Der restliche Sommer - Max Scharnigg - E-Book

Der restliche Sommer E-Book

Max Scharnigg

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Beschreibung

»Max Scharnigg schreibt kluge, magische, lichtdurchflutete, einzigartige Geschichten.« Mariana Leky Ein verliebter Stilkolumnist, der sich einen einzigen Fehltritt leistet. Ein mysteriöser Anschlag, der in Wirklichkeit ein Leben rettet. Und eine Frau, die sich plötzlich daran erinnert, wer sie einmal sein wollte. Geschichten von Liebe und Unbehagen - in einer Zeit, die grundsätzlich eine Zumutung ist.

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Seitenzahl: 288

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Max Scharnigg

Der restliche Sommer

Roman

Hoffmann und Campe

Teile dieses Romans sind entstanden in der Pensão Agrícola, Tavira, im Hotel Irma, Meran und im Hotel Adriatic, Ravinj.

Für J.

Paul

Für wen schreibst du, fragte sie, es war früher Nachmittag.

Für die Schatten der Orangenbäume, wollte er sagen. Nur damit sie die Zunge herausstreckte und so tat, als wäre sie von einer Kitschrakete getroffen worden. Für die Sirenen, wollte er sagen, denen er jetzt tatsächlich seit einer geraumen Weile zugehört hatte. Sie näherten sich in der Ferne und entfernten sich wieder in der Ferne. Unwahr kamen sie hier oben bei ihnen an, wie die Meeresbrandung auf einer Postkarte unwahr bei ihrem Empfänger ankommt. Diese Sirenen schienen ihm heute wie eine Warnung, ein vorsichtiger Hinweis, der ihm versichern sollte: Ja, Paul Neulich, es gibt noch Unglück in dieser Welt.

Ich schreibe für uns, sagte er. Keine ausgestreckte Zunge, aber auch keine Nachfrage.

Er hatte den kleinen Schreibtisch in den Schatten gestellt, den die breiten Fensterläden auf die Terrasse warfen. In den ersten Wochen war vom Meer noch ein kräftiger Westwind gekommen, und sie hatten die Fensterläden mit einem Strick an die Hauswand binden müssen, damit sie nicht wild schlugen. Ein paarmal waren sie ausgerissen, und das Geräusch, mit dem der Wind das schwere Holz dann an die Wand geworfen hatte, war das Wütendste, was sie auf ihrer ganzen Reise gehört hatten. Nach dem Wind war, von einem Morgen auf einen Nachmittag, die Hitze gekommen. Es war die Hitze, das war ihnen bald klar geworden, auf die der Ort gewartet hatte. Erst jetzt, wo die Tage von früh an gleichmütig hell ausgeleuchtet waren und über den Resten der Stadtmauer schon morgens die Luft flirrte, passte er genau zu seinem Schattenriss, hatten die Leben hier den rechten Takt und die Palmen in die gewünschte Trägheit gefunden. Erst in dieser breiten Sommerhitze bröckelten die kalkweißen Hausfassaden mit den immer müden Jalousien im richtigen Licht und nährten mit den herabfallenden Putzstücken die kleinen Bäume, die sich überall dort halten konnten, wo die Gassen einen scharfen Knick machten, so scharf, dass das Steinpflaster mürbe aufgerissen war und ein bisschen Erde freigegeben hatte.

Schatten war von nun an das Wichtigste, und die Einheimischen suchten ihn mit dem Instinkt von Tieren. Sie verschwanden tagsüber, hielten ihren Sommerschlaf in den dunklen Wohnhöhlen ihrer Vorfahren, verraten höchstens durch ein Pfannenklappern oder einen leise gestellten Radiosender mit Tanzmusik. Wer jetzt noch in den gleißenden Straßen mit dem Pflaster aus kleinen Steinen herumging, war Tourist. Je wärmer und farbloser die Tage wurden, desto mehr Besucher kamen. Sie führten mit ihrer Vorstellung von einer südlichen Kleidung ganz andere, synthetische Farben in den Ort ein, ließen sich dazu in sieben Tagen Arme, Beine und Hals röten und die Haarspitzen von Meerwasser und Sonne bleichen. Der Stamm der Urlauber, so schien es Paul, kam eigentlich kaum mit dem Stamm der Einheimischen in Berührung. Die Gruppen bewohnten den kleinen Ort in zwei getrennten Schichten, die sich nur gelegentlich zur Geldübergabe trafen. Die Gesichter der Einheimischen, hatte Sara in der erste Woche gesagt, haben so viele Falten, weil sie den Schatten so dringend brauchten. Er hatte nichts gesagt, aber eigentlich war er fest überzeugt, dass es doch eher das Meer war, das sich darin niederschlug. War es nicht jahrhundertelanges Hinaussehen und Augenkneifen, das diese Furchen aufwarf?

Sie hatten sich gestritten, erst heute Morgen. Es war einer jener Streits gewesen, bei denen sich zwei Menschen aus einer Laune heraus daran erinnern, dass sie vor nicht allzu langer Zeit noch Inhaber eines eigenen Lebens gewesen waren und ganz frei in ihren Entscheidungen. Frei im sinnlosen Herumstreifen am frühen Morgen, frei, am Vorabend das Lächeln des jungen Hutverkäufers zu erwidern. Frei auch im Liegenbleiben, obwohl die Signora schon zweimal vernehmlich mit ihrem Putzwagen gegen die Tür der Cabana gefahren war, in jenem besinnungslosen Unverständnis, das die ganze Welt Liebenden nach elf Uhr morgens entgegenbrachte. Nicht einer davon, eine Verdichtung aus allen diesen Momenten war der Anlass für ihren Streit gewesen, wie eine gemeinsam aufkochende Verstimmung, die in ein lustloses, aber doch akribisches Berechnen aller kürzlich erlittenen Ungerechtigkeiten mündete, das sich über Mittag und ihre Kaffeetassen hinweg fortgesetzt hatte, wenn auch mit anderen Mitteln. Sie hatten dann geschwiegen und gegenseitig so getan, als gäbe es hinter dem anderen etwas zu erkennen, als würde sich in seinem Rücken schon etwas abzeichnen, das ihn ersetzbar machte. Dazu gehörte es, später auf dem Markt unvermittelt in Seitenwege abzubiegen, ohne den anderen am Arm zu ziehen, und nicht auf ein Wort der Zustimmung zu warten, bevor sie den Händlern etwas abkauften. So war der ganze kleine Markt von Tavira Zeuge ihrer Verstimmung geworden und hatte dabei gute Geschäfte gemacht. Sie waren beide schlechte Schauspieler.

Als sie wieder oben bei der Cabana angelangt waren, Tomaten, Artischocken, zwei Doraden und zwei Kilo Boshaftigkeits-Bananen, die sie gekauft hatte, denn er ertrug den Geruch bei Hitze nicht, hatte die Signora ihre Bettlaken zum Lüften über die Hängematte geworfen. Die Einsamkeit ihrer sanft schwingenden Decken, ein Anblick wie Schlagsahne vor den alten Weinstöcken. Alles war in diesen Laken und nichts, als hätte die Sonne alle Spuren gebleicht und die Decken neu aufgeladen. Das schwebende Bett war die Wende an diesem Tag gewesen, und beide wussten es.

Er hatte zugesehen, wie sie erst die Einkaufstaschen auf den Boden und dann sich Kopf voran in die sonnenwarmen Decken und Kissen fallen ließ, zugehört, wie sie so baumelnd ihr Lied vom Fußballtorwart Theodor in den Stoff sang, eine Angewohnheit, die mehr Geräusch als wirkliches Lied war. Und er hatte ihre erwartungsvolle Stille danach absichtlich lange verstreichen lassen. Dann hatte sie laut Octopodes! gesagt, aber was sie eigentlich sagen wollte, war: Beachtung, jetzt. Gestern beim Essen waren sie sich uneinig gewesen, wie die Mehrzahl von Octopus lautete, Octopusse ja wohl nicht, und er hatte schließlich Octopoi vorgeschlagen.

Aber es ist griechisch, sagte sie jetzt triumphierend, immer noch in die Decke. Kein lateinischer Plural! Ist das deine große humanistische Bildung, dass du nicht mal Latein von Griechisch unterschieden kannst, ha? Sie lachte, und er musste die Hängematte mit beiden Händen auseinanderziehen, in die sie eingewickelt war wie ein Fisch im Netz. Musste sie auf eine Stelle an ihrem Nacken küssen, gleich unter den Haarflaum, und spürte dabei, wie ihr Lachen ganz nah an seinen Lippen vorbeipurzelte. Es war eine Stelle, die er sich früh gemerkt hatte, etwa so früh, wie man sich die entscheidende Straßenkreuzung auf dem Weg in ein neues Zuhause merkte. Von dieser Stelle an ihrem Hals, das wusste er, ging es für ihn immer weiter. Sie liebten sich schwankend und hastig in dem fliegenden Bett, die beiden Orangenbäume standen davor wie schamhaft abgewandte Passanten, aber nur so lange, bis sie lachte: »Es geht nicht, es geht nicht.« Dann nahm er sie und zog sie wortlos und ohne sich umzusehen, hinein zu ihrem Bett, das ohne die Decken ganz kahl im hellen Nachmittagslicht stand. Darauf breitete er sie in aller Seelenruhe aus, bis jeder Winkel ihres Körpers ausgeleuchtet war und sich mit Wärme vollsaugen konnte.

Später hatte sie gefragt, für wen schreibst du? Und er hatte gelogen. Nicht ganz, denn natürlich schrieb er für sie beide, seit sie unterwegs waren. Es waren die Honorare für die Ratgeber-Kolumne, die seit zwölf Jahren regelmäßig auf sein Konto flossen, ein unerschütterlicher Viervierteltakt, der ihm in seinem vorherigen Leben schon eine Wohnung zur Hälfte bezahlt hatte und ein oder zwei Autos und der sie beide nun schon fast ein Jahr voranbrachte, von einem Meer zum nächsten. Wenn diese Lebensader eines Tages endete, würde er nicht mehr August Sternberg sein, nicht mehr der geheimnisvolle Benimmlehrer und Gentleman im Stil-Teil des Magazins, den er Woche für Woche für die Leser auf siebzig Zeilen gab, wie ein Straßenkünstler in Florenz den Vivaldi gab. Bei ihm waren keine Perücke, Geige und Tonband zur Verwandlung notwendig, sondern lediglich der alte Rechner und eine kleine Handbibliothek mit versnobten britischen Adels- und Etiketteführern plus seiner gespielten hochnäsigen Strenge. Deutschlands Benimm-Papst Nummer 1, so warb das Heft mit ihm.

Also, August Sternberg würde ihm nicht fehlen, wenn irgendwann das Ende für die Kolumne kam. Auch nicht die Zuschriften der Leser, die immer entweder unerträglich unterwürfig waren und sich von ihm am liebsten jeden Gang zur Toilette (»Wie erklären Sie die Skepsis der Deutschen in Sachen Bidet, lieber Herr Sternberg?«) als stilistisch korrekt absegnen lassen wollten. Oder ihm wie Jagdtrophäen gesammelte Anzeichen der verrohten Gegenwart vorlegten (»Wäre nicht die Unsitte des Telefonierens in den Speedtrains ein treffliches Thema für Ihre Kolumne, hochverehrter Herr von Sternberg?«). Natürlich gab es mindestens genauso viele Leserbrief-Schreiber, die getroffen um sich beißen mussten und Briefe voller Unterstellungen schrieben, wonach es mit Herrn Sternbergs Noblesse oder seiner Weltläufigkeit ja nicht weit her sein konnte, wenn er dieses oder jenes zu erwähnen vergaß, in Heft 14 auf Seite 50, in seiner sogenannten Kolumne. Und überhaupt, es gäbe doch wohl Wichtigeres auf der Welt als dieses hochwohlgeborene Gefasel. Die Redaktion war so nett, die meisten dieser Briefe nicht an ihn weiterzuleiten.

Der Vorwurf des Gefasels hatte ihn von Beginn seines Schreibens an verfolgt. Wichtigeres auf der Welt. In der Tat, das gab es. Er erlebte es seit fast einem Jahr mit Sara. Aber das Unwichtige, mit dem August Sternberg das Geld verdiente, war es schließlich, das diese zehn Monate erst möglich gemacht hat. Nicht nur deswegen fand er den Einwand unsinnig. Alles Unwichtige war wichtig, und alles Wichtige war zugleich unwichtig. Seit sie zusammen dem Sommer hinterherreisten, hatte er keine Nachrichtensendung ganz gesehen, die paar Zeitungen, die er gelegentlich mitnahm, langweilten ihn von der ersten Schlagzeile an. Alles, was dort stand, war unwichtig für sie. Mehr noch, er konnte sich nicht mal eine Welt vorstellen, in der diese Dinge einmal wichtig gewesen waren. Was ihn dagegen jeden Tag sehr interessierte, war der Abdruck von Saras duschnassen Füßen auf dem alten hellroten Ziegelboden in der Cabana. Schon ihr langsames Verschwinden von den Rändern her bereitete ihm Unwohlsein. Wichtig war der Klang seines Namens in ihrem Mund, die lang anhaltende Kühle ihres Hinterns nach dem Schwimmen, wichtig war der Pfad, den sie zum Meer nahmen, ohne an der Straße entlangzumüssen, wichtig war blühender Hibiskus vor ihrem Fenster, der jeden Tag schon seine Blüten öffnete, während sie noch schliefen.

Ihre Telefone hatten sie früh, in der vierten oder fünften Woche, ins Meer geworfen, das war noch in Sorrent gewesen. Erst sie und dann gleich er, sonst hätte es komisch ausgesehen. Sie hatten zwar nicht darüber gesprochen, aber der Grund war, dass sie die Anrufe in Abwesenheit nicht mehr ertrugen. Drei Anrufe in Abwesenheit, während sie erschöpft ein paar Stunden geschlafen hatten, zwei Anrufe in Abwesenheit, während sie auf die weite Sandbank vor der Stadt spaziert waren. Ein weiterer Anruf, während sie darüber berieten, wie lange sich hier eine Ahnung vom verklingenden Tag am oberen Bildausschnitt hält. Länger als irgendwo sonst jedenfalls, so war es ihnen vorgekommen. Dann war wieder eine Nachricht bei ihr eingesummt, und ohne zu lesen, hatte sie das Telefon lachend in die Nacht geworfen.

Erst als sein Gerät schon eine Weile mit einem schmalen Geräusch in der Brandung verschwunden war, war ihm eingefallen, dass damit nahezu alles versenkt war, was ihn mit der Welt verbunden hatte. Alle Nummern und die Nachrichten waren darauf gespeichert gewesen, auswendig kannte er nur den alten Anschluss seiner Mutter, weil der noch aus einer Zeit stammte, als man sich Nummern merkte. Sein Steuerberater, seine Redaktion, der Verlag seiner Bücher, die gesammelten Vermieter ihrer Appartements und Ferienhäuser, die paar Freunde und auch Sonja würden unter seiner Nummer fortan nichts mehr hören. Oft hatte er als August Sternberg schon über die Tugend des analogen Merkens geschrieben und über die wahre Liebenswürdigkeit desjenigen, der nicht alle Geburtstage oder Adressen an sein Gerät ausgelagert hat. Was das betraf, hatte er allerdings nie auf die eigene Predigt gehört, sondern fleißig weitergesündigt, wie alle anderen auch. Das tat er übrigens oft. Wenn ihn die Menschen bei Lesungen darauf ansprachen, dass seine Hemdmanschetten nicht ganz in der richtigen Länge über den Sakkoärmel ragten oder er wider besseres Wissen das Gürtelleder nicht korrekt mit seinen Schuhen abgestimmt hatte, hatte er es sich angewöhnt, die vorsichtigen Nachfragen mit einer lässig in die Richtung des Anklägers geworfenen Hand abzukürzen und alles zur schelmischen Absicht zu erklären. Was soll’s? Ärzte rauchten auch alle.

Er hatte also in Wirklichkeit viel weiter geworfen als nur die etwa neun Meter, die er schaffte, wenn er in dem anderen Arm Sara hielt. Darüber war er auf ihrem Rückweg durch das Gischtdunkel ein paar Minuten erschrocken gewesen. Dann aber hatte Sara etwas vom Salzwasser gesagt und dass es bei allen wichtigen Dingen im Leben dabei wäre, als Tränen, als Meer und noch irgendwas, das er heute vergessen hatte. Und schon davor hatte er sein ertrunkenes Telefon vergessen. Wie viele solcher Nächte am Strand hatte es seither gegeben. Wie viele Wellen waren seither an ihren Füßen ausgelaufen. Und jede einzelne war nichts als die Vorbereitung auf die nächste, so wie jeder Tag mit Sara nichts war als die Verheißung auf den nächsten.

Es wäre also vor allem das auf sein fernes Konto tropfende Geld, das ihm ohne Ratgeber-Kolumne und August Sternberg fehlen würde. Dieser Gedanke beschämte ihn. Fast wie jemanden, der vor lauter Hoffen auf eine Erbschaft den Verwandten vergisst, der sie mit seinem Weiteratmen noch verzögert. Aber so sind Menschen vermutlich, und warum sollte man vor sich selbst vornehmer sein, als man ist?

In den Jahren, seit denen er fast ausschließlich die Texte für die Kolumne schrieb und in die Redaktion schickte, hatten sich diese Redaktion, das Heft und damit wohl auch sein Beruf verändert. Wie und aus welchen Gründen, das hätte er gar nicht genau sagen können. Er hatte gemerkt, dass sich die Absender auf den Rechnungsbelegen alle paar Jahre geändert hatten. Aber das hatte am Ergebnis so wenig geändert wie die immer schneller wechselnden Redakteure, die ihn betreuten. Er galt als pflegeleicht, was nichts anderes bedeutete, als dass er nichts dagegen hatte, wenn man eine Wortwiederholung tilgte oder aus einem Relativsatz zwei Hauptsätze machte. Das Magazin selbst hatte rund um die Sternberg-Kolumne mehrere neue Formate ausprobiert und dabei eine ganze Mannschaft an Art-Direktoren und stellvertretenden Chefredakteuren verbraucht, und sogar der Verlag hatte zweimal den Besitzer gewechselt. Wenn Paul es heute in die Hand nahm, kam ihm das Heft leichter vor, irgendwie flatternder, und die Seiten waren gleichzeitig voller und leerer als früher. Aber das war vielleicht auch nur, weil er es sich als August Sternberg angewöhnt hatte, alles Neue ein bisschen verdächtig zu finden. Gelegentlich musste er nachts darüber nachdenken, wie sie in der Redaktion mittlerweile wohl über ihn sprachen. Saßen jeden Monat Menschen an den Konferenztischen, die bei dem Namen August Sternberg gespielt nachsichtig lächelten und ihn insgeheim für ein Fossil hielten, das fragwürdig lange mitgeschleppt wurde? Diese Fragezeichen ließen ihn in schlechten Nächten wach bleiben. Er war 45 Jahre alt, viel zu jung, um schon Fossil einer journalistischen Übergangszeit zu sein, die offenbar nicht schnell genug verscharrt werden konnte. Viel zu jung, um mit einer Kolumne im Arm beerdigt zu werden. Aber auch zu alt, um noch in eine Redaktion zurückzukehren, in der sich alles verändert hatte. Sobald er auf Kollegen traf, was er im Allgemeinen zu vermeiden suchte, fingen sie sofort an, über diese Veränderungen zu sprechen. Nichts war dabei offenbar wichtiger, als ihm gründlich die Augen zu öffnen, dem Außenstehenden mit dem großen Namen und dem alten Vertrag. Ihre mittelfristigen Visionen, in denen es wahlweise keine Zeitungen, kein Papier oder keine Autoren mehr gab, enthielten bei allem breit gestreuten Schrecken immer nur eine Konstante – sie selbst, die so wissend davon berichteten, konnten nichts dafür und sahen auch noch keinen unmittelbaren Handlungsbedarf. Sie raunten nur hinter vorgehaltener Hand. Weil sie wussten, einer wie August Sternberg, der jede Woche als Honorar das einstrich, was ein Volontär heute im Monat bekam, musste jegliche Veränderung als ungünstiges Vorzeichen für seine Zukunft deuten. Diesen Gefallen tat er ihnen nicht, zumindest nicht, solange sie neben ihm standen. Wenn sie sich entfernt hatten, mit ihren übergroßen Sakkos, sorgte er sich natürlich doch.

Als Sara gefragt hatte, schrieb er nicht an einer Kolumne. Er antwortete vielmehr auf eine ungewöhnliche Nachricht aus seiner Redaktion, genauer des Ressortleiters Wulfstedt. Der darin zu wissen wünschte, warum die Sternberg-Kolumne in letzter Zeit so spürbar an Biss verloren habe, als ob es darauf eine klare Antwort gäbe wie: Es hat eben zu wenig geregnet.

Tatsächlich hatte er das Wort »spürbar« verwendet, und dann waren in dem Schrieb auch noch die Begriffe »zahnlos« und »wischiwaschi« vorgekommen. Letzteres hatte der Themenauswahl gegolten. Die Redaktion schickte jeden Monat eine Auswahl aus Leserfragen und aktuellen Heftthemen, und Paul war es dann überlassen, wozu August Sternberg sich äußerte oder ob er lieber ein paar selbsterforschte Knitterfalten im Verhalten seiner Mitbürger aufbügeln wollte. An diesem Vorgehen hatte es in den letzten Jahren nie irgendwelche Kritik gegeben, geschweige denn so etwas Groteskes wie ein »wischiwaschi«. Nicht nur deswegen war die Frage von Wulfstedt eine Überraschung gewesen, auch der Tonfall dabei kam Paul unnötig angespitzt vor. So schrieb man vielleicht die zweite oder dritte Ermahnung in einer Sache, aber sicher keine erste vorsichtige Anregung an eines der wenigen Aushängeschilder, die das Heft noch hatte. Erst war er erschrocken und dann verärgert gewesen. Nicht wegen Wulfstedt, sondern vor allem grundsätzlich, weil es da nun ein Störgeräusch gab, das seine Aufmerksamkeit von Sara abziehen wollte. Es war, als hätte ein missgünstiger Kellner im Restaurant den Stuhl auf den Nachbartisch gestellt, obwohl man gerade noch eine Flasche Wein bestellt hatte. Deswegen hatte er die Fragen lange unbeantwortet in seinem Rechner gelassen. Als Verdauungszeit gewissermaßen und um Wulfstedt zu signalisieren, dass seine Trillerpfeife nicht bis hierher reichte. Und deswegen auch hatte er Sara nicht gesagt, was er an diesem Nachmittag vor der Cabana eigentlich schrieb. Eine Antwort nämlich, in der das Schwierigste war, ihr eine gewisse Gleichgültigkeit zu verleihen. Sonja hätte er vielleicht davon erzählt, aber was hätte Sara schon damit angefangen? Sie war so weit weg von einem Wulfstedt, den er als großen, etwas windschiefen und unendlich trockenen Mann in Erinnerung hatte.

Der Abend kündigte sich jetzt mit einer ersten leichten Veränderung aller Farben an, die Konturen der weißen Häuser kanteten für eine kleine Zeitspanne noch schärfer in den blauen Himmel, der Blick klarte sich ohne das Hitzeflimmern kurz auf, bevor alles wieder in den sanften Sirup des Abends getaucht und endlich darin aufgelöst wurde. Bürgerliche Dämmerung, dachte er. Er mochte dieses System, seit er irgendwo davon gelesen hatte. Bürgerliche, nautische, zuletzt die astronomische Dämmerung. Die Sterngucker als diejenigen, die immer noch etwas sehen, wenn die Bürger schon ins Bett getappt waren, so hatte er sich das immer gemerkt, aber niemals richtig nachgeschlagen. Noch dämmerte es also bürgerlich, und so fühlte er sich auch. Der warme Wind trug ihnen jetzt vernehmlich das Rauschen der Dünung zu, mit ihm stiegen Möwen auf, und gelegentlich verfiel eine von ihnen in ihr hämisches Gelächter, als hätte sie unten etwas entdeckt, über das man sich nur wundern konnte. Die Vögel ließen sich so jeden Abend noch ein paar Stunden lang heben und senken. Nichts gab es für sie hier hoch über dem Ort zu holen, nicht als ein bisschen Aufwind und die Aussicht.

Er vermutete, der Ressortleiter Wulfstedt hatte bestimmt schon länger nicht mehr auf einer portugiesischen Terrasse im Schatten von alten Fensterläden gesessen. Und sicherlich noch nie neben einer Frau, die gerade gleichzeitig ihre gesammelten Muschelschalen von gestern sortierte und die Artischocken putzte und von der man auch bei längerer Betrachtung nicht genau hätte sagen können, welche von beiden Tätigkeiten sie mit mehr Hingabe versah.

Nach den Artischocken gingen sie noch hinunter zum Kiko’s. Kikos Tapas war, nach allen Dingen, die mit Sara zu tun hatten, vielleicht das Beste, was ihm in diesem letzten Jahr passiert war. Kiko selbst war eine winzige Portugiesin, deren Gesichtszüge in den letzten dreißig Jahren unter einer Naturgewalt erodiert waren, die mit Lachen nicht ganz ausreichend beschrieben ist. Kiko war das Lachen, sie musste heute dafür keine Miene mehr extra verziehen. Ihr kleines Restaurant lag auf der Kehrseite des Hafens, dort, wo wirklich Fischkutter anlegten und nicht nur die Delphinboote und Ausflugsyachten, wo getankt, beladen und Dinge ins Hafenbecken entleert wurden, die in kein Hafenbecken gehörten. Weil ein paar Reiseblogs berichtet hatten, was jeden Abend in Kikos Küche passierte, sah man täglich eingecremte Paare zwischen den aufgebockten rostigen Schiffsrümpfen herumirren. Hausnummern gab es nicht, und die Navigationssysteme in den Telefonen wähnten ihre Besitzer hier schon längst in Seenot.

Ein Blick auf die winzige Wandtafel, auf der Kiko die Tagesgerichte notierte, sagte ihm, dass der Tag, der mit dem kleinen Streit begonnen hatte, mit einer Cataplana enden würde, die auch den Nahostkonflikt beilegen könnte. Das einzig Bedauerliche war, dass Kiko jeden Monat noch einen kleinen Tisch mehr in den Raum zwängte. Nicht aus kaufmännischem Kalkül, sondern weil es ihr leidtat, jeden Abend ein Dutzend Paare wieder hungrig zurück ins Hotel schicken zu müssen. Neben ihnen platzierte sie in diesem neuen Flüsterabstand ein junges Paar, das kaum gesetzt, überhaupt nicht flüsternd, dafür aber mit hessischem Dialekt die erste Einschätzung der Situation vornahm, in einer Lautstärke, als würden sie auf zwei Eisschollen auseinandertreiben.

»Hu, is ja echt winzig hier, aber schon irgendwie voll die Hafenkneipe, oder? Das muss ich gleich mal der Moni schicken. Faggey, mein Guthaben ist schon wieder weg.« So fiel es stückig und unvollständig aus der jungen Frau, während ihr Kopf hennenhaft herumruckte. Paul war fasziniert. Es war ihm schon oft aufgefallen, dass die Urlauber, die ihnen hier begegneten, ganz egal ob Briten oder Deutsche, die Fremde mit einer unerschütterlichen Distanzlosigkeit nahmen und sich mit der Direktheit von Abrissbirnen bewegten. Sie schienen stets einer Kompassnadel zu folgen, die immer nur in eine Richtung zeigte: auf sie selbst. Oder bei jungen Paaren eben bisweilen auch: auf sie beide. Vielleicht brauchte man solches Benehmen, an den Frühstücksbuffets der großen Hotels oder im Labyrinth der Sonnenliegen? Vielleicht aber war es auch gar kein Symptom des Urlaubs, sondern allgemein eines der nachrückenden Jugend. Falls er je in direkte Konkurrenz zu einer dieser weitgehend ungehemmten und zielstrebigen Personen treten müsste, würde er jedenfalls hoffnungslos den Kürzeren ziehen, das wusste Paul Neulich. Er wäre so hilflos unterentwickelt wie ein Schmetterling auf einem Flugzeugträger, und kein britisches Etikettebuch könnte ihm dabei helfen.

Der junge Mann am Nachbartisch aber tat ihm leid, das war an diesem Abend nach wenigen Minuten klar. Nicht, weil er sich unter der breiten Standortanalyse seiner Freundin duckte wie ein Hund, der in rhythmischen Abständen mit dem Kopf wackelte, sondern weil Paul sich selbst in diesem vielleicht 22-jährigen Gesicht erkannte. Eigentlich sollten sie Warnhinweise auf junge Gesichter kleben: Achtung, könnte Spuren Ihrer eigenen Geschichte enthalten.

Tin

Das Aufstehen gehörte schon unter normalen Umständen nicht zu seinen Stärken. Er war eigentlich immer eher für das Liegenbleiben gewesen. Schon beim Schulfußball war er, wenn ihn einer gelegt hatte, so lange am Boden geblieben, bis der Sportlehrer nachsehen kam. Eine ganze Weile hatte er aber dann als Erwachsener dem Drang, liegen zu bleiben, erfolgreich widerstanden. War mit den anderen aufgestanden und hatte wie sie mindestens 14 Stunden in der Vertikalen verbracht, stehend in der U-Bahn, dann im Büro an den Stehtischen, die sie in ihrer Firma als Innovation für alle eingeführt hatten und nicht nur für die Rückenkranken. Abends dann noch in der Innenstadt, da wurde von ihm erwartet, an improvisierten Tresen rumzustehen oder sogar zu tanzen, was seiner Erfahrung nach ohnehin die undurchsichtigste und auch gefährlichste Form des Aufrechtseins war.

Seit Sara ihn aber gefoult hatte, war er einfach wieder häufiger liegen geblieben, nur war niemand nachsehen gekommen. Eigentlich war es das Einzige, was seitdem in seinem Leben neu war. Und natürlich eine ganze Menge Sachen in Kartons, die er sich bestellt hatte, aber das zählte wohl nicht. Würde er je von einem Segelboot in einen Ozean fallen, würde er sich langsam hinabsinken lassen, bis auf den Grund, und weiterliegen. Warum auch nicht? Tin Hasenglock war nicht mehr der Mann, sich gegen die Schwerkraft aufzulehnen. Und wenn er in den elf Monaten, seit Sara ausgezogen war, nennenswerte Fähigkeiten trainiert hatte, dann höchstens im Erkennen von aussichtslosen Kämpfen.

Er schätzte aber, so, wie die Dinge jetzt standen, würden auch all die notorischen Aufsteher und Aufrechtsitzer, aus denen die Welt bestand, erst mal liegen bleiben. Er war nach dem Schlag ein paar Meter durch die Luft geflogen. Möglicherweise würde sich in seiner zukünftigen Erinnerung auch ein greller Lichtblitz dazu finden, aber das hatte noch Zeit. Jetzt lag er jedenfalls, jetzt hatte es ihn erst mal erwischt. Die Abfertigungshalle war bis zu ihm hinunter gleichmäßig hell ausgeleuchtet, trotzdem konnte er durch das Stahldickicht des gekippten Gepäckwagens über ihm nicht viel erkennen, er war wie ein fixiertes Tier im Käfig, in der Bewegung verkeilt. Er konnte aber sehen, dass er und der Wagen direkt unter einem Schalter von LOT Airlines lagen. Und als Nächstes fiel ihm auf, dass er es schon seit einigen Minuten geschafft hatte, nicht das Geringste an der Position zu verändern, in der er aufgewacht war, solides Liegetraining zahlt sich jetzt aus, dachte er. Die Fluglinie sagte ihm nichts, kein Land, das man von der Abkürzung ableiten könnte. Ganz wach, aber immer noch zwangsgefaltet, blieb er so am harten Sockel des Schalters liegen und beließ es erst mal dabei, bis ihn ein kleines Geräusch am Handgelenk erreichte.

»Der Sale-Hammer. Sparen sie 70 % auf Gartengeräte der Marke Ryobi«, dazu tanzende Dollarzeichen, ein hektisch und nonstop aufklappendes Geschenk, und darunter erschien der Vermerk Gelesen: 9.47 Uhr. Mehr als die Reihenfolge der Worte berührte ihn dieser Zeitstempel. Gelesen. Das meinte ihn, das war sein erstes eigenes Tun nach dem großen Knall. Er versuchte intensiv an seinen Körper zu denken, was ihm schon sonst schwerfiel, in dieser Position war ihm das alles noch fremder. Da war so ein Klangschatten in seinen Ohren, es hörte sich an, als würde von weit ein schwaches Echo durch die Halle jagen, mal etwas näher zu ihm hin, dann wieder weit hinten. Wahrscheinlich die Trommelfelle, dachte Tin Hasenglock. Aber wenn schon. Die Ohren brauchte er von allen Infogeräten eigentlich am wenigsten. Er fixierte noch mal die Verlaufsform Gelesen: seines Gerätes. Es war die amtliche Bestätigung dafür, dass er die Druckwelle überlebt hatte, sogar schon wieder – Gelesen! – etwas von einem Bildschirm ablesen konnte, was in seiner Ordnung wiederum gleich nach dem Atmen kam. Bis auf das Echorauschen war es still, beinahe friedlich. Wenn es so war, dachte er, konnte er auch ein bisschen seinen siedenden Kopf aufräumen. Die Bestandsaufnahme war schnell gemacht. Er lag hingeworfen an der Stelle, an die die Gäste von LOT-Airlines wohl sonst mit dem letzten Fußtritt ihr Gepäck zu befördern pflegten, bevor es aufs Band kam. Daran war zwar nichts in Ordnung, aber immerhin, er war hier. Und rumliegen war zwar ähnlich, aber doch noch deutlich besser als tot sein. Das hatte er immer gewusst, aber niemals so deutlich empfunden wie jetzt auf dem seltsam hellen Marmor des Flughafens. Verlegten sie wirklich Marmor als Fußboden in einer riesigen Halle wie dieser, war das jemals jemandem aufgefallen? Er kalkulierte zerstreut ein bisschen mit Quadratmetern und Steinbrüchen. Beim Gedanken an die schiere Menge kalten Steins stieg in seinem Körper das große Frösteln auf und das Verlangen, sich zusammenzurollen. Aber dazu hätte er den Gepäckwagen verschieben müssen, und das wagte er nicht. Er versuchte, ruhig zu atmen, bekam dabei aber beängstigend wenig Luft. Bei jedem neuen Luftholen, es war eher ein Luftansichreißen, registrierte er ein nagendes Gefühl an seiner linken Mitte, so unerhört körperlich und nah, dass er ihm lieber nicht mehr Aufmerksamkeit schenken wollte. Aus Furcht, es wäre dort etwas, das ihn gleich noch umbrachte, innere Verletzungen, wie es immer in den Berichten stand. Er hatte mal in einer dieser blutigen Berufsmonographien von der Bestsellerliste (Tot im Stau. Notärzte erzählen) gelesen, dass Körper im Schock eine ganze Weile unter Spannung stehen können und die Organe für diese Zeitspanne noch weitermachen, bevor sie schließlich doch den letzten Halt verlieren und auslaufen. Wie ein Kabel, das lose in seinem Eingang steckte, in einem Moment noch funktionierte und dann ganze Netzwerke lahmlegte, er hatte das oft erlebt in ihrer Firma. Wie viele seiner Stecker waren auf diese Art gelockert worden, durch den Schlag und seine Bewusstlosigkeit in der Abfertigungshalle? Er sah nicht nach links unten, er bemühte sich, mit dem Arm dort nicht entlangzustreifen, überhaupt keine Bewegung, das war wohl das Beste. Er war nämlich nicht nur ein Liegenbleiber sondern auch ein Nichtgenauhinseher. Das war auch etwas, das ihm Sara einmal wie nebenbei mitgeteilt hatte. Aber erst hier unten, am Fuße von LOT, wurde ihm klar, dass sie damit vermutlich recht gehabt hatte.

Immerhin, das alles zu denken, in nahezu gewohnter Geschwindigkeit, trotz des halben Gepäckwagens auf dem Brustkorb, ließ ihn annehmen, dass es von hier aus wirklich weitergehen könnte. Er machte die Augen zu, aber er würde nicht mehr schlafen. Die Dunkelheit der Augendeckel war nur der einzige Rückzug, den er hier in diesem kaputten Hell um sich herum hatte. In ihrem Schutz malte er sich kurz all das aus, was jetzt kommen würde. Das war eine Form der Lebensplanung, die er in der letzten Zeit ziemlich ausgiebig betrieben hatte. Er projizierte dabei immer Filmsequenzen in Art jener zeitgerafften Zuversichts-Collagen an seine Augendeckel, mit denen sich sonst in Kinofilmen das aussichtslose Team zu einem hoffnungsvollen Team wandelte. Oder der eigentlich heruntergekommene Laden in eine Goldgrube. Bei Tin Hasenglock waren es allerdings Sequenzen, die immer damit anfingen, dass Sara vor seiner Tür stand oder sie beide sich unversehens irgendwo in gutem Licht begegneten (dazu hätte er vielleicht etwas häufiger aufstehen und vor die Tür gehen müssen, aber das blendete er aus). Dann folgte auf seinen Augendeckeln stets eine kurze, heftige Phase, in der er sich mitsamt seiner bemitleidenswerten Wohnung und Garderobe im Zeitraffer wieder zu einem hoffnungsvollen Angebot verwandelte, das Sara nicht ablehnen konnte. Am Ende wäre ihr Zusammensein nicht nur fester und inniger als je zuvor, die kleine Phase ihrer Trennung wäre auch genauso überwunden wie seine verdammte Liegesucht. Das waren seit elf Monaten seine Lieblingsfilme.

Von den Details seiner Rettung machte er sich bei der nun stattfinden Vorschau noch kein Bild, das schien ihm zu anmaßend. Aber das Danach, das konnte er sich gut vorstellen. Es begann mit Blaulichtschatten und sorgenvollen Gesichtern, die sich über ihn beugten. Dann folgte viel gutes Liegen, das sah er voraus. Sah sich in einem sauberen Krankenhauszimmer, besucht von Uniformierten und Mikrofonen, es würde förmliche Blumen geben und Vorzugsbehandlung, etwas später vielleicht öffentliche Auftritte und Talkshows und natürlich auch einige öffentliche Auftritte von Sara, die jetzt gar nicht anders konnte, als sich Sorgen um ihn zu machen. Wie viel Aufmerksamkeit er bekommen würde, hing natürlich auch davon ab, wie viele Überlebende sie hier insgesamt bleiben würden. War die Halle voller Menschen gewesen, wen hatte er überhaupt gesehen? Eine bummelnde Polizeistreife, ein älteres, vornehmes Paar mit einem elektronischen Gepäckshuttle neben sich und ein paar Mädchen, die alle die gleiche rosa Arbeitskleidung trugen und ihm entgegengekommen waren. Die rosa Mädchen waren das Letzte, woran er sich erinnerte, aber das war noch ein ganzes Stück vor den Schaltern gewesen, an denen er jetzt lag.

Wie auch immer es sich am Ende verhielt, seine Bio-Seite im Netz würde eine Menge neuer Besucher bekommen und er, Tin Hasenglock, fortan also einer sein, der einen der großen Anschläge überlebt hatte, inklusive Anspruch auf die komplette Anonymisierung, und zwar nicht nur, wenn er recht informiert war, im Netz, sondern auch in seinem Pass. Ha, dachte er, damit kam er dann vermutlich überall hinein. Oder nirgends, das wusste er jetzt nicht.

Es war auch egal, es war jedenfalls ein Neuanfang. Und ein Neuanfang war genau das, was ihm alle Netztherapeuten in den letzten Monaten geraten hatten, ohne dass einer zusätzlich auch dazugesagt hätte, wie man das macht. Bei Computern hatte er in den letzten Jahren Hunderte Festplatten defragmentiert, überschrieben und ausgetauscht, aber seine eigene Festplatte war immer noch voll mit Sara-Dateien. Wenn er in den letzten Monaten versucht hatte, sie zu löschen, hatte das in einem Absturz geendet. Am nächsten Morgen war dann alles immer noch da gewesen und er weiter zum Liegenbleiben gezwungen. Gleich nach der Trennung (er bevorzugte den Begriff Auszeit, den er in einem Frauenmagazin gelesen hatte) hatte er versucht, die Sara-Dateien einfach zu überschreiben. Das war aber etwa so gewesen, als würde jemand, der aus dem Fenster fällt, versuchen, gleich noch beim Supermarkt vorbeizufliegen. Er wollte aber unbedingt sofort Anna-Luise-Dateien daraus machen, das war eine Programmiererin aus seinem Team. Oder Barbara-Dateien, weil Barbara Dittmer zwei Stockwerke über ihm wohnte und er ihre Blumen gegossen hatte. Sie war damals sechs Wochen in Israel, um rumzureisen, wie sie an der Tür gesagt und dabei auf einen Rucksack hinter sich gezeigt hatte. Netterweise hatte sie über Tins Erscheinung und die Kartonstapel in seinem Flur kein Wort verloren. Er hatte also ihre Blumen gegossen, wobei die Hälfte davon irgendwelche Kakteen und damit so viel Zuwendung nicht gewohnt waren. Der Restbestand waren so gelbe und lila in Töpfen, wie sie seine Mutter im Frühling auch auf ihrer Terrasse pflanzte und Tin davon ein unscharfes Bild schickte. Sie blühten auch sehr schön auf dem Balkon von Barbara Dittmer im vierten Stock, aber niemand sah ihnen dabei zu, Tin selbst hatte nur Augen für den Gießstrahl und vielleicht das eine oder andere offen herumliegende Unterwäschestück, dass sich nicht für Israel qualifiziert hatte. Das Gießen lief ausgezeichnet, wenn man von den Kakteen absah. Er hatte sich regelrecht auf die Rückkehr der Barbara Dittmer gefreut und ein paar Tage lang die Sara-Auszeit-Sache richtig gut im Griff. Nur hatte ihm niemand gesagt, dass man als Singlefrau nach Israel fährt, um einen verwegenen, wortkargen Unterhemdträger mit nach Hause zu bringen, dessen Zähne und Augenbrauen eine eigene Postanschrift verdient hätten.