. Man hat sie vergebens gefragt, was das denn sein soll, eine materielle Seele. Sie mussten einräumen, dass es sich um Materie handelt, die Empfindung besitzt; aber wer hat ihr diese Empfindung eingegeben? Es ist eine materielle Seele, das heißt, es ist Materie, die der Materie Empfindung eingibt: Aus diesem Zirkelschluss kommen sie nicht heraus.

Hört, was andere Tölpel über Tiere meinen: Ihre Seele ist ein geistiges Wesen, das mit dem Körper stirbt, aber welchen Beweis habt ihr dafür? Welche Vorstellung habt ihr von diesem geistigen Wesen, das doch Gefühl, Gedächtnis und sein Maß an Gedanken und Kombinationsvermögen besitzt, das aber niemals wissen kann, was ein Kind mit sechs Jahren weiß? Auf welcher Grundlage meint ihr, dass dieses Wesen, das nicht Körper ist, mit dem Körper vergeht? Die größten Tölpel sind jene, die vorgebracht haben, diese Seele sei weder Körper noch Geist. Was für ein hübsches System. Wir können uns unter Geist nur etwas Unbekanntes vorstellen, das nicht Körper ist; so läuft das System jener Herren darauf hinaus, dass die Seele der Tiere eine Substanz sei, die weder Körper ist noch etwas, das nicht Körper ist.

Wie kommen derart viele einander widersprechende Irrtümer wohl zustande? Durch die seit jeher bei den Menschen vorhandene Gewohnheit, zu untersuchen, was eine Sache ist, bevor sie wissen, ob sie existiert. Man nennt die Zunge, das Ventil eines Blasebalgs, die Seele des Blasebalgs. Was ist diese Seele? Es ist ein Name, den ich diesem Ventil gegeben habe, das sich senkt, Luft hereinlässt, wieder hochgeht und sie durch ein Rohr hinausdrückt, wenn ich den Blasebalg betätige.

Es gibt gar keine Seele, die sich von diesem Apparat unterscheiden ließe. Wer aber lässt den Blasebalg der Tiere sich bewegen? Ich habe es euch schon gesagt: derjenige, der die Sterne sich bewegen lässt. Der Philosoph, der sagte: »Deus est anima brutorum«3 hatte recht, aber er hätte weiter gehen müssen.

 

Dictionnnaire philosophique portatif (dt. Philosophisches Taschenwörterbuch), 1764, Artikel »Bêtes«

Das Denken der Tiere

Aus der Annahme, dass die Menschen fortwährend Gedanken, Wahrnehmungen, Vorstellungen haben, folgt ganz selbstverständlich, dass auch die Tiere all dies immerfort haben. Denn es ist unbestreitbar, dass ein Jagdhund eine Vorstellung von seinem Herrn besitzt, dem er gehorcht, und von dem Wild, das er ihm apportiert. Es ist offensichtlich, dass er über ein Gedächtnis verfügt und ein paar Gedanken miteinander kombinieren kann. Wenn also das Denken des Menschen zugleich die Essenz seiner Seele war, so war das Denken des Hundes auch die Essenz der seinen; und wenn der Mensch immerfort Gedanken hatte, dann mussten wohl auch die Tiere immerfort welche haben. Um dieser Schwierigkeit zu entgehen, hat der Erfinder der Wirbel und der geriffelten Materie4 zu behaupten gewagt, Tiere seien reine Maschinen, die sich Essen suchten, ohne Appetit zu verspüren, die zwar die Organe des Empfindens besäßen, ohne doch jemals das Mindeste zu empfinden, die schrien ohne Pein, die Vergnügen zeigten ohne Freude, die ein Gehirn besäßen, ohne dass auch nur der flüchtigste Gedanke hineingelänge, und die auf diese Weise einen immerwährenden Widerspruch der Natur darstellten.

Dieses System war genauso lächerlich wie das andere; aber anstatt seine Absurdität zu entlarven, bezeichnete man es als gottlos – man behauptete, es stehe im Gegensatz zur Heiligen Schrift, in der es im 1. Buch Mose heißt: »Gott schloss mit den Tieren einen Vertrag und wird von ihnen das Blut der Menschen zurückfordern, die sie gebissen oder gefressen haben«5, was offensichtlich unterstellt, dass in den Tieren Intelligenz und die Kenntnis von Gut und Böse vorhanden seien.

 

Le Philosophe ignorant (dt. Der unwissende Philosoph), 1766, Abschnitt VI: »Les bêtes« [Überschrift vom Verlag]

Mitgefühl gegenüber den Tieren

Da wir uns vorgenommen haben, unserem Werk ein paar nützliche Anmerkungen beizufügen, halten wir in diesem Zusammenhang6 fest: Gott hat, so heißt es in der Schrift, mit Noah und allen Tieren einen Bund gemacht, und trotzdem erlaubt er Noah, »alles zu essen, was da lebt und sich regt«; nur das Blut nimmt er aus: davon soll der Mensch nicht zehren. Gott fügt noch hinzu, »dass er Rache nehmen wird an allen Tieren, die Menschenblut vergossen haben«7.

Aus diesen und mehreren anderen Stellen kann man folgern, was die ganze Antike bis in unsere Tage geglaubt hat und was alle verständigen Menschen glauben: dass Tiere ein gewisses Maß an Bewusstsein besitzen. Gott schloss keine Bündnisse mit den Bäumen und den Steinen, die keinerlei Empfinden besitzen, wohl aber mit den Tieren, denen er ein Empfinden zu verleihen geruhte, das oft feinfühliger ist als das unsere, sowie einige Vorstellungen, die notwendig mit diesem Empfinden zusammenhängen. Deshalb verbittet er sich die Barbarei, sich von ihrem Blut zu nähren, denn in der Tat ist das Blut der Quell des Lebens und folglich auch des Empfindens. Beraubt man ein Tier seines ganzen Blutes, funktioniert keines seiner Organe mehr. Die Heilige Schrift sagt deshalb völlig zu Recht an hundert Stellen, dass die Seele – im Sinne dessen, was man die anima sensitiva8 nannte – ihren Sitz im Blut hat; und diese so selbstverständliche Vorstellung findet sich bei allen Völkern.

Auf dieser Vorstellung beruht auch die Forderung nach Mitgefühl, das wir den Tieren schuldig sind. Von den sieben Geboten der Noachiden9, die später die Juden übernahmen, verbietet eine, das Körperglied eines lebenden Tieres zu verzehren. Dieses Gebot beweist, dass die Menschen grausam genug waren, Tiere zu verstümmeln, um die abgetrennten Glieder zu verzehren, und dass sie sie am Leben ließen, um sich nacheinander von ihren Körperteilen zu ernähren. Dieser Brauch hielt sich tatsächlich bei einigen barbarischen Völkern, wie man an den Opferungen sieht, die auf der Insel Chios dem Dionysos Omadios dargebracht wurden, dem Rohfleischesser10