Prolog
Schweißperlen rinnen über ihr Gesicht. Sie schwitzt, obwohl es kalt ist. Fast am Gefrierpunkt liegen
die Temperaturen. Ihr blonder Pferdeschwanz hüpft hin und her zwischen ihren Schulterblättern über der blauen Trainingsjacke, die die Nässe von oben halbwegs abwehrt. Noch eine halbe Runde, dann hat sie es geschafft.
Ihr Parcours beginnt am nordwestlichen Rand von Spardorf, führt den Anstieg hinauf zur Marloffsteiner Höhe, nach Westen, am Waldrand entlang, wieder hinunter in den Wald, bis zu einer
Wegkreuzung, wo sie links abbiegt. Ein anspruchsvoller Rundkurs, den sie sich
vor Jahren ausgesucht hat.
Sandra ist siebzehn Jahre alt, fast. Montag-, Dienstag- und Donnerstagabend hat
sie Handballtraining in ihrem Verein, zweimal in der Woche joggt sie. Jahraus,
jahrein. Mittwochs und freitags, obwohl sie da bis fünfzehn Uhr dreißig Biologie hat. Deshalb kommt sie so spät raus.
Lockeres Traben. Am Samstag ist Punktspiel. Jetzt, Ende November, ist die Saison
auf Hochtouren. Morgen in Schweinfurt. Ein wichtiges Spiel gegen den
Tabellendritten. Nur nicht zu hart trainieren, hat der Coach gemahnt, damit sie
morgen nicht ausgepowert ist. Heute Abend wäre noch mal Besprechung, doch sie hat den Termin bereits gecancelt. Damit sie
bis morgen topfit sei, müsse sie lang schlafen. Das wüssten alle. Morgen fahren sie um zehn Uhr los. Da werde sie wieder in Form sein.
Bombig in Form. Sie muss lächeln. Schließlich ist sie der Star der Mannschaft. Da kann sie sich so etwas erlauben. Und
sehen wird sie hier beim Joggen keiner an diesem Abend. Dafür sorgt das miserable Wetter. Sie wird die Nacht vor dem Spiel bei Ilka
verbringen – hat sie zu Hause gesagt. Ilka, ihre beste Freundin. Die weiß viel, aber nicht alles.
Von den Nadelbäumen fallen Tropfen herunter, dicke Tropfen, die sich mit dem Nieselregen
mischen. Ab und zu fällt einer in ihr Auge und sie kneift die Lider zusammen. Allerdings nur kurz.
Sie will über keine Wurzel stolpern. Es ist bereits ziemlich düster. Sie muss nur noch über den Reitweg zurücklaufen bis dorthin, wo der schmale Pfad in den Sandschotterweg mündet. Von hier geht es bergab bis zur Spardorfer Schotterstraße. Dort endet der Wald, es wird heller werden und die Lichter von Alt-Spardorf
heraufleuchten. Unten, bei den ersten Häusern, hat sie ihr Rad abgestellt.
Die Bäume rücken dichter zusammen. Es wird rasch dunkler. Kurz vor fünf Uhr, Ende November. Sie hätte vielleicht eine Stirnlampe aufsetzen sollen. Aber sie hat nur die Ohrstöpsel ihres iPhones in den Ohren. Musik wirkt beruhigend. Ihr Daddy sagt immer,
sie soll wenigstens ihr Handy mitnehmen, wenn sie schon so spät allein in den Wald geht, um zu joggen. Und jetzt gibt es ihr auch wirklich
Sicherheit.
In der Schule haben sie gelernt, die Bäume des Mischwaldes hier zu unterscheiden. Die Wipfel der Kiefern, Eichen und
Buchen neigen ihre Köpfe im Wind fast zärtlich aneinander und wispern freundlich, als wollten sie ihr etwas zuflüstern. Sie denkt daran, wie sie später ihren Kopf genauso zärtlich gegen seine Brust lehnen wird. Sie beschleunigt ihren Schritt. Freitags läuft sie immer allein. Das ist ihr wichtig, um runterzukommen. Wegen der inneren
Spannung vor einem Spiel. Und heute wegen der anderen Sache. Sie muss innerlich
schmunzeln.
Sandra denkt an den Ball. Sie liebt den Ball, das Harte, das Runde, das genau in
ihre rechte Wurfhand passt. »Du musst den rechten Arm kräftigen«, sagt ihr Daddy. Deshalb trainiert sie viel mit Hanteln. Daddy war ein großer Handballer im selben Verein, in dem sie heute spielt. Im bekannten Handball-Club-Erlangen. Er hat es bis zur Zweiten Bundesliga gebracht. Sie ist jetzt schon weiter.
Nationalkader. Ihr Daddy war ein Held, aber leider ist seine rechte Schulter
ziemlich im Arsch. Und seine Knie. Trotzdem, sagt er, möchte er keinen Tag missen aus seiner aktiven Zeit.
Und das Tollste ist, wenn du den harten Ball am Wurfkreis fängst, umringt von gegnerischen Spielerinnen. Eine kleine Drehung, und aus vollem
Sprungflug wirfst du den Ball vorbei an der riesigen Torfrau, und der Ball
spannt für einen winzigen Moment das Netz, eine hundertstel Sekunde, bevor du den Boden
im Wurfkreis mit dem Bauch oder der Schulter berührst. Das ist Glück. Das wahre kurze Glück.
Sie will in zwei Jahren Abitur machen und dann Sport studieren und eine berühmte Handballerin werden. Nationalmannschaft. Das ist es. Sie ist auf dem besten
Weg dahin.
Der Reitweg wird enger und matschiger. Es ist, als würden ihre Schuhe an dem Matsch kleben bleiben. Sie legt einen Zahn zu. Heute
geht es leicht. Natürlich. Sie pumpt ihre Lungen richtig voll. Schnell an der Bank vorbei, die da an
der kleinen Wegkreuzung steht und an dem winzigen Teich mit der riesigen Wurzel
darin, in die jemand zwei gelbe Augen gesetzt hat. Sie blitzen in der
Dunkelheit. Ein Troll, so nennt ihn Daddy. Sie schaut kurz hin. Er hat die
riesigen Backen aufgeblasen, und darunter ist ein schwarzes Loch in dem
Wurzelkopf. Ein Mund, der bläst oder pfeift. Wurzelhaare stehen vom Kopf ab wie bei Max und Moritz, das wirkt
so echt. Die mächtigen Arme verschwinden in dem kleinen Teich, der um ihn herum ist und in dem
er für immer und ewig sein Spiegelbild betrachtet. Eigentlich ist es unheimlich,
findet sie, aber heute könnte sie über alles lachen. Eine letzte Biegung und dann geradeaus. Sie nimmt Tempo auf.
Schaut nach oben zu dem schmalen tiefgrauen Streifen des Himmels, der sich auf
die Baumwipfel niederzudrücken scheint. Sie kann das Glück fühlen, das sie durchströmt, obwohl es nach modrigen Blättern und Nässe riecht. Sie blickt auf ihre Füße, die im schlammigen Boden schmatzen wie Hunde beim Fressen und lauter als
Shakira in ihren Kopfhörern.
Sie hat einen Hund, einen Australian Shepherd. Donut. So hat sie ihn getauft.
Fand sie lustig. Geschenk von Daddy zu ihrem vierzehnten Geburtstag. Sie liebt
ihn über alles. Ein prima Hund, den sie gern zum Joggen mitnimmt. Nur heute nicht,
weil sie hinterher bei Ilka schlafen will, hat sie Mam gesagt. Und das war
gelogen. Sie hat Mam und Paps nie angelogen. Höchstens angeschwindelt. Ein bisschen. Diesmal hat sie lügen müssen. Eine Notlüge. Papa hätte es auf keinen Fall verstanden. Deshalb musste sie sagen, sie sei über Nacht bei Ilka. Sie ist die Einzige, die sie in ihr großes Geheimnis eingeweiht hat. Nur das Nötigste. Sie ist ihre beste Freundin und sie spielen in derselben Mannschaft. Sie
werden vom Mannschaftsbus morgen Vormittag um zehn Uhr abgeholt. Am
Emil-von-Behring-Gymnasium. Nicht weit von Ilka. Aber Ilka ist krank. Grippe
oder so was. Die kann nicht mit. Und Mam und Paps können auch nicht zuschauen. Oma-Besuch.
Sie ist so aufgeregt, dass sie ohne eine Joggingrunde geplatzt wäre vor Spannung. Ab morgen ist Schluss mit der Geheimniskrämerei, und sie darf es sogar in Facebook posten. Ab morgen.
Sie zieht das Tempo auf der Geraden noch mal an. Jetzt wird es heller, freier.
Die Bäume treten auseinander. Sie atmet tief aus und wieder ein und läuft noch einen Tick schneller. Keine dreihundert Meter mehr. Der Reitpfad mündet auf den breiten Schotterweg.
Sie sieht nicht den Schlag, der mit ungeheurer Wucht seitlich von unten kommt
und ihren Gesichtsschädel zertrümmert. Sie hört ihn auch nicht. Sie merkt auch nicht, wie sie der Schlag von den Füßen reißt, als hätte sie eine Lokomotive erwischt. Sie sieht auch nicht die große Gestalt in ihrem schwarzen Overall, mit der schwarzen Sturmmaske, die rasch
eine dunkle Plastiktüte über Sandras Gesicht stülpt und mit Klebeband lose befestigt.
Sie soll nicht ersticken, aber er will ihren zerstörten Kopf verbergen. Der Schlag hat gesessen. Perfekt, denkt er. Hat sich
ausgezahlt, dass er seit seiner Jugend Baseball gespielt hat und ein Jahr in
Chicago war.
Der Mann hebt sie auf wie eine Puppe und trägt sie zurück zu der Bank an der kleinen Wegkreuzung. Er legt sie auf die nass gesogenen,
dunklen, kalten Bretter. Zieht das Mädchen aus.
Entblößt liegt sie vor ihm. Im heißen Schweiß vom Laufen. Er kann es riechen. Sie dampft. Er muss aufpassen wegen der DNA.
Große Wassertropfen fallen von den Ästen auf das Mädchen hinab und vermischen sich mit ihrem Schweiß.
Mittlerweile ist es stockdunkel geworden. Seine Augen haben sich längst an die Dunkelheit gewöhnt. Schließlich hat er fast zwei Stunden in der nassen Kälte gewartet. Sie war heute später dran. Jetzt kommt ganz sicher niemand mehr den Weg herauf. Durch ihre
zerschlagene Nase und das, was von der Mundhöhle übrig geblieben ist, saugt sie Luft ein und stöhnt leise. Es klingt nicht menschlich, eher wie ein waidwundes Tier.
Dann öffnet er langsam den Reißverschluss seines Overalls.
»Ein fantastisches Geburtstagsgeschenk«, flüstert er vor sich hin. »Schade, dass es nicht ewig dauern kann. Wie gewonnen, so zerronnen.«
Er zieht eine Schnute. Wollust und der erste Teil der Vergeltung. Denkt er.
1
Kriminalhauptkommissar Jens Jendrich vom Erlanger K1, dem Dezernat für Gewaltverbrechen, schießt mit dem silbergrauen 3er-BMW um eine Linkskurve in die Kurt-Schumacher-Straße. Mit Blaulicht, ohne Sirene. Eisiger Regen prasselt gegen die Frontscheibe und
hämmert auf das Dach. Ein Schwall Wasser aus einer öligen Pfütze klatscht an die Sandsteinmauer eines Vorgartens jenseits des Bürgersteigs. Ein Fußgänger dürfte nicht am Straßenrand stehen, der wäre nass bis auf die Knochen, denkt Jendrich. Doch da steht an einem
Samstagmorgen kein Fußgänger um diese Zeit – die Digitaluhr zeigt acht Uhr fünfunddreißig. Der Wagen schlingert kurz, dann hat er ihn wieder im Griff. Kommissarin
Katrin Ebert, seit zwei Jahren seine Partnerin, sitzt auf dem Beifahrersitz und
krallt sich in das Polster.
Das GPS führt sie durch die Vorortstraßen und Sträßchen. Vorbei am Klinkerbau der evangelischen Markuskirche.
»Kannst du bitte langsamer fahren!«, sagt Katrin Ebert ziemlich laut, um das Motorengeräusch zu übertönen. »Die Leiche läuft uns nicht weg.«
Jendrich zögert einen Augenblick. Dann nimmt er den Fuß vom Gas und schaltet runter.
»So besser?« Er fährt ruhiger Richtung Sieglitzhof, wo bereits ein Ausläufer des Waldes die Straße von beiden Seiten zusammendrückt. Es wird noch dunkler.
»Hm.« Die Kommissarin legt ihre Hände in den Schoß, atmet tief durch. Er spürt ihren Blick von der Seite. Sie sieht sein scharf geschnittenes Gesicht mit
der Hakennase. Die kurzen braunen Haare, den grauen Schimmer an den Schläfen. Den graublauen Mantel mit übergroßem Revers und breitem Stoffgürtel mit Schnalle, der aussieht, als hätte er zwei Weltkriege überstanden. Old Fashion. Jendrich presst die Backenzähne rhythmisch aufeinander. Er ist unrasiert. Dafür war keine Zeit.
Vor knapp einer halben Stunde, genau sechs Minuten nach acht Uhr, hat sein
Smartphone geläutet. Für gewöhnlich döst er nur, wenn er Bereitschaft hat, und ist froh, die Nacht zu überstehen. Aber gerade heute, gegen Morgen, war er in traumlosen Tiefschlaf
gefallen. Schlaftrunken hat er auf dem Nachttisch nach seinem Handy getastet,
das einen schlafenden Löwen wachgerüttelt hätte.
Chris Hohlberg, der den Nachtdienst auf dem Revier gehabt hat, gab ihm kurz
Bericht: »Vermutlich jugendliche, nackte Tote draußen im östlichen Meilwald. Liegt – nach Aussagen der Streifenbeamten, die als Erste vor Ort waren – bäuchlings auf einer Bank. Der Kopf steckt in einer braunen Plastiktüte.«
»Ist sie erstickt worden?«
»Keine Ahnung«, meinte Chris.
»Aber eindeutig tot?«
»Kein Zweifel. Leichenflecken, Leichenstarre ...«
Jetzt lässt Jendrich sich von Chris noch mal über Headset Informationen ins Ohr sprechen, die er sofort an seine Kollegin
weitergibt.
Aufgefunden um sieben Uhr von einem Jäger, der mit seinem Jagdhund zu seinem Hochstand unterwegs gewesen sei und
sofort die Polizei via Handy verständigt habe. Die erste Streife sei um sieben Uhr siebenundvierzig zu Fuß am vermutlichen Tatort eingetroffen. Den Wagen hätten die Streifenbeamten etwa fünfhundert Meter östlich des Fundorts verlassen müssen, weil der weiterführende Weg zu schmal geworden sei. Der Jäger habe sie wieder via Handy gelotst und bei der Leiche auf die Beamten
gewartet.
»Übrigens«, fügt Chris an. »Der westliche Weg ist auch frei. Sie haben den Pächter mit dem Schlüssel für die Schranke gefunden. Da ist der Fußweg kürzer.«
»Jetzt sind wir schon hier«, muffelt Jendrich. »Wir kommen von Osten.« Er beendet das Gespräch und steuert langsam um die scharfe S-Kurve, die den Gemeindeteil Alt-Spardorf
durchschneidet. »Schau dir doch mal das Bild des Mädchens auf meinem Handy an«, fordert er seine Partnerin auf. »Sie wurde heute Nacht als vermisst gemeldet. Hat mir Chris auf WhatsApp
geschickt.«
Das Handy liegt auf der Konsole zwischen ihnen. Katrin nimmt es und schaut sich
das Bild an. »Hübsches Ding.«
»Allerdings. Die Mutter konnte in der Aufregung kein eindeutiges Merkmal nennen.
Vielleicht ein silbernes Fuß- oder Halskettchen oder auch nicht. Keine Ahnung!«
An einer kleinen Verkehrsinsel leitet das Navi mit seiner teilnahmslos
freundlichen Stimme Jendrich nach links in ein schmales Gemeindesträßchen ohne Gehsteige. Die kleinen Häuser reichen direkt bis an die Teerdecke heran. Im zweiten Gang fährt Jendrich bis zu einer Gabelung. Biegt links ab und sieht weiter hinten in
einem abgezäunten Stück Wiese ein Trafohäuschen, das in der Dunkelheit und bei Nebel- und Nieselwetter an einen
rechteckigen Wachturm erinnert. Rechts und links der Straße: Ein- und Zweifamilienhäuser. Gediegen. Obere Mittelschicht. Vor dem Trafohäuschen steht ein Uniformierter und winkt. Ein paar Meter oberhalb, am Rand eines
Heckenzaunes, steht ein Dienstwagen bereit. Mit dem Fahrer und eingeschaltetem,
kreisendem Blaulicht auf dem Dach.
Jendrich hält an und lässt das Fenster herunter. Der junge Uniformierte beugt sich hinein. »Hauptkommissar Jendrich?«
»So ist es.«
Der Wachtmeister nickt. »Wir sollen Sie und Ihre Kollegin zur Leiche bringen. Zunächst können wir noch ein Stück mit dem Auto den Weg da hoch. Und dann müssen wir ein paar Hundert Meter zu Fuß bis, ja …«
Der BMW fährt hinter dem Streifenwagen her. Die Teerdecke wird immer rissiger. Schließlich holpern sie über eine mit Schlaglöchern übersäte Schotterpiste, die stark bergan zieht. Auf der linken Seite, wo der
Heckenzaun nach Süden führt, steht ein Pferdeanhänger, an den ein gelb-blaues Mountainbike angekettet ist. Katrin schießt ein schnelles Foto mit ihrem Handy, es ist unscharf.
Rechts liegen einige eingezäunte Pferdekoppeln und Wiesen. Weiter oben erhascht Jendrich einen kurzen Blick
auf die Nebelwiesen eines Taleinschnitts, die auf der gegenüberliegenden Seite wieder auf die Höhe hinaufziehen. Dann umschließt sie der Wald wie ein schwarzer Mantel.
Jendrich und Katrin halten hinter ihrem Lotsenwagen an. Bis hierher haben sie
kein Wort mehr gewechselt. Jendrich setzt seinen Filzhut auf und Katrin ihre
blaue Wollmütze. Sie verlassen den warmen Wagen. Eine einfache Holzbank steht am Rand der
Lichtung. In alle Himmelsrichtungen führen Forstwege.
Ihr Lotse springt aus seinem Streifenwagen und deutet mit ausgestrecktem Arm auf
den mittleren. »Hier geht’s lang«, sagt er und läuft los. Es ist der einzige Weg, der überhaupt nicht befestigt ist. Eine matschige schwarzbraune Pampe.
Jendrich und Katrin eilen dem Beamten auf der linken Seite des Weges hinterher.
Jendrich schaut auf sein Handy. Es ist kurz vor neun Uhr. Und kaum heller als
vor einer Stunde. Am rechten Wegrand ragt aus dem morastigen Untergrund ein
fast schwarzes Holzschild. Reitweg kann man gerade noch lesen.
Die ersten Meter schlittern sie, sich mit den Armen ausbalancierend, den
glitschigen Pfad hinunter. Dann geht es ein Stück eben weiter, genauso sumpfig. Die Baumwipfel neigen ihre Häupter einander zu, als wollten sie sich zuflüstern. Laubbäume und Kiefern. Es riecht nach modriger Erde und verfaultem Laub. Schweigend
gehen die Ermittler hinter dem Uniformierten her.
Der Pfad führt rauf und runter. So rasch es die Verhältnisse zulassen, versuchen sie, ganz auf der linken Seite vorwärtszukommen, um möglichst keine Spuren zu zerstören. Kleinere Äste in Kopfhöhe zwingen sie dazu, sich im Gehen zu ducken.
Jendrich nimmt eine kleine Stab-LED-Lampe aus seiner Manteltasche. Es ist
einfach zu dunkel, um Einzelheiten auf dem schmalen Weg zu erkennen. Aber auch
mit Licht kann er keine klaren Spuren in dem Matsch entdecken. Katrin hat die
Lampenfunktion ihres Handys eingeschaltet. Dadurch werden sie etwas langsamer
und der vorausgehende Beamte muss seine Geschwindigkeit drosseln.
Jendrich flucht leise vor sich hin: »Da läufst du ja bis zu den Knöcheln im Schlamm.« Wäre er Lehrer oder Finanzbeamter, würde er nicht früh am Morgen zu einer Leiche gerufen. Ganz abgesehen von den Ferien, dem Gehalt
und und und … Aber er weiß, was Katrin dazu sagen würde: Nach einem halben Jahr wärst du von den Problemschülern ermordet. Oder vor Langeweile gestorben. Jendrich liebt Mosaike,
kriminalistische Mosaike.
Unvermittelt hält er an und geht in die Hocke. »Warten Sie mal«, ruft er dem Beamten zu. »Pferdekacke«, sagt er. »Und so was wie Hufabdrücke, wenn auch im Schlamm verwaschen.« Jendrich macht ein paar Fotos mit dem Smartphone, legt ein Streichholz neben
die Exkremente als Größenvergleich. Dann holt er einen Asservatenbeutel aus der Manteltasche, schabt
mit einem Stöckchen ein Stück von einem Pferdeapfel ab und verstaut es in dem Beutel. »Ziemlich klein«, sagt Jendrich leise, wie zu sich selbst.
Katrin fragt: »Was meinst du?«
»Na, die Äpfel. Kein Großpferd, würde ich sagen.«
Kurze Zeit später ducken sie sich unter dem östlichen rot-weißen Band durch, das im aufkommenden Wind flattert. Gleich dahinter steckt ein
hellblaues Täfelchen in der Erde mit einer schwarzen 1 darauf. Weiter hinten sieht Jendrich
noch mehr solcher Schilder. Der Regen ist in Schneeregen übergegangen. Dicke weiße Flocken haben sich unter die Regentropfen gemischt.
»Sieh mal, da sind plötzlich keine Hufabdrücke mehr und der Pfad ist irgendwie …« Katrin deutet mit der Hand nach vorn.
Jendrich ergänzt: »… er sieht fast aus wie geglättet, da vorn ist er dann aufgeworfen. Seltsam.« Ein paar Schritte weiter sind die Abdrücke von Hufen erneut sichtbar, und in Gegenrichtung die von Schuhen.
»Könnten vom Profil her Joggingschuhe sein, oder was meinst du?«
Katrin nickt im Weitergehen. Jendrich fotografiert die Spuren, neben denen die
kleinen Schildchen in der Erde stecken, legt neben einzelne ein Streichholz.
Der Blitz des Handy-Fotos sticht durch das Zwielicht wie der Speer eines
griechischen Rachegottes.
Nach zwanzig Metern führt ein steiler Hang nach links hinunter. Jendrich rudert mit dem rechten Arm.
Er ist froh, als er heil unten ankommt, auf ebenem Boden. Ein paar Meter weiter
bleibt er abrupt noch mal stehen, obwohl man schon das weiße Plastik des Baldachins durch das eng stehende Unterholz sehen kann. Das Licht
einiger verschiedenfarbiger Lampen flackert durch das Gehölz.
Katrin läuft fast auf Jendrich auf. Sie sieht ihn von unten herauf an, als würde sie erwarten, dass er was sagt. »Was ist?«, fragt sie.
Jendrich wendet sich dem kleinen Tümpel zu, der ihnen zur Rechten entgegenstarrt wie das Mundloch eines Drachen. An
ein paar Stellen tritt das schwarze Sumpfwasser über das Ufer. Er nimmt Katrin am Arm und dreht sie in die Richtung des
Drachenlochs. In der Mitte des Tümpels lauert etwas, das ihm seit seiner Zeit als junger Austauschpolizist in
Norwegen, in Gailo, einem kleinen Wintersportort, nicht mehr untergekommen ist.
Dort ist er in seiner Freizeit oft allein hinaus in die Wildnis gegangen oder
mit einem Motorschlitten gefahren. Und da sind ihm jede Menge dieser Dinger
aufgefallen, aus Holz oder Stroh, vermischt mit Schnee oder Eis, die einem
immer einen Schrecken einjagten, vor allem, wenn es dunkel wurde. Diese
Kobolde. Diese Trolle. Dafür ist jetzt keine Zeit. Jendrich lässt das Licht seiner Stablampe darüber gleiten. Er zuckt mit den Schultern, als würde er frieren.
»Als wollte einen das Ungeheuer anfallen«, sagt Katrin, Falten über der Nasenwurzel, die Lippen geschürzt, während sie den Troll anschaut.
Jendrich macht davon rasch ein Foto. »Eigene Sammlung«, meint er fast entschuldigend.
»Unheimlich«, sagt sie. Jendrich schaltet den Strahl seiner Lampe aus. Als Letztes nimmt er
das Spiegelbild des Trolls im Wasser des Tümpels mit. »Es scheint fast, der Mörder hat sich genau diesen Platz ausgesucht.«
»Werden sehen«, antwortet Jendrich vorsichtig. Ihm ist kalt.
Katrin stülpt die Kapuze ihrer Jacke über die Mütze.
Ein paar dornige Büsche, ein verrottetes Holzschild, mit Pfeil nach Osten. Spardorf steht auf dem fast schwarzen modrigen Holz.
»Rigor mortis«, brummt Kollitsch, der Chef der KTU und der Spurensicherung, in Richtung
Jendrich und Katrin Ebert. Sie stehen hintereinander auf dem schmalen Brett vor
dem Baldachin, unter dem die Lichtfinger mehrerer Stablampen zucken, die die
Kriminaltechniker eingeschaltet haben. Trotz der ultrahellen Standscheinwerfer,
die den Baldachin ausleuchten, sind sie zu sehen. Und die Bank, auf der die
Tote liegt.
Kollitsch hat den Mundschutz unterm Kinn baumeln. Sein sonst gepflegter,
hellblonder Schnurrbart ist nass und hängt an den Mundwinkeln herunter wie bei einem alten Seehund. »Totenstarre. Zwischen acht und sechsunddreißig Stunden hier draußen bei den Temperaturen. Wisst ihr ja selbst. Genauer kann es nur der Professor
sagen. Ist leider noch nicht da.«
»Wie immer.« Katrin stöhnt leise und schüttelt mit geschlossenen Augen den Kopf.
»Wird gleich kommen«, beruhigt Jendrich sie. Aus den Taschen seines Mantels fingert er zwei
Latexhandschuhe und streift sie über.
Sie treten unter das Dach des Baldachins, auf das der Schneeregen schmatzend
herunterfällt. Hier sind sie wenigstens vor der Nässe geschützt, wenn auch nicht vor der zunehmenden Kälte. Die weißen Gestalten der Spurensicherung arbeiten gespenstisch geräuschlos.
Die Tote auf der Bank wird von zwei Standscheinwerfern unter dem Baldachin
grellweiß angestrahlt. Ein beleuchteter kalter Raum im Dunkel der Umgebung. Eine Krypta.
Feucht-kalt und modrig. Der Wind rauscht in den Baumwipfeln und hebt die
schmutzig-weißen Planen des Baldachins leicht an. Jendrich vermeint den süßlichen Hauch von Kupfer wahrzunehmen.
Um die Tote zu sehen, muss er an drei Kollegen vorbeischauen, die zwischen ihm
und der Leiche stehen. Der Kriminalhauptkommissar zupft Sami am Arm, der am
dichtesten bei der Toten steht. Sami Alijai dreht sich um, grüßt murmelnd und drückt sich an ihm und an Katrin vorbei nach hinten. Auch die beiden anderen
Kommissare machen ihrem Chef und Katrin Platz und gehen an den Rand der
Lichtung. Sami telefoniert.
Jendrich kann keine Verletzung erkennen. Von der Figur her handelt es sich um
ein junges Mädchen von sechzehn bis achtzehn Jahren. Mit auffallend trainierter Muskulatur,
vor allem im Schulterbereich. Kein Fett. Schlanke, muskulöse Gliedmaßen. Der linke Arm und das linke Bein hängen über der Sitzfläche herunter. Sie sind dunkler gefärbt. Vom Nacken abwärts ist sie übersäht mit blassen Flecken. Wie hellbraune Seen, die mit Flüssen und Bächen verbunden sind, ziehen sie sich über die Rückseite des jungen Körpers. Die Schenkel sind gespreizt, auf dem linken zieht sich ein Blutfaden wie
ein mäanderndes Rinnsal dunkelrot hinunter bis fast zum Knie. Um den linken Knöchel liegt ein dünnes, silbernes Kettchen. Eine braune Plastiktüte, mit Paketklebeband am Hals lose befestigt und über den Kopf gestülpt, der über das schmale Ende der Bank hängt. Darunter sieht Jendrich eine Lache aus rotbraunem Mus. Deshalb der
Kupfergeruch. Jendrich schluckt.
Katrin steht gebückt neben ihm, die Hände auf die Knie gestützt. Deutet mit dem Kinn auf die Blutlache. »Also ist das Mädchen doch nicht erstickt worden.«
Jendrich kann nicht unterscheiden, ob sie das als Frage meint oder als
Feststellung. »Hm. Warten wir’s ab.«
»Aber woher das viele Blut? Halsschlagader? Oder …?«
»Keine Ahnung. Lass uns zuerst die Plastiktüte entfernen.« Vorsichtig hebt er die linke Hand der Toten aus dem Matsch. Sie ist kalt und
nicht menschlich, wie ein nasses Stück Holz, und bis zum zweiten Fingerglied verdreckt. Nichts zu erkennen. Nur dass
der Arm steif ist. Fühlt sich an wie die Schweinefüße in der Schlachterei seiner Kindheit. Ein Déjà-vu. Der Metzger schlachtete bei offener Tür des Schlachthauses mit einem Helfer zusammen. Beide hatten blutverschmierte
Gummischürzen an. Der heiße Dampf, das Quietschen der Schweine. Das Wasser, der warme Blutgeruch. Manchmal
durfte er mit seinem Kumpel in das Schlachthaus rein und die gerade
geschlachteten Schweine anfassen. Eine Mutprobe. Die Klauen der Tiere, die
schon eine Weile tot waren, fühlten sich an wie diese Hand hier.
»Was ist?«, fragt Katrin.
»Nichts.«
»Was für eine Verschwendung an jungem Leben. Sie hatte doch noch alles vor sich.« Katrin fährt mit Daumen und Zeigefinger der rechten Hand an ihrer Nasenwurzel auf und ab.
Kollitsch wartet hinter ihnen: »Wir haben da oben, beim ersten Schild, an der Birke, die am rechten Wegrand
steht, Blutspritzspuren am Stamm und an der Rinde ausgemacht. Eindeutig. In
einer Höhe von eins fünfundneunzig bis hinunter zu eins fünfzig und noch tiefer. Im ersten Schnelltest dieselbe Blutgruppe bei allen
Spuren von Blut, auch dem an ihrem Schenkel: Null positiv. DNA folgt natürlich später«.
»Also ist da oben schon was passiert?«, fragt Jendrich und richtet sich auf.
»Das kann man fast sicher annehmen. Da hinauf führen jedenfalls ziemlich frische Spuren von Frauen-Joggingschuhen der Größe nach zu urteilen. Die Gipsabdrücke bekommen wir noch. Dann können wir mehr sagen. Die Schuhprofile brechen bei den Blutspritzspuren plötzlich ab.«
»Habt ihr die Hufspuren von einem einzelnen Pferd auf dem Weg gesehen?«, fragt Jendrich. »Ich hätte davon gern Gipsausgüsse.«
»Geht in Ordnung, Jens. Haben wir schon dran gedacht. Ebenso an die aufgeweichten
Reifenspuren eines Mountainbikes auf dem Weg hier runter.«
Wortlos reicht Jendrich Kollitsch den Beutel mit Pferde-Äpfeln. Und sagt zu Katrin und seinen Kollegen: »Kommen mir klein vor, glaube aber nicht, dass sie von einem Pony stammen.«
»Was dann?«, fragt Katrin.
Bernd Klievers, der andere Ermittler, hebt den Kopf, sagt: »Bleibt eigentlich nur ein Islandpferd, oder?« Und fügt wegen der erstaunten Blicke seiner Kollegen hinzu: »Isa, meine Tochter, ist ganz wild auf Pferde und hat jede Menge Pferdebücher und DVDs.«
»Also, ihr schaut euch mal in den Ställen der Gegend nach solchen Isländern um und ermittelt die Halter«, ordnet Jendrich an.
»Übernehme ich«, antwortet Bernd Klievers. »Wegen meiner Tochter. Die sucht nämlich eine Reitbeteiligung oder einen Gaul, den sie streicheln und putzen darf.
Mädels in dem Alter, so mit sechs, sieben, sind total scharf auf Pferde. Keine
Ahnung, warum.«
Jendrich zeigt ihm das Foto von dem Pferdeapfel.
»Ja«, sagt Bernd zögernd. »Soweit ich mich da zwangsweise auskenne, könnte das tatsächlich von einem Islandpferd stammen. In Deutschland gibt es ja eigentlich nur
Großpferde, Shetlandponys und dazwischen eben die Islandpferdchen. Ich werde die
Gegend mal abgrasen.«
Das Rauschen in den Wipfeln ist in einen dumpfen Gesang übergegangen, der irgendwie bedrohlich klingt. Jendrich geht in die Hocke, ohne
auf die Schöße seines Mantels zu achten, und betrachtet intensiv die Lichtung. Er prägt sich alles ein, jeden Baum, das Licht, den geschlängelten Pfad, der aus Norden herunterkommt, eine Mountainbike-Route, Downhill,
die ziemlich steil nach Süden in den Wald eintaucht. Zwei schmale Fluchten nach Osten und Westen, der enge
Reitweg.
Die Lichtung ist etwa acht Mal acht Meter groß. Eingeschlossen von Unterholz und Bäumen, Kiefern, Fichten, Buchen, kräftigen Ahornstämmen, die jetzt fast nackt sind, wirkt sie wie ein Raum. Eine Halle. Ein Dom.
Die Wipfel der höchsten Bäume neigen sich im Wind aneinander. Jendrich fotografiert.
»Äh – jetzt sollte er aber allmählich auftauchen.« Selbst der Chef der Spurensicherung wird langsam ungeduldig.
»Stimmt«, pflichtet Katrin ihm bei.
Jendrich stimmt nicht mit ein, gibt seine Überlegungen zur Tat preis. »Jedenfalls kann es kein spontanes Verbrechen sein. Die Tüte, der Ort. Geplant, würde ich sagen. Er hat auf sie gewartet. Beziehungstat, tippe ich.«
Kollitsch schnauft tief ein und aus und sagt: »Und das Aberwitzigste: Der Täter hat die Kleidung des Opfers unter der Bank deponiert, fein säuberlich zusammengelegt.«
»Das ist mir gar nicht aufgefallen.«
Kollitsch zieht den rechten Handschuh aus und streicht mit Daumen und
Zeigefinger über seinen Schnauzer. Danach bläst er in den Handschuh und schlüpft wieder hinein. »Lag alles säuberlich zusammengelegt im Dreck. Darüber waren Blätter gelegt. Warum? Keine Ahnung. Es fehlen die Schuhe. Als hätte sie sich ausgezogen, um ins Bett zu gehen.«
Die Kleider der Toten sind eingetütet. Kein Ausweis oder irgendein Erkennungszeichen. Weißer Rolli, von unten bis oben aufgeschnitten, lange schwarze Jogginghose,
Stretch, weißer BH, hellblauer Slip. Blaue Windjacke mit einer kleinen Brusttasche für ein Handy, Schlüssel oder so. War aber nichts davon drin, obwohl Mädchen in diesem Alter doch eigentlich immer ihr Smartphone dabeihaben. Nur eine
Visitenkarte. Von einem Arzt aus Erlangen. Dr. Finn. »Eigenartig, oder? Wir sind gerade dabei, ihn ausfindig zu machen. In der Praxis
meldet sich der AB. Privat hat er wahrscheinlich Geheimnummern. Wie jeder Arzt.
Meine Leute werden das schnell checken können«, versichert Kollitsch.
»Kann ich die Visitenkarte sehen?«, fragt Jendrich.
Kollitsch wendet sich um. Ein junger Kollege reicht ihm einen verschlossenen,
durchsichtigen Plastikbeutel, durch den der Aufdruck gut sichtbar ist. Jendrich
holt sofort sein Smartphone aus der Manteltasche und fotografiert die Karte von
beiden Seiten. Er liest langsam und laut vor:
Dr. med. Gero Finn
Allgemein- und Sportmedizin
Amselgasse 2
91054 Erlangen
Tel: 09131-53687 / Fax: 09131-53675
»Kennt jemand diesen Dr. Finn?«, fragt Jendrich.
»Nur die Straße, in der seine Praxis liegt«, wirft Katrin ein. »Amselgasse, das ist mitten in der Stadt. Am Hugenottenplatz, direkt neben der
Hauptstelle der Sparkasse. Zentral gelegen.«
Jendrich fragt Kollitsch, aber der schüttelt den Kopf. Gerade als Jendrich sich zu Sami umdrehen möchte, dem IT-Mann in ihrer Truppe, haben sich alle nach Westen gewendet. Als
auch Jendrich sich umdreht, sieht er Professor Herrmann den westlichen Waldweg
heraufstürmen.
Hinter dem Professor hetzt ein junger, schlaksiger Mann mit schwarzer Pudelmütze her, den Arztkoffer aus Alu in der rechten Hand. Der Assistent Dr. Felix.
Jendrich kennt Professor Herrmann seit vielen Jahren. Auch der und sein
Assistent haben blaue Überschuhe und Einmalhandschuhe an. Der Professor ist Chef der
Rechtsmedizinischen Abteilung der Universitätsklinik. Ein Genie auf seinem Gebiet. Von internationalem Rang.
Herrmann ist Anfang 50, von fast runder Gestalt, was ein zu enges, braunes
Lederjackett mit schmalem Pelzkragen noch unterstreicht. Sein rötliches, mit Sommersprossen übersätes Gesicht ist perfekt rasiert. Der kahle Schädel wird von einem schütteren, hellbraunen bis grauen Haarkranz eingefasst.
Der Professor schnauft heftig. Er scheint immer in Eile zu sein, wie ein Arzt,
der zu einem Notfall gerufen worden ist. Aber seine Fälle sind keine Notfälle mehr. Große Tropfen zerplatzen auf seinem Schädel. Er wischt sie immer wieder ärgerlich mit dem Jackenärmel weg. Dann steht er keuchend vor dem Baldachin.
»Was liegt an?«, fragt Professor Herrmann und kaut auf seiner wulstigen Unterlippe.
Jendrich als Leiter der Einsatzgruppe antwortet. »Vermutlich sechzehn bis siebzehn Jahre alte weibliche Tote, die heute Morgen
gegen sieben Uhr gefunden worden ist. Von einem Hund. Respektive von dem Hund
eines Jägers auf dem Weg zum Hochstand.«
»Braver Hund«, sagt Herrmann. »Ah, Hauptkommissar Jendrich. Freut mich«, holt er schnell nach. »Und Kommissarin – äh – Ebert. Ein gutes Gespann, ihr zwei.« Der Professor reibt sich die behandschuhten Hände, klatscht sie ein paarmal aneinander, als wollte er applaudieren. Aber er
will sie nur wärmen, um das Gefühl in den Fingern zurückzubekommen.
»Wir freuen uns auch, mit Ihnen arbeiten zu dürfen.«
»Ja gut, danke. Und jetzt zu der Toten.« Er wendet sich zu Kollitsch. »Marc, das Wesentliche bitte.«
»Einen Moment noch.« Jendrich zieht sein Handy und zeigt dem Professor und Kollitsch das Foto der
Vermissten, das Chris ihm via WhatsApp geschickt hat. »Das ist Anja Haller. Sie hat blonde Haare, wie Sie sehen. Ein Model oder
angehendes Model. Ist gestern hier irgendwo gejoggt und danach nicht mehr
aufgetaucht. Die Mutter hat es gemeldet.«
Professor Herrmann sieht ihn von unten herauf an: »Schon mal ein Model mit solchen Schultern und Muskeln gesehen? Da kann eine
joggen, so viel sie will.« Er deutet auf die Tote. »Die hier war eine Sportlerin, da wette ich drauf.«
Jendrich tritt ein wenig zurück. Dann erstattet Marc Kollitsch Professor Herrmann Rapport.
Herrmann lässt sich eine kleine Lampe, eine Pinzette und ein großes Wattestäbchen von Dr. Felix reichen. Er hat ein Mini-Diktiergerät umhängen, in das er leise hineinspricht. Und dem Fotografen deutet er mit kleinen
Handbewegungen an, was der fotografieren soll: die Fingernägel, das Fußkettchen, den Blutfaden am Schenkel.
Dann der Augenblick, wo er der Toten behutsam die Plastiktüte vom Kopf zieht. Der fällt über die seitliche Kante der Bank herunter. Die blutverschmierten blonden Haare hängen nach unten wie Sauerkrautfäden. Aus dem Hinterkopf ist kein Blut ausgetreten. Keine Verletzung,
signalisiert Herrmann durch ein Kopfschütteln. Er sucht Kollitsch mit den Augen. »Umdrehen«, sagt er zu ihm, »aber passt auf, vor allem mit dem Kopf.«
Das ist auf der Bank nicht möglich, also breiten Kollitschs Leute erst eine Plastikplane auf dem Boden aus.
Sie passt gerade noch unter den erleuchteten Baldachin. Vier Spurensicherer
heben die Leiche herunter und drehen sie vorsichtig um wie eine Puppe aus
Porzellan. Auf der blauen Unterlage wirkt ihr Fleisch noch bleicher. Eine Tänzerin, die in ihrer letzten Pirouette erstarrt ist.
Was Jendrich jetzt vor Augen hat, sieht er zum ersten Mal in seiner langen
Berufserfahrung. Und er hat schon viele Tote gesehen. Aber dieses Gesicht.
Dieses bis vor Kurzem junge, hübsche Antlitz …
Alle schweigen. Man hört für einen Moment nur den nassen Schnee auf den Boden fallen und auf das Dach des
Baldachins klatschen. Der Wind singt in den Wipfeln der Bäume ein schmerzliches Lied. Bis Professor Herrmann noch mal tief Luft holt, als
würde er unter Sauerstoffmangel leiden.
»Mein Gott …«, entfährt es Laura.
»Himmel, Herrgott«, kommt es leise von Klievers, der sich mit der Hand über die nassen Haare fährt.
Thorax, Rumpf und Oberschenkel sehen aus wie eine marmorierte Landkarte, dunkler
als der Rücken, auch hier Bäche, Flüsse, Seen und hellblaue Meere oder braune Landschaften. Von rosa bis braun
ziehen sie sich über die ganze Leiche, die Totenflecken. Verursacht durch das Zusammenspiel der
Schwerkraft und dem Absterben des Herzschlags. Sofort nach dem Eintritt des
Todes haben die Zersetzungsprozesse auch in diesem jungen Körper begonnen. Kopf und Nacken sind jetzt, wo das Mädchen auf dem Rücken liegt, in der Totenstarre nach oben gereckt, als wollte sie etwas sehen.
Aber sie will nichts mehr sehen. Kann nichts mehr sehen. Eine Puppe, deren
Gesicht eingeschlagen worden ist. Der Gesichtsschädel des Opfers ist zerstört. Das Gesicht mit verschorftem Blut zugekleistert. Das rechte Auge ist ein blutiger Schlitz, mit großer Wucht ist es in die Augenhöhle gedrückt worden. Während das linke wie an einer Nabelschnur aus Nerven und Gefäßsträngen als kleine Erdkugel über dem Unterlid baumelt. Auch die Nase ist in den Schädel eingedrückt. Und in der blutverschorften schwarzen Mundhöhle stehen nur noch weiße Zahnsplitter. Die meisten Zähne fehlen. Aus beiden Ohren ist Blut geflossen, das schwarz geronnen ist. Ein
surreales Bild. Grauenhaft.
Jendrich sieht, wie ein welkes, nasses Ahornblatt im Wind heruntertrudelt, von
einem Windstoß unter den Baldachin getrieben wird und sacht zwischen den Brüsten der Toten landet. Diese jungen Brüste, die bis vor wenigen Stunden fest und warm waren, sind jetzt eingedellt, vor
allem die Brustwarzen, weil die Tote darauf gelegen ist und das Gewebe alle
Elastizität verloren hat. Die Haut ist rötlichbraun verfärbt. Verdammt, denkt Jendrich, wenn es einen Gott gibt, dann muss der sich doch
die Haare raufen und jeden Tag denken, was das für eine Scheißwelt ist, die er da geschaffen hat. Aber Jendrich ist Polizist. Er darf sich
solche Gedanken nicht erlauben, sonst kann er seinen Beruf gleich an den Nagel
hängen.
Professor Herrmann geht erneut neben der Toten in die Hocke, betrachtet und
betastet ihr zerschlagenes Gesicht und murmelt in sein Diktiergerät. Er lässt sich von seinem Assistenten wieder verschiedene Geräte reichen: Pinzetten unterschiedlicher Größe, einen Mundspatel, Wattestäbchen für die Abstriche aus den Körperhöhlen, ein Thermometer, ein Spekulum. Schnell tasten seine Hände den Körper ab, tasten nach Brüchen der Extremitäten und des Thorax.
»Größere Verletzungen – außer am Gesichtsschädel – kann ich im Augenblick nicht feststellen«, sagt der Forensiker. »Das Nähere wird die Autopsie zeigen.« Er nimmt fast zärtlich das Blatt von der Brust der Toten, zieht die Handschuhe aus und zerknüllt sie. Dann richtet er sich erstaunlich behände auf und wendet sich an Jendrich und Kollitsch. »Erschlagen, vergewaltigt, erwürgt«, sagt er knapp. »In welcher Reihenfolge, kann ich erst sagen, wenn ich das Mädel auf dem Tisch habe.«
»Wann ist sie gestorben?«, fragt Jendrich.
»Meiner oberflächlichen Schätzung nach – nimmt man ihre Körper- und die Außentemperatur – liegt der Zeitpunkt des Todes so vor fünfzehn bis siebzehn Stunden. Außerdem ist sie mit ziemlicher Sicherheit heftig vaginal penetriert worden.
Wahrscheinlich ante mortem. Andere Verletzungen, außer einer Menge Hämatome im ventralen Bereich sowie typische Würgemale am Hals, konnte ich jetzt nicht feststellen. Aber das wird sich zeigen.«
Katrin schaut auf ihre Armbanduhr. »Knapp zehn Uhr«, sagt sie. »Also ist das Mädchen gestern am Spätnachmittag zwischen vier und sechs Uhr umgebracht worden. Da war es schon
ziemlich dunkel.«
»Ungeplant hat das wohl niemand getan. Der Täter hat hier gewartet – oder, Kollitsch?«, versucht Jendrich sich bei seinem Kollegen zu vergewissern. Der zuckt die
Achseln.
»Wahrscheinlich ist sie immer am Freitag hier zur selben Zeit allein gejoggt. Und
das wusste wohl nur jemand, der sie sehr gut kannte.« Katrin richtet sich auf und streckt sich gegen die Kälte.
»Richtig. Ehrlich gesagt, hoffe ich, dass es doch diese Anja Haller ist«, flüstert Jendrich Katrin zu, der Professor, der anderer Meinung ist, soll es nicht
hören. »Wenn nicht, stehen wir ganz schön am Schlauch. Bis wir diesen Dr. Finn erreicht haben, kann viel Zeit vergehen.
Am Wochenende. Und wer weiß, ob der eine Ahnung hat, um wen es sich hier handelt. Wir müssen damit rechnen, dass die Visitenkarte reiner Zufall ist und warten, bis
jemand eine Vermisstenanzeige aufgibt. Die DNA wird nichts hergeben. Sie wird
kaum in unserer Datenbank zu finden sein.«
Jendrichs Smartphone singt Halleluja. Er nimmt es aus der Manteltasche und dreht sich um. Aha. Prima, Chris, dankt
er ihm still. »Anja Haller können wir abhaken«, meint er dann laut in die Runde und gegen den stärker werdenden Wind. »Sie hat tatsächlich bei einem Typen geschlafen. Der Akku ihres Handys ist leer. Jetzt ist sie
aufgewacht und hat ihre Mutter übers Festnetz angerufen.«
»Sag ich doch«, sagt Professor Herrmann, »nie im Leben ein Model.« Er gibt Dr. Felix Zeichen, dass die Tote in den Leichensack gepackt und
abtransportiert werden kann, und wendet sich zu Kollitsch um. »Die Visitenkarte, die bei ihr gefunden worden ist, bei der handelt es sich doch
um die eines Kollegen von mir. Darf ich sie mal sehen?«
Kollitsch hält ihm den Asservatenbeutel entgegen. »Hier. – Wenn die Tote nicht volljährig ist, warum ist sie dann nicht als vermisst gemeldet worden? Die ganze Nacht
nicht.«
»Weiß nicht«, antwortet Jendrich. Die Frage hat er sich auch schon gestellt. Aber keine
Antwort gefunden.