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Noch immer begegnen viele psychosoziale Fachkräfte digitalen Medien mit Skepsis. Dabei können sie Therapie und Beratung sinnvoll ergänzen – wenn sie richtig eingesetzt werden. Dieses Buch bietet eine fundierte Einführung in digitale Ansätze, erläutert aktuelle Forschungsergebnisse und präsentiert Best-Practice-Beispiele. Es zeigt, wie digitale Tools professionell, ethisch reflektiert und methodisch sinnvoll genutzt werden können. Datenschutz, Blended Therapy und Online-Interventionen stehen dabei ebenso im Fokus wie konkrete Fallbeispiele für den therapeutischen Alltag. Ein praktischer Leitfaden für alle, die digitale Medien bewusst und wirksam in ihre Arbeit integrieren möchten.
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Seitenzahl: 173
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Gerhard Hintenberger, Psychotherapeut, Supervisor und Lehrtherapeut für Integrative Therapie. Umfassende Publikations- und Lehrtätigkeit zum Themenfeld »Digitale Anwendungen in Psychotherapie und Beratung«. Herausgeber des e-beratungsjournal.net sowie Gestalter des Podcasts »Landschaftsgärtner:innen der Neurosen«. Internet: https://www.praxis-hintenberger.at.
Für Renate, die unter Pixel etwas ganz anderes versteht.
PraxisWissen
Gerhard Hintenberger
Digitale Ansätze in der
psychosozialen und
psychiatrischen Arbeit
Inhalt
Digitale Unterstützung: Warum denn nicht? Einleitung 7
Digitale Settingumgebungen 10
Grundlagen digitaler Medien 10
Schriftbasierte Kommunikation 11
Video- und audiobasierte Kommunikation 14
Hybride Kommunikation 17
KI-basierte Kommunikation 19
App-basierte Kommunikation 21
Setting als Intervention 22
Blended Counseling und Blended Psychotherapy 24
Ethik im digitalen Behandlungskontext 27
Konviviale Ethik 27
Prinzipienethik 30
Die Vielfalt digitaler Medien in der psychosozialen Anwendung 37
Offenheit durch Anonymität – der schriftbasierte Modus 37
Asynchron-schriftbasierte Beratung und Therapie 39
Synchron-schriftbasierte Beratung und Therapie 57
Interaktionsorientiertes Schreiben 62
Der messengerbasierte Modus in der Praxis 66
Sich zugewandt ansehen – der videobasierte Modus 72
Die vertrauensvolle Atmosphäre der Stimme – der audiobasierte Modus 79
Selbstwirksamkeit stärken – der appbasierte Modus 82
Conversational Experience mit einer Maschine – der KI-basierte Modus 86
Spezifische Herausforderungen im digitalen Behandlungskontext 94
Beziehungsgestaltung im Digitalsetting 94
Schriftbasierte Kommunikationskanäle 95
Videobasierter Kommunikationskanal 97
Unterstützung im Diagnostikprozess 99
Digitale Phänotypisierung 99
KI-gestützte Diagnostik 101
Digitalisierung der Symptomdokumentation 103
Digitale Unterstützung bei psychischen Problemen 105
Digitalbasierte Unterstützung am Beispiel von Depressionen 106
Digitalbasierte Ansätze bei Suchterkrankungen 108
Chatbots 110
Selbstmanagement- und Selbsthilfe-Apps 113
Ethische Herausforderungen 116
Suizidalität als Herausforderung in der Online-Beratung 118
Risikoabschätzung 118
Suizidprävention 120
Digitale Medien in der Behandlung von Jugendlichen und jungen Erwachsenen 128
Aufforderungscharakter digitaler Medien 129
Exzessives Medienverhalten 133
Digitale Medien im stationären Setting 138
Psychosoziale Beratung und Behandlung der Zukunft – eine Schlussbetrachtung 142
Ausgewählte Literatur 144
Anzeigen 158
Impressum 161
Digitale Unterstützung: Warum denn nicht? Einleitung
Viele Fachkräfte aus psychosozialen und medizinischen Berufsgruppen stehen digitalen Medien skeptisch gegenüber. Dies ist zunächst nicht verwunderlich, da in diesen Berufsfeldern eine intersubjektive Grundhaltung zentraler Bestandteil der Arbeit ist und technikgestützte Kommunikation eher als eine potenzielle Störquelle für zwischenmenschliche Begegnungen angesehen wird. Auch fehlt bislang eine umfassende Auseinandersetzung mit der Frage, wie eine zeitgemäße Anthropologie diesen Herausforderungen begegnen kann.
Gleichzeitig steht inzwischen allerdings eine breite Palette an digitalen Angeboten zur Verfügung, die gezielt für verschiedene Zielgruppen entwickelt wurden. Die Forschung in diesem Bereich hat sich enorm weiterentwickelt, sodass es zu vielen digitalen Anwendungen mittlerweile eine solide Datenlage gibt. Wer sich intensiver mit dem Thema beschäftigen möchte, findet in Fachzeitschriften und wissenschaftlichen Publikationen wertvolle Informationen. Besonders empfehlenswert sind das Open-Access-Journal www.e-beratungsjournal.net oder aktuelle Übersichtswerke wie Eichenberg & Kühne (2014), Engelhardt (2021), Knaevelsrud u. a. (2016) oder Müller (2023).
Die Idee, Beratung online anzubieten, reicht weiter zurück, als viele vermuten. Schon 1986, lange bevor das Internet zum Massenphänomen wurde, startete die Cornell University in den USA ein innovatives Projekt: »Dear Uncle Ezra«, benannt nach dem Gründer der Universität, Ezra Cornell. Die Grundidee dahinter war, ein niederschwelliges Beratungsangebot für Studierende aufzubauen. Die Initiatoren waren davon überzeugt, dass es den Betroffenen durch anonyme schriftliche Kommunikation leichter fiele, sich zu öffnen und Unterstützung anzunehmen (Grohol 2010). Da sich die Probleme der Studierenden oft ähneln, wurden sowohl Fragen als auch Antworten in Auszügen auf der Plattform veröffentlicht. Dies war eine kluge Entscheidung, denn so konnten nicht nur die Ratsuchenden profitieren, sondern auch andere Studierende, die mit ähnlichen Schwierigkeiten zu kämpfen hatten. Die öffentlich zur Verfügung gestellten Fragen und Antworten hatten somit eine präventive und informative Wirkung für die gesamte Community.
Auch im deutschsprachigen Raum gibt es eine lange Tradition digitaler Beratung. Die Telefonseelsorge beispielsweise bietet bereits seit 1995 schriftbasierte Online-Beratung an und gehört damit zu den Pionieren auf diesem Gebiet (Knatz 2014). Online-Beratung existierte also schon lange vor der COVID-19-Pandemie, auch wenn diese zu einem sprunghaften Anstieg und einer Verbreiterung des Anwendungsspektrums führte.
Stefan Kühne (2009) beschreibt in einer Adaption des organisationstheoretischen Modells von Tolbert und Zucker Institutionalisierungsprozesse digitaler Beratungsangebote entlang von drei Phasen. Die Pionierphase (Habitualisation) wurde bereits hinter sich gelassen. Auch die Vor-Institutionalisierung (Objectification), die durch systematische Reflexionen und erste Best-Practice-Beispiele gekennzeichnet ist, kann als abgeschlossen betrachtet werden. Die theoretischen Grundlagen sind in der Zwischenzeit breit gefächert und das Wissen wird zunehmend objektiviert. Die vollständige Institutionalisierung (Sedimentation) ist nahezu erreicht und manifestiert sich in der Quantität und Qualität von Forschungsergebnissen, Publikationen und Leitlinien sowie in der Abnahme an De-Institutionalisierungsprozessen. Digitalbasierte Unterstützungssysteme im psychomedizinischen Kontext haben sich inzwischen so fest etabliert, dass kaum noch jemand ihre Daseinsberechtigung anzweifelt oder versucht, sie wieder abzuschaffen.
Digitale Unterstützung im psychomedizinischen Bereich ist also längst keine Zukunftsmusik mehr. Sie hat sich fest etabliert. Dieses Buch fasst die wichtigsten wissenschaftlichen Erkenntnisse kompakt zusammen, der Schwerpunkt jedoch liegt auf der Praxis. Erfolgreiche Projekte und digitale Interventionsmöglichkeiten werden vorgestellt und anhand konkreter Beispiele veranschaulicht. Ein besonderer Vorteil: Alle Kapitel stehen für sich und können deshalb in beliebiger Reihenfolge gelesen werden. Das Buch richtet sich an Fachkräfte aus Psychiatrie, Medizin, Psychologie, Psychotherapie und der Sozialen Arbeit. Um den Lesefluss nicht zu beeinträchtigen, wechseln die genannten Berufsgruppen im Text ab.
Künstliche Intelligenz spielte auch beim Schreiben dieses Buches eine besondere Rolle. ChatGPT bereicherte das Brainstorming mit »eigenen« Ideen, regte zu sokratischen Dialogen an, unterzog einzelne Kapitel einer kritischen Analyse und brachte neue Perspektiven und Gegenargumente ein. Jenni AI half bei der Literaturverwaltung und ermöglichte direkte Fragen an die Publikationen, die ein vertieftes Verständnis und so manche Zeitersparnis ermöglichten. Schließlich gelang es DeepL immer wieder, den Autor davon zu überzeugen, bestimmte Formulierungen zu ändern, und wurde so gleichzeitig unfreiwillig zu einem Trainingsprogramm für einen konstruktiven Umgang mit narzisstischen Kränkungen.
Weiterführendes Material
Weiterführendes Material zum Buch und eine Sammlung der relevanten Links finden Sie mithilfe des folgenden Links und QR-Codes.
www.psychiatrie-verlag.de/qr/Hintenberger
Digitale Settingumgebungen
Digitale Beratungs- und Therapieformen haben sich in den vergangenen Jahren rasant weiterentwickelt. Die Bandbreite digitaler Kommunikationsmedien, die für Therapie und Beratung genutzt werden, ist heute vielfältiger denn je und reicht von E-Mail, Messenger und Chat über Videotools und Telefon bis hin zu innovativen Technologien wie künstliche Intelligenz (KI) und Virtual Reality (VR). Je nach Anlass kommen dabei unterschiedliche Formate zum Einsatz. Manche Therapie- und Beratungsangebote sind dialogisch angelegt, andere folgen manualisiert in Form von Selbsthilfe-Apps oder Online-Programmen einem festen Ablauf. Hybride Modelle wie das Blended Counseling wiederum kombinieren verschiedene Ansätze untereinander. Besonders spannend, aber auch risikobehaftet sind neue Technologien wie avatarbasierte Therapien oder Chatbots, die selbstständig als virtuelle Berater agieren.
All dies eröffnet viele neue Möglichkeiten, um individuell auf die Bedürfnisse und Problemlagen der Klientinnen und Klienten einzugehen und passgenaue Unterstützung anzubieten. Gleichzeitig bringen diese Entwicklungen aber neue Herausforderungen mit sich, die es zu bewältigen gilt. Neben den technischen Voraussetzungen müssen auch ethische und datenschutzrechtliche Aspekte berücksichtigt werden, um einen sicheren und effektiven Einsatz digitaler Therapieformen zu gewährleisten.
Grundlagen digitaler Medien
Warum schreiben manche Menschen lieber Nachrichten, während andere das persönliche Gespräch bevorzugen? Die Wahl eines Kommunikationskanals erfolgt selten zufällig. Meist wird sie bewusst getroffen, durch soziale Normen beeinflusst oder zwischen den Beteiligten ausgehandelt (Döring 2013). Es ist also davon auszugehen, dass die Entscheidung für ein persönliches Gespräch in einer Beratungsstelle oder für eine schriftbasierte Chatberatung eine Frage individueller Präferenzen und des jeweiligen Anlasses ist. Für Fachkräfte ist es wichtig, die Besonderheiten der unterschiedlichen Kanäle zu verstehen. Nur so lassen sich digitale Interventionen gezielt und wirkungsvoll einsetzen. Denn je nach Medium unterscheiden sich die Dynamik, die technischen Rahmenbedingungen und die Art der Interaktion erheblich.
Schriftbasierte Kommunikation
Schriftbasierte Medien sind stark von zeitlichen Aspekten geprägt: Sie können entweder zeitversetzt (asynchron), in Echtzeit (synchron) oder in einer Mischung aus beidem genutzt werden. Entsprechend unterschiedlich ist die technische Umsetzung per E-Mail, Chat oder Messenger. Ein wesentliches Merkmal der schriftlichen Interaktion ist das Fehlen von Mimik, Gestik und Stimme. Dies erweist sich insbesondere in psychomedizinischen Kontexten als vorteilhaft (ausführlich Hintenberger 2021), denn paradoxerweise erleichtert die Anonymität das Mitteilen persönlicher Probleme, da die Klienten im wahrsten Sinne des Wortes ihr Gesicht wahren können (Schultze 2007). Zudem ist es einfacher, sich sozialen Normen zu entziehen, ohne Konsequenzen befürchten zu müssen. Sie haben dadurch eine größere Kontrolle über das Beziehungsgeschehen und können zum Beispiel Beginn, Ende und Frequenz weitgehend selbst bestimmen.
Gerade für Menschen mit traumatischen oder belastenden Beziehungserfahrungen ist die Möglichkeit, Nähe und Distanz selbst zu steuern, ein großer Vorteil. Der Psychologe John Suler (2004) spricht hier von einem »disinhibition effect«, also einer Art Enthemmung. Dadurch fällt es den Betroffenen leichter, über schambesetzte Themen zu sprechen, oft sogar schneller als im direkten Gespräch. »Ich weiß, dass ich unsere Dialoge jederzeit ohne schlechtes Gewissen beenden könnte«, so formulierte es eine Klientin, »da Sie meinen Namen nicht kennen, mein Gesicht nicht gesehen haben und meine Stimme nie gehört haben. Das mag für Sie vielleicht eigenartig klingen, aber genau deshalb kann ich Ihnen das alles erzählen.«
Gesprochenes verhallt, Geschriebenes bleibt bestehen. So lässt sich ein weiterer Vorteil schriftlicher Kommunikation kurz zusammenfassen: ihre Nachhaltigkeit. Während gesprochene Worte nur kurz verfügbar bleiben, können E-Mails, Chatverläufe oder Notizen in einem eigenen Tempo immer wieder gelesen werden. So lassen sich Inhalte schrittweise verarbeiten, was Widerstände mindert und die Chance eines Transfers in die eigene Lebenswirklichkeit erhöht.
Wirkfaktor Beziehung Der Wirkfaktor Beziehung gilt als gut erforscht, wobei nicht immer klar ist, welche Aspekte dabei genau zum Tragen kommen. Vor allem nonverbale und paraverbale Signale, also Gestik, Mimik und Stimmmodulation, werden in der Regel als positiv für die Beziehungsgestaltung wahrgenommen. Allerdings darf nicht übersehen werden, dass die akustisch-visuelle Präsenz eines Gegenübers auch ablenkend wirken kann. Während im direkten Austausch die Reaktionen des Gegenübers bewusst oder unbewusst wahrgenommen werden und das Gespräch beeinflussen, bietet ein asynchrones Kommunikationssetting die Möglichkeit, eigene Gedanken zunächst ungestört zu formulieren. So entsteht ein Dialog mit sich selbst (Knatz & Dodier 2003).
Forschungsergebnisse zeigen, dass auch über schriftliche Kommunikation eine gute therapeutische Beziehung aufgebaut werden kann. Christine Knaevelsrud und Kolleginnen (2016) und Thomas Berger (2017) verweisen auf Reviews, die belegen, dass Klientinnen und Klienten Online-Formate ähnlich positiv bewerten wie persönliche Gespräche. Dies liegt vermutlich daran, dass Menschen professionelle Beziehungen auch auf Basis ihrer Alltagserfahrungen beurteilen (Gahleitner & Preschl 2016). Entscheidend ist also weniger der Kommunikationskanal als vielmehr, dass zentrale Faktoren wie Empathie, aktives Zuhören, Wertschätzung und Authentizität schriftlich vermittelt werden.
Beispiel
Eine Klientin bringt die zuvor genannten Aspekte treffend auf den Punkt:
»In letzter Zeit habe ich auch noch mal ein bisschen in den alten Mails gelesen. Gelegentlich schaue ich noch mal rein und, ehrlich gesagt, wenn mir auch das eine oder andere nach wie vor etwas peinlich ist, so sind sie mir doch unheimlich wichtig. Diese Mails oder unser Dialog haben in mir, wie soll ich sagen, ein Bild erzeugt, das ich jetzt in mir trage. Hört sich komisch an, oder? Ich versuche es mal anders: Diese ganze Beratung oder Sie waren nur dann wirklich real, wenn Sie geschrieben haben und schon kurz nach dem Lesen nicht mehr richtig greifbar waren. Es war dann hilfreich, dass ich auf die Mails zurückgreifen konnte, und gelegentlich mache ich das noch heute. Oft verstehe ich jetzt im Nachhinein mich selbst und auch Ihre Antwort besser. Wenn ich die Mails durchschaue, dann stelle ich immer wieder fest, dass doch vieles, was mir früher Angst machte und für mich unvorstellbar war, jetzt durchaus denkbar ist und ich manchmal sogar Probleme habe, nachzuvollziehen, was mir solche Angst machte.«
Schriftbasierte Kommunikation ist allerdings auch mit einigen Problemzonen beschäftigt:
Gestik und Mimik fallen weg.Nonverbale Verstärkung ist nur eingeschränkt möglich.Emoticons und Emojis sind nicht differenziert genug, um Emotionen darzustellen.Im asynchronen Setting gibt es keine unmittelbare Reaktion.Im synchronen Setting fallen Textproduktion und Textrezeption auseinander, was schnell zu Schwierigkeiten und Missverständnissen führen kann.Die Gefahrenbeherrschung bei Themen wie Suizidalität ist schwieriger.Der quantitative Umfang ist im Vergleich zur Face-to-Face-Kommunikation in der Regel geringer.Einige Inhalte sind zu komplex für eine schriftliche Kommunikation.Die Projektionsflächen sind größer.Vor allem der letzte Punkt sollte nicht unterschätzt werden, wie folgender kurze Ausschnitt zeigt: »danke für deine antwort:-). nur so zum beweis, dass ich wirklich alles hinterfrage. in der letzten mail hast du geschrieben: vielen dank für deine ausführliche antwort. da hab ich als erstes gedacht: oh gott, das war wirklich viel zu lang! so viel kannst du dem armen mann nun auch nicht zumuten. Und nachdem ich mir die mail ein zweites mal durchgelesen habe: der will mir doch nur hintenrum sagen, dass ich demnächst doch lieber etwas weniger schreiben sollte. aber so bin ich, ich finde immer was.«
Video- und audiobasierte Kommunikation
Eine der großen Stärken videobasierter Kommunikation liegt in der Möglichkeit, Bild und Ton gleichzeitig zu übertragen, ohne dass sich die Beteiligten im selben Raum befinden müssen. Zudem lassen sich verschiedene digitale Medien flexibel in die Interaktion einbinden, was zahlreiche Anwendungsmöglichkeiten eröffnet. Moderne Videokonferenz-Tools bieten weit mehr als nur eine einfache Videoübertragung: Neben einem textbasierten Chat stehen oft auch virtuelle Whiteboards zur Verfügung, die wie ein gemeinsames Flipchart zur Visualisierung von Ideen genutzt werden können. Die »Breakoutroom«-Funktion erlaubt die Arbeit in Kleingruppen, während die »Screensharing«-Option sowohl Therapeutinnen als auch Klientinnen das unkomplizierte Einbringen von Fotos, Videos, Texten oder kreativen Gestaltungen und Aufstellungsszenen ermöglicht. Damit stellen diese Tools nahezu alle notwendigen Werkzeuge für eine Blended-Counseling-Umgebung zur Verfügung. > Blended-Konzepte, Seiten 24ff.
Dennoch wird dieses Potenzial im psychomedizinischen Bereich bislang nur unzureichend genutzt, obwohl digitale Lösungen den therapeutischen Raum sinnvoll erweitern könnten. Ein Beispiel ist die Arbeit mit biografischen Fotos aus der eigenen Familiengeschichte, die Erinnerungen, Stimmungen und Szenen aktualisieren und so zum Inhalt des therapeutischen Geschehens werden. Waren solche Bilder früher als Papierabzüge verfügbar, liegen sie heute meist nur noch digital vor. Dies führt im klassischen Präsenzmodus zu einem unangenehmen Nebeneffekt, da das gemeinsame Betrachten auf dem Smartphone oder Laptop eine körperliche Nähe erfordert, die dem professionellen Setting nicht angemessen ist. Eine technische Lösung wäre der Einsatz eines Beamers, der jedoch in einer Praxis oder im stationären Umfeld mit erheblichem Aufwand verbunden ist. Videobasierte Ansätze hingegen könnten diese Hürde elegant umgehen, wenn ihre vielfältigen Möglichkeiten konsequenter genutzt werden.
Blickkontakte Videobasierte Therapie sollte allerdings nicht einfach als digitale Version klassischer Präsenzkommunikation verstanden werden, sondern die Besonderheiten dieses Formats sollten gezielt genutzt und mögliche Risiken minimiert werden. Obwohl sie auf den ersten Blick traditionellen Ansätzen ähnelt, zeigen sich bei genauerer Betrachtung deutliche Unterschiede. Ein zentrales Element von Beratung und Therapie, der direkte Blickkontakt, ist in virtuellen Umgebungen stark eingeschränkt. Während einer Videokonferenz ist es zwar möglich, die Augen des Gegenübers zu sehen, aber die Kommunikationspartner können sich nicht in die Augen schauen (Engelhardt & Engels 2021). Vielmehr handelt es sich um einen Kamera-zu-Kamera-Kontakt, der für Blickdialoge oder die Übermittlung nonverbaler Signale nur bedingt geeignet ist. Hinzu kommt, dass bei Videokonferenzen in der Regel nur ein begrenzter Bildausschnitt des Gesprächspartners sichtbar ist, wobei der Fokus auf Gesicht und Oberkörper liegt. Dies erschwert die ganzheitliche Wahrnehmung von Mimik und Körpersprache und erschwert die Einschätzung und Interpretation nonverbaler Signale. Zusätzlich können Bild- und Tonstörungen auftreten, die den Kommunikationsprozess beeinträchtigen. Das wiederum erfordert von den Beteiligten eine erhöhte kognitive Anstrengung, um die fragmentierten audiovisuellen Signale zu einem stimmigen Gesamtbild zusammenzusetzen, und führt zu einer schnelleren Ermüdung.
Im Präsenzmodus ist die Sitzordnung in der Regel so gestaltet, dass sowohl der Patient als auch eine Wand, eine Tür oder ein Fenster ins Blickfeld genommen werden können. Es ist also nicht notwendig, sein Gegenüber andauernd anzusehen, sondern auch möglich, den Fokus auf eine imaginäre Leinwand und damit »nach innen« zu richten, um eigene Bilder oder Szenen aufzurufen. Bei der videobasierten Kommunikation hingegen ist der Blick meist auf den Bildschirm fixiert. Dies ist einer der Gründe, warum Videokonferenzen oft als anstrengend und ermüdend empfunden werden. Darüber hinaus verlieren sowohl Patientinnen und Patienten als auch Therapeutinnen und Therapeuten die Möglichkeit, ihre inneren kreativen und regenerativen Räume zu nutzen. Es kann also hilfreich sein, gleich zu Beginn eines virtuellen Gesprächs eine gemeinsame Regel aufzustellen: Wer nicht ständig auf den Bildschirm oder in die Kamera schaut, verhält sich nicht unhöflich, sondern ganz natürlich. Diese Vereinbarung nimmt möglichen Unsicherheiten und Missverständnissen von vornherein den Wind aus den Segeln.
Eine weitere Besonderheit dieses Settings besteht darin, dass nicht nur das Gegenüber, sondern meistens auch die eigene Person wie in einem Spiegel auf dem Bildschirm zu sehen ist. Dies führt zu einer Triangulierung der ursprünglich dyadischen Gesprächssituation und damit immer wieder zu Irritationen. Eine einfache Lösung: das eigene Bild abschalten (nicht die Kamera). So können sich alle Beteiligten ganz auf den Austausch konzentrieren.
Insbesondere psychotherapeutische Gespräche finden üblicherweise in einem geschützten Raum statt. In klinischen und therapeutischen Einrichtungen signalisiert eine geschlossene Tür, dass alles Besprochene vertraulich bleibt. Im videobasierten Setting hingegen kann dieser »Safe Place« auf drei Ebenen gefährdet sein: Erstens wissen Patientinnen und Patienten nicht mit Sicherheit, ob sich in der Umgebung des Therapeuten weitere Personen befinden oder nicht. Zweitens müssen sie selbst sicherstellen, dass in ihrem Umfeld niemand mithört. Und drittens ist auch eine sichere Verschlüsselung der Datenübertragung notwendig, um den Missbrauch sensibler Informationen durch Unbefugte zu verhindern.
Wer bei Videogesprächen nicht ständig auf den Bildschirm oder in die Kamera schaut, verhält sich nicht unhöflich, sondern ganz natürlich. Dieses Verhalten sollte nicht als persönlich abweisend verstanden werden.
Hybride Kommunikation
Alltagsnahe Medien wie das Smartphone sind für niederschwellige Unterstützungsangebote besonders geeignet, da sie jederzeit verfügbar und flexibel einsetzbar sind. So verwundert es nicht, dass Messenger-Apps zunehmend in der Online-Beratung und -Therapie eingesetzt werden. Michael Beißwenger (2020) beschreibt diese Kommunikationsform als textformenbasierte Interaktion und sieht darin neue Möglichkeiten, sprachliches Handeln zu organisieren. Textformen stellen in diesem Zusammenhang sprachliche Äußerungen dar, die kommunikatives Handeln auch in einem asynchronen Setting ermöglichen und damit eine diesem Setting innewohnende Flüchtigkeit überwinden. Besonders interessant ist die Vielseitigkeit des Mediums: Neben reinen Textnachrichten können auch GIFs, Memes und Emojis verwendet werden, was die Ausdrucksmöglichkeiten erweitert. Messengertools sind aber weit mehr als nur Chattools. Sie ermöglichen auch den Austausch von Sprachnachrichten, Telefongesprächen oder Videochats und sind damit wahre Multitalente der hybriden Kommunikation.
Textformen werden im Messenger als multimodale Sehflächen umgesetzt. Sogenannte Streams ermöglichen es den Nutzern, jederzeit auf den Gesprächsverlauf zuzugreifen, indem sie durch die Nachrichten scrollen, wobei die räumliche Anordnung die bisher übliche zeitliche Abfolge der Gespräche ersetzt. Bei der Nutzung von Messengerdiensten sind der Versand und der Empfang von Nachrichten voneinander entkoppelt. Dies bedeutet, dass Nutzer Nachrichten in ihrem eigenen Tempo lesen und reflektieren können, ohne sofort antworten zu müssen. Darüber hinaus erleichtern Zitate aus früheren Nachrichten den Überblick und schaffen neue Zusammenhänge im laufenden Dialog. Diese Funktion erweist sich insbesondere bei längeren oder komplexeren Gesprächen als nützlich, da sie die Verständlichkeit und den Informationsfluss fördert.
Die Implementierung eines Messengerdienstes für Beratungszwecke ist jedoch mit einigem Aufwand verbunden. Institutionen, die die Einführung von Messengertools erwägen, können sich dabei an den Fragen in Abbildung 1 orientieren.
Im psychosozialen und medizinischen Bereich ist der Einsatz datenschutzkonformer Lösungen unerlässlich. Viele gängige Messenger wie WhatsApp erfüllen diese Anforderungen jedoch nicht. Eine relativ sichere Alternative bietet Signal, das dank Ende-zu-Ende-Verschlüsselung und minimaler Datenspeicherung Vorteile hat. Allerdings bleibt ein gewisses rechtliches Risiko, da der Dienst von einer US-amerikanischen Stiftung betrieben wird. Noch datenschutzfreundlicher sind Messenger wie Threema oder Wire, die ihre Server in Europa betreiben. Für größere Organisationen könnten zudem All-in-one-Messaging-Plattformen eine Lösung sein. Sie ermöglichen es, gewohnte Messenger weiter zu nutzen, während die Kommunikation über eine zentrale, professionelle Plattform abgesichert wird. Allerdings sind Dienste wie Userlike oder Sinch oft kostspielig, und ob sie die Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) in vollem Umfang einhalten, bleibt umstritten.
KI-basierte Kommunikation
Wenn im psychosozialen Kontext von künstlicher Intelligenz gesprochen wird, sind meist generative KI-Tools gemeint, die auf der Basis umfangreicher Datensätze bereits eine Vielzahl von Trainingssequenzen durchlaufen haben und daher in der Lage sind, Inhalte in unterschiedlichen Ausgabeformaten (Texte, Bilder, Videos, Musik etc.) zu erzeugen. Generative KI kopiert also nicht nur bestehendes Datenmaterial, sondern ist in der Lage, neue Inhalte zu generieren. Mit der Veröffentlichung von ChatGPT erlangten insbesondere Large Language Models (LLMs) Bekanntheit, mit deren Hilfe unterschiedliche Textformen produziert und interaktiv in Szene gesetzt werden können. Mittlerweile gibt es eine Vielzahl solcher Tools (ChatGPT, Claude, Gemini, Le Chat, Copilot, Perplexity etc.), die sich für bestimmte Anwendungsgebiete immer weiter ausdifferenzieren. Diese Anwendungen werden mithilfe riesiger Datenmengen trainiert, um definierte Muster zu erkennen, diese zu imitieren und die vorherberechneten Inhalte in das gewünschte Ausgabeformat zu transformieren. Der inzwischen etablierte Begriff »künstliche Intelligenz« verschleiert dabei, dass es sich eigentlich um eine Simulation von Intelligenz in Form von Mustererkennung handelt, die über eine hohe prognostische Kompetenz verfügt. Insofern wäre eine Bezeichnung wie »Simultelligenz«, also eine Simulation von Intelligenz, die Muster erkennt und verarbeitet, ohne wirklich zu »denken«, wesentlich treffender.
