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Max Scharnigg

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Beschreibung

Manchmal passiert noch was. Tin überlebt einen Anschlag. Paul tritt in ein Petermännchen. Sara beschließt, irgendwann Lohnsteuer zu bezahlen. Sie reisen dem Sommer nach, auf der Flucht vor ihrem alten Leben. Und vor Tin, der Sara dringend noch etwas sagen wollte. Der aber jetzt in einem Krankenhaus liegt, in dem die Ärzte immer die Worte Bombe und Tumor verwechseln. Sonja wird aus Versehen zum Vorbild für Millionen junger Frauen. Dabei hatte sie eigentlich nur ein Problem damit, bei der Altersangabe so weit nach unten scrollen zu müssen. Und alle zusammen haben wirklich eine Scheißangst vor Tove Boll. Damit müssen sie wohl leben. Genau wie mit der Frage, ob es unter bestimmten Umständen okay wäre, eine Biobäckerei in die Luft zu jagen.

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Seitenzahl: 98

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Max Scharnigg

Der restliche Sommer

Leseprobe

Hoffmann und Campe

256 Seiten, gebunden

€ 22,– [D] / € 22,70 [A]

ISBN 978-3-455-40494-4

14. März 2018

»Was Max Scharnigg mit Sprache macht, kann zur Zeit in Deutschland nur er: Beglücken ohne auch nur einen Krümel von Kitsch, tiefe Menschenliebe ohne Rührseligkeit, Trost über eine Kindheit mit all ihren Dramen und Traumata breiten. Max Scharnigg entzieht sich kühn eingefahrenen Mustern. Was für ein Wunder!«

Annemarie Stoltenberg über Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau

Paul

Für wen schreibst du, fragte sie, es war früher Nachmittag.

Für die Schatten der Orangenbäume, wollte er sagen. Nur damit sie die Zunge herausstreckte und so tat, als wäre sie von einer Kitschrakete getroffen worden. Für die Sirenen wollte er sagen, denen er jetzt tatsächlich seit einer geraumen Weile zugehört hatte. Sie näherten sich in der Ferne und entfernten sich wieder in der Ferne. Unwahr kamen sie hier oben bei ihnen an, wie die Meeresbrandung auf einer Postkarte unwahr bei ihrem Empfänger ankommt. Diese Sirenen schienen ihm heute wie eine Warnung, ein vorsichtiger Hinweis, der ihm versichern sollte: Ja, Paul Neulich, es gibt noch Unglück in dieser Welt.

Ich schreibe für uns, sagte er. Keine gestreckte Zunge, aber auch keine Nachfrage.

Er hatte den kleinen Schreibtisch in den Schatten gestellt, den die breiten Fensterläden auf die Terrasse warfen. In den ersten Wochen war vom Meer noch ein kräftiger Westwind gekommen und sie hatten die Fensterläden mit einem Strick an die Hauswand binden müssen, damit sie nicht wild schlugen. Ein paarmal waren sie ausgerissen und das Geräusch mit dem der Wind das schwere Holz dann beidhändig an die Wand geworfen hatte, war das Wütendste, was sie auf ihrer ganzen Reise gehört hatten. Nach dem Wind war, von einem Morgen auf einen Nachmittag, die Hitze gekommen. Es war die Hitze, das war ihnen bald klar geworden, auf die der Ort gewartet hatte. Erst jetzt, wo die Tage von früh an gleichmütig hell ausgeleuchtet waren und über den Resten der Stadtmauer schon morgens die Luft flirrte, passte alles hier zu seinem Schattenriss, hatte das Leben den rechten Takt und die Palmen in die gewünschte Trägheit gefunden. Erst in dieser breiten Sommerhitze bröckelten die kalkweißen Hausfassaden mit den immer müden Jalousien im richtigen Licht und nährten mit den herabfallenden Putzstücken die kleinen Bäume, die sich überall dort halten konnten, wo die Gassen einen scharfen Knick machten, so scharf, dass das Steinpflaster mürbe aufgerissen war und ein bisschen Erde freigegeben hatte. Erde für einen Feigenbaum.

Schatten war von nun an das Wichtigste und die Einheimischen suchten ihn mit dem Instinkt von Tieren. Sie verschwanden tagsüber, hielten ihren Sommerschlaf in den dunklen, kühlen Wohnhöhlen ihrer Vorfahren, verraten höchstens durch ein Pfannenklappern oder einen leise gestellten Radiosender mit Tanzmusik. Wer jetzt noch in den gleißenden Straßen mit dem blanken Pflaster aus kleinen Steinen herumging, war Tourist. Je wärmer und farbloser die Tage wurden, desto mehr dieser Besucher kamen, führten mit ihrer Vorstellung von einer südlichen Kleidung ganz andere, synthetische Farben in den Ort ein, ließen sich dazu in sieben Tagen Arme, Beine und Hals röten und die Haare vom Meerwasser und Sonne an den Spitzen bleichen. Der Stamm der Urlauber, so schien es Paul, kam eigentlich kaum mit dem Stamm der Einheimischen in Berührung. Die Gruppen bewohnten den kleinen Ort in zwei getrennten Schichten, die sich nur gelegentlich zur Geldübergabe trafen. Die Gesichter der Einheimischen, hatte Sara in der erste Woche gesagt, haben so viele Falten, weil sie den Schatten so dringend brauchen. Er hatte nichts gesagt, aber eigentlich war er fest überzeugt, dass es doch eher das Meer war, das sich darin niederschlug. War es nicht jahrhundertelanges Hinaussehen und Augen kneifen, das diese Gebirgsketten zwischen den Wangenknochen aufwarf?

Sie hatten sich gestritten, erst heute Morgen. Es war einer jener Streits gewesen, bei denen sich zwei Menschen aus einer Laune heraus daran erinnern, dass sie vor nicht allzu langer Zeit noch Inhaber eines eigenen Lebens gewesen waren und ganz frei in ihren Entscheidungen. Frei im sinnlosen Herumstreifen zu früh am Morgen, frei am Vorabend das Lächeln des jungen Hutverkäufers zu lange zu erwidern. Frei auch im Liegenbleiben, obwohl die Signora schon zweimal vernehmlich mit ihrem Putzwagen gegen die Tür der Cabana gefahren war, in jenem besinnungslosen Unverständnis das die ganze Welt Liebenden nach elf Uhr morgens entgegenbrachte. Nicht einer davon, eine Verdichtung aus allen diesen Momenten war der Anlass für ihren Streit gewesen, wie eine gemeinsam aufkochende Verstimmung, die in ein lustloses aber doch akribisches Berechnen aller kürzlich erlittenen Ungerechtigkeiten mündete, das sich über Mittag und ihre Kaffeetassen hinweg fortgesetzt hatte, wenn auch mit anderen Mitteln. Sie hatten dann geschwiegen und gegenseitig so getan, als gäbe es hinter dem anderen etwas zu erkennen, als würde sich in seinem Rücken noch etwas abzeichnen, das ihn ein Stück ersetzbarer machte. Dazu gehörte es, später auf dem Markt unvermittelt in Seitenwege abzubiegen, ohne den anderen am Arm zu ziehen und nicht auf ein Wort der Zustimmung zu warten, bevor sie den Händlern etwas abkauften. So war der ganze kleine Markt von Lagos Zeuge ihrer Verstimmung geworden und hatte dabei gute Geschäfte gemacht. Sie waren beide schlechte Schauspieler.

Als sie wieder oben bei der Cabana angelangt waren, Tomaten, Artischocken, zwei Doraden und zwei Kilo Boshaftigkeits-Bananen die sie gekauft hatte, denn er ertrug den Geruch bei Hitze nicht, hatte die Signora ihre Bettlaken zum Lüften über die Hängematte geworfen. Die Einsamkeit ihrer sanft schwingenden Decken, ein Anblick wie Schlagsahne vor den alten Weinstöcken. Alles war in diesen Laken und nichts, als hätte die Sonne alle Spuren gebleicht und die Decken neu aufgeladen. Das schwebende Bett war die Wende für den Tag gewesen und beide wussten es.

Er hatte zugesehen, wie sie erst die Einkaufstaschen auf den Boden und dann sich Kopf voran in die sonnenwarmen Decken und Kissen fallen ließ, zugehört, wie sie so baumelnd ihr Lied vom Fußballtorwart Theodor in den Stoff sang, eine Angewohnheit die mehr Geräusch als wirkliches Lied war. Und er hatte ihre erwartungsvolle Stille danach absichtlich lange verstreichen lassen. Dann hatte sie laut Octopodes! gesagt, aber was sie eigentlich sagen wollte war: Beachtung, jetzt. Gestern beim Essen waren sie sich uneinig gewesen, wie die Mehrzahl von Octopus lautete, Octopusse ja wohl nicht und er hatte schließlich Octopoi vorgeschlagen.

Aber es ist griechisch, sagte sie jetzt triumphierend, immer noch in die Decke. Kein lateinischer Plural! Ist das deine große humanistische Bildung, dass du nicht mal Latein von Griechisch unterschieden kannst, ha? Sie lachte und er musste die Hängematte mit beiden Händen auseinanderziehen, in die sie eingewickelt war wie ein Fisch im Netz. Musste sie auf eine Stelle an ihrem Nacken küssen, gleich unter den Haarflaum und spürte dabei, wie ihr Lachen ganz nah an seinen Lippen vorbeipurzelte. Es war eine Stelle, die er sich früh gemerkt hatte, etwa so früh, wie man sich die entscheidende Straßenkreuzung auf dem Weg in ein neues Zuhause merkte. Von dieser Stelle an ihrem Hals, das wusste er, ging es für ihn immer weiter. Sie liebten sich schwankend und hastig in den fliegenden Betten der Hängematte, die beiden Orangenbäume standen davor wie schamhaft abgewandte Passanten aber nur so lange bis sie lachte: »Es geht nicht, es geht nicht.« Dann nahm er sie und zog sie wortlos und ohne sich umzusehen hinein zu ihrem Bett, das ohne die Decken ganz kahl im hellen Nachmittagslicht stand. Darauf breitete er sie in aller Seelenruhe aus, bis jeder Winkel ihres Körpers ausgeleuchtet war und sich mit Wärme vollsaugen konnte.

Später hatte sie gefragt, für wen schreibst du? Und er hatte gelogen. Nicht ganz, denn natürlich schrieb er für sie beide, seit sie unterwegs waren. Es waren die Honorare für die Ratgeber-Kolumne, die seit zwölf Jahren so regelmäßig auf sein Konto flossen, ein unerschütterlicher Viervierteltakt, der ihm in seinem vorherigen Leben schon eine Wohnung zu Hälfte bezahlt hatte und ein oder zwei Autos und der sie beide nun schon fast ein Jahr voran brachte, von einem Meer zum nächsten. Wenn diese Lebensader eines Tages endete, würde er nicht mehr August Sternberg sein, nicht mehr der geheimnisvolle Benimmlehrer und Gentleman im Stil-Teil des Magazins, den er Woche für Woche für die Leser auf siebzig Zeilen gab wie ein Straßenkünstler in Florenz den Vivaldi gab. Bei ihm waren keine Perücke, Geige und Tonband zur Verwandlung notwendig, sondern lediglich der alte Rechner und eine kleine Handbibliothek mit versnobten, britischen Adels- und Etiketteführern plus seine gespielte, hochnäsige Strenge, die maßgeblich zum Erfolg dieser Ratgeberrubrik beitrug.

Deutschlands Benimm-Papst Nummer 1, so warb das Heft mit ihm. Dabei war er evangelisch.

Also, August Sternberg würde ihm nicht fehlen, wenn irgendwann das Ende für die Kolumne kam. Auch nicht die Zuschriften der Leser, die immer entweder unerträglich unterwürfig waren und sich von ihm am liebsten jeden Gang zur Toilette (»Wie erklären Sie die Skepsis der Deutschen in Sachen Bidet, lieber Herr Sternberg?«) als stilistisch korrekt absegnen lassen wollten. Oder ihm wie Jagdtrophäen gesammelte Anzeichen der verrohten Gegenwart vorlegten (»Wäre nicht die Unsitte des Telefonierens in den Speedtrains ein treffliches Thema für Ihre Kolumne, hochverehrter Herr von Sternberg?«). Natürlich gab es mindestens genauso viele Leserbrief-Schreiber, die getroffen um sich beißen mussten und Briefe voller Unterstellungen schrieben, wonach es mit Herrn Sternbergs Noblesse oder seiner Weltläufigkeit ja nicht weit her sein konnte, wenn er dieses oder jenes zu erwähnen vergaß, in Heft 14 auf Seite 50, in seiner sogenannten Kolumne. Und überhaupt, es gäbe doch wohl Wichtigeres auf der Welt als dieses hochwohlgeborene Gefasel. Die Redaktion war so nett, die meisten dieser Briefe nicht an ihn weiterzuleiten.

Der Vorwurf des Gefasels verfolgte ihn von Beginn seines Schreibens an. Wichtigeres auf der Welt. In der Tat, das gab es. Er erlebte es seit fast einem Jahr mit Sara. Aber das Unwichtige, mit dem August Sternberg das Geld verdiente, war es schließlich, das diese zehn Monate erst möglich gemacht hat. Nicht nur deswegen fand er den Einwand unsinnig. Alles Unwichtige war wichtig und alles Wichtige war zugleich unwichtig. Seit sie zusammen dem Sommer hinterher reisten, hatte er keine Nachrichtensendung ganz gesehen, die paar Zeitungen, die er gelegentlich mitnahm, langweilten ihn von der ersten Schlagzeile an. Alles, was dort stand war unwichtig für sie. Mehr noch, er konnte sich nicht mal eine Welt vorstellen, in der diese Dinge einmal wichtig gewesen waren. Was ihn dagegen jeden Tag sehr interessierte, war der Abdruck von Saras Füßen auf dem alten, hellroten Ziegelboden in der Cabana. Schon ihr langsames Verschwinden von den Rändern her bereitete ihm Unwohlsein. Wichtig war der Klang seines Namens in ihrem Mund, die lang anhaltende Kühle ihres Hinterns nach dem Schwimmen, die er vertreiben musste, wichtig war der Pfad, den sie zum Meer nahmen ohne am Touristenparkplatz vorbei zu müssen, wichtig war blühender Hibiskus vor ihrem Fenster, der jeden Tag schon seine Blüten öffnete, während sie noch schliefen.

Ihre Telefone hatten sie früh, in der vierten oder fünften Woche, ins Meer geworfen, das war noch in Sorrent. Erst sie und dann gleich er, sonst hätte es komisch ausgesehen. Sie hatten nicht darüber gesprochen, aber der Grund war, dass sie die Anrufe in Abwesenheit nicht mehr ertrugen. Drei Anrufe in Abwesenheit, während sie erschöpft ein paar Stunden geschlafen hatten, zwei Anrufe in Abwesenheit, während sie auf die weite Sandbank vor der Stadt spaziert waren. Ein weiterer Anruf, während sie darüber berieten, wie lange sich hier im Frühling eine Ahnung vom verklingenden Tag am oberen Bildausschnitt hält. Länger als irgendwo sonst jedenfalls, so war es ihnen vorgekommen. Dann summte wieder eine Nachricht bei ihr ein und ohne zu lesen hatte sie das Telefon lachend in die Nacht geworfen.