Dinge, die wir heute sagten - Judith Zander - E-Book
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Dinge, die wir heute sagten E-Book

Judith Zander

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Beschreibung

Uwe-Johnson-Förderpreis 2011 Bresekow, ein Dorf in Vorpommern. Als die alte Frau Hanske stirbt, kommt ihre Tochter Ingrid mit ihrer Familie aus Irland zur Beerdigung. Ingrid hatte Bresekow vor vielen Jahren fluchtartig verlassen. Der Besuch verändert vieles im Dorf, wirft gerade für die Familien Ploetz und Wachlowski alte und neue Fragen auf. Die Dorfbewohner beginnen zu sprechen, über ihr derzeitiges Leben und ihre Verstrickungen von damals. Bresekow war immer eine kleine Welt, eng, abgelegen und heute zudem vom Verfall bedroht.   Judith Zander lässt drei Generationen zu Wort kommen. Sie erzählt mit ungeheurer Sprachkraft von einem verschwiegenen Ort im Nordosten Deutschlands, von Provinz und Alltag, von Freundschaft und Verrat, vom Leben selbst.   Die Autorin wurde bei den 34. Tagen der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt für ihren Auszug aus 'Dinge, die wir heute sagten' mit dem 3sat-Preis 2010 geehrt. Sie erhielt für diesen Roman den Preis der Sinecure Landsdorf 2010 und war nominiert für den Klaus-Michael Kühne-Preis 2010. Zudem wurde der Roman auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises 2010 aufgenommen.       

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Seitenzahl: 774

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Judith Zander

Dinge, die wir heute sagten

Roman

Deutscher Taschenbuch Verlag

2012Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München© 2010Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, MünchenDas Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlags zulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.Rechtlicher Hinweis §44 UrhG: Wir behalten uns eine Nutzung der von uns veröffentlichten Werke für Text und Data Mining im Sinne von §44 UrhG ausdrücklich vor.Konvertierung Koch, Neff & Volckmar GmbH,KN digital– die digitale Verlagsauslieferung, StuttgarteBook ISBN 978-3-423-41326-8 (epub)ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-14118-5Ausführliche Informationen über unsere Autoren und Bücher finden Sie auf unserer Websitewww.dtv.de/​ebooks

Die Arbeit an diesem Buch wurde vom Edith-Stein-Haus in Wrocław durch die Kulturstiftung des Freistaates Sachsen sowie vom Künstlerhaus Lukas in Ahrenshoop gefördert.

MEINEN ELTERN

Inhalt

JOHN & PAUL

ROMY

INGRID

DIE GEMEINDE

PASTOR WIETMANN

HARTMUT

ELLA

SONJA

ROMY

JOHN & PAUL

HENRY

MARIA

DIE GEMEINDE

INGRID

ELLA

ROMY

ECKI

SONJA

JOHN

INGRID

JOHN

ELLA

PASTOR WIETMANN

ROMY

HARTMUT

MARIA

HENRY

DIE GEMEINDE

ECKI

SONJA

JOHN & PAUL

ROMY

ELLA

HARTMUT

JOHN & PAUL

INGRID

MARIA

DIE GEMEINDE

HENRY

ECKI

ROMY

ELLA

JOHN & PAUL

SONJA

PASTOR WIETMANN

DIE GEMEINDE

HARTMUT

ROMY

INGRID

HENRY

JOHN & PAUL

MARIA

ELLA

ECKI

DIE GEMEINDE

SONJA

ROMY

STRAWBERRY FIELDS FOREVER

JOHN & PAUL

IRGENDWANN WENN ICH EINSAM BIN

WÜNSCHEND DU WÄRST NICHT SO WEIT WEG

WERDE ICH MICH ERINNERN AN

DINGE DIE WIR HEUTE SAGTEN

ROMY

So glotzen sie vom Regal: die bröckligen Leiber im spitzen Winkel, die Scheren die Schenkel, leichte Schlagseite beide. Zwielicht. John und Paul. Mehr gibts nicht zu sagen? Achso, Paul fehlt ein Auge. Nicht so schlimm, PAUL IS DEAD.Das ist kein Rätsel, das ist offensichtlich. Wie auch immer. However. Was für ein Wort. Es ist großzügig, niemand hier kennt es, aber es klingt wie die Wellen, wenn sie gemächlich sich dem Strand überlassen, die ganze Ostsee singt beständig however, however. Es klingt beinah wie ein Name.

Was weiß das Dorf schon davon, das kleine Kaff im Hinterland. Mamas dusslige Heimat, »Sammelstelle für Bekloppte«, wie Papa zu sagen pflegte, bevor wir herkamen vor einem Jahr, aus der Stadt, na ja Stadt. Und sechs Kilometer machen noch keinen Unterschied. Nur döst jetzt vor der Haustür der Acker, das geschorene Feld mit den blonden, harten Stoppeln, moddrig und mürrisch, vom gleichen Schlag. Hinterm Rücken, auf der Lauer, die sogenannte Gemeinde, dort klatscht und tratscht und meckert und schuftet und lungert es wie ehedem. Und es guckt Fernsehen, hauptsächlich. Darüber der brösige Himmel, die käsige Käseglocke. Es stinkt im Dorf. »Alles Inzest«, sagt Papa.

Mittendrin der Eingang zur Hölle. Es ist nicht die Kneipe, wo bekanntlich »der Teufel Alkohol« haust. Es gibt keine Kneipe in Bresekow. Es gibt überhaupt nichts. Es ist das Zentrum des Nichts, das sich kurz hinter Berlin auftut und bis Rostock nicht aufhört. Hier liegen die verschwiegenen Orte, nachlässig verschüttet in einer Landschaft zum Übersehen, flach. Ein hässliches Endlein der Welt, über das man besser den Mund hält. Das Dorf kennt keine Aufregung, es regt sich nur gern auf. Über ein Geheimnis, das nicht verheimlicht wird. Das wird nicht gehütet, das wird sorgsam sich selbst überlassen, das wird genannt: die Elpe. Es ist kein Fluss oder so, keine tüdlige alte Verwandte der Elbe. Man muss es sehen. Man will aber nicht.

Auf der Elpe treffen sie sich, allabendlich. Auf der Elpe bauen sie Scheiße, auf der Elpe machen sie sonstwas. Auf der Elpe saufen sie. Auf der Elpe kiffen sie. Auf der Elpe drücken sie sich in muffigen Ecken rum und zeigen sich ihre Solariumsbäuche und hängen unerschütterlich dem Glauben an, ihre Zungen seien dazu da, sie sich gegenseitig in den Rachen zu stopfen. Es kreischen die Mädchen auf der Elpe, die Jungs teilen gerne aus. Auf der Elpe gibts Sauren Appel und Kloppe. Auf die Elpe geh ich nicht. Nein, meine Suppe ess ich nicht. Das ist nicht mein Bier, was da passiert, was da verschüttet wird. Die Bomberjacken, die Woche für Woche speckiger werden. Die dröhnenden Witze, die immer noch dreckiger werden können anscheinend. Die Auswüchse, spillrigen Ranken, Mädchengesichter überwuchert von Schminke, was gehn sie mich an. Die Wurzeln der Hölle.

INGRID

Die Heimat, na wenn schon.

»Da fahren wir also in deine Heimat«, sagt Michael, auf Deutsch, und grinst.

Du sagst: »Das ist nicht meine Heimat«, und da lacht er dich aus. »It’s not my heimat, you know, und sei froh, dass du so ein Wort in deiner einfachen Sprache nicht hast!«

Dann versucht er, dich in den Arm zu nehmen, du glaubst, ihretwegen, aber du willst nicht, du rennst raus in den Garten. Manchmal kann man dort das Meer hören, wie diesen Abend. Dass es hier noch ›Kanal‹ heißt, stört dich nicht, und ein Georg ist dir doch nicht bekannt, von früher, zumindest kein heiliger. Die Luft schmeckt kalt und salzig, und du denkst, das ist der Herbst, früh dieses Jahr, und du wirst seinen Einzug verpassen. Dann fällt dir ein, dass drüben ja auch Herbst ist. Nur anders. Zwar auch, aber anders, da bestehst du drauf, stures Kind, weißt aber nicht, was du meinst damit. Verseucht, in- und auswendig, heillos. So was. Du hast die neuen Strumpfhosen zum Schulbeginn im Kopf und den Zuckerrübengeruch in der Nase, im Nacken ein Brennen wie von Hagebutten, die lästigen Bengels.

Trotzdem, der Herbst tat stets gut. Die Langeweile hörte auf. Man kam sich wieder brauchbar vor. Überhaupt anwesend. Im Sommer warst du nirgendwo, nicht im Bikini am See, nicht in der Eisdiele in der Stadt. Nicht im Heu mit irgendwem. Im Sommer hatte ständig einer Geburtstag. Im Herbst hast du kaum an irgendetwas denken müssen, außer träge an den Republiksgeburtstag, deinen eigenen hast du versucht zu vergessen. Alle anderen konnten das ja auch. Aber nun ist sie gestorben, die deine Mutter war, wer hätte das gedacht, hat einen Todestag und du eine Pflicht.

FRISCH WEHT DER WIND/DER HEIMAT ZU/MEIN IRISCH KIND/WO WEILEST DU? Jetzt tu nicht so, das ist nicht neu. Das ging dir alle paar Wochen im Kopf rum, seit Michael es dir damals vorgelesen hatte. »Das steht doch nicht so da«, hattest du gesagt und gemeint: so auf Deutsch. Er hat dir das Buch hingehalten. Es war bloß ein Zitat.

Als du ins Haus zurückgehst, sagst du zu dir: nein. Was dich daran denn jetzt noch anbindet: nichts. Nein. Du fängst an zu weinen. Michael versteht das natürlich falsch. Er weiß nichts, nein. Es wird gut sein für seine Arbeit, sagt er.

OED UND LEER DAS MEER.

DIE GEMEINDE

Na wat seggst dootau nu isse doot

Joo nu isse doot ick heww dat

De Olsch

Ick hab dat erst gestern inne Zeitung

Wer hat denn

Na Peter

Nee ick mein wer hatse denn

Na Wietmann

De Paster? Wieso

Gehste hin wir gehn hin wolln doch ma hörn

Wulln’w doch eis hüürn wat hei

Montach um dreie

Öwwer ick heww joo goor nix taun Antrecken

Wier sei denn krank

Nee

Ach weißt wat ick zieh die dunkelblaue

Dei Popelinjack

Ick hab sie ja noch na letzte Woche

Weckern kümmt denn doo vun ehr ick mein

Na Peter

Wat wird denn nu mit dat Haus dat hat doch gar nich

Peter mit seine Familie

Ach der is is der verheirat ick dacht

Dat hemm’w em joo goor nich

Un de Dochter?

PASTOR WIETMANN

Am liebsten hätten Sie sie ja wohl selbst unter die Erde gebracht, mein werter Herr Seelsorger, nicht? Aber dazu muss ich Ihnen leider mitteilen, dass dies denn doch Ihre schmalen Befugnisse überschritten hätte, halte mich aber in der Annahme, dass diese Tatsache Sie nicht weiter inkommodiert haben würde, wo es Ihnen doch schon seit vielen Jahren gelingt, sie tapfer zu ignorieren. Chapeau! Was ich aber meine, ist: Sie konnten die alte Hanske nicht verknusen. Um ihre Seele fiel Ihnen nicht ein sich zu sorgen, Sie wussten ja bereits, welchen locus inamoenus sie nach dem Entfleuchen aus dem welken Körper sich schleunigst aufzusuchen genötigt sehen würde, ja? Nun, wenn der großmächtige Fürst Rosshuf, den Sie oft so plastisch an die protestantisch nackte Wand modellieren, dass man wahrlich glauben möchte, Sie seien bereits in den Genuss einer näheren Bekanntschaft mit ihm gekommen wie weiland unser Sprachverbesserer, wenn er sich also als existent erweisen sollte und der rauhen Verschwendung von Tinte würdig, dann können Sie sicherlich, nachdem Sie das Pfarrhaus dereinst schließlich doch werden geräumt haben, sich artig vor ihm verbeugen und schöne Grüße von Frau Hanske verehren, sie war leider nicht abkömmlich.

Ach Gott. Danke für diese Pfarrstelle in der Ödnis und für den festen Glauben der Leute. Daran, dass ein Pastor zwar mehr als hinreichend, aber nicht unbedingt notwendig sei. So kann ich ihnen stets mehr geben, als sie erwarten. Ihre Erwartungen aber sind geringe. Sie haben nicht einmal erwartet, dass ich ihrer Sprache kundig sei.

Sprach der Bauer Bölschow zu seinem Weibe, als der Pastor vorüberschritt an ihrem rostigen Zaune und beide Eheleute ihm einen guten Tag entboten hatten, es heißet in ihrer Sprache aber: ›Tach‹ und wird für Personen gehobenen Standes ehrerheischend in die Länge gezogen zu: ›Ta-ach‹, sprach also Bölschow laut und vernehmlich: »Dän Lackoopen warn’w all stutzen, de sull sick man bloot nich upspääln, dän warn’w noch grugen mooken, Arndt ward em all denn Marsch bloosen!«

Der Pastor verfügte sich darauf seines Weges und kommenden Sonntages in seine Kirche, allwo er von der Kanzel herab gewahrte das Ehepaar Bölschow, einträchtig beieinander sitzend in der zweiten Reihe rechter Hand, denn es war die Einsegnung ihrer Enkelin. Ein gar liebliches Mädchen und so klug, dass es allezeit Nutzen aus seinem Liebreiz zu ziehen weiß, allein doch wieder nicht gar so klug, als den Nutzen nicht teils mit dem Schaden zu verwechseln. Und nur der Güte unseres Herrn ist es zu verdanken, dass diesem Schaden noch kein sichtbares Zeugnis ward.

Und als nun die Reihe an dem Lied mit der Nummer 341 des Evangelischen Kirchengesangbuches war, siehe, da ward zur Feier des Tages dem Hirten des Herrn gegeben zu reden in Zungen, und er sprach: »Nu wulln’w ma eis dieset Leid singen un dän Lackoopen vun Düüwel dän Marsch bloosen, dei sull sick man bloot nich upspääln. Ji mööten juch nich grugen mooken looten vun dääm, wi künn’n em tiedig nauch stutzen!«

Und die Gemeinde hob an zu singen, denn es war ein leidlich bekanntes Lied, jedoch des Pastors Blick fiel auch auf jene, die untereinander aufgebrachte Worte flüsterten, er aber betrachtete sie wohlgefällig. GAR HEIMLICH FÜHRT ER SEIN GEWALT,/ ER GING IN MEINER ARMEN G’STALT/DEN TEUFEL WOLLT ER FANGEN.

An die Tür der kleinen Kirche begab nach dem Gottesdienste der Pastor sich, um zu verabschieden seine Schäfchen. Unter all ihnen aber konnte er nicht mehr finden die Eheleute Bölschow, und auch die nachfolgenden Sonntage musste er ihrer vergeblich harren. Bei sich aber dachte er: das Wort des Herrn, durch ihn verkündet, habe sie so sehr erbauet, dass sie fürderhin keiner weiteren Stärkung bedürften. Und er dankte Gott für alles, was Er an ihm getan hatte.

In der Wirklichkeit war es anders. Ich bin nicht spazierengegangen, und die Gemeinde hat nicht gesungen. Gesungen habe ich, und ich bin gelaufen, gejoggt, wozu sie hier nicht anders als ›geschockt‹ sagen mögen, was mich ihren kreativen Umgang mit der Sprache nur neuerlich bewundern lässt, schaffen sie es doch damit, Ursache und Wirkung in einem Worte zu vereinigen.

Vergib mir, mein Gott, ich kann nicht anders. Meine Nächstenliebe ist mein Urteil, und umgekehrt. Und auch den sachten Ärger über Anna Hanskes Ableben sieh mir nach, der aus dem eigennützigen Trachten nach meinem Vorteil erwuchs, denn sehr zu meinem Vorteil wäre es gewesen, hätte ich noch ein wenig länger am Beispiel ihres Lebens lernen dürfen. UND HÜT DICH VOR DER MENSCHEN SATZ,/DAVON VERDIRBT DER EDLE SCHATZ:/ DAS LASS ICH DIR ZUR LETZE.

Doch dann gab sie keine Antwort, an dem Morgen, sie lag noch in ihrem hohen, kurzen, schon lang wohl nur noch einseitig beschlafenen Bett, und ihr Tod war die letzte Lektion für mich. Sie hatte wie immer die Tür nicht verschlossen, der Tisch in der Küche war für das Frühstück gedeckt, als wollte sie sagen, halb so wild, komm rein und iss erst mal einen Haps. Niemand hat ihr wohl den Tod zugetraut, aber ich glaube, sie hat gewusst, mit wem sie es da zu tun hat, und dass es nicht lohnt, seinetwegen einen Aufwand zu betreiben. Mitnehmen wollen hatte ich sie zum Arzt in die Stadt, sie hatte über diesen Termin gelacht und mit dem Kopf geschüttelt und endlich recht behalten. Nun nahm sie mich mit. Die Sonne schien auf ihre Schulter, so dass man, als man sie anfasste und nicht weckte, nicht einmal erschrecken musste ob der Kälte des letzten Schlafes. Hoffährtig mag es sein, aber glauben muss ich es doch, dass ich der Einzige wohl war, der ein wenig um sie weinte. Ach, verzeih, Peter Hanske, wovon aber war dein Gesicht so rot und bildete einen so hehren Kontrast zum fernen Weiß deiner Schwester?

HARTMUT

Die war da. Die war wirklich da. Hat Britta erzählt, die mit Mutter hingegangen ist, komisch eigentlich, weil ja beide anscheinend gar nicht hinwollten, Britta hat immerzu rumgestöhnt, dass sie nichts zum Anziehen hat, und denn die ganzen Leute, sieht ja aus, als ob man auch nur gaffen will, und außerdem, ne, was denn die alte Hanske sie angeht, und Mutter hat nur gesagt: »Na, doo mööten wi woohl.«

Als ich gesagt hab: »Na, sie war ja wohl deine Freundin, oder nich, ihr wart doch früher und so«, hat sie mich bloß so von oben herab angeguckt und gesagt: »Jou-o, Hartmut, du weitst dat nu wedder allet bääder, nä.« Gnatzig war sie, hab ich genau gemerkt, weil sie da nu hinmuss, und dann trau ich mich auch noch, ich, der verlorene Sohn, sie da an was zu erinnern.

Sie spricht immer Platt mit mir, wenn sie schlechte Laune hat, also so gut wie nur. Hab ich schon rausgekriegt, dass das so eine Art Trotz bei ihr ist, ne, sone Macke. Die denkt nämlich, wenn sie mit nem Lehrer Plattdeutsch redet, fühlt der sich irgendwie dadurch beleidigt, weil Platt ja nur für kleine Leute ist. Weshalb sie das auch sprechen darf, weil sie ja zu den kleinen Leuten gehört, »klein, aber nich doof«, und deshalb kann sie auch »sääh gut«, wie sie sagt, Hochdeutsch, aber das hebt sie sich für die etwas Besseren auf, und für sich selber. Echt wahr, die spricht Hochdeutsch mit sich selber; ich hab sie mal belauscht, da hat sie so komische Sachen gesagt wie: »Warum hast du das bloß gemacht?«, und ich war erst nicht sicher, ob sie da mit irgendwem quatscht oder was, aber dann hab ich gemerkt, dass sie da hinten alleine ist in ihrer Bude und da irgendwie mit sich selber zu Gange. Na ja, was heißt Bude, war vielleicht früher mal bloß die Veranda, aber wir haben das alles umgebaut, die Haustür ist ja jetzt auf der andern Seite, und kein Mensch braucht heute noch ne Veranda, und da haben wir schön Wärmedämmung und neue Fenster und Tapeten und alles gemacht, nicht dass du denkst. Die hats schon gut jetzt, die Mutter Wachlowski.

Montag Mittag ging das Theater dann los. Ich war grad aus der Schule da und den Kopf noch voll von diesen Itschies, ich könnt die alle. Alle zusammen in nen Sack stecken und ma ordentlich draufhaun. Manchmal bin ich ja dafür, dass die Prügelstrafe wieder eingeführt wird, du kriegst denen ja nix mehr rein in ihren Kopp. Achte Klasse, Mann, und vom kleinen Einmaleins noch nie was gehört! Und denn sollen die auch noch ne Gleichung lösen, das is aber nu zu viel verlangt, Herr Lehrer. Und kaum hab ich einen Fuß in mein trautes Heim gesetzt, und mit ordentlich Knast inne Röhren, sagt doch Britta, sagt die doch zu mir: »Hartmut, du musst noch ma los, Blumen besorgen, wir brauchen doch noch Blumen für die Beerdigung.«

»Was denn für Blumen«, sag ich, »is doch keine Hochzeit«. Aber weißt ja, wie die ist, die lässt einem keine Ruhe, die kann einem vielleicht aufn Nerven rumtrampeln. Ein ganz tückisches Stück Weib ist das, weil, man sieht ihr das ja nicht an, ich hab ihr das ja auch nicht angesehen, damals, du siehst die ja nur so von außen, und denn denkste, Mannomann, was Bessres kann dir gar nicht passieren. Denken doch alle, oder, dass der Hartmut da aber nen Sechser im Lotto gemacht hat, wa? Na ja, stimmt schon, sieht immer noch zehn Jahre jünger aus, als sie ist, Britta, ne, sagen doch immer alle. Aber manchmal, echt.

War aber zum Schießen, weil ich genau gemerkt hab, dass Mutter nu nicht weiß, ob sie mit ihrer vermaledeiten Schwiegertochter in eine Kerbe hauen soll oder nicht, aber da war wohl mal wieder ich dran, und Mutter fängt auch noch an: »Du hoolst jetz sofort paar weiße Chrisantem ausse Stadt!«

Hatse nu nämlich auch vor Schreck nicht gewusst, ob sie Hoch oder Platt sprechen soll, wahrscheinlich wegen Britta, die meckert sie zwar auch immer auf Platt an, und Britta immer: »Zum Glück versteh ich dich ja nicht«, aber gleichzeitig will Mutter nu vor ihr ja auch nicht als »un-ge-bil-det« dastehn. Und nu hat Britta Oberwasser und sagt: »Los, nu mach schon, wir haben nich ewig Zeit«, und ich also los, was willst denn machen.

Aber dann denk ich auf einmal, wieso ist die denn schon so früh zu Hause, ist doch Montag, und ich frag sie, warum, und sie sagt: »Ich hab die in der letzten Stunde ne Klassenarbeit schreiben lassen, die junge Tetzke, die Referendarin, die hat das beaufsichtigt, da konnt ich schon nach Hause, wir müssen doch nachher gleich los.«

»Und wie bist du ohne Auto nach Hause gekommen?«, frag ich, weil der Opel ja in der Werkstatt ist, und da sagt sie doch glatt: »Rolf hat mich mitgenommen.«

»Ach, der hatte wohl auch schon Feierabend oder was«, sag ich, und sie: »Ja, die Fünfte hatte Wandertag, da musst er heut ›keinen auf sportlich machen‹, wie er sagt, und konnte schon los.«

»Und dich gleich mitnehmen, oder wie?« ›Sportlich‹!

»Ja, war doch praktisch.«

»Na so was von praktisch, wa!« Ich glaub, ich spinn. »Na, is ja nix Neues!«

»Jetzt hör aber ma auf, Hartmut«, sagt sie, »ich glaub, du spinnst, und das is nu wirklich nix Neues! Jetzt mach ma hinter!«

Ich also los in die Stadt und diese beschissenen Blumen gekauft von meinem beschissenen Geld, und wie ich zurückkomm, seh ich Ella, die grad vom Bus kommt, und ich hupe, aber die geht einfach weiter, also fahr ich auch weiter. Als sie reinkommt, sag ich: »Na, wie war die Schule, nich so doll, wa?«, aber glaubste, du kriegst ne Antwort?

Mutter und Britta sitzen da immer noch rum und schlürfen Kaffee, zur Stärkung, sagt Britta, als ob irgendeine von denen wegsacken könnte, glauben die doch selber nicht, am allerwenigsten Mutter. Klucken da in ihren unbequemen schwarzen Klamotten, wie zwei fette schwarze Krähen, und Ella sagt doch glatt: »Wie seht ihr denn aus?«

Ich hätt ja fast gelacht. Aber das sagt nu grade die Richtige. »Und wie siehst du aus?«, sag ich, »guck dich doch ma an, in dei’m ewigen schwarzen Pullover, der stinkt doch bestimmt schon!«

»Hartmut!«, sagt Britta.

»Brauchst mir ja nich zu nahe zu kommen!«, sagt Ella, und mir wär wieder fast die Hand ausgerutscht.

»Elisabeth!«, sagt Britta.

»Fällt dir nix andres ein?«, sag ich. »Die weiß ja wohl, wie se heißt, und ich auch.«

»Wir gehn jetz zur Beerdigung von Frau Hanske, willst du mitkommen?«

»Nee!«, sagt Ella.

Und dann kommen sie nachher zurück, und Britta sagt: »Gab guten Kuchen«, und dann sagt sie: »Weißt du, wer da war?«

Ich sag: »Nee, will ich auch gar nich wissen«, und sie: »Na, die Tochter! Ingrid, so heißt die doch, oder? Mitsamt Familie!«

ELLA

Was ist das nun wieder für einer? Guckt mich an und dann weg und dann wieder an. Stand schon da, als ich angekommen bin, hat mir zugenickt. Mach mich bloß nicht an, hab ich gedacht, aber ich glaub, der ist harmlos. Ziemlich blass, ziemliche Schlafzimmeraugen, keiner von der Elpe. Zu fein dafür, sagen wir mal: gepflegt. Das ist ja echt ne Ausnahme hier, ne Seltenheit, na ja, ungefähr so, als würd einer wie Ecki sich bei einem entschuldigen, was der überhaupt nie machen würde. Einmal hat er lieber Pferdeäppel runtergewürgt. Hat ihm nicht grade geschadet. Hat ihm sofort den grenzenlosen Respekt aller Elpe-Typen eingebracht, sogar ein paar von den Älteren haben ihm wie blöd auf die Schulter gekloppt, als es rum war im Dorf. Nur die Weiber wollten nicht mehr mit ihm knutschen, hat anscheinend keine lange durchgehalten. Jetzt ist er der Boss. Arschloch.

»Sorry?« Das kommt aus dem Mund von dem geschniegelten Typen, er sagt auch: »Ich mein, wie bitte?«

Wie bitte? Ach Scheiße, hab ich wohl wieder laut gedacht. Doofe Angewohnheit, passiert mir auch in der Schule ständig, ich merk das gar nicht so, immer erst, wenn die andern schon komisch gucken oder kichern. Ich glaub, ich hab das von Oma, aber die redet inzwischen richtig mit sich selber, was die alle natürlich unmöglich finden, »jetzt verkalkt se«, sagt Mutti immer, aber Vati sagt, »nee, vergiss es, die is zäh wie n oller Truthahn, die überlebt uns noch alle.« Und dann lacht er ganz kurz, vielleicht weil es nicht so aussehen soll, als wenn er das ernst meint, oder weil er sich seine eigene Mutter als Truthahn vorstellt, oder was weiß ich. Manchmal muss ich da mitlachen, weil Omas Hals ja wirklich so truthahnmäßig runterhängt, und ich hasse das, echt, weil Vati einen immer zum Lachen bringt, wenn man grad nicht lachen will, sonst nie. Und deshalb denk ich manchmal, dass es wahrscheinlich gar nicht so verkehrt wär, wenn der olle Truthahn ihn überlebt. Außerdem, wenn seine Mutter so was ist, was ist er denn dann eigentlich?

»Schon gut«, sag ich zu dem Sorry-Typen, dass die neuerdings alle immer ›sorry‹ sagen, wenn denn doch mal ne Entschuldigung fällig ist, oder nur so, aber wie meint der das jetzt eigentlich, ich hör das jedenfalls ständig, sogar von Mutti. Kommt mir zwar ganz schön bescheuert vor, aber ist ja anscheinend cool. Das ist auch so ein Wort. Vati kriegt Ausschlag, sagt er, wenn er das hört. Ich auch, braucht er aber nicht zu wissen. Mutti sagt das trotzdem, sie sagt, es rutscht ihr so raus, weil ihre Schüler das sagen. Glaub ich aber nicht, ich mein, dass es ihr rausrutscht. Die kommt sich nämlich selber ganz schön cool dabei vor.

»Oh«, sagt er, er streckt mir die Hand hin, das soll wohl jetzt sone offizielle Vorstellung werden oder was, kaum macht man den Mund auf, rücken sie einem gleich auf die Pelle. Seine Hand ist ganz warm und weich, fühlt sich unglaublich gut an. Als würde man die eigene noch mal schnell unter die Bettdecke stecken, kurz nach dem Aufstehen.

»Ich heiße Paul, Paul Ishley.«

Krass! Und das morgens um halb sieben an der Bushaltestelle. Eindeutig englischer Akzent, na logisch, der Name, Mann! Ein echter Engländer oder Ami oder was. Ich merk, wie ich ihn anstarr, und wie immer auch noch schön den Mund offen, beweist ja wieder mal herrlich meine Dorftrotteligkeit. Ich guck schnell runter, da sagt er: »Ich komme aus Irland.«

Irland? Wie jetzt? Achso. Er guckt mich an, und wie, der hat ein Talent dafür. »Und du?«

Ich? Oh Gott. »Ich heiße Ella, also Elisabeth– Wachlowski, und ich komme– äh, na aus dem Dorf hier.« Na toll. Ist ja wie im Film. Der Bus, na endlich.

SONJA

»Ja, Renate, ja, mach ich, ne, tschü-üß!«

Mach ich, mach ich, ja, na klar, Sonja macht ja immer, Sonja bäckt einen Kuchen, Sonja bastelt mit den Kindern. »Du kannst doch so gut mit Kindern.« Ja, ja. Ach die Kinder, was können die dafür, und wenn ich es nicht mach… Die denkt sich, ich hab ja Zeit, ich bin ja zu Hause, ich komm ja sonst um vor Langeweile, wenn sie mich nicht anruft und mir Aufgaben zuteilt. Und als braver Christenmensch sagt man ja nicht nein. Nein, Renate, mach ich nicht, du kannst mich mal am Tüffel tuten. Such dir einen andern, die müssen sich nämlich auch nicht alle den lieben langen Tag ihre Ärsche vorm Fernseher plattsitzen.

Jaa, ich guck auch mal ne Talkshow. Aber nicht die blöden, wo es nur um große Busen, kleine Busen geht. Die tun ja alle, als müssten sie gleich sterben, bloß weil die entsprechende Oberweite fehlt, na. Ich hab nun immerhin auch schon vierzig Jahre damit überlebt, oder na ja, also, jetzt nicht vierzig, aber. Manchmal kommt aber auch was Interessantes, zum Beispiel, wenn sich Leute nach soundsoviel Jahren wiedertreffen, und manche keifen sich dann immer noch an. Meistens hab ich das beim Mittagmachen an, und dann kommt Romy von der Schule und sieht mich da auf der Lehne vom Sessel sitzen, wenns grad spannend ist, aber ich setz mich nie richtig hin, muss ja immer mal nach dem Essen gucken. Dann kommt sie rein und trampelt mir den Flur voll und rollt mit den Augen, Mama, was guckst du denn schon wieder für einen Scheiß. Ich glaub, sie hat Angst, dass ihre Mutter dabei langsam, aber sicher verblödet. Sie hat mich mal gefragt, wie ich das aushalte, ob mir da gar nicht komisch wird, wenn diese– Friedhelm würd sagen: »Knallkörper«, wenn die ihr doofes Zeug von sich geben. Nö, hab ich gesagt, ich hab gar nicht genau gewusst, was sie meint. Na, ob mir das nicht irgendwie peinlich wär.

»Peinlich, wieso«, hab ich gesagt, »nu übertreib ma nich. Andre Leute gucken sich noch ganz andre Sachen an.«

»Ach, Mama, du verstehst nich, was ich mein«, sagt sie da, sagt sie neuerdings ständig, und ich weiß nicht, ob aus Prinzip oder weil sie mich wirklich für schwer von Kapee hält oder bloß zu faul ist, mir was zu erklären. Ich hab manchmal Angst, dass sie ein bisschen überheblich wird, die Leute denken wahrscheinlich sowieso, was ich da bloß fürne arrogante Tochter hab, weil sie den Mund ja nicht aufkriegt, die grüßt auch nicht. Ich weiß ja, dass ich sie nerve, wenn ich immer sag, grüß die Leute im Dorf, und sie macht das dann erst recht nicht. Sie sagt: »Warum soll ich die grüßen, ich kenn die doch gar nicht.« Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll. Aber die kennen mich alle, und auf dem Dorf ist das nun mal so?

Friedhelm kann solche Sätze gar nicht ab. »Romy!«, sagt er dann, »du kannst doch nicht…«, oder: »du musst doch mal…« Der nimmt das alles immer gleich so ernst, irgendwie erschüttert das sein Weltbild, das passt dann nicht in sein Konzept. Er liebt Romy über alles, manchmal denk ich, viel mehr als mich, aber er will nicht, dass sie so ist, und ich glaub, ich weiß auch, warum, das ist aber schwer in Worte zu fassen. Romy könnte das besser. Ich sag mal: weil sie ihn zu sehr an ihn selber erinnert. Er grüßt doch die Leute auch bloß, weil sich das eben so gehört. Im Grunde hat er mehr Schiss vor den Leuten als ich und Romy zusammen. Nur eben alle auf ne andere Art. Friedhelm ist ja nach außen hin der beste, liebste, höflichste Mann, den man sich überhaupt vorstellen kann, und ich wünschte, er würd diese Schokoladenseite mal öfter mit nach Hause bringen. Ich– wie bin ich eigentlich? Na doch auch höflich, hilfsbereit, freundlich, das haben sie mir ja schon in der Schule immer auf mein Zeugnis geschrieben, und bei Romy steht zwanzig Jahre später das gleiche, auch noch mit den gleichen Floskeln, die machen sich da überhaupt keinen Kopp. Als Lehrer verblödet man wahrscheinlich auch. Dabei war ich oft auch n ganz schöner Querkopp, ich hatt zwar immer Schiss, und das Herz wummerte mir bis zum Hals, besonders in Stabü, da konnten sie einen ja gleich richtig drankriegen, aber ich hab schon den Mund aufgemacht, wenn mir was partout nicht gepasst hat. Romy würd da jetzt wahrscheinlich lachen. Wenn du das doch bloß mal machen würdest, Mama, na.

Aber die weiß, dass ihre Mutter kämpfen kann. Dass ich für sie immer in die Bresche springen würd. Wie damals mit diesem Drachen von Schwimmlehrerin, diese Spleißrieter. Kommt die doch zu mir in’n Laden und behauptet, mein Kind hat den Entschuldigungszettel gefälscht. »Das ist doch eine Kinderschrift!«, hat die zu mir gesagt. Und außerdem hätte Romy ja ihr Schwimmzeug mitgehabt. War natürlich doof von mir gewesen, und Romy hält mir das heute noch vor, wieso ich ihr überhaupt das Schwimmzeug mitgegeben hab, »das ist typisch«, sagt sie, »immer deine Übervorsichtigkeit: ›falls du doch noch schwimmen musst.‹« War aber wirklich meine Schrift, ich hab nun mal so eine Erste-Klasse-Schrift, wollte die aber natürlich nicht glauben. Da hab ich ihr mal ordentlich die Meinung gesagt, und dann hab ich sie so halb rausgeschmissen, na ja. Aber dann hab ich Angst gehabt, dass sie Romy nun erst recht schikaniert. Die konnten doch machen, was sie wollten, kam man ja nicht gegen an. Und Romy war eben schon immer schüchtern, deswegen will sie ja mit Leuten am liebsten gar nix zu tun haben. War das immer ein Akt, wenn sie bloß mal um die Ecke laufen und Brot holen sollte! Manchmal denk ich, ich hab da was falsch gemacht. Geschwister wären wahrscheinlich gut gewesen, und ausgerechnet ich hab nur ein Kind, aber ging ja nun mal nicht. Was die da damals mit einem gemacht haben– ich möcht nicht wissen, wie ich von innen ausseh. Die hatten mich ja schon aufgegeben. »Frau Plötz«, haben sie hinterher gesagt, »wir haben nicht mehr an Sie geglaubt.«

ROMY

Zum Glück nimmt Papa mich morgens mit, obwohl das auch nicht ideal ist. Er muss um sieben auf Arbeit sein, ich aber erst um fünf nach sieben in der Schule, da klingelt es zum ersten Mal, zum Reingehen, und eine frühere Anwesenheit ist ja wohl kaum erforderlich. Keiner, der einigermaßen normal tickt, stellt sich vor sieben auf den Schulhof, schon gar keiner aus der Zwölften, außer Anita vielleicht, und eben die armen Schweine namens Fahrschüler, die bei tiefster Nacht aufstehen müssen, damit der Schulbus sie dann eine halbe Ewigkeit zur Schule zuckelt und noch mal eine andere halbe Ewigkeit vor Unterrichtsbeginn dort ausspuckt. Bei Regen, oder falls es wirklich mal überaus kalt ist, dürfen sie sich in den Essenraum setzen, und man versuche mal, sich was Trostloseres vorzustellen, als morgens um kurz nach halb sieben in einem grell mit Neonröhren illuminierten und olfaktorisch nicht sonderlich ansprechenden Keller die Zeit abzusitzen, noch dazu mit der jeden Lebenssinn vernichtenden Frage, worauf man hier eigentlich wartet. Auf die Matheklausur in der ersten Stunde. Überhaupt, wer hat sich das bloß ausgedacht, wir sind die einzige Schule weit und breit, an der noch die sozialistische Zeitdiktatur des Proletariats herrscht, dabei ist es wissenschaftlich erwiesen, dass vor halb neun kein Mensch zu irgendwelchen höheren Leistungen in der Lage ist.

Andererseits hat man dann wenigstens nachmittags seine Ruhe und kann meistens schon um eins entkommen. Das heißt, nicht gerade mit dem Fluchtfahrzeug meiner Wahl, da muss ich dann doch in die Niederungen der Fahrschülerkaste hinabsteigen, da bleibt mir nichts erspart. Der Schulbus fährt den geballten Lärm übers Land. Er ist nichts anderes als ein Stahltopf, in dem konzentrierte Lärmsuppe schwappt, und jedes Dorf, jedes erbärmliche Kacknest kriegt seine lärmdampfende Ration zugeteilt, eine Kelle voll an den Straßenrand. Und man selbst mitten drin in der brodelnden Brühe. Verbleibende Garzeit: ein Schuljahr. Man kann nicht sitzen, man kann nicht denken, man weiß nicht, was man zu Ella Wachlowski sagen soll.

Die hat sich direkt neben mich gestellt, ich habe so was wie ein Lächeln zustande gebracht. Wir kommen ja jetzt aus demselben Dorf sozusagen. Ich seh sie da nie. Komisches Mädchen. Ich meine, ich weiß, die anderen denken auch, dass ich komisch bin, keine Ahnung, was Ella denkt, ob sie überhaupt manchmal was denkt, aber sie ist es jedenfalls wirklich, ich meine, wirklich komisch, seltsam. Wenn ich vielleicht auch strange bin– ein Wort, das mir übrigens gar nicht mal missfällt, ganz im Gegenteil, weil es ja gleichzeitig auch ›fremd‹ bedeutet, und ich glaube, das bin ich hier eindeutig– Ella ist weird. Macht zum Beispiel den Mund nur auf, wenn sie was gefragt wird. Sie sagt oft, »weiß ich nich«, oder: »keine Ahnung«. Sie hat so eine Art, mit den Schultern zu zucken, man hält das nicht für möglich manchmal, diese Teilnahmslosigkeit, oder was es ist. Wäre sie ein Junge, würde ich sie für einen angehenden Psychopathen halten. Aber den gibts ja noch zusätzlich. Dieser Sven, der sitzt in Chemie schräg vor mir, und ab und zu dreht der sich ganz langsam so halb zu mir um, mit einem engen iltisartigen Blick, zumindest muss ich bei ihm immer an einen Iltis denken, und ich habe absolut keine Vorstellung, was das soll. Ich grüble jedes Mal darüber nach, es ist einerseits beängstigend, andererseits hochinteressant, da undefinierbar, ich bin sogar schon auf den Gedanken verfallen, ob das seine verdrehte Art ist, Interesse zu bekunden, also an mir, womit er dann weit und breit der Einzige wäre, ausgerechnet.

Manchmal denke ich, die beiden würden ein hübsches Pärchen abgeben, also Ella und er. Sie sitzt wiederum in Chemie vor ihm, sitzt dort dösend und weiß nichts. Frau Pufesiels Redefluss, in dem es von sächsisch kolorierten »Pyrametschen«, »Löckmuspapierschen«, »Örlen-Mäyer-Kölbschen« und anderen Verniedlichungen wie von possierlichen Tierchen wimmelt, muss in Ellas Ohren wie das Rauschen eines fremden Meeres klingen, auf dessen Weiten sie schläfrig dahindümpelt. Und dann, plötzlich, überspült sie unerwartet und gefährlich zischend eine Welle in Form ihres eigenen Namens, »Elisabeth!«, und sie schnappt nach Luft.

Jetzt weiß sie aber wohl doch mal was, sie kommt ziemlich dicht zu mir ran, der Bus schubst sie mir noch entgegen. Ich rieche ihren Pausenbrotatem, als sie flüstert: »Hast du den Iren schon gesehn?«

»Was?«, frage ich. Ich bin mir nicht sicher, sie überhaupt richtig verstanden zu haben. Ich überlege kurz, ob auch sonst irgendwas nicht stimmt mit ihr, ob sie Aussetzer hat oder so.

»Na ja«, sagt sie bloß. Und dann wieder in diesem Flüsterton: »Er sitzt da vorne.« Sie zuckt mit dem Kopf. Was soll das? Ich kann es nicht ausstehen, wenn Leute flüstern, Mama macht das auch ständig, entweder man sagt, was man will, oder man lässt es.

»Wer?«, frage ich.

»Ich weiß nich«, sagt sie, jetzt fast normal, als hätte sie bereits gemerkt, dass sie mich krank macht und ich drauf und dran bin, das Gespräch abrupt und kommentarlos zu beenden. Als ob das eine meiner leichtesten Übungen wäre.

»Er hat bloß gesagt, dass er aus Irland is.«

Aus Irland! Das klingt wie vom Himmel gefallen hier. Mein Blick rastet auf einem dunklen Hinterkopf ein, den meint sie wohl. Ich traue mich kaum, ihr weitere Fragen zu stellen. Irgendwie glaube ich ihr auch nicht so richtig. Ich mustere sie von der Seite. »Wie heißt er denn?«

»Ach, weiß ich nich. Hab ich vergessen.« Sie lächelt und guckt mich ein bisschen kleinlaut an.

»Na ja«, sage ich.

Als der Bus an der letzten Bresekower Haltestelle bremst, steigt der sogenannte Ire tatsächlich mit uns aus. Nur wir drei, was aber immerhin schon eine Zuwachsrate von fünfzig Prozent ausmacht. Er geht auf Ella zu und sagt wirklich »Hallo« zu ihr. Und mich trifft der Schlag.

»Du wohnst auch hier?«, fragt er mich.

»Ja«, sage ich, ich bin total verdattert. Ella guckt mich an. Wohl weil nichts weiter von mir kommt, sagt sie: »Das ist Romy. Sie ist auch vom Gymnasium.«

Ich finde das ganz schön dreist, kann aber nicht weiter darüber nachdenken. Mich beschäftigt nur eins. Dieser Mensch sieht aus wie Paul. Paul McCartney. Wie Paul McCartney mit dreiundzwanzig wohlbemerkt.

Er gibt mir die Hand, er lächelt.

»Ich bin Paul«, sagt er.

JOHN & PAUL

GLAUBST DU AN EINE LIEBE AUF DEN ERSTEN BLICK

JA ICH BIN SICHER DASS ES STÄNDIG PASSIERT

WAS SIEHST DU WENN DU DAS LICHT AUSMACHST

ICH KANN ES DIR NICHT SAGEN ABER ICH WEISS DASS ES MEINS IST

BRAUCHST DU IRGENDJEMANDEN

ICH BRAUCHE NUR JEMANDEN ZUM LIEBEN

KÖNNTE ES IRGENDJEMAND SEIN

ICH WILL JEMANDEN ZUM LIEBEN

HENRY

Warum sie mit dem Brief angekommen sind, weiß er genau. Sie haben vorher kein Wort gesagt, sie haben ihm sein Mittagessen gegeben, und er hat alles aufgegessen, weil sie das gerne sehen, aber manchmal sagen sie auch, »schling nicht so«, manchmal sagen sie auch, »der frisst wie ein Schwein«. Dann hat er seinen Mittagsschlaf gemacht. Am Anfang wollte er nie Mittagsschlaf machen, zu Hause hat er nie Mittagsschlaf gemacht. Hier hat er sich dran gewöhnt, wie sie es ihm gesagt haben, »du gewöhnst dich schon dran«. Bestimmt hat er geschnarcht, sie sagen dann immer, »du hast wieder ganze Wälder abgesägt«, und das hört er gerne und lacht dann, er lacht immer laut darüber, wenn sie wieder sagen, du hast ganze Wälder abgesägt. Sie machen ja bloß Spaß, aber ihm gefällt das, dass er Wälder absägt und dass es auch noch lustig ist. Dass er beim Schlafen eine Säge hat. Ich hab doch keine Säge, hat er mal gesagt, und da haben sie alle gelacht. Er macht gerne Spaß, aber manchmal sagen sie, »jetzt reichts«, »jetzt hör aber ma auf«, und wenn er mit den anderen Spaß macht, verpetzen die ihn, und dann sagen sie zu ihm, »das macht man nicht« und immer solche Sachen, und dann hört er nicht mehr hin, dann hört er nämlich weg. Das kann er gut, das haben sie früher schon zu ihm gesagt, ja, das kann er, und manchmal haben sie gesagt, das ist das Einzige, was er kann, aber das stimmt nicht, aber das hat er ihnen nicht gesagt, dass er auch noch ganz andere Sachen kann, und auch nicht, dass er in Wirklichkeit das gar nicht so gut kann, weghören, in Wirklichkeit weiß er nämlich gar nicht, wie das geht, er weiß nur, wie man so tut, als wenn man weghört. Ha ha, hätte er hinterher am liebsten immer gesagt, ich hab gar nicht weggehört, ich hab alles gehört, was ihr gequatscht habt, aber dann hätten sie das ja gemerkt.

Und dann sind sie angekommen und haben gesagt: »Wir müssen dir was sagen, Henry«, und er hat erst mal wieder gelacht, weil sie so komisch ausgesehen haben, weil sie so ausgesehen haben, als wenn man nicht lachen darf. Sie haben gesagt: »Henry, deine Großmutter ist leider gestorben«, und dann haben sie ihm den Brief hingehalten, und er hat gelacht, weil er doch gar keine Großmutter hat, er hat doch gar keine Mutter. Und weil er doch gar keine Wörter lesen kann, schon gar nicht so viele Wörter auf einmal, so viele schwarze kleine Wörter, so viel Fliegenschiss, hat sie immer gesagt, »das ist doch nur Fliegenschiss«. »Da muss man sich nicht drüber aufregen.« Außerdem wollten sie bloß sehen, was er macht, wenn sie ihm den Brief zeigen, das machen die nämlich öfter, die zeigen ihm Sachen oder sagen Sachen zu ihm und wollen sehen, was er dann macht. Dann lacht er meistens, und dann sagen sie, er soll nicht immer bloß lachen, er soll mal was sagen, aber er sagt nichts, er nicht, er ist nicht so doof wie die andern, die sind doch alle doof. »Lass die doch alle«, hat sie immer gesagt, die sind doch alle doof, »die wissen das nicht besser.« »Du weißt das doch besser.« Er ist hin- und hergelaufen, er ist immer um den Stuhl drumrum und hat gesagt, »ich sag nichts, ich sag nichts, ich weiß das besser, ich sag nichts«. Sie haben gesagt, »Henry!«, und dann hat er gesagt: »Is Oma tot?«

Sie haben gesagt, ja, deine Oma ist tot, sie ist vorgestern gestorben, das steht in dem Brief hier, und dann haben sie wieder auf den Brief gezeigt.

»Das glaub ich nich«, hat er gesagt, »ich bin doch nich doof. Kommt Oma jetz aufn Friedhof, jetz gleich? Kommt sie jetz gleich in Himmel oder sonstwas?« Sie haben »Beerdigung« gesagt, und dass er da nicht hinkann, weil das nämlich nicht gut für ihn ist, weil das nämlich zu viel Stress ist und Ärger, weil das nicht gut ist.

»Ich war das nich«, hat er gesagt, ganz laut, »ich war das nich«, sie haben gesagt, beruhig dich, du kriegst gleich was, was zur Beruhigung, gleich, er hat ganz laut gelacht und gesagt, »ich war das nich, ich war das nich, ich war das nich«, sie haben ihn festgehalten.

MARIA

Tja, und unsereins muss nu noch immer noch weitermachen mit dem Leben. Du hast das ja immer besser gehabt, Anna, nich, wie oft hab ich zu dir gesagt, du hast das gut. Aber neidisch war ich nich, das kannst du nich sagen, na, manchmal hab ich schon geguckt auf deine Kleider, besonders das blaue mit die Rüschen, dabei hab ich ja gewusst, dass Blau mich gar nich kleidet, und du hattst so schöne blonde Haare, aber das is ja nu lange her, ach Gott, das is ja nu schon gar nich mehr wahr. Aber ich hab das alles noch im Kopf, ich, und du hast das vielleicht alles schon vergessen gehabt, du hast ja bloß noch gesagt, »na, Maria«, wenn wir uns mal übern Weg gelaufen sind, und dabei hast du immer son bisschen traurig geguckt, das hab ich genau gesehn, und da hab ich immer gedacht, na, du hast ja auch allen Grund zum Traurigsein, aber denk man nich, dass du da nich auch selber dran schuld bist. Denn wenn da nu einer neidisch sein konnte auf einen, denn du auf mich, wenigstens so von außen, aber ich sag dir, ich wär nich neidisch auf mich gewesen, mir ging das auch nich so gut, wie das vielleicht aussah, du brauchst dir nu nich einzubilden, dass nur dir das dreckig ging, bloß dass das bei dir nu alle gesehn haben, und bei mir haben sie bloß Simon gesehn und haben gesagt, was ich fürn guten Mann hab, und dass Maria Behn da aber ein unverschämtes Glück gehabt hat, und später haben sie denn Hartmut gesehn, und dass Maria Wachlowski da aber nu stolz drauf sein kann, dass ihr Sohn so gut war in der Schule und nu denn noch Lehrer geworden is, aber ich sag dir, mit Hartmut fings an.

Aber wenigstens is mir so was wie deine Ingrid erspart geblieben, das hätt ich auch nich ausgehalten, ich hab mich immer gefragt, wie du das aushältst, na, du bist da ganz anders als ich, na, gewesen, immer, wenn ich wegen was die Hände überm Kopf zusammenschlagen wollt, hast du nur gelacht und gesagt, »is doch nich so schlimm«. Manchmal hab ich gedacht, dass du kein Herz hast, oder nich ganz gescheit bist, dabei warst du viel heller als ich, hast mich ja abschreiben lassen in der Schule und dann mit mir gemeckert, »Abschreiben is keine Lösung«, hast du gesagt und mir versucht was einzupauken, und das mit den Gefühlen hast du gut versteckt, ich hab dich nie heulen sehen. Das hat mir als Erstes imponiert, dass du keine Heulsuse warst und die Jungs dich nich ausgelacht haben, ich glaub, nur deswegen wollt ich deine Freundin sein. Ich hab gedacht, dass du meinen Eltern gut gefallen würdst, weil die das Heulen ja nu auch überhaupt nich leiden konnten, aber dann konnten sie dich auch nich leiden und haben mich ausgemeckert, weil ich nu eine mitgebracht hatte, die sich wohl für was Bessres hält, »verstooht dei denn keen Platt?«.

Ich weiß nich, ob du dich nu wirklich für was Bessres gehalten hast, aber wenn, dann hattst du keinen Grund dazu, sag ich dir, Anna Hanske, du am allerwenigsten. Das hab ich nich verstanden, wie du bei dem ganzen Dreck vor deine eigene Tür immer noch so tun konntst, als wär da nix. Vielleicht konntst du nich für alles was, das mag ja nu sein, aber wenn einem so was alles passiert, kann man da nich noch stolz tun. Ich weiß ja, dass du die alle für bisschen beschränkt gehalten hast, wir haben da ja oft genug drüber gelacht, über Else und Martha und über Sieglinde, die, bloß weil sie Fritz Boohn geküsst hatte, nu Angst hatte, dass sie ein Kind kriegt, aber da hab ich nur dir zuliebe gelacht, ganz wohl war mir nich dabei, ich hab gedacht, wenn die nu wirklich ein Kind kriegt. Das is mir wieder eingefallen, als ich denn das erste Mal schwanger war, und da musst ich denn erst richtig dadrüber lachen, na wenns so einfach gehn würd, mit Küssen, hab ich gedacht, da hätt ich das aber lieber auch so gemacht, aber dann hab ich ja das Kind verlorn, und bloß paar Tage vorher hatt ich so über Sieglinde gelacht, weil die da ja auch schon eine Zeit verheiratet war, aber immer noch nich schwanger, vielleicht wartet die immer noch dadrauf, dass das mit Küssen was wird, hab ich gedacht, und da hab ich denn allen Ernstes angenommen, so, das is nu die Strafe dafür. Hochmut kommt vor dem Fall, das kam mir gleich in’n Kopf, das war mit das Erste, was die uns eingebläut hatten im Kommunionsunterricht, und ich Dummlack hab gedacht, dass das nu wirklich was mit Hinfallen zu tun hat, und hab immer penibel dadrauf aufgepasst, nich zu stolpern und lang hinzuschlagen, damit die nich denken sollen, dass ich vielleicht hochmütig war. Ich dacht, denn lassen die mich nich zur Kommunion und ich krieg nich so ein schönes Kleid, bis dahin muss ich aufpassen, hab ich gedacht, danach is egal, da können sie es denn ja nich mehr rückgängig machen.

Später hab ich nich mehr gewusst, ob du mich da nu dazuzählst, zu die, wo du immer gesagt hast, die haben doch keine Ahnung. Das haben die doch auch mitgekriegt, was du von die denkst, und da hab ich das beinah verstehen gekonnt, dass die denn ein bisschen, na, schadenfroh waren, als das mit Ingrid passiert is. Vorher hab ich das nich gedacht, als dein Theo nich mehr wiedergekommen is, ich hab gedacht, es is vielleicht wirklich wegen dem lütten Peter, was soll er denn nu von so ein fremdes Kind halten, aber da hast du mir leid getan, und ich hab auch gedacht, dass du vielleicht zu gut für Theo bist. Und später konnt ich auch nich verstehn, wie die da nu noch schadenfroh sein können, als Henry, das war doch wirklich schlimm, und die haben doch alle gesehn, dass du nu nix dafür kannst, da kann man doch nich mehr schadenfroh sein, vor allem schon wegen Erna nich. Da hab ich das verstanden, warum du auf die alle runtergeguckt hast, aber richtig war das trotzdem nich die ganze Zeit, und danach denn auch nich mehr, man muss wissen, wann Schluss is, wann man dat Muul hulln mööt.

DIE GEMEINDE

Hest ehr all seihn

Dei seiht doch noch so ut as wie doomols

As wenn sei goor nich öller

Dei is joo nu goor nich öller worden dat blonde Hoor

Ick kann mich ja nur n bisschen erinnern als sie mit ihrm

Aber die hat dat doch nich

Nie het sei dat seggt wer denn nu

Dei het ehr Mudder quäält un denn noch dat mit dän Henry

Nee nee

Und nu kricht se dat Haus oder wat dat Haus von Anna Hanske

Na is doch ehr Mudder öwwer Peter wat is mit em denn nu

Wat will die denn mit dat Haus wenn se da in England nu wohnt

Ach in Irland

Is denn nu ihr Mann uch n Irischer

Na der sieht doch schon so aus wie n so sieht doch nu kein Deutscher

Öwwer is dat nu ehr Soohn oder vun em der Soohn

Na dat is doch tau seihn dat is doch n Hanske durch un

Der sieht ihr nu aber gar nich

Wie der olle Hanske dei wier noch

Nu kricht se wohl dat ganze Geld noch als Belohnung dafür dat se

Und unsereins

Dei wulln doch nu nich hierbliewn

Na denn gut Nacht Marie

INGRID

Du hast keinen weiter angeguckt. Es wäre nicht möglich gewesen, ohne sofort einen Blick aufzugabeln, sie hätten alle gar nicht gewusst, wohin so schnell mit ihren Augen, hättest du aufgesehen, und du wolltest sie nicht noch mehr in Verlegenheit bringen, nicht wahr. Die meisten hast du erkannt, schon am Gang, an den verschämten Flüsterstimmen, als sie in die Kirche gestolpert kamen, an den Händen und den gehegten Beerdigungsjacken, als sie wie kopflose Puppen auf einem altersschwachen Fließband an dir vorbeiruckten und kurz ihre rauhe Hand in deine kalte legten, um dann eine Winzigkeit länger bei Peter zu verweilen. Er stand lang und sprachlos neben dir, für einen Augenblick wusstest du, dass er nicht dein Bruder ist. Aber umgekehrt, nämlich, dass er sehr wohl der Sohn von Anna Hanske ist. Du bist die rechtmäßige Erbin, wie lächerlich. Wie lächerlich du da rumgestanden hast, mit Peter an vorderster Front, und dem Feind nicht ins Angesicht zu blicken wagtest und nur an deine Rückendeckung dachtest. Du wusstest, dass Michael und Paul direkt hinter dir stehen, du hast dich an ihre Anwesenheit geklammert, ohne sie zu spüren, dein Rücken war kalt, als träten deine Hacken bereits auf freies Feld, als wären da nichts als Stoppeln, deine Familie abgemäht. Du hast dich nicht getraut, hinter dich zu greifen.

Der Pastor war dein Misstrauen nicht wert; als er dir die Hand gab, hast du in den graublauen Augen etwas gesehen, wofür du dir keine Entsprechung denken konntest hier und was dich an der Information, er habe den sogenannten Leichenschmaus befürwortet und organisiert, zweifeln ließ. Und warum hatte Peter das zugelassen? Das fragst du doch nicht ernsthaft. Aber du hast eine Weile gebraucht, um dahinter nicht nur die Wehrlosigkeit Peters zu sehen, sondern auch die Klugheit des Pastors.

Der Kuchen kam dir widerlich süß und schwer vor, er hat dich an die steifen, gerüschten Kindergeburtstagskaffeetrinken erinnert, bei denen es Muckefuck gab und man nicht krümeln durfte. Beim Anblick der Sahnetorte wurde dir stets übel, und du lehntest sie rundheraus ab, worauf man dir sowohl Undankbarkeit als auch Hochnäsigkeit vorwarf, »bei euch gibs wohl wat Bessres, wa«, und dir den Mund mit trockenem Sandkuchen stopfte, den man weder kauen noch schlucken konnte. Und so saßt du da, mit einem Klumpen im Mund, der dich stumm machte und dir den Atem nahm, der den Gaumen bedrängte und ein schmerzendes Gewölbe sein ließ und dir Tränen abpresste. Du wolltest keine Heulsuse sein. Du warst auch keine. Du hast nicht geweint, als Süwerts Hund dich gebissen hat und du die Tollwutspritze in den Bauch bekamst; du hast vor ihnen nicht geweint, als das Blut dir aus der Schulter spritzte, an der das neue Messer stolz ausprobiert worden war; du hast nicht geweint vor ihm, damals, nachdem. Wieso hättest du das ausgerechnet jetzt ändern sollen.

Aber du hast auf einmal gewusst, als du den Kuchen mit dem sauren Kaffee runtergespült hast, dass es gut war, dass sie ihn gebacken hatten, für Anna Hanske. Dass es gut war, dass sie alle hier herumsaßen und an Anna Hanske denken und auf Anna Hanske trinken mussten, dass der Pastor es verstanden hatte, sie in ihren eigenen Bräuchen zu fangen. Anna Hanske war unter der Erde. Aber hatte es dort bequemer als die hier, wie verspätete Gäste, an ihrem Tisch, wo man sich ja immerhin anständig, immerhin benehmen musste, und Anna Hanske konnte endgültig kein gutes Benehmen mehr abverlangt werden.

Dieses Haus ist dir fremd. Hier hast du nicht gewohnt, zwischen diesen wurmstichigen Schränken, unter diesem schweren Dach hast du keinen Schlaf gefunden, hast du sowieso nicht. Welcher von den Balken hat einen Hauch deines trostlosen Atems, eins deiner Moleküle gespeichert? Es muss alles gelöscht worden sein, als du begonnen hast, dieses Haus aus dir Schicht für Schicht zu löschen, bis es nur noch wie ein Abziehbild auf einem durchsichtigen Hintergrund klebte, wie die zarten, knittrigen Blumenbilder auf dem Spiegel in deinem Mädchenzimmer, bunter getrockneter Schneckenschleim, unberührbar, es muss begonnen haben, bevor du das Haus verlassen hast. Vielleicht war das der Grund dafür, und wieder verwirren sich Ursache und Folge, und wieder versuchst du vergeblich, in diesen schlingernden Kreisen einen Anfang zu erhaschen. Lass das. Verkauf es, so schnell wie möglich. Es ist deines Bleibens hier nicht länger. Als nötig.

Als sie weg waren, bist du gedankenlos zu der Ecke gegangen, in der immer der Besen stand, und du hast ihn dort, nicht verwundert, gefunden und die Krümel von den Dielen gefegt, »ein Teppich kommt mir nicht ins Haus, so ein Dreckfänger«, hatte Anna Hanske, ja, deine Mutter, auch öffentlich, gesagt und gelacht über die Putzteufelinnen, die nicht ahnten, was in ihren Persern hauste. Dass die sie ihrerseits auslachten, wenn auch ohne Lust und nur mit Häme, wegen ihrer nackten Dielen, tat ihrer Heiterkeit keinen Abbruch, im Gegenteil. »Die Nachbarn machen immer die beste Komödie«, sagte sie. Ja, hast du gedacht, besonders wenn wir die Nachbarn sind.

Peter war sofort und entschieden gegen eine Schenkung, das Wort erschien dir selber maßlos übertrieben, du hast versucht, es nüchtern, deutlich, rechtlich auszusprechen bei diesem Telefonat, das dir nach mehr als zwanzig Jahren wieder die Stimme deines Bruders an dein, in deinem Ohr, wie soll dieser Satz zu Ende gehen? Er hat dich gefragt, ob du inzwischen mit Akzent sprichst. Du musstest dir eingestehen, dass du die Stimme nicht sofort und selbstverständlich als die deines Bruders erkannt hättest. Auch nicht, wenn da noch Spuren des einstigen Stotterns gewesen wären, mehr, als diese kaum merkliche Achtsamkeit. Du könntest sagen: Er ist nicht dein Bruder. Und dass du nur deshalb das Wort ›Schenkung‹ in den Mund nehmen musstest wie ein Fremdwort, das einem dann peinlich ist, weil der andere es nicht versteht, weil man das vorher wusste. Dass du nur deshalb sagen musstest: »Ich dachte, du könntest es vielleicht brauchen.«

Du hast nicht einen Moment angenommen, Peter könnte das Haus bewohnen wollen, so ein Wille wäre dir abwegig vorgekommen, dir. Peter sagte, er brauche nichts, er sei zufrieden mit seiner Wohnung in Neubrandenburg, es gehe ihm gut. Du hast versucht, dir vorzustellen, wie gut es ihm geht mit seiner Neubrandenburger Wohnung, in der er mit seiner Neubrandenburger Frau lebt, von der dir aber nie eine Vorstellung geglückt ist, und erst recht nicht von seinen zwei Kindern, es waren doch zwei, oder.

»Ich dachte, du könntest es verkaufen«, sagtest du. Peter lachte, und du hast dich durchaus geärgert, durchaus wie früher, wenn er sich freundlich, überlegen über die abwegigen Ideen der kleinen Schwester mokiert hatte. Du hattest durchaus den Eindruck, in seiner brüderlichen Stimme liege eine Zufriedenheit, und zwar darüber, dass etwas, worauf er lange gewartet hatte, endlich eingetreten sei, als er sagte: »Nein. Verkaufen kannst nur du es.«

Er stand allein, ernst und in Schwarz, im Ankunftsbereich in Tegel, du warst erleichtert, ihn gleich erkannt zu haben, »it’s him«, hast du zu Michael und Paul gesagt und in Richtung des unbeweglichen Mannes jenseits der Scheibe geblickt, der in deine Richtung sah und kein Zeichen des Erkennens gab. Dir fiel das Wort ›unverwandt‹ ein. Du hattest kein schlechtes Gewissen, du fühltest dich mit deinem Unbehagen im Recht, denn du hattest nachgerechnet, dass die Zeit, die ihr verwandt miteinander, zum Miteinander verwandt habt, bereits von der Zeit, in der ganze fünf Briefe als seidene Fäden zwischen euch hin- und hergegangen waren und versucht hatten, das KÜNSTLICHE GESTRICKE zusammenzuhalten, um ein wenig, aber doch unsagbar deutlich geschlagen worden war. Michael fragte dich, ob er auch etwas Schwarzes hätte anziehen sollen. »Maybe«, hast du gesagt, und er murmelte einen Vorwurf. Paul war seltsamerweise völlig in Schwarz, was dir gar nicht aufgefallen war, weil er oft dunkle Sachen trägt, und du hattest es aufgegeben, ihm zu sagen, wie blass es ihn mache. Es war nur dumm, weil es nun aussah, als trüge er es zur stummen Zurechtweisung seiner respektlosen Eltern, es wirkte, wenn auch unbeabsichtigt, so aufgesetzt, dass du ärgerlich dachtest: Er kannte sie doch gar nicht. Und wie gesagt, du hattest kein schlechtes Gewissen.

Als du auf Peter zugingst, hast du dich dicht an Michaels Seite gehalten; der Gepäckwagen, den er vor sich herschob, war dir wie ein Schutzschild. Du hast Peter nicht angesehen, bis du vor ihm standest, du hast während des kurzen Weges auf das Geräusch deiner Absätze gelauscht und sinnlose kleine Dinge zu deinem Mann, deinem Sohn gesagt, auf die sie nicht geantwortet haben. Und dann habt ihr, Peter und du, im gleichen Moment Hallo gesagt, eure Stimmen gingen eine in der anderen unter, du hättest nicht sagen können, ob es tatsächlich Peter war, der dich begrüßte, ob tatsächlich du es warst, aus deren Mund ein »Hallo« kam. Und so warst du erschrocken, als du dein folgendes »Na« zwischen all den Stimmen um euch herum deutlich, überlaut hörtest, als wäre dir etwas Persönliches, ein Medikament, ein Tampon, durch Ungeschicklichkeit aus der Handtasche gefallen, auf das sich nun ausgerechnet die Aufmerksamkeit richtete, obschon sich niemand traute, es aufzuheben. Dann umarmte dich Peter. Durch sein schlechtes Aftershave hindurch, für das du sofort seine unbekannte Frau verantwortlich machtest, konntest du jenen Geruch wahrnehmen, der dich mit schmerzvollen, groben Stichen wieder an einen verblichenen Fetzen anheftete, den du dir vor langer Zeit mit einem Ruck abgerissen hattest, und er war erschreckend viel größer als damals. Peter gab Michael und Paul, die beide nicht wussten, ob sie lächeln sollten, die Hand, er sagte, ein wenig zu leise: »Na, denn wollen wir mal.«

ELLA

Ich habs ja gesagt. Aber immer erst mit den Augen rollen, hab ich übrigens genau gesehen, weißte, immer erst so tun wie, immer erst denken, sie ist ja Romy Plötz, aus der Stadt, und was geht denn sie das an, was hier passiert. Lass die man reden, die Dorftrottel. Und dann hat sie ihn doch angestarrt, angestarrt, jawoll, genau wie ich heut morgen. Ich hab erst gedacht, was is nu los, weil die erst gar nichts gesagt hat zu ihm. Vielleicht hat sien Schreck gekriegt, dass ich nun doch keinen Scheiß erzählt hab, dass das stimmt mit dem, Paul heißt er ja, hat er dann auch noch mal gesagt, wie heut Morgen, aber da hab ich das gar nicht so mitgeschnitten. Kann nicht wahr sein, hab ich gedacht, die sagt ihm nicht mal, wer sie ist, also hab ichs ihm gesagt, und da hat sie erst komisch geguckt. Aber ist doch scheiße, nur so rumzustehn, was soll der denn denken, dass wir hier nicht mal sprechen können oder was. Aber na ja, da ist nun mal einer gekommen zum Anstarren, und zwar nach Bresekow, und nicht nach Anklam. Da kommt nämlich auch keiner hin, normalerweise. Das machen sie doch auch bald dicht, da braucht sie sich gar nichts einbilden drauf. Hier ist sowieso Feierabend. Kein Schwein zieht hierher, freiwillig, die hauen doch alle ab, sobald sie können. Ich will nach Berlin, wie Thorsten. Oder in die Schweiz, später. Wie ist es eigentlich in Irland so? Er hat sich jedenfalls hergetraut.

Den ganzen Nachhauseweg musste ich ihn angucken, er kam mir ein bisschen vor wie ein fremdes Tier, also irgendwie artfremd oder wie man das nennt, wie n ausgebüxter Wellensittich oder so was. Da hatt ich beinah n bisschen Angst um ihn. Das sieht man doch gleich, dass der nicht hierher gehört, hab ich gedacht. Die machen ihn fertig. Wenn die von der Elpe ihn erst mal zu sehen kriegen, ist es aus, da soll er bloß einen Bogen rum machen. Wenn, na zum Beispiel, wenn Ecki das spitzkriegt, dann stachelt der doch gleich die andern Idioten auf, und wenn Paul denn vielleicht noch was Falsches sagt… Als ob man bei denen überhaupt was sagen könnte, was nicht falsch wär. Die halten das doch nicht aus, wenn einer anders aussieht als sie, nämlich besser, besser riecht vor allem, und auch sonst, das sind doch nichts als feige Ratten. Die haben doch…

»Jaa, verdammt noch mal!«