Dolmetschen als Dienst am Menschen -  - E-Book

Dolmetschen als Dienst am Menschen E-Book

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Beschreibung

Ausgehend vom facettenreichen Schaffen von Mira Kadrić präsentiert dieser Band Beiträge, die von einer Konzeption des Dolmetschens als Dienst am Menschen ausgehen und verschiedene ethisch-humanistische, politisch-rechtliche und kritisch-emanzipatorische Dimensionen des Dolmetschens in den Blick nehmen. In einem ersten Themenkreis wird aus dolmetschwissenschaftlicher Sicht der Dialog mit verschiedenen Bedarfsträger:innen in den Mittelpunkt gestellt. Danach werden der Dialog von Dolmetscher:innen mit der Gesellschaft und daraus resultierende rechtliche Fragestellungen untersucht. Und schließlich werden Fragen der Didaktik unter dem Aspekt des Dialogs der Dolmetschwissenschaft mit Lernenden und Lehrenden diskutiert. Mit diesen multiperspektivischen Beiträgen wird, ganz im Sinne von Mira Kadrić, Dolmetschen als gesellschaftspolitische Handlung verortet und weiterentwickelt.

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Seitenzahl: 379

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Klaus Kaindl / Sonja Pöllabauer / Dalibor Mikić

Dolmetschen als Dienst am Menschen

Texte für Mira Kadrić

Narr Francke Attempto Verlag Tübingen

© 2021 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KGDischingerweg 5 • D-72070 Tübingen

 

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetztes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

Internet: www.narr.deeMail: [email protected]

 

ISBN 978-3-8233-8433-5 (Print)

ISBN 978-3-8233-0320-6 (ePub)

Inhalt

KapitelEinleitungKapitelVom Mut über Grenzen zu gehen1 Werdegang2 Der Mensch im Zentrum – Dolmetschen als „Dienst am Menschen“3 Im Dialog mit der Gesellschaft: „Vom Recht verstanden zu werden“4 Im Dialog mit Lehrenden und Studierenden5 Wissenschaft als ForschungsreiseBibliographieZum Inhalt der Festschrift1 Im Dialog mit den BedarfsträgerInnen2 Im Dialog mit der Gesellschaft3 Im Dialog mit Lernenden und Lehrenden4 Im Dialog mit der nächsten GenerationVeröffentlichungen Mira KadrićIm Dialog mit den BedarfsträgerInnen„Va’, pensiero …“1 Pionierarbeit im Dialogdolmetschen2 Die Floristin3 Zahlen, Fälle oder Menschen?4 „Du hättest nur nett sein müssen“5 Kommunikation in der MultiminoritätengesellschaftBibliographieDolmetschen. Macht. Asyl1 Einleitung2 Machtvolles Handeln im translatorischen Bedingungsgefüge?3 Fallbeispiel Asylanhörung4 FazitBibliographiePoliteness in interpreter-mediated interactions1 Introduction2 Brown and Levinson’s Politeness Theory3 The Kerbrat-Orecchioni approach4 Two models: an operational comparison5 Concluding remarksBibliography‘Social’ Interpreting in Flanders1 Introduction2 The Context3 The Provision4 The Quality5 The Research6 ConclusionBibliography“Translaw” in Belgium1 Introduction and scope2 Literature Review3 Methodology4 Results5 Discussion and limitations6 Conclusion and recommendationsBibliographyRecht auf Translation in den EU-Institutionen 1 Offizielle Sprachenpolitik der EU2 Lässt die EU ihren Worten auch wirklich Mehrsprachigkeit folgen?3 ZusammenfassungBibliographieMultilingualism, LLD and PSIT in the EU1 Introduction: Multilingualism and PSIT2 Multilingualism in the EU3 Multilingualism, LLD, and translation4 Advances in PSIT and LLD Training5 Advances in research in PSIT and LLD6 ConclusionsBibliographyIm Dialog mit der GesellschaftDie Wahrung der Würde des Menschen in der gedolmetschten Kommunikation1 Die Würde im Werk von Mira Kadrić2 Gerichts- und Behördendolmetschen: Würde und Sprache3 SchlussBibliographieSprachen im österreichischen Strafverfahrensrecht1 Prolog2 Performanz der Sprachen im Strafverfahrensrecht3 EpilogBibliographieDolmetschen und Lügenerkennung1 Einleitung2 Rechtliche Rahmenbedingungen einer Vernehmung3 Vernehmungsmethoden4 Lügenerkennung allgemein5 Lügenerkennung im Dolmetschkontext6 Resümee und offene FragenBibliographieRechtsambulanz – eine Law Clinic österreichischer Prägung1 Einleitung2 Rechtsambulanz im Strafrecht3 Was soll und kann juristische Ausbildung leisten?BibliographieIm Dialog mit Lernenden und LehrendenTextbooks for a new audience: Limits to translation?1 Introduction: Textbooks for Training2 Challenges for Producing an English Language Version3 Limits to Translation?BibliographyTranslatorische Aus- und Weiterbildung am Beispiel des Universitätslehrgangs „Dolmetschen für Gerichte und Behörden“ an der Universität Wien1 Einleitung2 Verortung der universitären Weiterbildung3 Translatorische universitäre Weiterbildung in Österreich4 Universitätslehrgang „Dolmetschen für Gerichte und Behörden“ an der Universität Wien5 AusblickBibliographieDolmetschqualität als gemeinsame Verantwortung1 Das Recht auf Dolmetschung in Theorie und Praxis2 Aus- und Weiterbildung3 ConclusioBibliographieIm Königreich der Wörter1 Gerichtsdolmetschen als juristische Kommunikationsbrücke in der EU2 Europäische Menschenrechtskonvention im Lichte des slowenischen Gerichtsdolmetschens3 Gerichtsdolmetscher in Slowenien – Zulassungs- und Professionalisierungskriterien4 Innovative Lehrveranstaltung an der Universität Maribor – Mehrsprachige und transkulturelle Kommunikation in Strafverfahren5 AusblickBibliographieIm Dialog mit der nächsten GenerationDas Doktorat als Marathon: Die fünf Etappen zum Ziel1 „Auf die Plätze …“: Das Erstgespräch2 „Fertig …“: Dies Doctoralis3 „Los!“: Die Seminare und das Schreiben4 Endspurt: Der Tag des Rigorosums5 (Mit Jubel) Über die Ziellinie: Wie es weitergehen kannRechtsnachweiseBeiträgerInnen

Einleitung

Vom Mut über Grenzen zu gehen

Zu Leben und Werk von Mira Kadrić

Klaus Kaindl & Sonja Pöllabauer

1Werdegang

Translation wird vielfach mit dem Konzept der „Grenze“ in Verbindung gesetzt, eine Assoziation, die bereits im lateinischen Ursprung des Wortes – tranfserre – angelegt ist. Übersetzen und Dolmetschen als Grenzerfahrung bedeutet immer auch über Grenzziehungen und Grenzüberschreitungen zu reflektieren. Wesentlich dabei ist, wie mit Grenzen umgegangen wird: Grenzen können einengen, aber auch Sicherheit geben. Grenzen stellen Barrieren dar und geben gleichzeitig den Blick auf Neuland frei, das zu betreten Mut erfordert. Grenzen verleihen einem Gebiet Kontur und definieren, was zentral und was nebensächlich ist.

Betrachtet man Leben und Werk von Mira Kadrić, so sind Grenzen – Sprachgrenzen, Kulturgrenzen, Fachgrenzen und auch persönliche Grenzen – keine Barrieren, sondern produktive Räume, in denen Sprachen, Kulturen, Disziplinen und vor allem Menschen in Kontakt treten. In diesem Sinne sind für sie Grenzen keine Trennlinien, sondern Möglichkeitsräume für Austausch, Diversität und – um ein zentrales Konzept in Kadrić’ Denken aufzugreifen – Dialog.

Geboren in einem Jugoslawien, das sich nicht über ethnische, religiöse oder sprachliche Grenzen zwischen den Landesteilen und Bevölkerungsgruppen definierte, war Sarajevo, wo Mira Kadrić das Gymnasium besuchte, mit seiner Offenheit und Multikulturalität zweifelsohne prägend für sie. Es gehörte sicherlich eine Portion Mut, Initiative und Neugier dazu, dass sich eine junge Frau Anfang zwanzig – und lange bevor es für viele ihrer Landsleute eine zwingende Notwendigkeit wurde – Anfang der 1980er-Jahre entschloss, Bosnien-Herzegowina, ihre Heimat, zu verlassen und nach Wien zu ziehen – mit nicht viel mehr in der Tasche als einem Abschluss eines Tourismuskollegs in Belgrad. In dieser Branche arbeitete sie auch, um ihr Studium am damaligen „Institut für Übersetzer- und Dolmetscherausbildung“ der Universität Wien zu finanzieren, das sie 1986 begann und mit einer Diplomarbeit (1991) über die serbokroatische Übersetzung von Sigmund Freuds Massenpsychologie und Ich-Analyse abschloss.

Ihre akademische Laufbahn begann sie zunächst als Studienassistentin, dann Vertrags- und schließlich Universitätsassistentin bei Mary Snell-Hornby, die seit 1990 den ersten Lehrstuhl für Übersetzungswissenschaft an der Universität Wien innehatte. Bereits in dieser Zeit, die sowohl von fachlicher Aufbruchsstimmung und zukunftsweisenden Weichenstellungen als auch heftigem Widerstand und turbulenten Auseinandersetzungen geprägt war, stachen jene Eigenschaften von Mira Kadrić hervor, die sie auch später benötigen sollte, als sie 2006 – wieder in einer institutionellen Umbruchszeit – die Studienprogrammleitung des nunmehr umgetauften Zentrums für Translationswissenschaft übernahm: Klarheit in der Entscheidungsfindung, Entschlossenheit in der Umsetzung und Mut, auch bei Gegenwind zu ihren Entscheidungen zu stehen. Eine zentrale Leitlinie dabei war und ist ihr ausgeprägter Gerechtigkeitssinn.

Es ist daher wohl kein Zufall, dass 1996 die Wahl des Dissertationsthemas schließlich auf den Bereich des Gerichtsdolmetschens fiel. Zuvor, nämlich 1993, absolvierte sie die Gerichtsdolmetscherprüfung, und die vielfältigen Erfahrungen im Rahmen dieser Tätigkeit bildeten eine wichtige Basis für ihre wissenschaftliche Arbeit in diesem Bereich. Ihr Doktoratsstudium fand im interdisziplinären Dialog zwischen Rechtswissenschaft und Translationswissenschaft statt, der rechtliche Teil wurde am Juridicum betreut, der translationswissenschaftliche Teil von Mary Snell-Hornby. Das Streben, Interdisziplinarität zu nutzen, um fachliche Grenzen zu überwinden und so den wissenschaftlichen Blick zu weiten, sollte ein zentrales Merkmal von Mira Kadrić’ wissenschaftlicher Arbeitsweise bleiben. Dass die im Jahr 2000 eingereichte Dissertationsschrift, die ein Jahr später in Buchform unter dem Titel Dolmetschen bei Gericht: Erwartungen – Anforderungen – Kompetenzen erschien, zu einem Standardwerk mit mehreren Auflagen (zuletzt 2009) sowohl in der Wissenschaft als auch in der Praxis wurde, offenbart ein weiteres Charakteristikum von Mira Kadrić’ Denken: Wissenschaft und Praxis sollten keine abgegrenzten Bereiche sein, sondern sich in konstantem Austausch befinden.

Dieses Prinzip verfolgte sie auch im Rahmen ihres Habilitationsprojekts, in dem die translationswissenschaftliche Didaktikforschung mit der Praxis des Unterrichts vor dem Hintergrund des gesellschaftlichen Auftrags universitärer (Aus)Bildungsstätten verbunden wurde. Dass Dolmetschen und somit auch die Dolmetschausbildung immer in einem größeren gesellschaftlichen Zusammenhang stehen, wurde bereits in ihrer Dissertation deutlich gemacht. Nun wird die Idee Studierende für den Beruf so auszubilden, „dass man sie mündig macht, anstatt besänftigende zu Gehorsam erziehende Attituden des Translationsaktes oder Translationsberufes zu fördern“ (2009:164), durch die Integrierung theaterpädagogischer Konzepte des brasilianischen Regisseurs und Theatertheoretikers Augusto Boal in ein innovatives Didaktikkonzept umgesetzt. Auch in diesem Fall bleibt es nicht bei einem einfachen Blick über den disziplinären Grenzzaun, Mira Kadrić absolviert 2005–2006 einen Lehrgang für Theaterpädagogik nach Augusto Boal, den sie auch persönlich kennen- und schätzen lernt, um sich das theoretische und praktische Rüstzeug zu erwerben, das dann für die wissenschaftliche Arbeit in konkreten Unterrichtssituationen erprobt wurde.

Mitten in der Arbeit an ihrer Habilitation übernahm Mira Kadrić 2006 die Funktion der Studienprogrammleitung. Eine neue Studienstruktur, aber auch eine neue Institutskultur im Bereich der Lehre zu etablieren, waren eine nicht nur anspruchsvolle, sondern auch kräftezehrende Aufgabe, der sich Mira Kadrić bis 2011 mit unnachahmlicher Energie widmete. Trotz dieser zeitraubenden Funktion brachte sie – quasi „nebenbei“, tatsächlich aber unter hohem persönlichen Einsatz – ihre Habilitation zum Abschluss. Nach einer kurzen Zeit als Außerordentliche Universitätsprofessorin bewarb sie sich 2010 erfolgreich für eine volle Professur und ist seit 2011 die erste Professorin mit einem dolmetschwissenschaftlichen Lehrstuhl am Zentrum für Translationswissenschaft.

2Der Mensch im Zentrum – Dolmetschen als „Dienst am Menschen“

Mit dem Mensch in seiner Würde und Menschlichkeit in Dialog zu treten, steht als zutiefst humanistisches Anliegen im Zentrum des Schaffens von Mira Kadrić. Dieser Leitgedanke spiegelt sich nicht nur in ihrem persönlichen Umgang mit ihren Mitmenschen, ihren Kolleg*innen und Studierenden, sondern zieht sich auch als leitende Prämissen für verantwortungsvolles translatorisches Handeln durch das wissenschaftliche Wirken von Mira Kadrić.

Der zuvor bereits erwähnte ausgeprägte Gerechtigkeitssinn Mira Kadrić’ und ihr engagiertes auch gesellschaftspolitisches Engagement zeigen sich beispielhaft in ihrer Auffassung von Dolmetschen als „Dienst am Menschen“ (2016:103) und ihrer Forderung nach rechtlichen Garantien für eine angemessene und faire Dolmetschung in allen Bereichen des öffentlichen Lebens, in denen Menschen, die oft „weder über wirtschaftliche Macht noch über gesellschaftspolitischen Rückhalt“ (2016:103f.) verfügen, darauf angewiesen sind.

Die Arbeiten von Mira Kadrić erstrecken sich über verschiedene translatorische Handlungsfelder, vom Gerichtssaal (siehe exemplarisch 2001a, 2001b), über das Dolmetschen bei Polizei- und Asylbehörden (2012a, 2014a) und in medizinischen Einrichtungen (Pöchhacker & Kadrić 1999) bis hin zum Wirken von Dolmetscher*innen in der Diplomatie und Politik (2017a, Kadrić & Zanocco 2018, Kadrić, Rennert & Schäffner 2021). Stets ist es jedoch der Mensch in seiner Ganzheit, den Mira Kadrić in das Zentrum ihrer Forschung rückt, die sich dem Dolmetschen in verschiedenen dialogischen Interaktionsgefügen widmet, in denen Kommunikation zwar durch institutionell vordefinierte Routinen geprägt wird, aber doch interaktiv aus dem individuellen Handeln und den Motiven der daran Beteiligten entsteht. Dolmetscher*innen mit ihrer individuellen Sprachbiografie und ihren vielfältigen Identitäten (siehe auch 2012b) sind für Mira Kadrić als Sprach- und Kulturmittler*innen in diesem Gefüge zentrale Handlungspartner*innen.

Die Würde des Individuums als ein Menschenrecht, so wie sie auch in der österreichischen Verfassung genannt wird, ist in diesem Zusammenhang eines der theoretischen Konstrukte, das sie in rezenten Publikationen zur Illustration ihrer Ansichten nutzbar macht (2016; siehe dazu auch den Beitrag von Scheiber in diesem Band). Die „Wahrung der Würde der anderen, Äquidistanz [und] Empathie“ (2016:112) zeichnen sich dabei als zentrale handlungsleitende Prinzipien ab: „Und überall dort, wo es um tief menschliche Themen geht, ist die Wahrung der Würde zentral.“ (2016:111) Die Umsetzung dieser Anschauung erweist sich allerdings vielfach als hohe Vorgabe, die „selbstständiges, reflexives und dialogisches Handeln“ (2016:111) verlangt.

Wie sehr ihr eine zeitgemäße Ausbildung zukünftiger Translator*innen am Herzen liegt, die forschungsbasiert, kritisch und reflektiert auf reale Gegebenheiten und neue Anforderungen vorbereiten soll, zeichnet sich durchgehend in ihrem Schaffen ab. Die Forderung nach Neuerungen in der Ausbildung erstreckt sich von ihrer Dissertation (2000a, 2001a), in der sie Überlegungen zu einer modularen sprach- und kulturübergreifenden Grundausbildung für Gerichtsdolmetscher*nnen anstellt, über ihre bereits erwähnte Habilitationsschrift, in der sie ein innovatives ausgereiftes Modell einer kritisch-emanzipatorischen Translationsdidaktik begründet, bis hin zu rezenten Werken (2019a), in denen sie auf Möglichkeiten einer Ausbildung für den wechselnden Bedarf an verschiedenen auch außereuropäischen Bedarfssprachen hinweist. Möglichkeiten zur Beiziehung und Qualifizierung von Dolmetscher*Innen für seltene Sprachen im Polizei- und Asylwesen (2012a, 2014a) stehen etwa im Zentrum einer quantitativen Umfrage aus den Jahren 2006–2007 (Kadrić 2008a).

Mira Kadrić’ Weitblick in Hinsicht auf die Notwendigkeit einer bedarfsgerechten zeitgemäßen Ausbildung für verschiedene Felder translatorischen Handelns zeigt sich auch darin, dass es ihr gelungen ist, mit Erfolg und nachhaltig postgraduale Qualifizierungsmaßnahmen zum Gerichts- und Behördendolmetschen, Schriftdolmetschen und Dolmetschen mit neuen Medien am Postgraduate Center der Universität Wien einzurichten. Dass dieser Bedarf auch von außen als gesellschaftliche Notwendigkeit erkannt wird, zeigt die hohe Nachfrage nach diesen spezifischen Ausbildungen.

Beharrlichkeit und der Mut zum direkten An- und Aussprechen von defizitären Strukturen und daraus resultierendem Handlungsbedarf zeigt sich auch in ihrem wissenschaftlichen Zugang. So ist es keine Selbstverständlichkeit, dass es Mira Kadrić zu einer Zeit, in der qualitativ diskursanalytische Methoden sich in der Dolmetschwissenschaft erst durchzusetzen begannen, gelungen ist, Erlaubnis zur Aufzeichnung einer authentischen gedolmetschten Gerichtsverhandlung zu erlangen, die sie im Rahmen ihrer Dissertation als Fallstudie kritisch analysierte. Mit der Fruchtbarmachung eines funktional-pragmatischen Zugangs unter Anbindung an die funktionale Translationstheorie zeigte sich sehr früh auch ihre fehlende Scheu vor der Überbrückung auch innerdisziplinärer Grenzen zwischen der Übersetzungs- und der Dolmetschwissenschaft. Die im Rahmen ihrer Dissertation dargelegten grundlegenden Erkenntnisse zur Translationspraxis im Gerichtssaal, die nicht nur für den österreichischen, sondern für den weiteren deutschsprachigen Raum als bahnbrechend erachtet werden können, wurden nicht nur innerhalb der Translationswissenschaft rezipiert, in der sie sich einen Namen als Expertin für das Gerichtsdolmetschen machte, wie auch ihre Autorenschaft für renommierte Handbücher belegt (etwa 2020), sondern fanden auch über die Grenzen des eigenen Fachs hinweg vor allem in der Rechtswelt reges Echo. Diese Rolle als Grenzgängerin zwischen verschiedenen disziplinären Welten zeigt sich nicht nur an der interdisziplinären Ausrichtung dieser Festschrift, sondern auch daran, dass die Überlegungen und Vorschläge von Mira Kadrić zur Translationskultur im Gerichtssaal (2001b) auch Eingang in rechtswissenschaftliche Publikationen fanden (Kadrić & Scheiber 2004, Kadrić 2004a, 2004b, 2010a, 2011a, 2012c) und sie mit ihrer ganzheitlichen Perspektive auf ein verantwortungsbewusstes translatorisches Handeln in der behördlichen und gerichtlichen Praxis (2019a) auch auf juristischen Veranstaltungen Gehör fand. Die bereits im Rahmen ihrer Dissertation angestrebte „(Neu)Definition der Möglichkeiten und Grenzen des Handlungsrahmens“ (2001a:4) von Dolmetscher*innen erfuhr so eine fruchtbare praktische Umsetzung.

Kern ihrer Argumentation in juristisch orientierten Arbeiten ist, dass „[d]efizitäre Dolmetschung als Hindernis für den Zugang zum Recht“ (2012c:76) betrachtet werden sollte. So spricht sie etwa das Prinzip der „sichtbaren Gerechtigkeit“ als Grundsatz für ein faires Verfahren und allgemeine Verfahrensgarantien und die Rolle von Dolmetscher*innen in diesem Zusammenhang (2004b), das Dolmetschen im Zusammenhang mit der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) (2010a, 2011b) oder die Umsetzung der Europäischen Richtlinie über das Recht auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen in Strafverfahren (RL 2010/64 EU) (2012c) an.

Ihr Bestreben disziplinäre Grenzen aufzubrechen und das gemeinsame Ziel einer „sichtbaren Gerechtigkeit“ (2004b) und einer fairen und rechtskonformen Kommunikation mit allen an einer Situation beteiligten Menschen ins Zentrum zu rücken (2004a, 2004b), fand schließlich auch nachhaltigen Niederschlag in einer interdisziplinären Kooperation im Rahmen des Projekts TransLaw (2018-2019) und der TransLaw Research Group (Translaw). Die in der Conclusio ihrer Dissertation formulierte Forderung, dass die „Diskussion um die Rolle des Dolmetschers und seinen Handlungsspielraum im Gerichtssaal […] in Zukunft in jedem Fall sowohl in Fachkreisen der Dolmetscherkollegen als auch mit Vertretern der Justiz verstärkt geführt werden [müsste]“ (2001a:233), wird so erfolgreich und gewinnbringend in diesem interdisziplinären Dialog fortgesetzt.

Vor dem Hintergrund der Translationspolitik der 1990er-Jahre in österreichischen Gesundheitseinrichtungen steht der Handlungsspielraum von nicht ausgebildeten Dolmetscher*innen im Fokus einer gemeinsam mit Franz Pöchhacker verfassten Publikation zum Dolmetschen im Gesundheitsbereich (Pöchhacker & Kadrić 1999). Auch hier wird der Blick auf defizitäre Strukturen und deren Auswirkungen auf das Handlungs- und Beziehungsgefüge in einer konkreten Dolmetschsituation gelegt. Im Zentrum dieser diskursanalytischen Fallstudie stehen ein 10-jähriger bosnischsprachiger Bub, dessen Eltern und deren Kommunikationsbedarf im Rahmen einer Logopädie. Wenig überraschend und doch ernüchternd wird aufgezeigt, wie Eingriffe der serbischsprachigen Ad-hoc-Dolmetscherin im Hinblick auf Format und Inhalt der Therapiesitzung sich negativ auf den Handlungsspielraum der Therapeutinnen und die Qualität der Betreuung auswirken, ohne dass die Betroffen dessen gewahr wurden.

In Mira Kadrić’ Arbeiten zum Dolmetschen im Bereich der Politik und Diplomatie stehen nicht die mit geringem symbolischen Kapitel befrachteten Bereiche des Behördendolmetschens im Zentrum, wie sie oben skizziert wurden, sondern Felder, die zu „den schillerndsten Einsatzgebieten von Dolmetschenden“ (2017a:193) gehören. Auch hier richtet sich ihr kritischer Blick auf das aktive Handeln von Dolmetscher*innen. So skizziert sie auf der Grundlage autobiografischer Texte, wie Ivan Ivanji, der in den 1960er- und 70er-Jahren als Dolmetscher für Josip Broz Tito, den Staatspräsidenten des damaligen Jugoslawien, fungierte, als Dolmetscher in einem autoritären System sich „kraft seiner Persönlichkeit und Expertise“ (2017a:193) als gleichwertiger, auch nonkonformistisch agierender Partner behauptete. Das Themenfeld des diplomatischen Dolmetschens führte sie für eine weiter gefasste Leser*innenschaft auch im Rahmen eines Lehrwerks in der Reihe „Basiswissen Translation“ (Kadrić & Zanocco 2018) aus. Und 2021 wird zu diesem Themenfeld eine Publikation in der renommierten Reihe „Translation practices – explained“ folgen, in der auch neues Interviewmaterial mit Dolmetscher*innen im Feld Politik und Diplomatie präsentiert wird (Kadrić, Rennert & Schäffner 2021).

3Im Dialog mit der Gesellschaft: „Vom Recht verstanden zu werden“

Mira Kadrić’ wissenschaftliches Wirken bleibt nicht nur auf die Fachwelt beschränkt. Ihr kritischer Zugang und ihr Streben nach Gerechtigkeit, die von einem ausgewiesenen gesellschaftspolitischen Engagement getrieben werden, bewirken auch, dass sie den Dialog mit „der Gesellschaft“ im weitesten Sinne nicht scheut. So erwies sie sich über die Jahre als gefragte Gesprächspartnerin in Interviews, in denen sie nicht müde wird, auf die wichtige gesellschaftspolitische Funktion von Dolmetscher*innen und das Recht von Anderssprachigen „verstanden zu werden“ (2010c) hinzuweisen. Kritisch spricht sie dabei auch immer wieder die suboptimale Translationspolitik in verschiedenen öffentlichen Einrichtungen an, so etwa auch den problematischen Einsatz von Kindern als Dolmetscher*innen: „Der beste Arzt hilft nichts, wenn bei der Dolmetschung Fehler passieren.“ (2018)

Mira Kadrić’ aktives gesellschaftspolitisches Engagement zeigt sich auch an kritischen Kommentaren im Feuilleton-Teil von Tageszeitungen, etwa wenn sie vor dem Hintergrund anhaltender Debatten zum Thema Migration und Integration kritisch die negativ besetzte und primär mit Zuwanderung assoziierte Verwendung des Begriffs „Parallelwelten“ thematisiert und Leser*innen mit dem Hinweis auf auch nationale innergesellschaftliche Parallelwelten den Spiegel vorhält: „Österreich hält einige Parallelwelten aus“ (2010b). Auch hier stehen Grundwerte für sie im Vordergrund: „Gesellschaften funktionieren, solange dieselben Grundwerte für alle gelten. Dies bedeutet gleiche Rechte für Zugewanderte, umgekehrt sollen aber auch keine Sonderregeln bestehen.“ (2010b) Vor diesem Hintergrund ist auch das von Mira Kadrić in die Literatur eingeführte Konstrukt der „Multiminoritätengesellschaft“ (2012b; siehe auch 2019a) zu verstehen, als eine Gesellschaft, die von einer durch steigende Mobilität und komplexe globale Migrationsverläufe bedingten hybriden sprachlichen und kulturellen Vielfalt geprägt ist, so wie sie auch Mira Kadrić’ persönlichen Hintergrund kennzeichnet. Ihre Herkunft aus dem ehemals multikulturellen Vielvölkerstaat Jugoslawien war sicher auch Motiv für eine kritische translatorisch motivierte Stellungnahme in den 1990er-Jahren zum „serbokroatischen Sprachstreit“ (1999), in der sie darauf hinweist, dass die Trennung des Serbokroatischen in drei Teilsprachen für die Sprecher*innen dieser Sprachen auch mit einem hohen symbolischen und emotionalen Wert besetzt war und ein Mehr an „Sensibilisierung für die Benennung der Sprache in den Gerichts- und Dolmetschalltag gebracht [hat]“ (1999:10).

Sprache „als identitätsstiftendes Mittel im vielsprachigen Europa“ (Kadrić & Snell-Hornby 2012a) stand auch im Zentrum eines 2011 gemeinsam mit ihrer Doktormutter und langjährigen Mentorin, Mary Snell-Hornby, organisierten Symposiums zum Thema „Sprache, Identität, Translationswissenschaft“, in dessen Rahmen verschiedene Referent*innen sich offen über ihre „gefühlte sprachlich-soziale Identität“ (Kadrić & Snell-Hornby 2012b:9) austauschten. Im Mittelpunkt der Diskussion standen die Vielschichtigkeit und Hybridität der sprachlichen und kulturellen Zugehörigkeit von Menschen in einer „Multiminoritätengesellschaft“ (Kadrić 2012b): „Der Prozess der Identitätsbildung beginnt mit der Formung der ersten Worte und ist in die Gesamtbiografie eingebettet“ (2012b:13). Die kritischen Diskussionen im Rahmen dieser Veranstaltung (Kadrić & Snell-Hornby 2012a) zeigen auch, dass Mira Kadrić mit diesem Thema wiederum einen Nerv der Zeit getroffen zu haben scheint.

Multilingualismus, die Einführung EU-weiter Standards zur Umsetzung eines Rechts auf Translation in diversen gesellschaftlichen Bereichen in einem vielsprachigen Europa und die zentrale gesellschaftspolitische Funktion von Dolmetscher*innen in diesem Zusammenhang greift Mira Kadrić als „shared European challenge“ auch in Kooperation mit Kolleg*innen aus anderen europäischen Ländern auf (Valero-Garcés & Kadrić 2015). Als Mitwirkende an der 2010 vom European Language Council ins Leben gerufenen Special Interest Group on Translation and Interpreting for Public Services (SIGTIPS) steuerte sie neben anderen europäischen Expertinnen zudem einen Beitrag für den von der GD Dolmetschen der Europäischen Kommission veröffentlichten Endbericht zum Thema Interpreting for Public Services bei (European Commission 2011).

Universitäten und Ausbildungseinrichtungen für Übersetzen und Dolmetschen nimmt Mira Kadrić vor dem Hintergrund der europäischen Sprachenpolitik und -vielfalt kritisch in die Verantwortung: Ihr Beitrag muss aus der Sicht Kadrić’ auch sein, die „mission impossible“ (2014b) einer bedarfsorientierten Ausbildung zu bewältigen, aus der TranslatorInnen hervorgehen, die verantwortungsbewusst ihre gesellschaftliche Aufgabe zu wahren in der Lage sind. Auch der Berufsstand selbst ist hier aus der Sicht Mira Kadrić’ gefordert, sich aktiv der Ausgestaltung des Berufsbildes, die auch die Entwicklung allgemeiner „Imagekriterien“ umfassen kann, und der „Pflege einer Translationskultur“ (2007a:144) zu verschreiben. Translationsprozesse sollten möglichst transparent gestaltet sein, damit der gesellschaftliche Blick von außen auf die Berufsgruppe nicht weiterhin mit dem viel bemühten Bonmot traduttore-traditore verwoben wird (Kadrić 2007a:143). So beschreibt sie vor der Schablone undifferenzierter oder widersprüchlicher Sichtweisen das „grundlegende Prinzip der translatorischen Tätigkeit“ als die „Verpflichtung, die Interessen der an der Kommunikation Beteiligten zu wahren. Unabhängig davon, wer diese beteiligten Personen sind“ (2007a:142) und schließt in einer Publikation zu Image, Selbst- und Fremdbild mit den Worten: „In diesem Sinne: Der Gesellschaft ihre Translation, der Translation ihre Freiheit, und das alles im Bewusstein: Don’t shoot the messenger!“ (2007a:145)

4Im Dialog mit Lehrenden und Studierenden

Wissenschaft bedeutet für Mira Kadrić immer auch Anwendung, dies wird besonders deutlich im Feld der Translationsdidaktik. Ihre Vision eines zeitgemäßen Übersetzungsunterrichts (z. B. 2006) vor allem aber des Dolmetschunterrichts (2004c, 2007b, 2010d, 2011b, 2014c, 2017b) ist dabei von einem multidirektionalen Verständnis von Dialog geprägt. Will man Dolmetschen in diesem Sinne als eine partizipative und selbstbestimmte Tätigkeit begreifen, so muss man zunächst einmal die vielfältigen Dolmetschformen und -settings in ihrer Spezifik begreifen und darüber hinaus den Gedanken an starre Vorschriften über Bord werfen (2014c:452)

Die Dolmetschdidaktik war die längste Zeit vor allem auf das Konferenzdolmetschen fokussiert. Die interaktiven Dimensionen, die das Behörden- und Dialogdolmetschen prägen, wurden erst spät in der Didaktik berücksichtigt, und damit rückten auch neue Fragestellungen für den Unterricht in den Vordergrund, nicht zuletzt, wie mit sozialen Hierarchien in Dolmetschsituationen umzugehen ist und wie ein zeitgemäßer Dolmetschunterricht diesen Aspekt integrieren könnte (Kadrić 2010e:232f.) Hierfür entwirft Kadrić ein „ganzheitliches Kompetenzprofil“ (2011b:27), das nicht nur fachliche und methodische Dimensionen, sondern auch sozial-kommunikative und individuelle Aspekte berücksichtigt. Mit der ihr eigenen Beharrlichkeit und dem Mut zum Hinterfragen tradierter Meinungen scheut Mira Kadrić in diesem Zusammenhang auch nicht davor zurück, darauf hinzuweisen, dass ein derart partizipatorisches, verantwortungsbewusstes und ethisch reflektiertes Handeln nicht als selbstverständlich vorausgesetzt, sondern im Rahmen einer kritisch-konstruktiven „emanzipatorischen“ Didaktik gelehrt und erlernt werden muss (2016:111). Dass sie mit Forderungen wie dieser durchaus auf Konfrontation mit langjährig in der Fachwelt tradierten Ansichten und Praktiken geht, unterstreicht ihren Mut Neuland zu betreten.

Der dabei notwendige Dialog findet nicht im Elfenbeinturm statt, die Universität ist aufgerufen, mit den Institutionen wie Polizei, Gericht und Gesundheitsbehörden, in denen Dolmetschleistungen benötigt werden, und der Gesellschaft zusammenzuarbeiten (Kadrić 2014b). Die (Aus-)Bildung an den Universitäten sollte in diesem Zusammenhang nicht so sehr von einer Dienstleistungsmentalität geprägt sein, sondern die Aufgabe haben, Mehrsprachigkeit, die nicht nur vermeintlich prestigeträchtige Sprachen umfasst, als Ausdruck einer Multiminoritätengesellschaft (2012b) ins Bewusstsein der politischen Instanzen und Entscheidungsträger zu rücken.

Die gesellschaftliche Funktion, die Dolmetscher*innen mit ihrer Tätigkeit erfüllen, integriert Mira Kadrić in ihrem Habilitationsprojekt in ein didaktisches Modell, in dem sie mit der Einbindung leitender Prinzipien des Theaters der Unterdrückten nach Augusto Boal disziplinäre Grenzen sprengte und den Hörsaal zum „Ort des Dialogs“ machte, in dem der einzelne Mensch gestärkt und zur „Bildung eines kritischen Selbstbewusstseins“ (2011b:159) angeregt werden sollte. Die Basis der translatorischen Tätigkeit stellen für sie nicht allein Transfertechniken dar, sondern „das Interesse am Kontakt“ mit Menschen (2011b: 90). Das daraus resultierende dialogische Prinzip ihrer Translationsdidaktik stellt nicht das Bewahren des Status quo, sondern Selbstreflexion, Experimentierfreudigkeit und vor allem die Bereitschaft, die soziale Realität (zum Besseren) zu verändern, in den Mittelpunkt.

Kompetenzvermittlung setzt kompetente Vermittler*innen voraus. Folglich beschäftigt sich Mira Kadrić auch mit der Ausbildung der Ausbildner*innen (Valero-Garcés & Kadrić 2015:10f.). Eine solche darf nicht nur die universitätsinternen Gegebenheiten und Strukturen in den Blick nehmen, sondern muss auf einem kritischen Dialog auf Augenhöhe mit dem Arbeitsmarkt, der Gesellschaft und den Institutionen basieren.

Wie stark Mira Kadrić’ translationsdidaktisches Denken in einen gesellschaftlichen und europäischen Kontext eingebettet ist, zeigt sich auch in ihrer Konzeption neuer Ausbildungswege. Die Vielzahl der Sprachen, die zu einer „Superdiversität“ (2019b) in der heutigen Gesellschaft führt, macht es notwendig, dass die Ausbildung auf diese neuen Herausforderungen reagiert. Mobilität, Migration und damit zusammenhängend ein wachsender und sich ändernder Sprachenbedarf müssen auch eine Flexibilisierung und Diversifizierung der Ausbildung bedeuten. Mira Kadrić’ Konzeption eines postgradualen Universitätslehrgangs für gerichtlich beeidete DolmetscherInnen, in dem über den „klassischen“ Sprachenkanon der Universität hinausgegangen wird, ist einerseits im gesellschaftlichen Auftrag verankert, den Universitäten als (Aus-)Bildungsstätten haben, und beruht andererseits auf interdisziplinärem Dialog zwischen Translations- und Rechtswissenschaft und institutioneller Kommunikation mit Behörden und Gerichten (2019a:160–169 und Bodo in diesem Band).

Gleichzeitig schaffen die dynamischen gesellschaftlichen Entwicklungen neue Betätigungsfelder und damit auch Möglichkeiten für Dolmetscher*innen. Ein Bewusstsein für die nötigen Qualifikationen und Anforderungen in so unterschiedlichen Bereichen wie dem Dolmetschen im Medizintourismus, dem Schriftdolmetschen oder Militärdolmetschen zu schaffen, ist Mira Kadrić ein Anliegen. Für Studierende aber auch erfahrene Dolmetscher*innen erschließt sie in dem Sammelband Besondere Berufsfelder für Dolmetscher*innen (Kadrić 2019c) eine Reihe dieser neuen Berufszweige, wobei viele der Beiträge von ihren Dissertantinnen verfasst wurden (siehe auch Havelka et al. in diesem Band).

5Wissenschaft als Forschungsreise

Originalität und Innovation als wissenschaftliche Leitinien sind bei Mira Kadrić niemals Selbstzweck – ebenso wenig wie Datenfetischismus und Methodenfixiertheit. Wissenschaft hat für sie einen gesellschaftlichen Auftrag zu erfüllen und dementsprechend ist Wissenschaft immer auch Dialog mit anderen Disziplinen, mit der Gesellschaft und mit ihren Menschen. Ziel ist es dabei, fachliche, kulturelle und soziale Grenzen zu überwinden, um so eine dolmetscherische Haltung zu etablieren und zu leben, die allen Beteiligten eine Teilhabe an der Gesellschaft ermöglicht, und damit letztlich zu einer gerechteren Welt beizutragen.

Wissenschaftliches Arbeiten ist letztlich immer auch eng mit der Persönlichkeit eines Menschen verbunden. Es ist daher selbstverständlich, dass Mira Kadrić diese Prinzipien auch außerhalb der akademischen Welt vertritt. Dies gilt unter anderem für ihre Affinität zur Kunst, die nicht nur in ihrer Habilitationsschrift mit der Einbeziehung von theaterpädagogischen Methoden zum Ausdruck kommt, sondern auch in einer Reihe von Ausflügen in angrenzende Fachbereiche, wenn sie sich zum Beispiel mit der Übersetzung von Comics (Kadrić & Kaindl 1997), fiktionalen Darstellungen von Dolmetscher*inen (Kadrić 2008b) und Übersetzer*innen (Kadrić 2010f) oder Autobiographien von Dolmetscher*innen (Kadrić 2017a) auseinandersetzt.

Ihre künstlerischen Interessen, die sich im literarischen Schreiben und Malen manifestieren, schreiben letztlich auch im Privaten das fort, was sie im Beruflichen lebt. In diesem Sinne gilt, was der Performancekünstler, Aktivist und Pädagoge Guillermo Gómez-Peña über Kunst sagt, auch für die Wissenschaft, wie sie Mira Kadrić betreibt: „Ihre Funktion ist es, zu überschreiten, Brücken zu bauen, zu verbinden, zu reinterpretieren, umbilden und redefinieren; die äußere Grenzen der eigenen Kultur zu finden und diese Grenzen zu überwinden.“ (Gómez-Peña 1996:12)

 

In diesem Sinne wünschen wir der Grenzgängerin Mira Kadrić für ihr weiteres wissenschaftliches Arbeiten und Wirken viele Forschungsreisen zu neuen und über neue Grenzen.

Bibliographie

European Commission (2011). Final Report. Special Interest Group on Translation and Interpreting in Public Services. European Commission, DG Interpretation. Abrufbar unter: www3.uah.es/traduccion/pdf/SIGTIPS%20Final%20Report.pdf (Stand: 16/12/2020).

Gómez-Peña, Guillermo (1996). The New World Border. New York: City Light Books.

Kadrić, Mira (1991). Kritik der serbokroatischen Übersetzung von S. Freuds ‚Massenpsychologie und Ich-Analyse‘. Wien: unveröffentl. Diplomarbeit.

Kadrić, Mira (1999). „Serbokroatischer Sprachstreit und bosnisch/kroatisch/serbische Sprachharmonie: Anmerkungen aus translatorischer Sicht.“ Der Gerichtsdolmetscher 2, 5–10.

Kadrić, Mira (2000a). Dolmetschen bei Gericht. Eine interdisziplinäre Untersuchung unter besonderer Berücksichtigung der Situation in Österreich. Wien: Dissertation.

Kadrić, Mira (2000b). “Interpreting in the Austrian Courtroom.” In: Roberts, P. Roda/Carr, Silvana E./Abraham, Diana/Dufour, Aideen (Hrsg.) The Critical Link 2: Interpreters in the Community. Amsterdam/Philadelphia: John Benjamins, 153–164.

Kadrić, Mira (2001a). Dolmetschen bei Gericht. Erwartungen, Anforderungen, Kompetenzen. Wien: WUV.

Kadrić, Mira (2001b). „Translationskultur im Gerichtssaal: Fremdbestimmtes versus funktionales Handeln im Rahmen des Prozeßrechts.“ In: Hebenstreit, Gernot/Steininger, Wolfgang (Hrsg.) Grenzen erfahren, sichtbar machen, überschreiten. Festschrift für Erich Prunč zum 60. Geburtstag. Frankfurt am Main: Lang, 323–337.

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Kadrić, Mira (2004c). “Generic Training for Dialogue Interpreters: Challenges and Opportunities.” Génesis 4, 166–176.

Kadrić, Mira (2006). „Strategien einer Übersetzungsdidaktik.“ Glottodidactica 32, 45–57.

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Kadrić, Mira (2007b). „Emanzipatorische Pädagogik für einen ‚dienenden Beruf’: Choreographien des Dolmetschunterrichts.“ In: Dolník, Juraj/Bohušová, Zuzana/Hutková, Anita (Hrsg.) Translatólogia a jej súvislosti 2. Banská Bystrica: Univerzita Mateja Bela, 113–121.

Kadrić, Mira (2008a). Dialog als Prinzip. Dolmetschen, Didaktik und Praxis im Kontext empirischer Forschung. Wien: Habilitationsschrift.

Kadrić, Mira (2008b). „Die verlorene Welt des Abel Nema. Terézia Moras Alle Tage.“ In: Kaindl, Klaus/Kurz, Ingrid (Hrsg.) Helfer, Verräter, Gaukler. Das Rollenbild von TranslatorInnen im Spiegel der Literatur. Wien: LIT-Verlag, 167–178.

Kadrić, Mira (2009). Dolmetschen bei Gericht. Erwartungen, Anforderungen, Kompetenzen, 3. Auflage. Wien: WUV.

Kadrić, Mira (2010a). „Lost in Translation: Dolmetschen und EMRK.“ Journal für Kriminalrecht, Polizeirecht und soziale Arbeit 3, 100.

Kadrić, Mira (2010b). „Österreich hält einige Parallelwelten aus.“ Der Standard 23.10.2010, 46.

Kadrić, Mira (2010c). „Vom Recht, richtig verstanden zu werden.“ Salzburger Nachrichten 8.6.2010, 18.

Kadrić, Mira (2010d). „Die Macht des Dialogs: Szenarien eines emanzipatorischen Dolmetschunterrichts.“ In: Grbić, Nadja/Wolf, Michaela (Hrsg.) Translationskultur revisited. Festschrift für Erich Prunc. Tübingen: Stauffenburg, 231–246.

Kadrić, Mira (2010e). „Tempora mutantur: Dolmetschen im Kontext gesellschaftspolitischer Entwicklungen.“ In: Kallmeyer, Werner/Reuter, Ewald/Schopp, Jürgen F. (Hrsg.) Perspektiven auf Kommunikation. Festschrift für Liisa Tiittula zum 60. Geburtstag. Berlin: Saxa, 227–244.

Kadrić, Mira (2010f). „In den Fängen der Wissenschaft: Pascal Merciers Perlmanns Schweigen.“ In: Kaindl, Klaus/Kurz, Ingrid (Hrsg.) Machtlos, selbstlos, meinungslos? Interdisziplinäre Analysen von ÜbersetzerInnen und DolmetscherInnen in belletristischen Werken. Wien: LIT-Verlag, 47–54.

Kadrić, Mira (2011a). „Dolmetschen und EMRK.“ In: Bundesministerium für Justiz (Hrsg.) Die Reform des Haupt- und Rechtsmittelverfahrens: RichterInnenwoche 2010. Vol. 148. Graz/Wien: Neuer Wissenschaftlicher Verlag, 255–266.

Kadrić, Mira (2011b). Dialog als Prinzip. Für eine emanzipatorische Praxis und Didaktik des Dolmetschens. Tübingen: Gunter Narr.

Kadrić, Mira (2012a). „Polizei. Macht. Menschen. Rechte: Rekrutierung von Polizeidolmetschenden im Lichte empirischer Forschung.“ In: Ahrens, Barbara/Albl-Mikasa, Michaela/Sasse, Claudia (Hrsg.) Dolmetschqualität in Praxis, Lehre und Forschung. Festschrift für Sylvia Kalina. Tübigen: Narr Verlag, 93–110.

Kadrić, Mira (2012b). „Die Multiminoritätengesellschaft. Zur Bedeutung der Sprache und Kultur im geeinten Europa.“ In: Kadrić, Mira/Snell-Hornby, Mary (Hrsg.) Die Multiminoritätengesellschaft: Beiträge zum Symposium „Sprache, Identität, Translationswissenschaft“, 14.–15. Oktober 2011 im Oratorium der Österreichischen Nationalbibliothek in Wien. Berlin: Saxa, 13–26.

Kadrić, Mira (2012c). „Dolmetschung als Ausdruck staatlicher Fürsorgepflicht – neue Impulse durch die RL 2010/64/EU.“ Juridikum. Zeitschrift für Kritik, Recht, Gesellschaft, 76–85.

Kadrić, Mira (2014a). „Dolmetschen im Asylverfahren als Vermittlung zwischen Lebenswelten: Behördensicht und Dolmetschpraxis.“ In: Tiedemann, Paul/Gieseking, Janina (Hrsg.) Flüchtlingsrecht in Theorie und Praxis. Baden-Baden: Nomos, 57–73.

Kadrić, Mira (2014b). “Mission impossible? Training for the institutions and educating for society.” In: Falbo, Caterina/Viezzi, Claudio (Hrsg.) Traduzione e interpretazione per la società e le istituzioni. Triest: EUT, 131–142.

Kadrić, Mira (2014c). “Giving interpreters a voice – Interpreting Studies meets Theatre Studies.” Interpreter and Translator Trainer 8:3, 452–468.

Kadrić, Mira (2016). „Dolmetschen als Dienst am Menschen.“ In: Kadrić, Mira/Kaindl, Klaus (Hrsg.) Berufsziel Übersetzen und Dolmetschen. Wien: Facultas, 103–119.

Kadrić, Mira (2017a). „Diplomat, Dolmetscher: Titos Dolmetscher Ivan Ivanji.“ In: Andres, Dörte/Kaindl, Klaus/Kurz, Ingrid (Hrsg.) Dolmetscherinnen und Dolmetscher im Netz der Macht: Autobiografisch konstruierte Lebenswege in autoritären Regimen. Berlin: Frank & Timme, 193–211.

Kadrić, Mira (2017b). “Make it different! Teaching Interpreting with Theatre Techniques.” In: Cirillo, Letizia/Niemants, Natacha (Hrsg.) Teaching Dialogue Interpreting. Amsterdam/Philadelphia: John Benjamins, 275–292.

Kadrić, Mira (2018). „Kinder als Dolmetscher (Teil 4): Der beste Arzt hilft nichts, wenn bei der Dolmetschung Fehler passieren.“ Kosmo 15.6.2018.

Kadrić, Mira (2019a). Gerichts- und Behördendolmetschen: Prozessrechtliche und translatorische Perspektiven. Wien: Facultas.

Kadrić, Mira (2019b). „Vom Medizintourismus über Schriftdolmetschen bis zum Militärdolmetschen – Berufsfelder in Zeiten der Superdiversität.“ In: Kadrić, Mira (Hrsg.) Besondere Berufsfelder für Dolmetscher*innen. Wien: WUV-Verlag, 11–14.

Kadrić, Mira (Hrsg.) (2019c). Besondere Berufsfelder für Dolmetscher*innen. Wien: WUV-Verlag.

Kadrić, Mira (2020). “Legal Interpreting and Social Discourse.” In: Meng, Ji/Laviosa, Sara (Hrsg.) The Oxford Handbook of Translation and Social Practices. DOI:10.1093/oxfordhb/9780190067205.013.21

Kadrić, Mira/Kaindl, Klaus (1997). „Vom Gallier zum Tschetnikjäger: Zur Problematik von Massenkommunikation und übersetzerischer Ethik.“ In: Snell-Hornby, Mary/Jettmarová, Zuzana/Kaindl, Klaus (Hrsg.) Translation as Intercultural Communication: Selected papers from the EST Congress, Prague 1995. Amsterdam/Philadelphia: John Benjamins, 135–146.

Kadrić, Mira/Rennert, Sylvi/Schäffner, Christina (2021). Interpreting in political and diplomatic contexts – explained. London/New York: Routledge.

Kadrić, Mira/Scheiber, Oliver (2004). „Ausgangspunkt Tampere: Unterwegs zum europäischen Strafprozess.“ Juridikum. Zeitschrift für Kritik, Recht, Gesellschaft 4, 207–210.

Kadrić, Mira/Snell-Hornby, Mary (Hrsg.) (2012a). Die Multiminoritätengesellschaft: Beiträge zum Symposium „Sprache, Identität, Translationswissenschaft“, 14.–15. Oktober 2011 im Oratorium der Österreichischen Nationalbibliothek in Wien: Berlin: Saxa.

Kadrić, Mira/Snell-Hornby, Mary (2012b). „Sprache, Identität, Translation. Eine Einführung.“ In: Kadrić, Mira/Snell-Hornby, Mary (Hrsg.) Die Multiminoritätengesellschaft: Beiträge zum Symposium „Sprache, Identität, Translationswissenschaft“, 14.–15. Oktober 2011 im Oratorium der Österreichischen Nationalbibliothek in Wien: Berlin: Saxa, 7–9.

Kadrić, Mira/Zanocco, Giulia (2018). Dolmetschen in Politik und Diplomatie. Basiswissen Translation. Wien: Facultas.

Pöchhacker, Franz/Kadrić, Mira (1999). “The Hospital Cleaner as Healthcare Interpreter.” The Translator 5:2, 161–178.

TransLaw. Abrufbar unter: https://translaw.univie.ac.at/ (Stand 15/12/2020).

Valero-Garcés, Carmen/Kadrić, Mira (2015) “Multilingualism and TIPSI: A shared European challenge.” In: Amigo Extremera, José Jorge (Hrsg.) Traducimos desde el Sur: Actas de VI Congreso Internacional de la Asociación Ibérica de Estudios de Traducción e Interpretación. Las Palmas de Gran Canaria: Servicio de Publicationes y Difusión Científica, 39–52.

Zum Inhalt der Festschrift

Dalibor Mikić

Uns HerausgeberInnen war bereits am Anfang klar, dass wir den interdisziplinären Dialog als Leitmotiv in Mira Kadrić’ Schaffen unbedingt in der Auswahl der Beiträge aufgreifen wollten: Aus diesem Grund besteht die Festschrift sowohl aus translationswissenschaftlichen als auch aus juristischen Beiträgen.

Insgesamt gliedern sich 16 Beiträge in vier thematische Dialoge. Die Bilder, die die Festschrift rahmen, wurden von dem renommierten österreichischen Künstler Josef Schützenhöfer angefertigt, der mit dem Ehepaar Mira Kadrić und Oliver Scheiber befreundet ist. Josef Schützenhöfer ist – ähnlich wie Mira Kadrić – ein Grenzgänger, der mit seinen plastischen Bildern Haltung zeigt. Kunst ist für ihn immer auch politisch: Sei es in seinen Porträts von George W. Bush, Papst Benedikt XVI. oder dem ehemaligen österreichischen Bundespräsidenten Thomas Klestil, sei es in seiner künstlerischen Auseinandersetzung mit Österreichs nationalsozialistischer Vergangenheit oder mit dem politischen Umgang mit flüchtenden Menschen. Wir freuen uns sehr, dass er sich bereit erklärt hat, diesen Band mit seinen ausdrucksstarken Porträts zu bereichern und danken auch Oliver Scheiber, dem spiritus rector der Festschrift, dass er den Kontakt hergestellt hat.

1Im Dialog mit den BedarfsträgerInnen

In dieser Sektion wird das Dolmetschen für die unterschiedlichsten BedarfsträgerInnen präsentiert, angefangen von Asylsuchenden, über Häftlinge bis hin zu EU-BeamtInnen.

Den Auftakt dabei bildet Mira Kadrić’ Doktormutter und Mentorin Mary Snell-Hornby mit einem Beitrag über die Bedeutung einer funktionierenden Zusammenarbeit von staatlichen und nichtstaatlichen Behörden, BürgerInnen und Asylsuchenden als wesentlicher Erfolgsgarant für die Multiminoritätengesellschaft. Unter diesem Gesichtspunkt betrachtet sie zwei authentische Fallbeispiele aus der jüngeren Vergangenheit in Vorarlberg. Das erste Fallbeispiel skizziert den fast schon vorbildlichen Werdegang einer jungen geflüchteten Syrerin. Im extremen Gegensatz dazu das zweite Fallbeispiel: der durch einen Asylsuchenden verübte Mord am Leiter einer sozialen Einrichtung in Dornbirn. In der Gegenüberstellung dieser beiden Beispiele geht Snell-Hornby auf die möglichen Ursachen und Folgen gelungener bzw. misslungener (transkultureller) Kommunikaton ein.

Auch Franz Pöchhacker widmet sich dem Asylbereich, doch stehen bei ihm die Handlungsmacht der Dolmetscherin und der damit verbundene potentielle Einfluss auf den Inhalt und Verlauf einer gedolmetschten Befragungssituation im Fokus. Am Beispiel einer dreistündigen Berufungsverhandlung, die 2006 am heutigen Bundesverwaltungsgericht durchgeführt wurde, untersucht Pöchhacker mittels Diskursanalyse die aktive Rolle der Dolmetscherin. In ausgewählten Exzerpten wird das translatorische Handeln vor allem als protokollorientiertes Dolmetschen sichtbar gemacht, welches zwar von der verhandlungsleitenden Beamtin gewünscht und dadurch als Expertenhandeln wahrgenommen wird, sich an den Bedürfnissen des Berufungswerbers jedoch kaum orientiert.

Caterina Falbo beschäftigt sich in ihrem Beitrag mit Höflichkeit in gedolmetschter Kommunikation. Sie vergleicht die Höflichkeitsmodelle von Penelope Brown und Stephen C. Levinson und Catherine Kerbrat-Orecchioni miteinander, die sie kontrastierend auf dieselben drei Fallbeispiele anwendet. Die Beispiele entstammen einer authentischen gedolmetschten Nachuntersuchung, die 2011 an einem Pariser Krankenhaus durchgeführt wurde. Falbo hält fest, dass Kerbrat-Orecchionis Modell eine Weiterentwicklung des Modells von Brown und Levinson ist: Vielmehr ließe sich dadurch die Höflichkeit in zwischenmenschlichen Interaktionen differenzierter erfassen, wodurch eine präzisere Untersuchung gedolmetschter Gespräche möglich wäre.

Im Mittelpunkt von Erik Hertogs Beitrag steht das sogenannte Social Interpreting in Flandern, welches eine Schlüsselrolle bei der Integration von Neuankömmlingen und Personen mit Migrationshintergrund spielt. Nach einer kurzen Begriffserklärung beschreibt Hertog die Entwicklung der letzten zwanzig Jahre des Social Interpreting in Flandern. In dieser Zeit hat sich Flanderns Demographie stark gewandelt, wodurch der Bedarf nach entsprechenden Dolmetschdiensten wuchs. Aktuell existieren vier Social-Interpreting-Dienste in Flandern, zu denen Hertog Informationen liefert (Auftragsumfang, Dolmetschqualität und DolmetscherInnenausbildung, Zertifizierungsprozess, Bedarfssprachen und die Rolle der Wissenschaft bei der Entwicklung und Weiterentwicklung des Angebots).

Auch der gemeinsame Beitrag von Heidi Salaets, Katalin Balogh und Stefan Aelbrecht weist einen Belgienbezug auf, allerdings mit einer anderen thematischen Schwerpunktsetzung: fremdsprachige Häftlinge als BedarfsträgerInnen, denen in Belgien oft das Recht auf Dolmetschung verwehrt wird. Die AutorInnen präsentieren hier die Aussagen von neun Häftlingen, die im Rahmen des DG Justice-Projekts TransLaw zur Kommunikation durch DolmetscherInnen interviewt wurden. Das Projekt TransLaw wurde von Mira Kadrić in Kooperation mit den Universitäten Wien, Maribor, Triest und der belgischen KU Leuven ins Leben gerufen.

Karin Reithofer geht in ihrem Beitrag der Frage nach, ob gleichberechtigte Mehrsprachigkeit tatsächlich auch so von den Institutionen und Organisationen der EU praktiziert wird. Nach einer Einleitung zur offiziellen Sprachenpolitik der EU, befasst sich Reithofer mit der internen und externen Kommunikation von Institutionen, wie zum Beispiel dem Europaparlament oder dem Rat der EU. Des Weiteren hält sie fest, dass in vielen Organisationen der EU aus pragmatischen Gründen oftmals Englisch als einzige Arbeitssprache angeboten wird, zu Lasten vieler BeamtInnen, deren Erstsprache eine andere ist. Die Entwicklung von der Mehrsprachigkeit, der sich die EU eigentlich verschrieben hat, zur Einsprachigkeit als De-facto-Kommunikationsmodus innerhalb der Institutionen sieht Reithofer kritisch.

Auf die Bedeutung der Mehrsprachigkeit in der EU geht auch Carmen Valero-Garcés in ihrem Beitrag ein. So setzt sie sich konkret mit der Entwicklung der Mehrsprachigkeit am Beispiel der neuen Bedarfssprachen im behördlichen Bereich im letzten Jahrzehnt auseinander. Längst wird nicht nur bei großen Konferenzen gedolmetscht; Mehrsprachigkeit und gedolmetschte Interaktion gehören mittlerweile zum Alltag vieler nationaler Institutionen und Behörden. Dass das Dolmetschen in diesem Bereich immer mehr an Bedeutung gewinnt, zeigt sich besonders im Interesse aktueller dolmetschwissenschaftlicher Beiträge an derartigen Fragestellungen, aber auch in einem größer werdenden spezialisierten Ausbildungs- bzw. Weiterbildungsangebot für das Dolmetschen für Gerichte und Behörden.

2Im Dialog mit der Gesellschaft

In dieser Sektion stehen die rechtlichen Dimensionen von dolmetschbezogenen Fragestellungen im Mittelpunkt. Aus pragmatischen Gründen entschieden wir, den Zitationsstil der Rechtswissenschaften an die Konventionen der Translationswissenschaft anzugleichen.

Oliver Scheiber setzt sich in seinem Beitrag mit dem Begriff der Würde auseinander, die in Mira Kadrić’ wissenschaftlichem und didaktischem Werk eine treibende Kraft spielt. Scheiber tastet sich an den Begriff der Würde zunächst philosophisch heran, um ihn dann schließlich konkret im Kontext des Gerichts- und Behördendolmetschens zu beleuchten. So zeigt sich die Würde hier unter anderem auch als gleichberechtigte Kommunikation zwischen VertreterInnen von Gerichten und Behörden und fremdsprachigen Personen. Sie zeigt sich aber auch in der Würde der DolmetscherInnen, wenn ihr translatorisches Handeln allparteilich geprägt ist und somit zu einem fairen Prozess beitragen kann.

Alexia Stuefer lässt in ihrem Beitrag „Stimmen“ unterschiedlicher österreichischer Rechtsnormen „zu Wort kommen“, die sich über die Bedeutung der Sprache(n) äußern. So werden beispielsweise Passagen aus der Verfassung und aus der Strafprozessordnung zitiert, in denen der Umgang mit den Minderheitensprachen, der Gebärdensprache aber auch das Recht auf Translationsleistungen thematisiert wird. Im zweiten Teil ihres Beitrags setzt sich Stuefer vor allem mit den österreichischen Rechtsnormen zum Dolmetschen im Strafverfahren auseinander.

Monika Stempkowski und Christian Grafl befassen sich ebenfalls mit dem Dolmetschen im Strafverfahren. In ihrem kriminalpsychologischen Beitrag gehen sie der Frage nach, wie sich das Dolmetschen auf die Lügenerkennung im Strafverfahren auswirkt. VernehmungsexpertInnen machen Lügen nämlich an inhaltlichen Kriterien fest, die durch entsprechende Techniken, wie zum Beispiel durch das kognitive Interview, erhoben werden. Die AutorInnen beschreiben zunächst grundlegende Interviewtechniken und allgemeine Lügenmerkmale, bevor sie auf die potentiellen Schwierigkeiten bei gedolmetschten Vernehmungen übergehen. Vor diesem Hintergrund thematisieren sie auch die Rolle von DolmetscherInnen, heben jedoch gleichzeitig hervor, dass zu diesem Themenfeld noch kaum aussagekräftige Forschungsergebnisse vorliegen.

Richard Soyer stellt in seinem Beitrag die Frage, was juristische Ausbildung leisten kann und soll und beschreibt in diesem Zusammenhang die von ihm initiierten Law Clinics bzw. Rechtsambulanzen an der Karl-Franzens-Universität Graz und an der Johannes-Kepler-Universität Linz. Soyer geht im Detail auf die Inhalte, den Ablauf und den Mehrwert praxisbezogener Lehrveranstaltungen ein. Resümierend hält er fest, dass durch die Kombination von Theorie und Praxis an Law Clinics und das dort vorherrschende learning by doing bestimmte Sachverhalte für Studierende nachvollziehbarer werden, was wiederum motivierend wirkt. Soyer sieht die Zukunft rechtswissenschaftlicher Curricula an österreichischen Universitäten in einem stärkeren Praxisbezug. Als Beispiel nennt er das Curriculum für das neue Bachelorstudium Rechtswissenschaften an der Johannes-Kepler-Universität Linz, in welchem eine stärkere Verzahnung von Theorie und Praxis vorgesehen ist.

3Im Dialog mit Lernenden und Lehrenden

Im Dialog mit Lernenden und Lehrenden finden sich Beiträge über die Entstehung eines Lehrbuchs für eine besondere Zielgruppe und über Ausbildungs- und Weiterbildungsangebote für das Dolmetschen für Gerichte und Behörden.

Christina Schäffners Beitrag handelt vom Entstehungsprozess des noch nicht veröffentlichten Lehrbuchs Interpreting in political and diplomatic contexts – explained, welches in gemeinsamer Autorinnenschaft mit Mira Kadrić und Sylvi Rennert verfasst wurde. Es basiert auf Kadrić’ und Zanoccos Buch Dolmetschen in Politik und Diplomatie (2018). Schäffner thematisiert anhand einiger Beispiele die Probleme bei der Adaption dieses Buchs. Eine große Herausforderung in der englischsprachigen Überarbeitung bestand darin, die Bedürfnisse einer globalen heterogenen LeserInnenschaft zu antizipieren. Die deutschsprachige Version konnte für diese Zwecke nicht einfach übersetzt werden, da sie einerseits einen zu starken Bezug zum DACH-Raum, vor allem Österreich, hatte. Andererseits entspricht beispielsweise der deskriptive Stil des deutschsprachigen Studienbuchs nicht unbedingt den Konventionen und Anforderungen englischsprachiger Lehrbücher, was das Autorinnenteam bei der Adaption berücksichtigen musste.

Ana-Maria Bodo widmet sich in ihrem Beitrag der universitären Weiterbildung am Beispiel des von Mira Kadrić geleiteten postgradualen Universitätslehrgangs Dolmetschen für Gerichte und Behörden, der 2016 an der Universität Wien als Reaktion auf die Flüchtlingskrise 2015/16 eingerichtet wurde. Der Lehrgang wurde zunächst als zweisemestriger Grundlehrgang für die Bedarfssprachen Arabisch, Dari/Farsi und Türkisch angeboten, bis er schließlich 2018 um ein Master-Upgrade erweitert wurde. Mittlerweile werden auch Albanisch und Chinesisch angeboten. Bodo, die nicht nur für das Management des Universitätslehrgangs zuständig ist, sondern bei Mira Kadrić auch eine Dissertation über den Universitätslehrgang schreibt, fokussiert sich in ihrem Beitrag vor allem auf die TeilnehmerInnen, deren Heterogenität – beispielsweise durch die unterschiedlichen beruflichen und akademischen Werdegänge – auffallend ist.

Sylvi Rennerts Beitrag befasst sich ebenso mit der Aus- und Weiterbildung für DolmetscherInnen und NutzerInnen im Rechtsbereich. Rennert gibt zunächst einen Überblick über die verschiedenen Aus- und Weiterbildungsmöglichkeiten und stellt schließlich das interdisziplinäre DG Justice-Projekt TransLaw an der Universität Wien vor, in dem sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin tätig war. Im Fokus dieses internationalen Projektes stand die Verbesserung der interdisziplinären Zusammenarbeit zwischen DolmetscherInnen und JuristInnen, die beispielsweise in Wien in Form einer transkulturellen LawClinic für Studierende der Translationswissenschaft und der Rechtswissenschaften und eines gemeinsamen Workshops für angehende GerichtsdolmetscherInnen und RichteramtsanwärterInnen durchgeführt wurde.

Vlasta Kučiš‘ Beitrag ist der dritte und letzte Beitrag zu TransLaw, wobei der Fokus auf der Projektimplementierung an der Universität Maribor liegt. Kučiš beginnt mit einer allgemeinen Einführung in die Situation des Gerichtsdolmetschens in Slowenien und beschreibt unter anderem die Zulassungs- und Professionalisierungskriterien für DolmetscherInnen. Danach präsentiert sie die im Rahmen von TransLaw eingeführte Lehrveranstaltung Mehrsprachige und transkulturelle Kommunikation in Strafverfahren, welche in Kooperation mit dem Lehrstuhl für Translationswissenschaft und der Rechtswissenschaftlichen Fakultät an der Universität Maribor abgehalten wird.

4Im Dialog mit der nächsten Generation

Den Abschluss bildet ein gemeinsamer Beitrag von Mira Kadrić’ DissertantInnen: Katia Iacono, Ivana Havelka, Judith Platter und Katherina Sinclair sind ehemalige DissertantInnen, und Dalibor Mikić ist derzeit Dissertant. Die AutorInnen beschreiben den Entstehungsprozess einer Dissertation, indem sie sich der Metapher des Marathons bedienen: Aus der Sicht einer fiktiven Ich-Erzählerin lassen sie die wichtigsten Etappen ihres „Dauerlaufs“ Revue passieren: angefangen vom Erstgespräch bis hin zum Rigorosum und dem beruflichen Werdegang danach. Obwohl die AutorInnen der Würdigung von Mira Kadrić natürlich eine zentrale Rolle zukommen lassen, bietet dieser Beitrag für angehende DissertantInnen durchwegs nützliche Informationen.

 

Abschließend bleibt uns als HerausgeberInnen noch die angenehme Aufgabe, uns besonders bei Harald Pasch und Maria Bernadette Zwischenberger für die engagierte und umsichtige Unterstützung bei der redaktionellen Arbeit für diese Festschrift zu bedanken.

Veröffentlichungen Mira Kadrić