Dolfi und Marilyn - François Saintonge - E-Book

Dolfi und Marilyn E-Book

François Saintonge

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Beschreibung

Paris im Jahr 2060. Der geschiedene, alleinerziehende Geschichtsprofessor Tycho Mercier gerät durch einen Tombolagewinn in den Besitz eines Klons. Doch er bekommt nicht irgendeinen Klon vom Supermarkt geliefert: Es ist A.H.6, der sechste existierende, eigentlich verbotene Klon von Adolf Hitler. Dieser ist allerdings ganz anders als der Lieferant seines genetischen Materials: Er ist sanftmütig, bescheiden, unterwürfig und für Tychos Sohn ein willkommener Spielkamerad bei Computerkriegsspielen. Zu diesem merkwürdigen Hausgast gesellt sich bald noch ein Klon von Marilyn Monroe, den Tycho Mercier von seinem Nachbarn erbt. Sie verkörpert den Schwarm seiner Jugendjahre, aber auch sie riecht nach Ärger, denn es handelt sich um eine Raubkopie aus Südostasien …

Ein herrlich überdrehtes Spiel mit den Auswüchsen unserer modernen Welt und den langen Schatten der Geschichte, das uns zu einem waghalsigen Gedankenspiel verführt und uns augenzwinkernd den Spiegel vorhält.

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Seitenzahl: 386

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Die Originalausgabe erschien 2013 unter dem Titel »Dolfi et Marilyn« bei Éditions Grasset & Fasquelle, Paris.

1. Auflage

Copyright © Éditions Grasset & Fasquelle, Paris, 2013.

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2014 by carl’s books, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Umschlaggestaltung: semper smile, München

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-13971-1

www.carlsbooks.de

Ich heiße Mercier. Tycho Mercier. Mein Nachname ist ziemlich gewöhnlich, der Vorname weniger. Als Kind wurde ich damit immer aufgezogen. In der Schule nannten mich alle Psycho. Wenn ich protestierte, nannten sie mich Schizo. Ein Lehrer fand es witzig, wiederholt darauf hinzuweisen, dass ich mit solch einem Vornamen wohl hinter dem Mond leben würde und den Kopf in den Wolken hätte. Der Hintersinn dieser Bemerkung entging meinen Klassenkameraden. Die meisten von ihnen hatten noch nie von Tycho Brahe gehört, dem Astronomen mit der goldenen Nase. So ganz abwegig war die Anspielung meines Lehrers übrigens gar nicht: Ich war als Kind tatsächlich immer ein wenig zerstreut und weltfremd.

Mein Vater begeisterte sich für Astronomie. Er hatte nicht wie ich das Glück gehabt, sein Hobby zum Broterwerb machen zu können. Während seines gesamten Berufslebens war er Schleusenwärter gewesen, und direkt bei der Schleuse wuchs ich auch auf. »Sie ist mir treu geblieben«, pflegte er auf seine alten Tage zu scherzen. Ich vernahm in seiner Stimme ein Bedauern, das durch ein kleines Fernrohr gelindert wurde. In klaren Sommernächten richtete er es gen Himmel. Vielleicht hoffte er, indem er mir diesen seltenen Vornamen gab, dass er mich gewissermaßen auf die richtige Umlaufbahn bringen und ich mich zur Astronomie hin orientieren würde. Seine Hoffnungen wurden enttäuscht. Ich war schon von klein auf in Geschichte vernarrt.

Ich folgte meiner Neigung. Nie habe ich versucht, den Gang der Geschichte zu beeinflussen, weiß Gott nicht! »Geschichte machen«, das überließ ich den Staatsmännern. Oder den Massen, die, so sehen das ja einige Leute, ihr eigentlicher Motor sind. Um ganz ehrlich zu sein, habe ich mir da noch keine Meinung gebildet. Jedenfalls habe ich mich schon als Kind leidenschaftlich der Geschichte hingegeben. Es hätte ja genügt, sie zu studieren. Am liebsten las ich Bücher, die mit Geschichte zu tun hatten. Davon kann man allerdings seinen Lebensunterhalt kaum bestreiten. Um von der Geschichte leben zu können, gibt es leider keine sechsunddreißig verschiedenen Möglichkeiten, sondern nur drei. Die erste besteht darin, sie zu machen (die Politiker, die behaupten, dies zu tun, arrangieren sich in der Regel mit ihr, um komfortabel leben zu können). Die zweite besteht darin, sie aufzuschreiben. Das habe ich versucht … Und schließlich kann man sie unterrichten. Mein Studium berechtigte mich dazu. Ich hatte die entsprechenden Examensprüfungen gleich beim ersten Mal mit bestem Ergebnis bestanden, das darf ich wohl sagen, ohne damit anzugeben. Nach meiner Doktorarbeit bekleidete ich den Posten eines Dozenten für Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts. Allerdings war ich als Lehrer alles andere als ein Naturtalent. Wenn ich mit meinen Studenten einigermaßen zurechtkam, so deshalb, weil ich, wie ich gerne betonte, die Geschichte am liebsten vor ihnen ausbreitete. Das ist vielleicht nicht die beste, aber auch nicht die schlechteste Motivation, um diesen Beruf auszuüben.

Wenn ich es rückblickend betrachte, haben meine Exfrau Phoebé und ich eigentlich eher durch Zufall geheiratet. Wir hatten uns an der Universität kennengelernt, ich war damals Assistent, und sie studierte noch. Ich war gut fünfzehn Jahre älter als sie. Nach unserer Hochzeit kehrte Phoebé der Uni schon bald den Rücken. Bruno wurde geboren, und Phoebé hegte nicht dieselbe Leidenschaft für die Muse Clio wie ich. Sie fühlte sich eher von der Muse Terpsichore angezogen und liebte es, sich zu bewegen und zu tanzen … Sportlich, wie sie war, hatte sie ein Fitnessstudio eröffnet. Sie blühte auf, wenn sie ein Grüppchen Frauen mit Body, Turnschuhen und Stirnband herumscheuchen durfte, die den Blick nicht von ihr wandten und ihr Schweiß und Muskelkater zum Opfer brachten.

Schon nach wenigen Jahren fühlten wir uns einander entfremdet. Wir tauschten uns nur noch über Alltägliches aus. Ob irgendwelche Vorräte im Haushalt zu Ende gingen, Öl oder Kakao etwa, oder wenn die Überweisung der Grundsteuerrate anstand. Im Grunde hatten wir nur eins gemeinsam, unseren Sohn Bruno. Das war viel und wenig zugleich. Es war für sich genommen viel für jeden von uns, reichte aber nicht aus, um unsere Verbindung dauerhaft zu festigen. Zusammen mit einem Irischen Setter und einer riesigen Katze mit seltsam schmutzigbraunem Pelz bewohnten wir ein kleines Einfamilienhaus in einem ruhigen Vorort. Der Hund hörte, sofern es ihm gerade passte, auf den Namen Jingle-Bell. Die Katze nannten wir wegen ihres Fells Brownie. Wir hätten also glücklich und zufrieden sein können in unserem Kalksteinhaus. Bruno war übrigens durchaus glücklich, und seine Eltern hätten die Behauptung, sie seien unglücklich, damals weit von sich gewiesen … Im Nachhinein habe ich das Gefühl, mich im Grunde nie richtig mit der Vorstellung auseinandergesetzt zu haben, was Glück eigentlich ist. Ich arbeitete bis zum Umfallen an meiner Doktorarbeit. Und Phoebé widmete sich voll und ganz ihrem Fitnessklub. Während die Tage vergingen, ohne dass wir dessen gewahr wurden, begann unsere Beziehung allmählich zu bröckeln. Phoebé merkte es als Erste. Als sie mir von sich aus erzählte, sie habe einen Geliebten, litt ich allerdings nicht so sehr, dass ich einen Krieg zu ihrer Rückeroberung angezettelt hätte. Die Zeit, da Eltern lieber zusammenblieben und auf ihr persönliches Glück verzichteten, um ihrer Nachkommenschaft ein trautes Familienleben vorzuspielen, war schon lang vorbei. Bruno war nicht das einzige Scheidungskind auf der Welt. Nein, es gab unzählige, und keines war bisher daran gestorben.

Wir hatten uns in gegenseitigem Einvernehmen getrennt. Phoebé hatte unser eheliches Heim verlassen und die ganze Schuld auf sich genommen. Da wir Gütertrennung hatten, kam es auch hier zu keinem Konflikt, denn wir besaßen fast nichts gemeinsam. Das Haus, in dem wir wohnten, hatte ich von meinen Eltern geerbt. Jeder von uns hatte sein eigenes Auto. Das Einzige, worum wir hätten streiten können, war das Sorgerecht für Bruno. Doch da sie sich ihrer Schuld bewusst war, hatte Phoebé sich hier verständig gezeigt. Wir lebten also in schönster Harmonie und so nahe beieinander, dass Phoebé Bruno jedes zweite Wochenende zu sich nehmen konnte. Ihr neuer Lebensgefährte, ein junger Bankangestellter, spielte sich auch nicht als Stiefvater auf.

Ich hatte meinen Sohn, den Hund und die Katze, meine Bücher, meine Studenten. Ich war nicht unglücklich, nur ein wenig zögerlich. Mit meinen fünfzig Jahren wollte ich nicht unbedingt ein neues Leben anfangen. Fleischliche Begierden, denen ich früher in normalem Ausmaß nachgegeben hatte, lockten mich mittlerweile nicht mehr allzu sehr. Freilich war auch ich nicht blind für die Reize einiger meiner Studentinnen. Aus Erfahrung wusste ich, dass man mit der Stellung und dem Prestige eines Professors ganz schön Eindruck schinden konnte. Trotzdem sah ich wohlweislich davon ab, mich erneut auf eine derartige Beziehung einzulassen. Obwohl das prinzipiell weiterhin möglich blieb, hatte ich meiner Ansicht nach die Vorzüge bereits genossen, aber auch die Nachteile zu spüren bekommen. Und so betrachtete ich heimlich, aber fast ohne einen Anflug von Verlangen die Figur der einen oder den Gang einer anderen. Natürlich konnte ich nicht umhin, die Marilyn von Bassompierre, meinem Nachbarn, zu bewundern. Wie eine Königin schritt sie mit ihrem geflochtenen Korb am Arm umher. Wenn das Wetter es gestattete, trug sie hohe Absätze und das weiße Kleid, das Norma Jeane Baker auf einem indiskreten Lüftungsschacht zur Legende werden ließ. Bassompierre, Notar im Ruhestand, war viel älter und klappriger als ich. »Könnte ich doch eigentlich auch …«, dachte ich mir manchmal. Diese Begegnungen riefen hartnäckige Fantasien bei mir hervor. Doch abgesehen von moralischen Bedenken brachten sie der Gedanke an die Kosten und vor allem die Schwierigkeiten bei ihrer Umsetzung rasch zum Verschwinden.

Ich mochte meinen Vorort und meine Straße. Sie war genauso, wie ich mir die Straße, in der ich wohnen wollte, vorstellte. Sie war nicht allzu belebt, meist lag sie ganz friedlich da, bescheidene Einfamilienhäuser duckten sich auf grünen Rasenflächen hinter Mäuerchen mit Gitterzäunen, die im Laufe vieler sonniger Wochenenden gestrichen worden waren. Ich war aus tiefstem Herzen Vorortbewohner. Diese Art zu wohnen passte bestens zu mir, so wie mein alter Handschuh, der schon etwas ausgeleiert ist und sich an jede Bewegung anschmiegt. Ich zog ihn immer gerne an, wenn ich an den Tagen, an denen ich in Paris unterrichtete, am Bahnhof aus dem Zug stieg. Der ziemlich lange Weg bis zu meinem Haus machte mir nichts aus, auch im Winter nicht. Auf dem Hinweg überlegte ich, mit welchem Scherz ich meine Zuhörer heute begrüßen würde. Auf dem Rückweg ließ ich im Geiste noch einmal meine Unterrichtsveranstaltung Revue passieren. Hatte ich genügend Überzeugung an den Tag gelegt, hatte ich meine Studenten auch nicht gelangweilt? Hatte ich die Mechanismen, die Europa und damit die Welt vor einem Jahrhundert nicht an den Rand, sondern mitten in den Abgrund hineingeführt hatten, deutlich genug dargestellt? Die tragische Vergangenheit, in der ich mich aus beruflichen Gründen suhlte, beschäftigte mich allerdings nicht den ganzen Tag. Da war noch Raum für angenehmere Themen. Zum Beispiel für die ersten Sommerferien, die ich mit Bruno verbringen würde, ganz allein, ohne Phoebé. Es mussten unbedingt ganz besondere Ferien werden! Momentan schien Bruno relativ gut mit den Beschwernissen zurechtzukommen, die so eine Scheidung verursachte. Anfangs hatte er ein paar Tränen vergossen, als ihm aber klar wurde, dass die Trennung seiner Eltern lediglich einige kleinere Unannehmlichkeiten mit sich brachte, hatte er sich wieder gefangen.

Das gute Einvernehmen, in dem sich das Ganze vollzogen hatte, tat ein Übriges. Dennoch konnte ich nicht ausschließen, dass Bruno unterschwellig Ängste empfand, die irgendwann zu Problemen führen könnten. Ich fühlte mich schon im Voraus schuldig, obwohl ich für die Situation ja gar nicht verantwortlich war … Das Einzige, was ich mir vorwerfen konnte, war, dass ich meine Frau hatte ziehen lassen. Um nun dem Kind die restlichen Überbleibsel einer möglichen Furcht und mir selbst jegliche Spur von Schuldbewusstsein zu nehmen, mussten diese Ferien unbedingt ganz traumhaft werden. Und zwar für beide Seiten! Ich hatte mich auch mit Phoebé darauf verständigt, dass Bruno einen fabelhaften Sommer verbringen müsse. Sowohl mit dem einen als auch mit dem anderen Elternteil sollte ein Höhepunkt dem nächsten folgen: Schwimmen, Wasserski, Reiten, Bogenschießen. Und dann, unter meiner Führung, eine ausführliche Rundreise zu den Orten der Landung der Alliierten und den Kriegsschauplätzen in der Normandie. Das war der Programmpunkt, der Bruno am meisten begeisterte. Er war in dem Alter, in dem die meisten Jungen von historischen Querelen und Auseinandersetzungen träumen, von Panzerschlachten und Luftgefechten. Diese kindische Passion verschärfte sich bei ihm noch durch das väterliche Vorbild. Schließlich verdiente ich mit den weltumspannenden Konflikten des zwanzigsten Jahrhunderts, und hier insbesondere des Zweiten Weltkriegs, meinen Lebensunterhalt.

An jenem Tag, es wurde schon Abend, ging ich die Avenue des 8. Mai 1945 entlang, der Tag steckte mir in den Knochen. Es war ein Montag. Immer wenn Bruno das Wochenende bei Phoebé verbrachte, schlief er auch von Sonntag auf Montag bei seiner Mutter. Diese fuhr ihn dann morgens zur Schule. Bruno war ein ausgezeichneter Schüler und hatte soeben die fünfte Klasse übersprungen. Und so sah ich ihn jeden zweiten Montag erst abends, wenn ich aus Paris zurückkam. Die Schule war nicht weit von uns entfernt. Bruno konnte allein nach Hause gehen. An den Tagen, an denen ich in Paris unterrichtete, bereitete ihm die Haushälterin Madame Bougrat eine Mahlzeit zu und kochte uns auch das Abendessen, das wir vor dem Fernseher verspeisten. Um nichts auf der Welt verpassten wir die Nachrichten. »Die Nachrichten«, sagte ich immer voller Überzeugung, »das ist Geschichte direkt von der Front, wie ein Rohdiamant der Ereignisse mit all ihren Irrgängen und Lügen.« Danach galt es natürlich, die Spreu vom Weizen zu trennen, zu sichten, zu dechiffrieren, auseinanderzuklamüsern. Ich hatte Brunos kritischen Geist schon früh zu schärfen versucht und war gar nicht mal unzufrieden mit dem Resultat. Für den Kleinen war es mittlerweile ein Spiel. Wenn die Staatspropaganda glasklar zutage trat, wenn ein Politiker mit niedriger Stirn oder der Sprecher einer Polizeigewerkschaft zu schamlos log, rief Bruno mit seiner Kinderstimme: »Na, das wollen wir mal sehen!« Oder er tat, als würde er in eine imaginäre Trillerpfeife blasen. Dann lachte ich anerkennend auf, indem ich den Kopf in den Nacken warf: Er hatte ein gutes Gespür, später würde er auch einen Blick dafür haben, und wer weiß, vielleicht mauserte er sich eines Tages zu einem scharfsinnigen Historiker.

Nach dem Abendessen ging ich mit Bruno die Hausaufgaben durch, dann Zähneputzen und ab ins Bett mit einem Buch. Jede Woche nahmen wir das Fernsehprogramm genau unter die Lupe. Wir markierten die »sehenswerten Sendungen«, vor allem die historischen Dokumentationen. Die zeichneten wir dann auf und schauten sie uns an den Wochenenden an, die Bruno nicht bei Phoebé verbrachte.

Wenn Bruno im Bett lag und die Nase in eines der Bücher gesteckt hatte, die er bei mir aus dem Regal genommen oder heruntergeladen hatte, ging ich in mein Arbeitszimmer. Dort rackerte ich mich eine oder zwei Stunden mit meiner Sisyphusarbeit ab: der Umwandlung meiner Doktorarbeit in ein möglichst massenkompatibles Sachbuch. Dabei ging es nicht nur darum, den Text von dem für eine akademische Arbeit unerlässlichen wissenschaftlichen Beiwerk zu befreien. Mir war auch daran gelegen, die Erwartungen des modernen Lesers zu erfüllen. In Augenblicken eines regelrechten Schaffensrauschs wollte ich ein Buch kreieren, das dem rechtschaffenen Menschen des einundzwanzigsten Jahrhunderts die Augen öffnete. Wenn es den denn überhaupt noch gab!

Es war Frühling. Auf dem Nachhauseweg vergaß ich plötzlich meine Müdigkeit und bewunderte eine Glyzinie, die sich über ein altes verrostetes Gittertor rankte. Wie viel Zeit blieb ihnen wohl, der Pflanze wie dem Tor? Ein Stück weiter begeisterte mich der weiße Flieder, der sich über eine Gartenmauer reckte. Wenn es nur nach mir gegangen wäre, hätte ich diesen Sommer in meinem Vorort verbracht, vergraben in meine Bücher. Aber aus Liebe zu Bruno hatte ich beschlossen, alles zu ertragen, den schmutzigen Sand, der einen kratzte, die sengende Hitze, den verseuchten Ozean. Man konnte nicht behaupten, dass man am anderen Ende der Welt paradiesische Reinheit vorfindet. Es ist überall das Gleiche, wenn nicht sogar noch etwas schlimmer. Da konnte man ebenso gut an die Côte d’Azur fahren und sich dann wenigstens ein französisches Sommerekzem holen. Dennoch, zwischen einem harmlosen spontanen Ausschlag und einem vorprogrammierten Melanosarkom bestand ein Unterschied. Ich schwor mir, darauf zu achten, dass der Kleine sein Sonnenkapital nicht allzu rasch aufbrauchte und sich nicht zur Unzeit in die Sonne legte. Ich hatte auch Phoebé eindringlich gebeten, darauf zu achten. Als wir noch zusammen waren, hatte sie mich im Zuge ihrer Fitnessmanie und ihres Körperkults immer dazu ermuntert, auch braun zu werden. Ich weigerte mich hartnäckig. Ich liebte den Schatten. Auch im Bett zog ich weiße Haut einem gebräunten Körper vor. Freilich musste ich da die Rechnung ohne Phoebé machen, die das ganze Jahr über auf der Sonnenbank ihres Studios brutzelte. Wenn ich sie umarmte, war sie niemals milchweiß, sondern mindestens goldbraun, meistens jedoch kupferfarben, wenn nicht gar rabenschwarz. Und heute? Fehlanzeige. Weder braune noch elfenbeinfarbene Haut, höchstens mal Marilyns blendend weiße Wade oder Arme, die zufällig mein Gesichtsfeld kreuzten. Ich glaube, ich begehrte sie. Wenn ich sie sah, leuchtete tief in meinem Inneren ein schwaches Lämpchen auf, in einem völlig stillgelegten Bereich meines Seins. Meine Gefühle gegenüber ihrem Besitzer Bassompierre waren weitaus intensiver. Bei seinem Anblick schwankte ich zwischen Neid und Verachtung. Neid aus Gründen, die wohl nur zu verständlich sind, und Verachtung, weil das, was Bassompierre tat, verwerflich war. Legal zwar, aber verwerflich, und so fühlte ich mich plötzlich schuldig, weil ich Bassompierre einerseits beneidete, andererseits aber auch verachtete.

Während ich über all das beim Gehen grübelte, überfiel mich dieses Schuldgefühl ganz besonders heftig. Ich stieß einen Seufzer aus. Was konnte ich denn dafür!?

Ich tastete in meiner Hosentasche nach den Schlüsseln. Uff, da waren sie ja! Dabei brauchte ich sie eigentlich nicht, denn Bruno sollte ja zu Hause sein. Doch so war es nun einmal, ständig war ich besorgt. Wie oft ich fürchtete, meine Schlüssel zu verlieren! Als Kind war mir das auch häufig passiert. Als ich dann größer wurde, verlor ich sie immer seltener, irgendwann dann gar nicht mehr. Was nicht bedeutete, dass ich mir keine Sorgen deswegen machte. Während ich nämlich nach den Schlüsseln in meiner Hosentasche tastete, fragte ich mich, ob Bruno überhaupt zu Hause war, vielleicht hatte man ihn entführt, oder er hatte einen Unfall gehabt und war von einem Elektroauto überfahren worden. Die hatte man zwar aus Sicherheitsgründen mit allen möglichen Rasseln ausgestattet, aber es gab noch alte Modelle, die kein Geräusch verursachten. Ich zwang mich zur Vernunft. Hör auf mit dem Quatsch, und außerdem: Wenn man ans Unglück denkt, tritt es ganz bestimmt nicht ein. Das ist wahr, sagte ich zu mir selbst, wenn ich mir in dem Augenblick, in dem ich ins Auto steige, vorstelle, ich hätte einen Unfall, dann habe ich bestimmt keinen. Das wäre ein großer Zufall, wie eine Vorahnung, und Vorahnungen gibt es nicht. Das sind Ammenmärchen, Hirngespinste … Wenn man es recht bedachte, gab es keinen besseren Blitzableiter als die Vorstellungskraft. Stellte man sich ein schlimmes oder dramatisches Ereignis vor, bevor es möglicherweise eintrat, konnte man der unmittelbaren Zukunft ein Schnippchen schlagen. Das galt umgekehrt aber auch für glückliche Ereignisse. Stellte ich mir zum Beispiel vor, Bassompierres Marilyn würde mir bei unserer nächsten Begegnung auf der Straße zulächeln, um mich danach in das kleine Wäldchen hinter dem Supermarkt zu zerren, geschah natürlich nichts dergleichen. Daher stellte ich mir so etwas vorsichtshalber gar nicht erst vor, wenn ich in aller Unschuld aus dem Haus trat – und somit war wieder alles möglich.

Läuft in den Köpfen anderer Menschen eigentlich derselbe Film ab? Erzählen sie sich die ganze Zeit Unsinn, um einander Angst zu machen oder sich gegenseitig aufzuheitern? Die Staatschefs, die Entscheider in den Banken, Pferdemetzger, Bauarbeiter am Straßenrand, alle? Wenn das der Fall ist, dann gleichen sich wirklich alle auf allen Breitengraden – dann ist die Menschheit wirklich ein Haufen Einfaltspinsel!

Ich stieß die kleine Gartentür auf. Ich müsste mal wieder die Hecke schneiden und mich um meine Rosen kümmern … Ich schritt über die Bodenplatten auf die Vortreppe zu und stieg die sechs Stufen empor. Vor der Tür hielt ich unbewusst inne. Was, wenn die Tür nun doch zweimal abgeschlossen war? Wenn Bruno nicht nach Hause gekommen war? Also bitte! Ich hatte doch die Hypothese, dass ein Unglück geschehen sein könnte, bereits weggehext, indem ich es ausgesprochen hatte! Ich drehte den großen, sechseckigen Messingknauf. Sanft schwang die Tür auf. Ich trat ein und rief im Flur: »Bruno, bist du da?« Aus dem Wohnzimmer war seine helle Kinderstimme zu vernehmen: »Ja, Papa!«

Bruno lag, wie so oft, wenn ich nach Hause kam, auf dem Teppich, zu Füßen meines Lieblingsplätzchens. Das war ein riesiger Klubsessel aus blassgelbem Leder, eine Antiquität, Mitte zwanzigstes Jahrhundert, perfekt erhalten. Ich liebte ihn sehr. Nirgendwo las ich lieber. Zum Glück respektierte Brownie ihn und wetzte ihre Krallen nicht daran ab. Für Bruno war er ein Heiligtum: Er war der väterliche Thron. Eines Tages würde er ihn erben, das wusste er, und konnte dann nach Herzenslust darin lesen. In Erwartung dieses Tages verzichtete er darauf, ihn in Beschlag zu nehmen, selbst in meiner Abwesenheit. Für ihn war ein kleines Sesselchen mit geblümtem Stoffbezug bestimmt, das daneben stand. Er benutzte es jedoch kaum und zog es vor, im Bett zu lesen oder, noch lieber, auf der Erde kauernd, wenn nicht gar auf Knie und Ellbogen gestützt, die Hände unterm Kinn. Um sich zu entspannen, beugte er sich manchmal noch ein Stück weiter nach vorn, bis er mit der Stirn den Boden berührte wie ein Moslem beim Gebet. In dieser Positur fand ich ihn, als ich das Zimmer betrat. Doch Bruno war nicht allein, mein Sessel war belegt.

Jemand, ein Unbekannter, hatte darin Platz genommen. Aber eigentlich war das kein Unbekannter. In meinem Historiker-Unterbewusstsein schrillte eine Alarmglocke. Diesen Unbekannten kannte ich nur zu gut. Ich hatte seine Gesichtszüge so oft studiert, während ich meine Doktorarbeit schrieb, und tat es gerade wieder, während ich sie überarbeitete … Natürlich trug der Mann nicht die Uniform, in der er sonst meistens dargestellt wurde. Er hatte grobe Wollsocken und derbe Wanderschuhe an, darüber eine waschechte Lederhose samt Hosenträgern, mit Edelweiß und Eichenlaub verziert, und dazu einen dicken Wollpullover, ganz ohne irgendein Abzeichen oder eine Armbinde. Eines der beiden Charakteristika seines Gesichts, das seinerzeit die Bewunderung der einen, den Spott der anderen und schließlich den Abscheu aller hervorgerufen hatte, war deutlich zu sehen. Das zweite Merkmal fehlte allerdings, und das ließ mich an seiner Identität zweifeln: Die Haartolle hing ihm in die Stirn, doch das kleine, zweigeteilte quadratische Bärtchen, das zwischen Nasenlöchern und Mund wie eine doppelte Rotzspur klebte – es fehlte. Und doch war er es, wenngleich es sich um ein Ding der Unmöglichkeit handelte. Nachdem ich den ersten Moment des Staunens überwunden hatte, fing ich mich wieder: Die Biotechnologie machte so etwas sehr wohl möglich. Ich wusste es ja aus einschlägigen Quellen, ich war kein Opfer einer Halluzination geworden, und mit einem Gespenst hatte ich es auch nicht zu tun. Das Wesen, das da in meinem Sessel saß, gab es leibhaftig. Die einzige Frage, die sich stellte, war die, was es da wohl tat und wie es hereingekommen war. Denn abgesehen davon: Ein Klon war ein Klon, auch wenn das hier ein sehr spezieller war, und damit hatte es sich. Klone sah man im Fernsehen, im Kino, man begegnete ihnen hier und da, im Vorortzug, in irgendwelchen Geschäften, auf der Straße. Na, und was war Bassompierres Marilyn denn sonst!

Als ich eintrat, blickte der Klon in meine Richtung, ohne jedes Anzeichen von Neugierde. Er saß ziemlich aufrecht, die Hände lagen auf den Armlehnen, die Beine waren eng angewinkelt. Er presste die knochigen Knie aneinander, die nackt zwischen den Hosenbeinen und den Wollstrümpfen hervorguckten. Er hielt meinem Blick stand, aber ohne dreist zu wirken. Ehrlich gesagt drückten seine Augen gar nichts aus. Sie schienen lediglich zu registrieren, was sich um ihn herum abspielte, ohne eine Wertung vorzunehmen oder einen Kommentar abzugeben. Er war schätzungsweise fünfunddreißig Jahre alt: Hitler zur Zeit des missglückten Putschversuchs von 1923, der Angeklagte, der seine Richter zum Narren hielt und seinen Prozess in ein Tribunal verwandelte, der Gefangene von Landsberg am Lech, der seine Haft dazu nutzte, Mein Kampf zu schreiben. Ich fand es erstaunlich, dass er keinen Schnurrbart trug. Nein, ich konnte noch so lange überlegen, den Führer ohne Bärtchen gab es auf keinem Foto, zumindest auf keinem offiziellen. Ich hatte wohl das eine oder andere im Internet gesehen, als Gag, und war schon damals erschüttert. Auf einigen dieser Fotos glich der kahle Hitler sich selbst: Er sah noch schlimmer aus, noch eiskälter, noch unerbittlicher! Ich betrachtete den scheinheilig vor mir Sitzenden und versuchte mir den Eindruck granitener Härte ins Gedächtnis zu rufen, jener mörderischen Entschlossenheit, die mich auf den retuschierten Fotos angesprungen hatte. Vergebens. Sein Blick war leblos.

Natürlich war das Alter, das ich dem Besitzer dieses toten Blicks zuschrieb, nur fingiert. Mir war bewusst, dass die im Reagenzglas gezeugten Klone gleich nach ihrer Geburt in Kindergärten aufwuchsen und mit Beginn ihres achten Lebensjahrs in einem Becken einem beschleunigten Wachstumsprozess ausgesetzt waren. Dieser Prozess wurde drei Jahre lang unterbrochen, damit sich Knochen und Muskeln festigen konnten. Nach dieser erzieherischen und sportlichen Pause setzte dann erneut der künstliche Alterungsprozess ein. Hatten sie das für das jeweilige Modell gewünschte Alter erreicht, kamen sie offiziell in den Handel, und ihr biologisches Programm lief ab. Die Mängel, die die ersten Tierklone Ende des vorigen Jahrhunderts aufwiesen, hatte man in den Griff bekommen. Heute waren fast alle Klone lebensfähig, und eine durchschnittliche Lebenserwartung, angelehnt an das Vorbild des jeweiligen Produkts, wurde garantiert.

Jedenfalls fand sich das Wesen, das da in meinem Lieblingssessel hockte, auf der Liste der historischen Persönlichkeiten, deren Reproduktion seit Neuestem streng verboten war. Erst vor Kurzem hatte ich einen Artikel zu dem Thema gelesen. Es war eine Verordnung in Kraft getreten, der zufolge Fabrikanten die betreffenden Modelle, die bereits auf dem Markt waren, wieder zurückrufen mussten. Der Autor des Artikels schätzte, dass zum Zeitpunkt des Verbots etwa ein Dutzend Klone von Adolf Hitler im Umlauf waren. Vielleicht war einer von diesen dem Rückruf entgangen. Und nun saß er da vor mir.

Bruno sah von seinem Buch zu mir auf. Ein Lächeln umspielte seine Lippen, erwartungsvoll schaute er mich an. In seinem Blick lag sogar so etwas wie Jubel. Er hatte jede Menge Bücher und Zeitschriften mit entsprechenden Fotos gelesen, sodass er mit Sicherheit wusste, wen er da vor sich hatte – Bärtchen hin oder her. Voller Begeisterung schien er mir zurufen zu wollen: »Hast du gesehen, wer hier ist? Da bist du platt, gib’s zu!«

Geplättet, das war ich, doch nicht nur das: Geplättet, gespannt und auch verärgert. Adolf Hitler hatte mich während meiner Doktorarbeit bis in meine Träume verfolgt. Im Grunde war ich nicht zuletzt seinetwegen Historiker geworden. Durch ihn hatte die Geschichte einen anderen Sinn und wohl auch einen anderen Charakter bekommen. Sie hatte sich zum Albtraum gewandelt, aus dem die Menschheit erst allmählich erwachte. Daher ließ mich dieses unerwartete Tête-à-Tête nicht gleichgültig, auch wenn ich mir sehr wohl bewusst war, dass sich nichts Besonderes daraus ergeben konnte. Der Klon überbrachte keine Botschaft, er hatte nichts zu enthüllen, war lediglich eine Erscheinung ohne Gedächtnis. Im Grunde würde er mir nur … jede Menge Scherereien bereiten. Er war verboten, es durfte ihn nicht geben. Der Handel mit ihm, sein Besitz, ja bereits seine Anwesenheit in einem Privathaushalt, all das war ja nun rechtswidrig.

Er war nicht automatisch aufgestanden, als ich hereinkam. Was genau brachte man den Klonen eigentlich bei, bevor man sie auf die Menschheit losließ? »Respekt«, hieß es, aber Respekt wovor? Gehorsam, aber wem gegenüber? Viel wusste ich nicht über Klone, stellte ich fest. In der Werbung wurde ihre Sanftheit angepriesen. Man konnte sie ohne Bedenken kaufen, sie täten keiner Fliege etwas zuleide. Unfälle waren nur ganz wenige publik geworden. Doch was verbarg sich hinter diesen »Unfällen«? Wenn es sich dabei um kaltblütigen Mord oder um ein blindes Gemetzel handelte, war das ja nicht gerade eine Beruhigung … Na, na! Was auch der Grund für die Anwesenheit dieses Exemplars sein mochte, ich musste ihm gegenüber meinen Status als echter, nicht-geklonter Mensch geltend machen und zugleich als Hausherr auftreten. Obschon sich mein Puls deshalb beschleunigte, befahl ich dem Eindringling in so barschem Tonfall wie möglich, sich auszuweisen.

Er sprang auch sofort aus dem Sessel und nahm Habtachtstellung ein. »Nummer 6 der Serie Adolf Hitler, stets zu Diensten!«, rief er mit schnarrender Stimme. Sein Französisch hatte den teutonischen Akzent, den Schauspieler sich aneigneten, wenn sie deutsche Soldaten in den Filmkomödien spielten, die im vorigen Jahrhundert gleichsam als Racheakt zur großen Belustigung des Publikums gelaufen waren. Er senkte nun den Kopf und zog mit einem Finger seinen Rollkragen ein Stück herunter. Ich sah ein gutes Dutzend Buchstaben und Ziffern, die ihm am Halsansatz in die Haut eintätowiert waren, unterhalb des offiziellen Logos der Zulassungsbehörde für Klone. Was genau die Signatur bedeutet, wusste ich nicht. Doch der Anfang, A.H.6, war für mich die Bestätigung, dass das wohl tatsächlich sechste Exemplar dieser Baureihe vor mir stand. Der Klon brachte seinen Kragen wieder in Ordnung, hob den Kopf und trat drei Schritte zurück. Er verharrte in der unterwürfigen Haltung eines Dieners, der auf die Anweisungen seines Herrn wartet. Das gefiel mir schon besser! Betrug er sich so jedem »echten Menschen« gegenüber? Peinlich berührt, wandte ich mich zu meinem Sohn um.

»Bruno, kannst du mir das hier erklären …?«

Bruno schoss neben mir in die Höhe und stand nun A.H.6 gegenüber. Er ergriff meine Hand und rief voller Begeisterung: »Der ist super, oder? Mama hat ihn letzte Woche bei einer Tombola im Supermarkt gewonnen – es war der Hauptgewinn!«

»Davon hast du mir gar nichts erzählt …«

»Wir wussten ja auch nichts davon. Die Auslosung fand am Samstag statt, und Mama erfuhr es erst am Telefon, dass sie einen Klon gewonnen hatte. Wir mussten eine Adresse angeben, und jetzt ist er halt geliefert worden.«

»Hierhin? Wieso denn das, bitte schön?«

»Mama meinte, sie würde mir den Klon zum Geburtstag schenken, und deshalb wurde er eben gleich hierhergeliefert.«

»Aber … dieses Modell ist verboten! Wusste sie, um wen es sich handelt?«

»Nein, es war ein Überraschungsgewinn!«

»Und hatte er irgendwelche Dokumente bei sich?«

»Der Lieferant hat mich lediglich einen Zettel unterschreiben lassen, und das war’s.«

»Und Madame Bougrat? Hat die ihn gesehen? Und nichts gesagt?«

»Sie hat nur gemeint, wenn wir den behalten, dann soll er uns wenigstens die Hecke schneiden. Sie hat gesehen, dass das ein Klon ist, aber was für einer, hat sie wohl nicht erkannt. Sie ist ja nicht besonders helle.«

Ich schlug die Hände über dem Kopf zusammen. Wieder mal ein Beweis für die bodenlose Dummheit der Haushälterin und Phoebés erschreckende Gleichgültigkeit. Und diese Leute im Supermarkt, die einem so mir nichts, dir nichts einen Klon unterjubeln, ohne Papiere! Ohne mich um den – im Übrigen undurchdringlichen – Blick von A.H.6 zu scheren, fauchte ich: »Na, großartig! Das ist eine große Verantwortung, so ein Klon! Man muss sich um ihn kümmern, ihn füttern, anziehen, ihm eine Unterkunft geben, ihn pflegen, wenn es sein muss … Das ist auf jeden Fall eine Belastung!«

»Aber dafür macht er sich auch nützlich«, gab Bruno zu bedenken. »Im Garten, im Haushalt, bei größeren Arbeiten … Er ist wie ein Dienstbote, den man nicht bezahlen muss. Eine Art Sklave. Deshalb sind sie normalerweise auch so teuer. Aber dieser hier kostet uns keinen Cent …«

»Das darf doch wohl nicht wahr sein! Und ich sage dir, dass dieser hier verboten ist! Wir können ihn nicht behalten.«

Plötzlich verunsichert, welche Wirkung meine Worte auf den Betroffenen haben könnten, warf ich einen Blick in seine Richtung. Doch A.H.6 rührte sich nicht vom Fleck. Korrekt eingestellte Klone zeigen angeblich weder Ego noch Eigenliebe. Trotzdem war es mir peinlich, in seiner Anwesenheit so von ihm zu sprechen. Musste man jemandem menschlichen Respekt erweisen, der als Ausbund an Unmenschlichkeit galt? Außerdem war ja gar nicht sicher, ob der Klon auch wusste, dass er ein Klon war! Trotzdem fragte ich mich, weshalb ein Gramm von meinem Fleisch mehr wert war als ein Gramm von einem Klon, selbst von diesem hier. Ich vertagte die Beantwortung dieser Frage fürs Erste und befahl ihm: »Raus! Schließen Sie die Tür hinter sich und warten Sie draußen im Flur, bis ich Sie rufe.« Schweigend gehorchte er. Ich hatte ein leises Zittern meiner Stimme nicht unterdrücken können. Dabei hatte ich es hier nicht mit dem Adolf Hitler zu tun, der auf Fotos abgebildet war und in Büchern vorkam. Das war nicht der Mann, der sein Jahrhundert verwüstet hatte, jener Adolf Hitler, wie ihn seine Zeitgenossen kannten, aber auch nicht der Hitler der Historiker, sondern lediglich ein … ein Ableger, eine Kopie der DNA des Diktators, die seinen Zähnen entnommen worden war. Diese hatte man in sowjetischen Archiven aufbewahrt. Sie waren ebenso wie die Schädeldecke der von Juri Andropow angeordneten Zerstörung der Leiche entkommen, die man 1946 im brandenburgischen Rathenow bestattet hatte. Im Zuge einer intensiven Meinungskampagne hatte der Europäische Rat nachträglich die Erlaubnis zum Klonen widerrufen und die endgültige Zerstörung dieser verfemten Reliquien angeordnet, deren Asche im Meer verstreut worden war. Tja, und dieser A.H.6 hatte nichts mit Hitler zu tun und besaß auch nicht sein Gedächtnis, er hatte niemandem den Krieg erklärt und kein Massaker befohlen. Ihm und seinesgleichen konnte man vermutlich allenfalls einen Besen, einen Rechen oder eine Schaufel in die Hand drücken oder ihn zum Staubsaugen oder Teppichklopfen verdonnern … Er war unschuldig. Unschuldig!, sagte ich zu mir selbst, wo doch der Blick aus diesen blauen Augen, diese Haartolle und das hier fehlende Bärtchen für mich stets die Inkarnation des Bösen gewesen waren. A.H. wusste, dass er Adolf Hitler hieß. Er hatte es ja gesagt, als er sich auf meine Aufforderung hin vorgestellt hatte. Doch hatte er auch nur eine blasse Ahnung davon, wozu dieser Mann, dessen Namen und genetisches Potenzial ihm anhafteten, fähig war?

»Wir behalten ihn doch, oder?«, bettelte Bruno und zog mich an der Hand.

»Das scheint mir ganz und gar unmöglich«, murmelte ich, nachdem ich mich geräuspert hatte.

»Komm schon, niemand wird erkennen, wer das ist! Na gut, er sieht aus wie Hitler, aber wenn wir ihm die Tolle abschneiden? Seinen Schnurrbart hat er ja auch nicht. Der echte trug immer einen. Außerdem ist er ganz anders angezogen. Ich habe sein Foto zigmal in deinen Büchern gesehen.«

Natürlich, dachte ich. Vielleicht war sogar eines in dem, das er gerade las, als ich das Zimmer betreten hatte, und das noch aufgeschlagen auf dem Teppich lag.

»So hör doch, das Gesetz verbietet es«, nahm ich erneut Anlauf und zog die Brauen hoch. Ich würde Probleme bekommen, sicher musste ich Strafe zahlen, vielleicht sogar ins Gefängnis.

Bruno protestierte. Wenn es verboten war, diesen Klon zu besitzen, wieso hatte der Supermarkt ihn dann zum Hauptgewinn der Tombola erklärt? Warum hatte man ihn dann überhaupt geliefert? Und wenn wir ihn nicht behielten, was würde dann aus ihm?

Was aus Klonen wurde, die man aus dem Verkehr gezogen hatte, wusste ich nicht. Vielleicht wurden sie für Arbeiten unter Ausschluss der Öffentlichkeit eingesetzt. Irgendwie musste man sie ja recyceln, aber wie dieses Recycling aussehen mochte, entzog sich meiner Vorstellungskraft.

»Das ist nicht mein Problem. Ich empfinde seine Anwesenheit als ein Vergehen, und damit Schluss. Also ehrlich, ich bin stinkwütend auf deine Mutter! Das ist doch wirklich unglaublich!«

Wieder kochte die Wut in mir hoch. Phoebé hatte sich nicht im Mindesten darum gekümmert, was für einen Klon sie bei dieser blöden Tombola gewonnen hatte, und jetzt durfte ich zusehen, wie ich ihn wieder loswurde. Als hätte ich keine anderen Sorgen gehabt! Das Semester ging zu Ende, die Abschlussprüfungen standen an, außerdem musste ich die Arbeiten meiner Studenten korrigieren, von meinen persönlichen Aufgaben ganz zu schweigen! Das Umschreiben meiner Doktorarbeit in einen Bestseller schleppte sich seit Monaten dahin. Und die Konkurrenz schlief nicht: Ich drohte von einem Kollegen überholt zu werden, der über dasselbe Thema schrieb, und dann keinen Verlag mehr zu finden. Madame war das egal, aber auch sie würde schon noch ihr blaues Wunder erleben.

Ich versuchte mich daran zu erinnern, wie hoch die Strafe war, wenn man einen nicht autorisierten Klon behielt. Es gab ja nicht nur Hitler, sondern auch seine wichtigsten Komplizen und ein paar andere Diktatoren und Serienkiller, von denen man eine brauchbare DNA gefunden hatte … Gerüchteweise hatte ich von einem Schwarzmarkt gehört, auf dem Fantasiepreise erzielt wurden, auch gab es wohl Fälschungen, da waren Betrüger unterwegs, keine Frage … Aber eine Strafe? Was riskierte ich da? War in dem Artikel nicht von einer Haftstrafe die Rede gewesen? Na bitte: Ich lief also Gefahr, bestraft zu werden, vielleicht steckte man mich ins Gefängnis, oder es geschah womöglich noch Schlimmeres, vielleicht wurde ich sogar von der Universität suspendiert! Dabei konnte ich doch gar nichts dafür. Ich hatte diesen Kauz, der sich in meinem Sessel fläzte, lediglich beim Nachhausekommen vorgefunden. Ich zwang mich, einen kühlen Kopf zu bewahren. Der Hauptschuldige in dieser Geschichte war eigentlich gar nicht Phoebé, sondern der Supermarkt. Der Veranstalter der Tombola hatte versucht, einen Ladenhüter an den Mann zu bringen, den man gar nicht mehr herausgeben durfte. Freilich, Bruno hatte den Preis im Namen der Gewinnerin – zufällig seine Mutter – angenommen, er hatte eine Empfangsbestätigung unterzeichnet. Aber man konnte ihm in seinem jugendlichen Alter schlecht vorwerfen, dass er das Gesetz nicht kannte und einen liebenswürdigen, rechtlich einwandfreien Klon nicht von dem des größten Verbrechers der Geschichte zu unterscheiden vermochte, den der Europäische Rat in einer feierlichen Erklärung einstimmig auf den Index gesetzt hatte … Doch das änderte nichts an meinem Problem. Solange man noch nicht volljährig ist, übernehmen die Eltern die Verantwortung. Und das hieß: ich selbst, in meiner Eigenschaft als Erziehungsberechtigter.

Ich schüttelte Brunos Hand ab.

»Räum dein Buch auf und geh in dein Zimmer, ich muss in Ruhe überlegen.«

Bruno hob das Buch auf und klappte es zu, bevor er es wieder ins Regal stellte. Flüchtig erkannte ich, dass es das umstrittene Opus von Hermann Rauschning, Gespräche mit Hitler, war. Ich biss mir auf die Lippen. Wer war daran schuld, wenn diese Werke die Lieblingslektüre meines Sohnes waren? Ich hätte ihm einfach den Zugang zu meiner Bibliothek untersagen müssen. Sicher war es noch nicht zu spät, ihm die Faszination, die die dunkelste Epoche der Geschichte auf ihn ausübte, auszutreiben. Ich schwor mir, in Zukunft das Wohnzimmer, in dem das Bücherregal stand, abzuschließen, die Computer bei uns zu Hause zu kontrollieren und Bruno zur Lektüre von Büchern zu ermuntern, die für sein Alter besser geeignet waren. Mehr noch, ich würde ihn zum Drachensteigen mitnehmen. In der Schule war er zwar Mitglied einer Handballmannschaft, aber das genügte offensichtlich noch nicht, ich würde ihn auch noch für einen Judokurs anmelden. Doch im Augenblick sah ich mich mit einem dringenderen Problem konfrontiert: Ich musste diesen verdammten Klon loswerden. Plötzlich hatte ich einen Geistesblitz, so etwas wie eine Endlösung des Adolf-Hitler-Problems, die ich aber auf der Stelle gleich wieder verwarf. So weit brauchte man natürlich nicht zu gehen. Man konnte ihn ja einfach aussetzen … Sogleich wurde mir bewusst, dass ich damit vermutlich genau das Gegenteil von dem erreichte, was ich wollte. Der umherstreunende Klon würde aufgegriffen werden. Dank seiner Koordinaten würde man die Spur von A.H.6 zum Supermarkt zurückverfolgen können und von dort mittels der von Bruno unterschriebenen Empfangsbestätigung bis zu mir.

Nein, im Augenblick war da einfach nichts zu machen. Zunächst aber forderte der Alltag seinen Tribut. Es war Abendessenszeit. Nach dem Essen musste ich Brunos Hausaufgaben überprüfen, anschließend darauf achten, dass er sich die Zähne putzte, ihn zu Bett bringen … Der Tisch war gedeckt. Madame Bougrat hatte wie üblich etwas vorbereitet, das man nur aufzuwärmen brauchte. Sie hatte dann die Idee, dem Klon häusliche Aufgaben zu geben. Meine moralischen Überzeugungen aber verboten es mir, Klone auszunutzen. Trotzdem musste ich einen Augenblick schmunzeln, als ich mir Adolf Hitler mit Häubchen und Schürze vorstellte. Doch das Lachen verging mir sofort. Auch für den Klon war es schließlich Abendessenszeit. Sein Körperbau entsprach ja voll und ganz dem eines durch herkömmlichen Beischlaf gezeugten Menschen. Bestimmt hatte er Hunger. Er wartete da draußen auf dem Flur. Das Gebot der Menschlichkeit erforderte, dass ich ihm zumindest heute Abend etwas zu essen gab und ihn bei mir beherbergte. Doch sollte ich ihn am Tisch Platz nehmen lassen, oder musste ich ihn nicht besser in die Küche schicken? Ich überlegte kurz und entschied mich dann für die erste Lösung, eher aus Neugier als aus einem anderen Grund. Obwohl ich schon oft Klonen begegnet war, hatte ich noch nie mit einem gesprochen. Auch hatte ich mir nie Gedanken über ihr Bildungsniveau oder ihren Intelligenzgrad gemacht. Jetzt oder nie hatte ich also die Chance dazu! A.H.6 würde mit uns zu Abend essen wie ein normaler Gast, und ich würde die Gelegenheit nutzen, mir ein Bild davon zu machen, wie menschlich Klone konzipiert waren.

Nachdem ich ihn – nicht ohne eine Spur von Verlegenheit – aufgefordert hatte, mit uns zu essen, nahm A.H.6 an unserem Tisch Platz. Das Ganze war mir umso peinlicher, als ich ihn auch noch bedienen musste, was das Verhältnis zwischen mir und dem ungebetenen Gast völlig auf den Kopf stellte.

Bruno warf mir von Zeit zu Zeit einen flehentlichen Blick zu, den ich tunlichst unerwidert ließ. Der Kleine bestaunte den Klon während des Essens wie ein neues Spielzeug. Zu seinem Entzücken folgte A.H.6 seinem Beispiel und band sich die Serviette um den Hals, die ich aus der Schublade geholt hatte. Zunächst wurde das Schweigen nur vom Klappern des Bestecks unterbrochen. A.H.6 hatte tadellose Tischmanieren. Der Chicoree- und Rübensalat unserer Haushälterin schien ihm ebenso sehr zu schmecken wie ihr Kaninchenpfeffer. Zwar wusste ich, dass Klonen die Vorliebe für Alkohol ausgetrieben wurde, aber ich bot ihm trotzdem, als einmalige Geste, ein Glas Wein an, so wie ich es mir immer zum Abendessen gönnte. Er lehnte mit einer entschiedenen Geste ab. Als ich ihm ein Glas Mineralwasser einschenkte, leuchteten seine Augen dagegen erfreut auf. Über Hitlers Ess- und Trinkgewohnheiten war ich im Bilde, ich wusste, dass er Abstinenzler, Vegetarier, Nichtraucher gewesen war. Dennoch, nahm ich an, hatte man A.H.6 nicht notwendigerweise beibringen müssen, dem Alkohol zu entsagen. Ein vorsorglich eingepflanztes Implantat schien dies allen Klonen aus Gründen der Ökonomie und der öffentlichen Sicherheit zu verbieten. Dem Genuss von Fleisch hingegen war er im Unterschied zum Führer nicht abgeneigt.

Mir schossen hundert Gedanken durch den Kopf. Obwohl er zwischen dreißig und fünfunddreißig Jahre alt sein musste, hatte A.H.6 in Wirklichkeit erst elf Jahre gelebt, maximal zwölf. Vermutlich war er kurz vor dem Verbot in den Handel gekommen und hatte dann noch ein paar Monate in irgendeinem Lager herumgestanden. Wie auch immer: Trotz seines Körperbaus und seiner Erwachsenenstimme hatte ich eigentlich ein Kind vor mir, einen Jungen, der kaum älter war als Bruno. Das Alter, in dem Klone in Umlauf kommen, hängt zuallererst von der Person ab, deren Reinkarnation sie darstellen. Für die Produktionsfirma dieses Exemplars hier wäre ein Kinder-Hitler aus kommerzieller Sicht völlig wertlos gewesen. Wer hätte ihn gekauft? Was die potenzielle Kundschaft vor dem Verbot des Modells erwartete, war eine glaubwürdige, naturgetreue Nachbildung des Führers, wie er auf Fotos und in den Wochenschauen verewigt war: in voller Manneskraft, mit Haartolle und Schnurrbärtchen. Ja, es blieb ein Rätsel, weshalb A.H.6 keinen Bart trug. Ich stellte die Hypothese auf, dass ihm der Bart eventuell abrasiert worden war, damit man nicht gleich auf den ersten Blick sah, dass es sich hier um ein verbotenes Exemplar handelte. Doch dann hätte man ihm auch gleich noch die Tolle abschneiden sollen … Was ihre Bekleidung angeht, so werden Klone in aller Regel mit diversen Kombinationen in Umlauf gebracht. Der Käufer kann sie dann nach Herzenslust ausstaffieren. Der alte Bassompierre zum Beispiel hielt sich mit seiner Marilyn ganz an die klassischen Vorbilder: das weiße Kleid aus Das verflixte 7. Jahr oder die Jeans aus Misfits – Nicht gesellschaftsfähig, immer mit dem passenden Tuch, das sie um den Hals geknotet trug. Manchmal steht auch der Originalaufzug der Klone als Wahlmöglichkeit zur Verfügung. Die Lederhose und der Pullover, die A.H.6 trug, waren sicherlich Teil der Privatkleidung des Führers und somit eine Alternative zur berühmten Uniform mit langen Hosen, grauem oder braunem Hemd, passender Schirmmütze, Hakenkreuzbinde und Eisernem Kreuz.

Was halten Klone von ihrem Zustand, was haben sie für eine Vorstellung von sich selbst und dem Rest der Welt? Was für Erinnerungen haben sie an … nun ja, ihre Kindheit? Empfinden Sie einen Mangel, weil sie wie in einer Legebatterie aufgewachsen sind, ohne je eine Beziehung zu Eltern aufbauen zu können? Und wie lebten sie überhaupt in diesen Kindergärten? Schlossen sie dort Freundschaften? Was bekamen sie zu essen, in was für einer Art von Schlafsaal nächtigten sie? Ist ihre Aufzucht mit der Entwicklung einer eigenständigen Persönlichkeit vergleichbar, haben sie individuelle Vorlieben und Abneigungen, eine wie auch immer geartete Sexualität? Ich wusste nicht, wie ich diese mich brennend interessierenden Themen anschneiden sollte. A.H.6 aß mit gesenktem Blick, den Kopf aber nicht etwa dicht über dem Teller, denn er schien ja ganz gute Manieren zu haben. Von Zeit zu Zeit hob er den Kopf und sah mich an oder Bruno, oder er schaute sich mit unbeteiligter Miene in unserem kleinbürgerlichen Esszimmer um. Gut möglich, dass es sich hier doch nur um einen Idioten handelte, einen intellektuell Beschnittenen, eine Art menschliche Topfpflanze, von Anfang an durch die ihr angediehene Behandlung in ihrem Wuchs gezügelt, gestutzt und erstickt. Das andauernde Schweigen wurde unerträglich.

»Sie …«

Ich unterbrach mich und hüstelte. Ich hatte ihn soeben gesiezt! Eigentlich hätte ich ihn doch duzen müssen wie ein Kind. Hier trat man von einem Fettnäpfchen ins andere. Doch ob nun du oder Sie, die Frage, die ich ihm stellen wollte, blieb schwierig zu formulieren. Wusste A.H.6, dass er ein »illegaler Klon« war? Es ihn so geradeheraus zu fragen, schien mir heikel; wie würde er reagieren, wenn er es nicht wusste und es nun so unvermittelt erfuhr? Ich befürchtete keine gewaltsame Reaktion. Das war theoretisch unmöglich. Aber es widerstrebte mir, jemanden zu beunruhigen oder ihn körperlich zu verletzen, selbst wenn es sich um einen Klon handelte.

Als ich gerade planlos den Mund aufmachte, um etwas zu sagen, kam mir A.H.6 rasch zuvor. »Sehr gut!«, sagte er mit kräftiger Stimme in überzeugtem, beinahe anerkennendem Tonfall.

Überrascht entgegnete ich nur: »Ach ja, hat es Ihnen geschmeckt?«

Um dann, erleichtert darüber, dass das Schweigen ein Ende hatte, noch hinzuzufügen: »Ist das hier anders als … als da bei Ihnen?«

Mit »da bei Ihnen« hatte ich ein unbequemes Thema angeschnitten, nämlich die Herkunft unseres Gastes. Würde er sich entziehen, einfach stumm bleiben oder mir eine barsche Antwort geben, ein Ja, ein Nein, das dann wie ein Fallgitter zwischen uns herabrasselte?

Er nickte energisch, als hätte er »Und ob!« ausgerufen. Dann sagte er wieder etwas, beinahe schüchtern, so als schämte er sich seiner von Natur aus kreischenden Stimme und halte sie künstlich zurück.

»Bei uns ist es mies, es gibt nichts als Kroketten. Wir haben nur zwei Sorten, gelbe und rote. Und zu trinken gibt es Wasser, aber nur aus dem Hahn, nicht so wie hier«, schnarrte er mit seinem lächerlichen teutonischen Akzent und ließ den Blick zwischen seinem leeren Glas und der Flasche Mineralwasser hin- und herwandern.

Ich streckte die Hand aus, griff nach der Flasche und füllte erneut sein Glas.

»Schmeckt Ihnen das?«

Der Klon nahm erst einen großen Schluck, bevor er antwortete: »Sehr, man spürt das Prickeln auf der Zunge.«

Dieser Typ hier war genügsam – der würde ganz bestimmt nicht die Hand nach Sudetendeutschland ausstrecken!, dachte ich amüsiert.

»Wonach schmecken denn diese Kroketten?«, fuhr ich fort, erfreut, dass die Fragen nach seiner Ernährung zumindest das Eis gebrochen hatten.

»Die roten enthalten Fleisch, die gelben Fisch. Man isst die roten mit Nudeln, die gelben mit Reis. Außerdem gibt es Blattsalat und zum Nachtisch einen Apfel oder eine Orange, oder einen Joghurt mit Zucker.«

Allmählich konnte ich mir ein Bild machen: Sie wurden in einer Kantine mit spartanischen Mahlzeiten abgefertigt, bestehend aus industriell gefertigte Kroketten in der Art von Hundekuchen, so wie es im antiken Sparta die berüchtigte Schwarze Suppe gegeben hatte.

»Und Brot?«

»Ja, wir bekommen auch Brot, aber kein so gutes wie das hier.«