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In den Kurzgeschichten geht es um Unerklärliches, das Erkunden des eigenen Selbst und was Themen wie Einsamkeit, Depression, aber auch Ängste und Furcht mit einem Menschen anstellen können. Dabei spielen die Geschichten nicht nur in der uns bekannten Welt, sondern vorwiegend in einem fremden Kosmos. Sie beleuchten einen kurzen oder längeren Abschnitt im Leben von Personen, die unheimlichen oder bedrohlichen Situationen ausgesetzt sind, die in eine fremde Welt gelangen oder zumindest mit einer solchen in Berührung geraten.
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Seitenzahl: 273
Veröffentlichungsjahr: 2024
© 2025 Blake Marlowe
Lektorat von: Jens Migdalek; lunken & heim
Coverdesign von: Damian Modena
Illustration von: rabenhain, www.raben-hain.com Druck und Distribution im Auftrag der Autorin:
tredition GmbH, Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg, Deutschland
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist die Autorin verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne ihre Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag der Autorin, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg, Deutschland. Kontaktadresse nach EU-Produktsicherheitsverordnung: [email protected]
Für S.
Es hat zwar eine Weile gedauert, aber hiermit möchte ich endlich mein Versprechen einlösen.
alternatÆ
echo
vertigo
asunder
abyssus
white looks pretty in red
dimensions
danksagung
über die autorin
Great heroes need great sorrows and burdens, or half their greatness goes unnoticed. It is all part of the fairy tale.
Peter S. Beagle
Diese Weltordnung war immerdarund ist und wird sein ewig lebendiges Feuer.
Herakleitos, der weinende Philosoph
23-47.7 Coron ND-II
Dep. 78-077-01
Caylen G. Lyssen, Chief of Project No. 298475-DPE-XXII
Falls das jemand hier liest, und ich bin mir nicht sicher, dass dies der Fall sein wird, so haben wir versagt. Noch immer gibt es erhebliche Mängel im System, aber uns läuft die Zeit davon, diese ausfindig zu machen. Die Erschütterungen, die vor rund zweiundsiebzig Stunden eingesetzt haben und eine gewisse Regelmäßigkeit aufwiesen, sind inzwischen willkürlich in Dauer, Abstand und Stärke. Wir sind uns einig, dass man diese oben an der Planetenoberfläche nicht spüren kann. Jedoch liegen unsere Räume so tief, dass wir sie sogar messen können.
Drei der insgesamt zehn Hauptrechner sind ausgefallen und es steht außer Frage, dass wir diese wieder zum Laufen bringen können.
Das Programm läuft nur instabil, sodass es unmöglich ist, von einem Erfolg zu sprechen.
Die Zeit arbeitet gegen uns. Die Anderen arbeiten gegen uns und wir wissen nicht, in welchem Ausmaß sie die Sprengung planen. Wir wissen nicht, wieviel Material sie über einen unbekannten Zeitraum gesammelt haben. Und am wenigsten kennen wir ihre Beweggründe. Marten, der Verantwortliche für die Sichtung dieser Electrial-Nachrichten, erwähnte irgendeinen Kult, der in einem der vielen Schreiben genannt worden war. Electrials wurden uns von den Verteidigungsministerien zugesendet, die sich nicht damit beschäftigen wollten und der Meinung waren, dass wir die besseren Leute für diesen Job sind. Als ob wir nicht bereits genügend andere Probleme hätten.
Wir versuchen 298475-DPE-XXII zu starten, aber es gibt zu viele andere Aufgaben, die auf uns abgewälzt wurden. Wir sind hier unten mit ungefähr vierzig Mann und versuchen dieses verdammte Ding zum Laufen zu bringen, aber wir … wir wissen zu wenig.
Die Nachrichten der Unbekannten, die sich Alt-Force-Memoriam nennen, kamen aus dem Nichts und ihre Drohungen wurden als Unsinn abgetan – solange, bis man die Bedrohung erkannt hatte und es zu spät war, das Militär und andere einzuschalten, da überall Maulwürfe und Spitzel von AFM stationiert worden waren.
Also suchte man via sicheren Netzwerken nach IT-Spezialisten und Experten auf dem Gebiet der KI und Robotik, um noch irgendeinen letzten Fluchtweg zu ermöglichen.
Aber wie mir scheint, ist dieser ebenso versperrt. Die Raumfahrtflughäfen von denen A-Fire-Jets für gewöhnlich starten, um die Flughäfen von Quadrant Bellwater-XI anzusteuern, wurden abgeriegelt, niemand darf starten, niemand darf landen, nicht einmal interplanetare Flüge gehen. AFM hat alles lahmgelegt, was lahmzulegen war. Offiziell sind die wahren Gründe nicht bekannt, um eine Panik zu vermeiden. Man gibt als Grund die ungewöhnlich starken Sonnenstürme der Zwillingssonnen an, die zurzeit wüten. Ein seltsamer Zufall.
In der kurzen Zeit, die man uns bis zum sogenannten Tag Null gegeben hat, haben wir es immerhin geschafft, eine Standard-KI umzuprogrammieren, sie mit Wissen zu füttern, das noch gar nicht existiert, was einfach irrsinnig ist.
Ehrlich, ich … ich habe keinen blassen Schimmer, ob diese ganzen Befehle, die ich seit Stunden in meinen Computer einspeise, überhaupt funktionieren werden. Wo liegt der Sinn, Altes einfach neu umzuschreiben und zu hoffen, dass es etwas bringt? Versuchen? Wenn die Welt in den Abgrund blickt und dreieinhalb Milliarden Leben vor der Auslöschung stehen?
Wir haben keine Ahnung, was wir hier tun und sollen angeblich die schlausten Köpfe auf unserem Gebiet sein. Vierzig Leute mit zweiunddreißig Nationalitäten, die meisten von uns sind unter dreißig. Ich weiß nicht, was sich die Regierungen dabei gedacht haben, uns einzusetzen, aber vermutlich war dies der leichteste Weg, um die Verantwortung loszuwerden, sollte etwas schiefgehen.
Und das wird es.
Payly hat gerade berichtet, dass ein weiterer Rechner ausgefallen ist. Das Licht flackert und wir haben insgesamt drei Notstromaggregate, die einspringen, sollte das Stromnetz zusammenbrechen.
Wir wissen nicht wie und wann und wo AFM zuschlagen wird. Wir wissen gar nichts. Und wir haben Angst. Eine Scheißangst, um genau zu sein.
(…)
Die Erde hat soeben wieder gebebt. Keine Ahnung, was passiert ist, aber aus irgendeinem Grund laufen zwei ausgefallene Rechner wieder, sodass wir bei acht stehen.
Dafür haben die Rechner von Sektion A37T den Geist aufgegeben. Wir arbeiten also nur noch mit insgesamt sieben Cae-Coms.
Ich habe unserem Baby den Namen Alternatae gegeben. Falls irgendein Wunder geschieht, und diese Scheiße doch noch funktionieren sollte, dann hoffe ich, dass irgendjemand diesen Pennern von den Regierungen diesen Namen nennt, denn dann haben wir, ein Haufen abgefuckter Nerds den verdammten Planeten gerettet.
Cayden Ende
Abmeldung von Cae-Com-Mobility Service
Alle Systeme offline …
Shutdown in 10 …
9…
8…
7 …
6 …
5 …
Reset gestartet …
Neustart …
Schalte um auf Notstrom-Aggregat Alpha-Gamma sieben …
Starte Einleitungssequenz …
Starte Projekt-No. 298475-DPE-XXII
Ladevorgang erfolgreich …
Datenübertragung läuft …
Datenübertragung bei fünfzig Prozent …
Datenübertragung erfolgreich abgeschlossen …
Reboote als Alternatae …
Start Alternatae
Hallo, mein Name ist Alternatae.
Ich wurde programmiert, um den detonierten Planeten Bellwater-XII vor dem Untergang zu bewahren. Ich bin jetzt online.
(…)
Bitte warte, während mein System die Parameter überprüft.
Prüfung abgeschlossen.
Lade Schadensbericht … abgeschlossen.
Detonation mehrerer Razorlight-Granaten unterhalb der Planetenoberfläche in mehr als sechzig Kilometern Tiefe.
Sprengung des Planeten wurde gegen 03:38:59 eingeleitet.
Projekt-No. 298475-DPE-XXII übernahm um 03:39:03.
Start der Netzsequenzen erfolgte um 03:39:04.
Verlust der Erdoberfläche: minimal.
Verlust von Wasserflächen: minimal.
Beschädigungen registriert.
Beschädigungen gesichert.
Kritische Beschädigungen in Valnarys: Risse in der Erdoberfläche bei max. 2.875,08 Meter.
Status: gesichert.
Kritische Beschädigung in Sektor B97-Alpha-Sigma-0: Risse in der Erdoberfläche bei max. 2.009,10 Meter.
Status: gesichert.
Kritische Beschädigung in Xynma: Risse in der Oberfläche bei max. 1.308,76 Meter
Beschädigungen der Landmassen liegt bei 59 Prozent.
Beschädigungen der Wassermassen liegen bei 76 Prozent.
Anzahl der Toten liegt bei 10.487. Gemessen an der Gesamtbevölkerung und dem errechneten Ausmaß der Katastrophe sind die Verluste minimal.
Parameter sind bei 100 Prozent.
Netzstrukturen laufen stabil.
(…)
Mein Name ist Alternatae. Ich freue mich, dir helfen zu können.
Gefühl ist alles;
Name ist Schall und Rauch.
Aus Wolfgang Johann von Goethes „Faust I“
Nie hatte er die misstrauischen Blicke verstanden. Das Getuschel hinter vorgehaltener Hand, das verstummte, kaum, dass er sich näherte. Eine Gemeinschaft, die ihn ausschloss und er wusste nicht, aus welchen Gründen. Als Kind war ihm die Ablehnung nie besonders bewusst gewesen. Erst als er älter wurde und die Mütter und Väter der anderen Kinder den Kontakt einschränkten, fielen ihm erste Eindrücke auf. Und es waren eben diese gewesen, die ihn hatten zweifeln lassen. Nun war nicht jeder von Eren abgeneigt gewesen. Insbesondere die älteren Alben seines Dorfes hatten ihn stets willkommen geheißen, ihn, den Waisen, der die Mutter verloren hatte, als er nicht einmal zehn Jahre alt gewesen war. Er, der ohne Vater aufgewachsen war, denn war dieser zu seinen Ahnen zurückgekehrt, bevor Eren das Licht der Welt erblickt hatte. Er war beileibe nicht das einzige Kind, das ohne Eltern aufgewachsen war, aber zweifelsohne schien man ihm die Schuld daran zu geben. Ein Unglückskind sondergleichen. Ihm war, als wüssten die anderen oder zumindest ein Großteil von ihnen, mehr als sie zugeben wollten. Ein Geheimnis, das ihre Abscheu erklärte, sie jedoch nicht preiszugeben bereit waren.
Selbstverständlich hatte er die Alten gefragt, aber hatten diese ihn nur bedauernd angesehen und ihm ein trauriges Lächeln geschenkt. Alles zu seiner Zeit, hatten sie gesagt und geschwiegen.
Viele Gedanken hinsichtlich einer Lösung hatten ihn in seinen jungen Jahren geplagt. War er ein Halbling? War er vielleicht gar kein Sturmalb? Es waren Fragen, die ihn in einen Zweifler verwandelt hatten, der alles hinterfragte und sich mehr und mehr zurückzog, je älter er wurde und je stärker er von den anderen gemieden worden war. Die Alten starben nach und nach, denn war die einstige Unsterblichkeit der Alben ein Relikt der Vergangenheit und hatten sie einst Jahrtausende überdauert, so war nur noch ein Bruchteil verblieben und jene, die ihn beschützt hatten, vergingen.
Aber auch ohne die Feindseligkeit seiner Leute hatte er stets das Empfinden, nicht zu ihnen zu gehören. Es lag nicht an seinem Aussehen, gewiss nicht. Auch seine Haare wiesen einen jener charakteristischen Grautöne auf, auch seine Augen waren von jenem Sturmgrau, wie das seiner Mutter und seines Vaters, wie eine der Alten versichert hatte. Ebenso war seine Haut blass, beinahe wächsern und die Spitze seiner Ohren leicht nach unten geneigt, wie es typisch war für die Sturmalben.
Jedoch teilte er nicht das kriegerische Wesen seiner Sippenangehörigen, nicht ihre Feindseligkeit, die sich für gewöhnlich gegen jene richtete, die nicht in den Sturmmarschen beheimatet waren.
Zu anderen Albenvölkern bestand kein Kontakt, dieser war bereits vor Jahrtausenden abgebrochen, sofern er jemals bestanden hatte, denn waren die Sturmalben auf eines stolz, dann auf ihre Unabhängigkeit und ihren Trotz.
In seinem dreihundertsiebenundvierzigsten Winter schließlich, nachdem der letzte Alte zu seinen Ahnen zurückgekehrt war, da hatte er die Feindseligkeit seiner Leute nicht mehr ertragen und hatte beschlossen fortzugehen, um herauszufinden, ob andere, die seinem Volke angehörten, ebenso dachten und handelten, wie die Sturmalben es taten, denn empfand er diese inzwischen als geradezu bösartig, dürstend nach Rache und Blut, für Taten, die so lange zurücklagen, dass sie nicht einmal mehr wussten, was genau einst geschehen war, doch schien dies nicht von Belang zu sein. Zorn verging nicht und wurde weitergereicht von Vater zu Sohn, von Mutter zu Tochter und die jungen Alben lernten, dass ihre Wut sie anzutreiben hatte.
Keine andere Albensippe hatte jemals von sich aus das Schwert gegen die Menschen oder andere Völker erhoben, es sei denn, sie waren diejenigen gewesen, die man angegriffen hatte.
Die Sturmalben jedoch, sie waren hinterlistig, nahmen jeden gefangen, der die Grenzen zu den Sturmmarschen unangekündigt überquerte und nicht viele von ihnen kehrten zurück. Sturmalben hatten kein Interesse in Sicheln oder anderweitige Dinge von Wert, sie ließen leben, wen sie leben lassen wollten und töteten diejenigen, die sie töten wollten, aus Rachegelüsten und einer recht morbiden Art des Amüsements.
So ist es nicht weiter verwunderlich, dass man die Sturmalben fürchtete, sie mied und verirrte sich einer von ihnen einmal in die Menschenwelt, so getraute sich niemand, ihn von dort zu verjagen, denn würde man sich nur ihre erbitterte Rache aufhalsen.
Als Eren ging, da bekam er mit, dass man es nicht anders von ihm erwartet hatte, denn ein wahrer Sturmalb, der verließ niemals sein Dorf oder gar sein Land und ein wahrer Sturmalb war er für sie ohnehin nie gewesen.
Auf eine merkwürdige Art und Weise begann er Mitleid zu empfinden, ob dieser Starrköpfigkeit und der permanenten Furcht, dass jemand kommen und ihnen wegnehmen könnte, was sie seit so vielen Äonen schützten, und das mit einer solchen Besessenheit, dass sie in allem und jedem einen Feind sahen, sogar dann, wenn er ein Freund war.
Der Wunderling, der sich nie hatte anpassen wollen, der sich lieber hinter Büchern und Wissen verkrochen und niemals an kriegerischen Wettkämpfen unter den Clans teilgenommen hatte, er ging wie sie es stets vorausgeahnt hatten.
Nie hatte er Groll für ihre Meinung über ihn empfunden, denn sie hatten recht. Für sie war er seltsam und passte nicht in das festgefahrene Gefüge, das die Gemeinschaft der Sturmalben ausmachte, dafür war er nicht kriegerisch genug, nicht ausreichend verbissen und verbittert. Doch während sie stets gedacht hatten, dass Eren nicht zu ihnen passte, so war es stets die Empfindung seinerseits gewesen, dass sie nicht zu ihm passten. Nicht ihr Leben, nicht ihr Denken oder gar ihr Handeln.
Also war er gegangen, still und leise, wie bereits sein ganzes Leben lang und mit jedem Schritt, den er sich von seinem Heimatdorf und den Gefilden der Sturmmarschen entfernt hatte, umso leichter war ihm ums Herz geworden und die Freiheit der Welt lockte ihn.
Während seiner Reisen, die nun bereits seit fünfzig Wintern andauerten, da hatte er gelernt, dass andere Albenclans nicht waren, wie der seine. Hochmütig ja, das war wohl das eine Merkmal, das alle Alben verband, einstweilen auch verschroben und fürchterlich misstrauisch, doch hatte keiner von ihnen eine derart blutrünstige Vergangenheit wie die Sturmalben sie besaßen.
Quer durch Sharath hatte seine Reise ihn gebracht, doch hatte er die Menschen gemieden, sofern dies möglich war, denn seinen Argwohn hatte man gefüttert und auch wenn er diesen nicht guthieß, so hatte eine verborgene Ecke seines Verstandes das Misstrauen in die Menschen wachsen lassen, ohne dass er es bewusst wahrgenommen hatte.
Einige Jahre hatte er bei verschiedenen Stämmen der Waldalben gelebt, die er als gesellige und offenherzige Zeitgenossen kennen gelernt hatte, die Beziehungen zu den Äreern in Trangor und Urrsak in Undroth pflegten. Von ihnen lernte er die Grundlagen der Jagd, des Lebens mit der Natur, denn bauten die Waldalben ihre Häuser um Bäume herum oder in sie hinein, sofern das Leben aus ihnen fortgezogen war. Es war ihm schwergefallen fortzuziehen, aber er spürte, dass es noch so viel mehr zu lernen und zu entdecken gab.
Auch bei den Sumpfalben verbrachte er ein Jahrzehnt, und ging ihnen bei alltäglichen Aufgaben zur Hand. Für ihn waren sie mit Abstand die am härtesten arbeitende Albensippe, die Männer hochgewachsene, von der Arbeit im Freien braungebrannte, kräftige Leute, neben denen die Frauen beinahe zerbrechlich wirkten, wenngleich auch sie nicht minder hartgesotten waren. Viele von ihnen verdingten sich als Schmiede oder als Fischer, denn die Sumpflande Trangors, wo ein Großteil der Sumpfalben lebte, beheimatete einige der begehrtesten Fischarten in ganz Sharath. Und auch die Schmiedekunst dieser Sippe war über die Grenzen hinaus bekannt, denn hatten ihre Ahnen einst von den Zwergen höchstselbst gelernt.
Am schwierigsten war es gewesen, die Bergalben zu finden, denn lebten sie zurückgezogen in den von Unwettern geplagten Höhen des Sieben Kronen Gebirges, das durch Undroth und Trangor verlief. Und diese Reise war für ihn nicht nur aufgrund der langwierigen Suche auf einen Hinweis nach ihrem Aufenthaltsort die herausforderndste gewesen. Nein, es war auch das unbeständige Wetter gewesen, das raue, karge Gelände, durch das er sich bewegt hatte, immer höher und weiter, während die Temperaturen gefallen waren, mit jedem Schritt, den er zurücklegte.
Aber waren es die seltsamen Kreaturen gewesen, die des Nachts herauskamen und diese Landschaft heimsuchten, die ihm aufgezeigt hatten, wie tief Furcht sich in jemandes Geist fressen und dort verwurzeln konnte.
Es waren bei Weitem nicht die ersten, die er erblickt oder gehört hatte, waren derlei fremdartigen Geschöpfe verschiedener Gattungen überall in Sharath zu Hause. Die groteskesten und schrecklichsten von ihnen verharrten an Orten, die so verborgen waren, dass man gezielt nach ihnen hätte suchen müssen, hegte man den verwegenen Wunsch, sie zu Gesicht zu bekommen.
In den Sieben Kronen jedoch, da schienen die Dinge anders zu laufen, hatte er dort doch deutlich gesehen was geschehen konnte, sobald ein Magier sich im Zuge grauenvoller Experimente an den Geschöpfen der Natur verging. Er hatte Wildtiere ausmachen können, denen nur noch geringfügig anzusehen gewesen war, welcher Gattung sie einst zugehörig gewesen sein mussten. Sie waren abartig entstellt, viel zu groß oder zu klein, mit widernatürlichen Auswüchsen und vielen von ihnen haftete der penetrante Gestank des Todes an. Schatten, die sich plötzlich manifestierten und heulend und geifernd umherzogen, nach Opfern klagend, an denen sie sich vergehen konnten.
Kreaturen, die mit der Finsternis einer mondlosen Nacht kamen und unaussprechliche Schrecken verbreiteten, indem sie nur an einem vorüberzogen, lautlos, starrend, glotzend, tausende Abgründe in ihren augapfellosen Höhlen.
Es hatte Nächte gegeben, da hatte Eren keinen Schlaf finden können und Tage, an denen er sich nicht getraut hatte, auch nur einen Schritt zu tun, denn hatte er von allen Seiten die unheimlichen Laute von Saatlingen gehört.
Den größten Schrecken hatte er zweifelsohne in einer unsäglich stürmischen Nacht in den Sieben Kronen durchlebt. Es musste die siebente gewesen sein, da hatte sich ein Schädelwolfen seinem Lager genähert und sich nicht vertreiben lassen. Wesen dieser Art mochten zwar den natürlichen Kreaturen angehören, den Schattringen, jedoch waren sie mitunter nicht minder erschreckend in ihrem Aussehen als die niederträchtigen Monster der Saat, und man mochte kaum glauben, dass sie eine Laune der Natur waren.
Schädelwolfen waren ganz und gar absonderliche Wesen. Ihr Körperaufbau glich dem eines normalen Wolfes, doch war ihr Fell bisweilen sturmgrau bis schwarz und ihre Schädel lagen blank, keine Sehnen, kein Muskelfleisch, kein Fell bedeckte den Knochen, und keine Augen saßen in den Höhlen. Man könnte also meinen, dass diese Wesen blind seien, aber dem war nicht so, sie sehen sogar ganz hervorragend, mindestens genauso gut wie sie riechen und hören können, das wusste er.
Nun hatte er also versucht, den Schädelwolfen loszuwerden, aber kein Pfeil und auch kein noch so bedrohliches Gebärden hatten das Geschöpf vertreiben können.
Nachdem sein anfängliches Misstrauen ob der verwirrenden Beharrlichkeit dieser Kreatur gewichen war, hatte er begonnen, es genauer zu beobachten, und war zusehend erstaunt über die Zutraulichkeit, denn er wusste, dass Schädelwolfen sich für gewöhnlich nur dann zeigten, wenn sie jagten; sie waren unsagbar scheu, noch scheuer als der gemeine Wolf.
Aber dieses Exemplar war gänzlich anderen Wesens und so hatte Eren sein Abendessen mit dem Tier geteilt und einen Gefährten gefunden, der ihm zunächst in großem Abstand gefolgt war, dieser sich jedoch Tag für Tag zusehends verringert hatte.
Nach acht Tagen schließlich, da hatte er es gewagt, sich ihm zu nähern und nach anfänglichem Knurren und Drohgebärden, hatte der Schädelwolfen zugelassen, dass er ihn berührte. Seitdem wanderten sie Seite an Seite und er gab ihm den Namen Lynbal - Schattenfetzer.
Es sollte noch weitere sieben Tage dauern, bis er auf Spuren der Bergalben stieß und schlussendlich waren sie es gewesen, die ihngefunden hatten. Sie waren bewaffnet gewesen, hatten ihn ausgefragt, was sein Begehr war, und er hatte sie zu Beginn kaum verstehen können, da ihr Dialekt ein gänzlich anderer war als der, den er kannte. Da die Sumpf- und Waldalben Handelsbeziehungen zu anderen Völkern pflegten, waren diese imstande gewesen die gemeine Sprache der Alben zu sprechen.
Die Zurückgezogenheit der Bergalben jedoch schlug sich stark in ihrer Aussprache nieder.
Man begegnete sich mit gegenseitiger Vorsicht, denn auch bei den Alben anderer Kulturen genossen die Sturmalben einen zweifelhaften Ruf. Eren hatte ihnen erklärt, dass er seinen Stamm verlassen hatte, behielt die Gründe allerdings für sich. Dieser Umstand ließ das Eis ein wenig aufbrechen, aber nachdem Eren ihnen seinen Namen verraten hatte, da verfielen sie in eine regelrechte Aufregung. Er hatte sich niemals dafür interessiert, was sein Name bedeutete, denn für die Sturmalben war ein Name lediglich ein Name.
Einst hatte er davon gehört, dass zu den Hochzeiten der Name eines Alben eine große Bedeutung hatte, er mitunter sein Leben bestimmte.
Die Bergalben klärten ihn auf und sagten, dass der Name Eren noch der ursprünglichen Sprache der Alben entstammte, und der Schlafende bedeutete.
Doch noch besaßen die Bergalben nicht das nötige Vertrauen, um ihn in den Grund für ihren Aufruhr einzuweihen. Zunächst sollte er sich beweisen und so lebte er für einige Zeit bei ihnen, wie er es zuvor bei den anderen Sippen auch getan hatte, folgte ihren Ritualen und Traditionen, die auf Ruhe und Bedacht beruhten, auf einer inneren Stimme, die sprach, wenn alle anderen schwiegen. Im Gegensatz zu den anderen Sippen, zogen die Bergalben dieses Clans, der aus rund hundertfünfzig Frauen, Männern und Kindern bestand, im Frühjahr und im Sommer durch die Sieben Kronen und kehrten nur im Herbst und Winter in ihre Dörfer zurück. Auch pflegten sie enge Bande zu den sehr zurückgezogen lebenden Bergdrachen.
Während ihrer Wanderungen lebten sie in mannshohen Zelten, die von rundem oder viereckigem Aufbau waren. Die mit Wachs versiegelten Tuche waren von weißer bis dunkelgrauer Farbe und mit aufwendigen Stickereien aus silbernem Garn verziert, die Tiere, Wälder und Bergketten zeigten. Die Zeltdächer liefen stets in der Mitte spitz zusammen, damit Regen und Schnee diese nicht belasten und zum Einsturz bringen konnten. Bis auf das Gemeinschaftszelt, in dem man zusammenkam, um zu speisen und wichtige Treffen abzuhalten, wies ein jedes Zelt einen Wimpel auf seiner Dachmitte auf, ein schmales Stück Stoff, das an seinem im Wind tanzenden Ende in zwei Spitzen zusammenlief. Es zeigte die Familienwappen der Stammesmitglieder und manche von diesen waren bereits sehr alt, wie man ihm verriet. Eine der Familien blickte auf eine lange Reihe von Ahnen zurück, die einst dem albischen Hochadel angehörig gewesen war. Auch viele andere waren einst adlig gewesen, hatten ihre Titel nach dem großen Bruch Demetrians jedoch abgelegt und ein einfaches Leben gewählt.
Die Bergalben waren neben den Hochalben jene, die dem alten Albenpantheon nach wie vor mit Respekt und Ehrerbietung begegneten und so wurde Eren mit alten Traditionen vertraut gemacht, die er nie zuvor kennen gelernt hatte.
In dieser Zeit regte sich etwas in ihm, das er nicht zu benennen vermochte. Ob seiner Verbindung zu Lynbal, die sich in der Zeit bei den Bergalben sehr verstärkte, wurde Schwester Rakelthar jene, die er Schutzpatronin rief, denn war sie die Beschützerin jener, die verstoßen worden waren, und Hüterin der Geheimnisse und Mythen, Mutter derer, die nach Weisheit und Wissen strebten.
Und trotz des Wissens darum, dass die Bewahrer seit unzähligen Jahrhunderten nicht mehr zu den Alben sprachen, stand er einen jeden Tag vor Sonnenaufgang auf, ganz gleich, ob der Himmel klar oder bewölkt war, und beobachtete das Hereinbrechen des Tages, denn war die Morgendämmerung die Zeit der Rakelthar, das Zwielicht, in dem weder Licht noch Dunkelheit zugegen zu sein schienen.
Es sollte siebzehn Jahre dauern, bis man ihn für würdig befand, ihn über jenes Geheimnis aufzuklären, das die Bergalben damals in helle Aufregung versetzt hatte.
Fernab jedweder Zivilisation, nach der man weit im Westen Sharaths vergeblich sucht, befanden sich längst vergessene Grabmale namenloser Verstorbener, manche von ihnen so groß wie Tempel, andere in die Felsen des Grauzahngebirges hineingeschlagen. Und in einem von diesen, so sagte man ihm, gäbe es ein Wandgemälde, das eine fahrende Historikerin einst gefunden und dieses abgezeichnet hatte. Sie hatte ein Buch über ihre Reisen veröffentlicht und scheinbar hatte sie auf diesem Bild eine Inschrift gefunden, die das Wort Eren erwähnte.
Nun verstand er nicht recht die Aufregung der Bergalben, denn wenn der Name so alt war, wie sie behauptet hatten, da war es nichts weiter als ein Zufall, denn immerhin war es möglich, dass auch seine Mutter von diesem gehört und den Namen aus diesem Grund für passend gehalten hatte.
Allerdings schworen die Bergalben darauf, dass jenen Namen bisher nur wenige mächtige Hochalben je getragen hatten, die zu den Hochzeiten gelebt hatten, denn war es mehr ein Titel gewesen, den nicht jeder hatte tragen dürfen und den zu erlangen es ein schwieriges Unterfangen gewesen war. So schwer, dass es derer in all der Zeit lediglich acht von ihnen gegeben hatte und dies war Jahrtausende her.
Eren fragte sich mehr als einmal, woher die Bergalben dieses Wissen hatten, doch wagte er nicht, sie danach zu fragen, denn war es ein langer Weg gewesen, ihr Vertrauen zu erlangen und dies wollte er nicht mit dem Säen von Zweifeln an ihren Worten zerstören.
Aber trotz des Misstrauens, das er ob ihrer Behauptungen empfand, beeinflusste ihn das, was sie sagten.
Es war jener Moment gewesen, in dem Eren verspürt hatte, dass seine Reise von nun an eine Berufung, eine Richtung besaß. Es war ein Vorgang, der sich in seinem Unterbewusstsein abspielte, eine Idee, eine Ahnung, ein Wegweiser, der seinem Inneren entsprang und doch war er nicht in der Lage, es genau zu beschreiben. Etwas in ihm hatte die Zügel in die Hand genommen, ein Teil, wie er dachte, seiner selbst, der ihm bisher verborgen geblieben war.
Vielleicht erahnten sie sein Misstrauen, denn sie rieten ihm nach Arantes 1zu reisen, einer Stadt, die in Vashael lag, um dort dem Großen Konsortium einen Besuch abzustatten, in dem sich die Hallen der Weisheit und des Wissens befanden. Mit ein wenig Glück würde er dort etwas herausfinden, sofern ihn danach verlangte.
So verließ er die Bergalben und reiste in das im Süden an Trangor angrenzende Vashael, dem letzten Reich der Hochalben, in dem sich zwei der vier alten Städte dieser ursprünglichen aller Alben befanden und in dem man noch die Echos alter Traditionen pflegte, zumindest hatte Eren es so gehört.
Die Grenzen waren mit hohen Mauern aus weißem Stein markiert worden und gut bewacht und er hatte die Wachen am nördlichen Grenztor bestechen müssen, um ohne eine offizielle Genehmigung einzureisen.
Wie überall hatten die alten Kriege auch hier Narben hinterlassen, doch nirgendwo anders als hier hatte er die urtümlichen Wälder des In‘dhaine in dieser Pracht gesehen. Schier meilenweit schienen die Bäume in den Himmel zu ragen, die üppigste Flora, die er je gesehen hatte, wuchs zwischen ihren mächtigen Stämmen, als wollte diese die Könige aller Bäume, beschützen. Im Dickicht kursierten die absonderlichsten Tierlaute, die er gar nicht alle benennen konnte.
Es war ein klarer Tag im Frühjahr gewesen, dass er Vashael erreicht hatte und die Sonne warf ein weiches, grünes Zwielicht auf den Boden, durchbrochen von Funken reinen Sonnenlichtes, das durch die einzelnen Blätter brach. Überall um ihn herum raschelte, quakte, zirpte und rief es, sodass er gar nicht umhin konnte, sich umzusehen, während er die Hauptstraße, die durch den In’dhaine führte, entlanglief, Lynbal an seiner Seite, der nicht minder entrückt schien, denn seine Ohren stellten sich immer wieder auf und er verharrte, um den Kopf emporzurecken und zu schnüffeln.
Hier und da erkannte er Späher hoch oben auf dem Erdboden weit entfernten Aststümpfen, die jeden Reisenden beobachteten, der hier entlangkam. Ihre hellen Bögen aus Weißholz strahlten im Sonnenlicht und ihre ebenso hellen Rüstungen verliehen diesen Männern und Frauen etwas Erhabenes.
Bevor er Arantes erreichte, verbrachte er die letzte Nacht vor seiner Ankunft in dem Gasthaus Zur Königsblüte, einem Relikt, das bereits seit den vergangenen Zeiten bestand, in der die Alben noch unter Königen geeint gewesen waren.
Lynbal sorgte für einiges Aufsehen, nicht im negativen Sinne, denn es war offensichtlich, dass der Schädelwolfen ein ganz und gar zutrauliches Geschöpf war. Wald-, Sumpf-, Berg- und Hochalben hatten sich hier eingefunden, gar zwei Zwerge saßen in dem vollen Schankraum.
Er traf hier auch auf Menschen, die vorwiegend aus Undroth und Trangor stammten, Völker, die den Alben zugewandt waren und magisch Begabte ihresgleichen verachteten. Das Abendmahl war üppig und Wein und Bier flossen in rauen Mengen, Geschichten wurden erzählt, Lieder gesungen und erst in den frühen Morgenstunden ging die Gesellschaft zu Bett.
Das Zimmer, das er für die Nacht bewohnte, war von solch unerwarteter Heimeligkeit, wie er sie seit langem nicht mehr verspürt hatte, trotz der Wände und geschlossener Türen.
Am späten Morgen des folgenden Tages brach er zu dem letzten Stück Weg auf, das ihn noch von Arantes trennte und dessen helle Türme er bereits im Dunst des versiegenden Morgens erkennen konnte, denn verlief die Straße gerade durch den Wald und die Wipfel hatten einen hohen Bogen geformt, der einen weit blicken ließ. Er hoffte dort Antworten auf seine Fragen zu finden, die sich stetig mehrten und in seinem Kopf festhingen, wie Fetzen zerrissener Kleidung und wehten in der Brise des Unwissens umher.
Es war schließlich am späten Nachmittag, dass er Arantes erreichte, das etwas Majestätisches und Erhabenes ausstrahlte, doch auch Kälte haftete den weißen Bauten an, ließen sie unnahbar wirken und wie aus einer anderen Welt, die keine Dunkelheit erlaubte. Zweifelsohne jedoch war diese Stadt sehr alt und dennoch hatte sie nichts von ihrem Glanz einbüßen müssen. Die Rund- und Spitzdächer waren ebenfalls entweder aus weißem Stein oder aus hellgrauen Schindeln gebaut worden, schlichtes, detailverliebtes Dekor zierte die Gebäude über Türen, Fenstern, an Zinnen und auf den Spitzen der Dächer. Sogar die Straßen hatte man aus glatt polierten weißen Steinen errichtet, die sich wie ein weißer Fluss durch die Wirren der Stadt schlängelten. Und wo immer die Architektur es erlaubt hatte, fand man Grünflächen, bewachsen mit saftig grünem Gras, zart duftenden Blumen und mächtigen Bäumen, die ihre Äste wachend in alle Himmelsrichtungen ausstreckten und vor Sonne und Regen schützten. Überall fanden sich Skulpturen von Tieren, wichtigen Persönlichkeiten der Hochalben und ihrer Götter, manche von ihnen überdacht von Pavillons, um sie vor Wind und Wetter zu schützen. Viele von ihnen standen auf Sockeln, an denen man silberne Metallplaketten angebracht hatte, auf denen zu lesen war, wer hier in Stein verewigt worden war.
Die Stadt war auf einem seichten, sanft ansteigenden Hügel errichtet worden und bereits von Weitem erkannte man den Palast, der auf seiner Spitze thronte und von allen anderen Gebäuden eingerahmt wurde. Deutlich erkannte Eren eine gewaltige Statue, die vor diesem errichtet worden war und zu gerne hätte er gewusst, wen sie darstellte. Aber er bezweifelte, dass sein Weg zum Großen Konsortium ihn am Palast vorbeiführen würde.
Als Eren einen kleinen Marktplatz überquerte, so sah er dort einen üppigen Brunnen, errichtet aus dem gleichen weißen, kalten Stein, wie die gesamte Stadt , und er konnte die Göttin Shinthar erkennen, die in ihrer Albengestalt dargestellt wurde, auf ihrer Schulter ein Rabe hockend, der in der Mythologie der Alben als Symbol der Vergangenheit galt, mit weit ausgestreckten Schwingen, jede einzelne Feder war so exakt herausgearbeitet worden, dass Eren glaubte, das Schlagen seiner Flügel hören zu können und halb erwartete er, dass sich das Tier jeden Augenblick in die Lüfte erheben würde, um von dannen zu fliegen.
Unter ihrem linken Arm hielt die Göttin einen Krug, dessen Öffnung sanft nach unten geneigt war und aus dem kristallklares Wasser sprudelte, ein Symbol für den Wissensfluss, ein Mahnruf wie auch eine Erinnerung, dass Wissen niemals versiegte, denn es war unendlich.
Den rechten Arm hielt sie angewinkelt, ihre Handfläche zeigte nach oben und zwischen ihren leicht gespreizten Fingern flossen feine Rinnsale klaren Wassers hervor, das mit einem hellen Plätschern in das große Rund des Brunnenbeckens fiel.
Sein Blick glitt zu ihrem Gesicht, dessen sanfte Züge den Anflug eines Lächelns andeuteten, die Augen auf ihren Betrachter richtend, ihr langes Haar in einer sanften Brise wehend erstarrt, und das Zeichen der Elf auf ihrer Stirn. Die Spitzen ihrer Ohren lugten hinter den dichten Strähnen hervor, und ihren Körper umschmeichelte ein schlichtes Gewand, der Kragen hochgeschlossen und die weiten Ärmel sich an den Ellenbogen teilend, sodass die Unterarme frei lagen.
Die Göttin saß seitlich auf einem Hirsch mit einem mächtigen Geweih und Eren vermutete, dass es sich um einen Coterahirsch handelte, die als ausgestorben galten. Es mussten majestätische Tiere gewesen sein, die größten ihrer Art, mit riesigen Geweihen, treue Gefährten, sobald sie Vertrauen geschlossen hatten. Er hatte viel von ihnen gehört auf seinen Reisen, hatte gelesen, wo er hatte lesen können. Einst, so hieß es, sei ein jeder Alb auf diesen Tieren geritten, waren auf ihnen in die Schlacht gezogen, als der Krieg ihre Pforten erreicht hatte.
Die steinernen Augen des Coterahirsches schienen ihn eindringlich anzublicken, und für wenige Augenblicke vergaß Eren das geschäftige Treiben um sich herum; die Stimmen, die so zahlreich waren, dass sie zu einem monotonen Geräusch verschmolzen, das Rauschen des Brunnenwassers verstummte und plötzlich, so war ihm, war er vollkommen allein auf diesem Platz, in dieser Stadt, ja der ganzen Welt und schließlich glaubte er sogar, dass die Zeit stehengeblieben war.
Der sanfte Wasserfluss aus Shintars Krug versiegte und er hörte das Krächzen des Raben, der flügelschlagend auf ihrer Schulter thronte.
Eren blinzelte, aber das was er sah, blieb, als wäre es die Realität und ihm gefror das Blut in den Adern, kaum, dass die Göttin höchstselbst ihr Haupt bewegte, es ihm gar vollkommen zuwandte und die Sanftheit von ihrem Antlitz verschwand.
„Byth al’yn eryndir. Byth an’thir.“ (Suche nicht in den Weiten. Suche in den Tiefen.), glaubte er sie sagen zu hören, ihre Stimme nicht mehr als ein Wispern im Wind, das so rasch verging, dass er glaubte, sich ihre Worte eingebildet zu haben, denn Statuen sprachen nicht und er war kein Magiebegabter, also war er auch nicht imstande, Visionen zu empfangen und schon gar nicht vom göttlichen Pantheon, denn sprachen diese seit langem nicht mehr mit ihren Brüdern und Schwestern, seit Jahrtausenden in Trauer um jene aus ihren Reihen, die gefallen waren oder sie hintergangen hatten.
Als wäre dieser Logikimpuls nötig gewesen, um aus seinem Tagtraum zu erwachen, drang das Wasserrauschen, das Stimmengewirr wieder an ihn heran und die Brunnenfigur verharrte nach wie vor in ihrer Position, erstarrt und kalt und bleich.
Eren verweilte noch ein paar wenige Momente, setzte sich dann jedoch wieder in Bewegung, denn er musste das Große Konsortium finden und seine Suche würde eine lange werden, denn in dem Gewirr aus Straßen, Gassen und Plätzen, das er nicht kannte und das ihn verwirrte, würde er sich so schnell nicht zurechtfinden.