Domina - L.S. Hilton - E-Book

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L. S. Hilton

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Beschreibung

Judith Rashleigh hat ihr Ziel erreicht: den Aufstieg von der machtlosen Assistentin eines Auktionshauses zur international erfolgreichen Kunsthändlerin. Zwar ist sie dabei über Leichen gegangen, aber ihr neues Leben als begehrte Galeristin in Venedig ist genau das, wovon sie immer geträumt hat. Und die pikanten Dienste, die hinter den verschlossenen Türen der High Society angeboten werden, sind ganz nach Judiths Geschmack. Doch schon bald wird ihre Vergangenheit sie einholen – und einmal mehr spielt Judith Rashleigh mit dem heißen, zügellosen Feuer …

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www.piper.de

Für die Herzogin – mit bestem Dank.

Übersetzung aus dem Englischen von Wibke Kuhn

ISBN 978-3-492-97502-5

Mai 2017

© L.S. Hilton 2017

Die englische Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel »Domina« bei Zaffre, einem Imprint von Bonnier Publishing Fiction, London.

Deutschsprachige Ausgabe:

© Piper Verlag GmbH, München 2017

Covergestaltung: Favoritbüro, München

Covermotiv nach einem Entwurf von Gray318 & Blacksheepuk.com

Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH, Krugzell

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Prolog

Ich wollte es einfach nur hinter mich bringen, aber ich zwang mich, ganz langsam zu machen. Ich schloss die Fensterläden an allen drei Fenstern, machte eine Flasche Gavi auf, füllte zwei Gläser und zündete die Kerzen an. Vertraute, wiedererkennbare und tröstliche Rituale. Er stellte seine Tasche ab, zog langsam die Jacke aus und hängte sie über eine Stuhllehne, ohne mich aus den Augen zu lassen. Wortlos hob ich mein Glas und nahm einen Schluck. Seine Augen glitten über die Bilder, während ich das Schweigen zwischen uns so lange ausdehnte, bis er es unterbrach.

»Ist das ein …?«

»Ein Agnes Martin«, vollendete ich seinen Satz. »Genau.«

»Sehr schön.«

»Danke.« Ein amüsiertes Lächeln spielte auf meinen Lippen. Neuerliches Schweigen. Die wattige Stille des nächtlichen Venedig wurde nur von den Schritten unterbrochen, die unten den campo überquerten. Wir wandten beide den Kopf zum Fenster.

»Wohnst du schon lange hier?«

»Eine Weile«, erwiderte ich.

Die Keckheit, die er vorhin in der Bar an den Tag gelegt hatte, war verschwunden. Er wirkte verlegen und schrecklich, schmerzlich jung. Sah ganz so aus, als würde ich den ersten Schritt tun müssen. Wir standen zwei Schritte auseinander. Ich trat nach vorn und hielt dabei seinen Blick fest. Kapierte er, was ich ihm sagen wollte?

Lauf weg, bedeutete es. Lauf weg und schau nicht zurück.

Ich machte einen zweiten Schritt und streckte die Hand aus, um ihm über die stopplige Wange zu streicheln. Langsam, ohne meinen Blick von seinem Gesicht abzuwenden, beugte ich mich vor, berührte mit der Nase seine Wange und ließ meine Lippen seitlich über seine gleiten, bis seine Zunge endlich meine fand. Er schmeckte nicht so schlecht, wie ich erwartet hatte. Ich zog mich wieder zurück, um mir das Kleid über den Kopf zu streifen und es in einer einzigen Bewegung auf den Boden zu werfen, gefolgt von meinem BH. Dann strich ich meine Haare nach hinten und ließ die Handflächen langsam über meine Brustwarzen gleiten.

»Elisabeth«, murmelte er.

Die Badewanne stand am Ende des Bettes. Als ich die Hand ausstreckte und ihn um die Wanne herum zu meinem Frette-Bettzeug führte, spürte ich, wie eine erstickende Welle von Müdigkeit über mich hinwegging, ganz ohne das Gefühl, das mir einmal so vertraut gewesen war. Ich hatte keine Wut mehr in mir und auch keinen Funken Begehren. Ich ließ ihn machen, und als er fertig war, setzte ich mich mit einem Kichern in der Stimme auf und ließ meine Augen funkeln. Ich durfte nicht zulassen, dass er mir eindöste. Ich ließ mich auf die feuchten Laken fallen und ließ das schlaffe Kondom mit dem jämmerlich kleinen Lebendgewicht auf den Boden fallen und streckte die Hand nach dem Heißwasserhahn aus.

»Ich hab Lust auf ein Bad. Ein Bad und einen Joint. Und du?«

»Klar. Immer doch.« Nach dem Vögeln hatte er prompt seine Manieren abgelegt. »Wollen wir jetzt die Fotos machen?« Vorhin im Café hatte ich ihn davon abbringen können, Fotos von mir zu schießen. Jetzt fummelte er in seiner achtlos auf den Boden geworfenen Jeans schon wieder nach seinem Scheißhandy. Ein Wunder, dass er seinen Höhepunkt nicht bereits auf Instagram eingestellt hatte. Für den kurzen Augenblick, den er auf mir lag und mich stieß, hatte ich ganz vergessen, was für ein Riesentrottel er war. Auf einmal fühlte sich alles so viel leichter an.

»Das können wir machen, mein Lieber. Warte mal eben.« Ich trabte nackt ins Ankleidezimmer und wühlte in einer Schublade nach einem Heftchen Zigarettenpapier. Dabei zog ich vorsichtshalber den Stecker meines WiFi-Scramblers. Für ihn würde es keine Updates in Echtzeit mehr geben. Ich ließ ein bisschen kaltes Wasser zulaufen, gab einen Schuss Mandelöl in die Wanne und öffnete den schweren antiken Wäscheschrank, um ein paar Handtücher herauszunehmen.

»Spring doch schon mal rein«, sagte ich über die Schulter, während ich den Tabak aus einer Zigarette herausbröselte. Er ließ sich ins Wasser gleiten.

»Ich hol nur schnell ein Feuerzeug«, murmelte ich. »Hier.«

Ich steckte ihm den Joint zwischen die Lippen, doch noch während er inhalierte, legte ich ihm meinen Hermès-Schal, den ich vor unserem Treffen an den Griff meiner Handtasche geknotet hatte, um den Hals und zog fest zu. Er verschluckte sich sofort am Rauch und drosch mit den Händen aufs Wasser ein. Ich stemmte meine Füße gegen die Badewanne, lehnte mich zurück und zog noch fester zu. Er zappelte mit den Beinen, fand aber keinen Halt am öligen Porzellan. Ich schloss die Augen und begann zu zählen. Seine Rechte, die absurderweise immer noch den Joint hielt, versuchte vergeblich, mich am Handgelenk zu packen, aber er erwischte den richtigen Winkel nicht, und seine Finger streiften mich nur kurz.

Fünfundzwanzig … sechsundzwanzig … Während wir miteinander rangen, spürte ich nur das anaerobe Prickeln in meinen Muskeln, nur meine eigenen geräuschvollen Atemzüge in den Nasenlöchern, während er wild im Wasser strampelte. Neunundzwanzig, keine große Sache, dreißig, keine große Sache. Ich spürte, wie er nachließ, aber es gelang ihm doch noch, einen Finger und dann eine ganze Faust zwischen den Schal und seinen Adamsapfel zu zwängen, und er schleuderte mich mit aller Macht nach vorne. Dabei rutschte er allerdings selbst unter die Wasseroberfläche. Ich drehte mich um hundertachtzig Grad, landete in der Wanne und legte ihm das linke Knie auf die Brust, um ihn mit meinem ganzen Gewicht nach unten zu drücken.

In meinem Auge und im dampfenden Wasser war Blut, doch ich konnte noch Blasen aufsteigen sehen, während er sich weiter wehrte. Ich ließ den Schal los und griff blindlings nach unten, zu seinem Gesicht und seinem Hals. Er schob die Kiefer vor und versuchte, nach meiner Hand zu schnappen. Dann hörten die Blasen auf. Langsam kam ich wieder zu Atem, und meine verzerrten Züge entspannten sich. Ich konnte sein Gesicht durch das milchige Hellrosa des Badewassers nicht sehen. Vorsichtig bewegte ich mein Becken vorwärts, da schlug mir das Wasser auf einmal in einer Riesenwelle entgegen, als er sich unter mir aufrichtete. Ich ließ mich rittlings auf ihn fallen, während er verzweifelt den Kopf zu heben versuchte. Es gelang mir, ihn mit dem Ellbogen wieder hinunterzudrücken, dann rutschte ich so weit hoch, bis ich jeweils ein Bein auf seinen Schultern hatte. So blieben wir eine ganze Weile, bis eine Träne aus Blut von meinem Gesicht in die Wanne fiel.

Vielleicht war es die Klarheit dieses einen winzigen Geräuschs. Vielleicht war es die Wolke von Mandelöl im kreiselnd aufsteigenden Dampf oder die abkühlenden Hautschüppchen auf der Wasseroberfläche. Jener kalte Nachmittag damals, jene endlose Stille, jenes erste tote Ding unter meinen Händen. Die Verwerfungslinie in meinem Inneren öffnete sich zu einem klaffenden Abgrund, und mit einer Kraft, die den Atem aus mir presste, wurde ich dorthin zurückkatapultiert. Auf einmal war die Zeit wie komprimiert, die Vergangenheit verdichtete sich und kam zu mir.

Es war so lange her, dass ich sie verlassen hatte. Sie war nie ein Teil meines Lebens gewesen, hatte ich mir selbst eingeredet, aber jetzt sah ich sie gerade wie zum ersten Mal. Benommen griff ich wieder ins tiefe Wasser, doch ich fand nur das Fleisch eines Fremden. Diese Sache hier war notwendig gewesen, obwohl ich mich gerade nicht mehr an den Grund erinnern konnte. Seine Hand stieg zur Wasseroberfläche empor, und ich klopfte ihm auf die Finger, in einer wässrigen kleinen Melodie. Es mochten ein paar Minuten vergangen sein, in denen ich die leisen Wellen auf dem Wasser beobachtete, vielleicht aber auch eine Stunde. Bis ich wieder zu mir kam, war das Badewasser kalt.

Als ich ihn irgendwann hochzog, waren seine Augen offen. Das Letzte, was er von dieser Erde gesehen hatte, war meine offene Möse gewesen.

Seine glitschige Haut war rosarot und aufgequollen, seine Lippen waren bereits grau. Sein Kopf fiel nach hinten, im Kerzenlicht zeigte seine Kehle keinerlei Spuren. Ich hielt mich am Wannenrand fest und kletterte mit zitternden Beinen hinaus. Als ich ihn losließ, rutschte er wieder unter Wasser, und ich musste unter seinem hin und her wabernden Haarschopf nach dem Badewannenstöpsel tasten. Während das Wasser ablief, schmiegte ich mich in ein Handtuch. Als seine Brust auftauchte, legte ich ihm eine Hand aufs Herz. Nichts. Ich richtete mich auf und streckte mich. Der Boden war pitschnass, der Badewannenrand von Blut und Tabakkrümeln verunreinigt. Mit etwas heißem Wasser säuberte ich ihn.

Ich musste ihn von der Seite in den Arm nehmen, um ihn über den Wannenrand hieven zu können. Er war ganz schlaff. Als ich ihn auf den Boden gelegt hatte, bedeckte ich ihn mit dem anderen Handtuch und setzte mich im Schneidersitz neben ihn, bis er ganz kalt war.

Dann zog ich das Handtuch von seinem Gesicht, beugte mich vor und flüsterte ihm ins Ohr:

»Ich heiße nicht Elisabeth. Ich heiße Judith.«

1. REFLEXION

1. Kapitel

Acht Wochen zuvor …

Während ich mich anzog, hörte ich Cole Porters Miss Otis Regrets, in der Version von Ella Fitzpatrick. Sie brachte mich immer zum Lächeln. Ich hatte das Schlafzimmer meiner Wohnung am Campo Santa Margherita in ein Ankleidezimmer umgewandelt und Molteni-Schränke mit Glastüren hineingestellt, sodass meine Schuhe, Taschen, Schals und Kleider und Jacken immer alle schön sichtbar waren. Auch das brachte mich zum Lächeln. Die Wohnung lag im Hochparterre, und von den Fenstern blickte man auf den Platz mit seinem alten Fischmarkt und dem Pflaster aus weißen Steinen.

Im Wohnzimmer hatte ich eine Wand herausbrechen lassen, um einen einzigen großen Raum zu schaffen. Am Fuß meines Bettes stand auf einem dicken grünen Marmorsockel die Badewanne, vor einem der drei Bogenfenster. Mein Badezimmer, das mit antiken persischen Kacheln gefliest war, hatte ich hinter dem Ankleidezimmer an die Stelle bauen lassen, wo sich vorher ein Treppenhaus befunden hatte. Das war eine der vielen Freuden der Wohnung von Elisabeth Teerlinc. Der Architekt hatte so einiges in seinen Bart geknurrt, von wegen Stützbalken und Genehmigungen, aber in den neun Monaten, die ich inzwischen in Venedig war, hatte ich festgestellt, dass man mit sündiger Währung so einiges möglich machen konnte. Die Bilder, die ich in Paris erworben hatte – den Fontana, das Gemälde Susanna und die beiden Alten sowie die Cocteau-Zeichnung –, hatte ich aufgehängt und noch ein modernes Stück, ein kleines Werk ohne Titel von Agnes Martin in Weiß mit wolkengrauen Linien, das ich über Paddle8, das Online-Auktionshaus in New York, gekauft hatte. Meine anderen französischen Werke hatten mich ebenfalls hierherbegleitet, mit Ausnahme der kopflosen Leiche von Renaud Cleret, die sich in einer zugenagelten Kiste in einem Lagerraum für Kunstwerke in der Nähe des Château de Vincennes befand. Mal ganz abgesehen davon, was der Architekt dachte – ich machte mir ab und zu tatsächlich Sorgen um Lecks.

Die handgeschriebene Einladung zu meiner ersten Ausstellung steckte an einer Ecke meines Spiegels. Elisabeth Teerlinc hat die Ehre, Sie in die Gentileschi Gallery zu bitten … Ich überflog die Worte noch einmal, während ich mir die Haare hochsteckte. Ich hatte es geschafft. Ich war jetzt Elisabeth. Judith Rashleigh war für mich nicht einmal mehr ein Phantom, kaum mehr als ein Name auf dem unbenutzten Pass, der in meiner Schreibtischschublade lag.

Ich ließ die Hand über die ordentlich aufgehängten Kleider gleiten, genoss die Glätte von Jersey und das geschmeidige Gewicht guter Seide. Für die Ausstellungseröffnung hatte ich mir ein tailliertes tiefschwarzes Kleid von Figue aus Shantungseide ausgesucht. Am Rücken wurde es mit winzigen türkis-goldenen Knöpfen geschlossen und war im Stil eines traditionellen chinesischen Kleides gehalten. Die Farbe des Stoffes glühte, als ich ihn zwischen den Fingern drehte. Ich setzte auf den strengen Look der traditionellen Galeristin, aber irgendwo tief in meinem Innersten steckte ein kleines Einhorn, das ungeduldig die Mähne schüttelte. Ich schenkte meinem Spiegelbild ein leises Lächeln. Liverpool war weit, weit weg.

Einer der kurzlebigen Jobs meiner Mutter war eine Putzstelle in der Nähe von Sefton Park, in dieser selbstbewussten viktorianischen Enklave aus Bäumen und Glashäusern in Zentrumsnähe, drei Busse von unserer Wohnsiedlung entfernt. Eines Tages, als ich ungefähr zehn Jahre alt war, stellte ich bei Schulschluss fest, dass ich meinen Hausschlüssel vergessen hatte, und ich beschloss, meine Mutter an ihrer Arbeitsstelle aufzusuchen.

Die Häuser waren riesig, bestanden aus unzähligen roten Ziegeln und Erkerfenstern. Ich drückte mehrmals auf die Klingel, aber niemand machte auf, deswegen probierte ich es an der Klinke, und tatsächlich war die Tür nicht abgeschlossen. Im Flur roch es nach Möbelpolitur und ganz leicht nach Blumen, die Bodendielen waren nackt bis auf ein helles Teppichviereck, und der Raum zwischen den Türen und dem ausladenden, geschwungenen Treppenhaus war mit Regalen voll dicker, schwerer Bücher gefüllt. Es war so still. Sobald ich die Tür leise hinter mir zugemacht hatte, hörte ich kein Summen von Fernsehern, kein Stakkatogeschrei von streitenden Paaren oder spielenden Kindern, keine laufenden Motoren oder raufende Haustiere. Nur … Stille. Ich hätte gern die Hand ausgestreckt und die Buchrücken berührt, doch ich wagte es nicht. Noch einmal rief ich nach meiner Mutter, und sie erschien in dem Trainingsanzug, den sie immer anzog, wenn sie putzen ging.

»Judith! Was machst du denn hier? Ist alles in Ordnung?«

»Ja. Ich hab bloß meinen Schlüssel vergessen.«

»Du hast mich zu Tode erschreckt! Ich dachte, es wäre ein Einbrecher.« Sie rieb sich müde übers Gesicht. »Du musst etwas warten. Ich bin noch nicht fertig.«

Am Fuß der Treppe stand ein breiter Stuhl und daneben eine große Lampe. Ich knipste die Lampe an, und der Raum verdichtete sich, schimmerte um mich herum, ganz still und privat. Ich schüttelte meinen Rucksack von den Schultern und stellte ihn ordentlich unter den Stuhl, dann ging ich wieder an die Regale. Ich glaube, ich suchte das Buch aus, weil mir die Farbe des Rückens gefiel, ein knalliges Rosa, von dem sich der Titel in Goldbuchstaben abhob. Vogue, Paris, 40 ans, stand dort. Es war ein Modebuch mit Abbildungen von Frauen, die außergewöhnliche Kleider und Schmuck trugen und deren Gesichter perfekte Make-up-Masken waren. Langsam blätterte ich um, ganz gebannt von den prächtigen, erlesenen Farben. Ein Bild zeigte eine Frau in einem hellblauen Ballkleid mit riesigem Rockteil, die durch den Straßenverkehr rannte, als würde sie ihrem Bus hinterherlaufen. Hingerissen blätterte ich weiter und schaute, blätterte weiter und schaute.

Mir war gar nicht bewusst, wie viel Zeit vergangen war, bis ich auf einmal merkte, dass ich schrecklichen Hunger hatte. Ich rappelte mich hoch und legte das Buch behutsam auf die Sitzfläche des Stuhls, als jäh die Tür aufflog. Ich fuhr zusammen und stand leicht geduckt und mit schuldbewusster Miene da.

»Was machst du hier?« Die scharfe Stimme einer Frau, mit einem Unterton von Angst.

»Entschuldigung. Es tut mir leid. Ich bin Judith. Ich hab meinen Hausschlüssel vergessen. Ich warte hier auf meine Mum.« Ich deutete mit einer vagen Geste zur Tür, die meine Mutter vor gefühlten Stunden geschluckt hatte.

»Ah. Verstehe. Ist sie noch nicht fertig?«

Sie bedeutete mir, ihr durch einen Gang in den rückwärtigen Teil des Hauses zu folgen, der sich zu einer großen, gemütlichen Küche öffnete.

»Hallo?«

Hinter dem Tisch stand ein Sofa, dessen bunte Kissen auf dem Boden lagen und meiner Mum Platz gemacht hatten.

»Hallo?«

Ich glaube, ich hatte die Weinflasche auf dem Boden noch vor ihr entdeckt, doch der resignierte Ton, den die Dame des Hauses angeschlagen hatte, verriet mir, dass dies nicht das erste Mal war. Meine Mutter musste den Wein aus dem Kühlschrank stibitzt haben.

»Hab mich nur mal kurz hingelegt.«

Ich erglühte in kalter Scham. Die Dame ging zum Sofa und half meiner Mutter, sich aufzusetzen, energisch, aber nicht unfreundlich.

»Wir haben schon mal darüber gesprochen, oder? Es tut mir leid, aber ich denke, Sie waren heute zum letzten Mal hier, meinen Sie nicht auch? Ihre Tochter ist hier.« Ihrem Tonfall war anzumerken, dass ich ihr leidtat.

»Entschuldigung, ich hab mich nur …« Mum zupfte an ihrem Trainingsanzug und versuchte, sich zu rechtfertigen.

»Schon gut.« Jetzt schon etwas strenger. »Aber Sie sollten jetzt besser gehen. Bitte holen Sie Ihre Tasche, und ich bringe Ihnen Ihr Geld.« Sie war überhaupt nicht gemein, das war es ja gerade. Ihr war das, was sie da tat, sichtlich unangenehm, und ihr kontrollierter, professioneller Ton sollte ihr Unbehagen kaschieren und uns auf die Straße hinausschieben, wo wir unsere Garstigkeiten untereinander ausmachen konnten.

Ich ging zurück und stellte mich mit der Schultasche neben die Tür. Ich wollte gar nicht mehr zuhören. Als die Dame meiner Mutter zwei Zwanzig-Pfund-Scheine gab, muss sie gesehen haben, dass meine Augen wieder zu dem Buch wanderten.

»Möchtest du das vielleicht mitnehmen? Als kleines Geschenk?« Sie drückte es mir in die Hand, ohne mich anzuschauen. Sie gab es mir, als wäre es nichts.

»Blöde Kuh«, murmelte meine Mutter, während sie mich zur Bushaltestelle schleifte.

Als wir irgendwann zu Hause waren, gab sie mir ihren Schlüssel und stieg vor mir aus, an der Haltestelle neben der Kneipe. Ich dachte mit Nervosität an die vierzig Pfund. Von denen würden wir so schnell nichts mehr sehen. Ich machte mir Bohnen auf Toast und zog dann das Buch aus der Tasche. Innen stand der Preis – sechzig Pfund. Sechzig Pfund für ein Buch. Und die Dame hatte es einfach so verschenkt. Ich verstaute das Buch sorgfältig unter meinem Bett, und im Laufe der nächsten Zeit schaute ich es mir so oft an, dass ich die Namen der Fotografen und Modedesigner bald auswendig kannte. Der Haken war nicht der, dass ich die Kleider unbedingt hätte haben wollen. Ich dachte mir nur, wenn man zu den Leuten gehörte, die solche Kleider hatten, würde man sich anders fühlen. Wenn man solche Sachen besaß, konnte man sich aussuchen, wer man sein wollte, jeden Tag aufs Neue. Man konnte sein Inneres durch sein Äußeres bestimmen.

Ich rieb meine High Heels kurz mit dem Schuhbeutel ab, bevor ich hineinschlüpfte. Vielleicht hatte Elisabeth Teerlinc nur eines mit Judith Rashleigh gemeinsam: Sie beschäftigte kein Hausmädchen. Elisabeth zu werden, hatte letztlich viel mehr gekostet als nur eine teure Garderobe. Eine Rüstung kann einen nur dann schützen, wenn sie unsichtbar ist, und das hatte am meisten Mühe gekostet. Ich musste nicht nur lernen und Prüfungen bestehen, sondern mir diese Überzeugung bewahren, dass ich gewinnen konnte. Es galt, aus dieser jämmerlichen Wohnsiedlung zu entkommen, in der ich groß geworden war. Ich durfte mir auf keinen Fall gestatten, mich in das elende Leben meiner Mutter hineinziehen zu lassen.

Dafür musste ich viel Spott ertragen, Schimpfwörter wie »Schlampe« und »Zicke«, die man mir auf den Schulfluren zuzischte, nur weil ich mehr wollte. Ich hatte mir selbst beigebracht, die Mädchen in der Schule zu hassen und sie dann zu ignorieren, denn was würden sie in ein paar Jahren schon sein? Schwabbelige Mütter in der Schlange an der Bushaltestelle, weiter nichts. Am schwierigsten war es jedoch, auch die letzte Spur des überwältigten Proletenmädels zu tilgen, als das ich mich fühlte, nachdem ich schließlich einen Platz an der Uni ergattert hatte. So was sehen die Leute nämlich. Sie sehen nicht nur das traurige Kind, das unter der Bettdecke über seinem kostbaren Modebuch und seiner kleinen Sammlung von Kunstpostkarten geträumt hat, sondern das ehrgeizige, aber klägliche Herz, das in ihm schlägt. Sobald ich den Zug südlich der Lime Street bestiegen hatte, sollte niemand dieses kleine Mädchen jemals wiedersehen. Langsam, aber sicher hatte ich meinen Akzent ausgerottet, mein Benehmen geändert, meine Sprachen gelernt, meine Verteidigungsstrategien geformt und verfeinert wie ein Bildhauer seinen Marmor.

Aber auch das war nur der Anfang der Anforderungen, die Elisabeths Existenz an mich stellte. Eine Weile, als ich einen Job in einem renommierten Auktionshaus hatte, hatte ich mich in dem Glauben gewiegt, ich hätte es schon geschafft, aber ich hatte weder Geld noch Verbindungen, und das hieß, dass ich niemals mehr werden würde als der Wasserträger der Abteilung. Also nahm ich nachts einen Hostessenjob in einer Bar an, dem Gstaad Club, denn bestimmt würden ein schöneres Kostüm und ein besserer Haarschnitt etwas verändern. Von diesem rührenden Irrglauben wurde ich kuriert, als ich entdeckte, dass Rupert, mein Chef, in einen Fall von Kunstfälscherei verwickelt war. Er hatte keine fünf Minuten gebraucht, um mir die Tür zu weisen.

Da hatte mir einer der Gäste meines Clubs, James, ein Wochenende an der Riviera angeboten, und ab diesem Moment waren die Dinge vorübergehend ein wenig … unsauber gelaufen. Wenn auch unterm Strich sehr profitabel, denn ich hatte die Fälschung, derentwegen ich meinen Job verloren hatte, ausfindig gemacht und verkauft und mich mit diesem Geld als Kunsthändlerin in Paris niedergelassen. Zugegeben, es hatte da den einen oder anderen Todesfall gegeben. James hatte es nicht zurück nach London geschafft, obwohl das nicht ganz meine Schuld gewesen war. Dasselbe galt für den Händler Cameron Fitzpatrick, dem ich die Fälschung gestohlen hatte, meine alte Schulkameradin Leanne, den Undercover-Ermittler Renaud Cleret und Julien, den Besitzer eines Pariser Sexclubs. Es war aus praktischen Gründen erforderlich gewesen, als Elisabeth Teerlinc nach Venedig zu gehen. Nicht zuletzt, weil ich die Aufmerksamkeit eines gewissen Polizisten namens Romero da Silva vermeiden wollte.

Es war ganz schön mühsam gewesen, das alles zu vertuschen. Doch Elisabeths Fassade war inzwischen wirklich gut, ihre glänzende Oberfläche reflektierte nur das, was die Menschen in ihr sehen wollten. Es stimmt schon, was die Leute sagen – am Ende kommt es immer auf die inneren Werte an.

2. Kapitel

»Miss Teerlinc? Elisabeth Teerlinc?«

»Das bin ich, ja.«

»Ich bin Tage Stahl. Ich hoffe, es macht Ihnen nichts aus, wenn ich einfach hier hereinplatze, aber ich bin einfach so fasziniert von diesen Stücken.«

»Das freut mich zu hören.«

»Haben Sie diese Galerie schon lang?«

»Nein, erst seit dem Frühjahr.«

»Also, wirklich ganz wunderbar.«

»Danke. Dann wünsche ich Ihnen viel Freude in der Ausstellung.«

Der Kunde tauchte in das ein, was sich wie eine Menschenmenge anfühlte, obwohl in die Gentileschi Gallery nur ungefähr dreißig Leute passten. Mein Laden mochte nur fünfzehn Schritte lang sein, aber davon gehörte jeder Schritt mir. Die Galerie befand sich im Erdgeschoss des ehemaligen Marinegebäudes am untersten Ende der Insel, in der Nähe der Vaporetto-Haltestelle San Basilio: schlichte funktionale Architektur aus dem neunzehnten Jahrhundert, die mit dem fantastischen Ausblick auf den Osten von Giudecca kontrastierte. Die Schönheit Venedigs ist ein ausgelutschtes Thema – man kann dazu nichts sagen, was jemand anders nicht schon viel besser gesagt hätte –, aber ich mochte meine Galerie deswegen noch lieber, wegen seiner Geste zu den Ursprüngen dieser Stadt, deren Zauber auf Schiffen und Schweiß und Gewürzen aufbaute.

Meine erste italienische Show war eine Gruppenausstellung serbischer Künstler, des Xaoc-Kollektivs, das in einem besetzten Haus in Belgrad arbeitete. Die Stücke – bestickte Collagen und Leinwände mit willkürlich zusammengestellten Fundstücken – waren volksnah und bewusst unpolitisch, anspruchslos und angenehm fürs Auge, genauso wie der Preis. Und sie verkauften sich wirklich gut. Ich hatte beschlossen, mit einer bescheidenen Eröffnung im August anzufangen. Elisabeth Teerlinc war es zwar schon gelungen, viele von den Leuten kennenzulernen, die sie kennen musste, wenn im Frühjahr die Biennale-Karawane durch Venedig zog, aber sie war noch weit davon entfernt, eine etablierte Galeristin zu sein. Die relativ ruhigen Monate rund ums Filmfestival, wenn die Stadt vor allem den Touristen und der schwindenden Zahl der Venezianer gehört, die sie bedienen, war die perfekte Zeit gewesen, um meine Kontakte und meine neue Identität zu pflegen und mich auf die nächste Biennale vorzubereiten.

Ich hatte Wochen damit verbracht, die Einladungen zur Ausstellung zu schreiben. Ich hatte eine kurze Pressemitteilung abgefasst, hatte ein ganz besonderes graues Leinenpapier für meinen Katalog ausgesucht und mit einer Malerfirma verhandelt, die mir die Wände der Galerie weiß strich. (Die Käufer zeitgenössischer Kunst erwarten weiße Wände, genauso wie sie erwarten, dass die Werke provokativ, zweideutig oder subversiv sind.) All das unterschied sich nicht wesentlich von den unproduktiven Beschäftigungen, die ich damals im Auktionshaus in London erledigt hatte, und doch hätte der Unterschied kaum größer sein können. Denn nun hatte ich einen richtigen Schreibtisch mit einem Designersessel vom Modell T13 Poltrona, nach dem Vorbild des Albini-Sessels von 1953, der zumindest die italienischen Besucher sehr beeindruckte. Und ich konnte mich tatsächlich daraufsetzen, ohne dass mich jemand der Faulheit bezichtigte. Einen Assistenten hatte ich noch nicht – ich hatte ein paar Studenten von der Uni angeheuert, die Prosecco servierten und den Gästen die Garderobe abnahmen –, aber sie sprachen mich als »Signora Teerlinc« an und nicht mit »Äh …«.

Einen Moment wünschte ich mir, ich könnte hinter mich greifen und die Spinnennetze zerreißen und meinem jungen Ich diese Zukunft zeigen. Diese Gäste und diese Gläser waren echt, ebenso wie die handgeschriebenen Schildchen, die die Studenten an den Kunstobjekten befestigten, sobald sie verkauft waren. Wenn ich so dastand, selbstsicher, glänzend, selbstbewusst, hatte sogar ich das Gefühl, dass Elisabeth Teerlinc real war. Mein Erfolg mochte noch relativ bescheiden sein, aber ich fühlte mich nicht gedemütigt. Ich war entzückt.

Auf der anderen Seite des Raums blätterte der skandinavisch aussehende Typ, Stahl, langsam meinen sorgfältig verfassten Katalog durch. Ich sah, wie er einem der Studenten ein Zeichen gab und nach seiner Brieftasche griff. Er kaufte etwas. Ich wollte schon zu ihm hinübergehen, doch da legte mir jemand die Hand auf den Arm, und ich drehte mich um. Ein älterer Mann, trotz der Wärme ganz seriös im korrekten Tweedjackett. Ich ging davon aus, dass es sich um einen verirrten Touristen handelte oder um einen Professor von der Universität Ca’ Foscari, doch der Akzent seiner wenigen englischen Worte klang russisch, also versuchte ich es nervös mit einem russischen »guten Abend«.

»Sie sprechen Russisch?«

»Leider nicht viel.« Ich wechselte zurück ins Englische. »Kann ich Ihnen helfen?«

»Sie sind Elisabeth Teerlinc?«

»Genau.«

Er reichte mir eine Visitenkarte, ganz förmlich, mit einer kleinen Verbeugung. Darauf standen sein Name, Dr. Ivan Kazbich, und die Adresse einer Galerie in Belgrad, Serbien. Er musste also von Xaoc gehört haben.

»Gut. Ich bin gekommen, um im Auftrag meines Arbeitgebers mit Ihnen zu sprechen. Hätten Sie wohl einen Augenblick Zeit für mich?«

»Oh. Ja, natürlich«, antwortete ich fasziniert.

»Es wäre mir lieber, wenn wir unter vier Augen sprechen könnten.«

Ich warf einen Blick auf meine Armbanduhr. Sieben Uhr fünfundzwanzig. »Selbstverständlich. Aber wenn Sie vielleicht noch ein wenig warten könnten? Die Ausstellungseröffnung wird nicht mehr lange dauern.«

Er schaute an die Wände. Offenbar hatte Stahl die letzten drei Werke gekauft, denn auf jedem prangte jetzt ein »Verkauft«-Schildchen mit roter Schrift.

»Sie müssen sehr zufrieden sein.«

»Danke, ja. Wenn Sie mich einen Augenblick entschuldigen würden?«

Ich ging zu Stahl, der sich noch in der Galerie herumdrückte, während sich die übrigen Gäste an der Tür voneinander verabschiedeten oder zum Abendessen verabredeten. Er fragte, ob ich nicht mit ihm in Harry’s Bar gehen wollte. Das hätte mir im Grunde schon damals alles über ihn sagen sollen. Wenn Venedig das größte Meisterstück ist, das unsere Art jemals hervorgebracht hat, warum sollte jemand dann im einzigen Lokal ohne Ausblick essen wollen, wo man außer der freudlos-grotesken Kundschaft nichts anzuschauen hat? Ich biss mir auf die Zunge, erklärte, dass ich schon eine Verabredung hatte, und begleitete ihn höflich, aber entschieden auf den Kai hinaus, wo der Himmel sich gerade von verhangenem Saphirblau zu Honigtau verfärbte. Ich bedankte mich bei meinen Helfern, die die Kataloge wieder aufgestapelt und die Flaschen und Gläser weggeräumt hatten, bezahlte sie bar und machte die Tür hinter ihnen zu, bevor ich mich wieder Dr. Kazbich zuwandte.

»Entschuldigen Sie, dass ich Sie habe warten lassen.«

»Oh wirklich, gar kein Problem.«

Kazbich erklärte, dass er für einen Sammler arbeitete, der seine Stücke gerne schätzen lassen würde. Die Sammlung befand sich in Frankreich. Ob ich wohl solche Arbeiten übernehmen würde? Tatsächlich hatte ich so etwas schon länger nicht mehr gemacht, aber ich hatte damals im Auktionshaus durchaus Stücke geschätzt, manchmal mit überraschenden Ergebnissen. Es sei eine … bedeutende Sammlung, fuhr er fort. Ich wusste natürlich sofort, was das hieß, und erkundigte mich, ob sein Auftraggeber nicht in Betracht gezogen hätte, einen der Experten der IFAR in Anspruch zu nehmen, der International Foundation for Art Research. Die Provenienz der Stücke stehe gar nicht infrage, entgegnete er mit der Andeutung eines Lächelns, die signalisierte, dass wir beide wussten, dass der andere wusste, wovon wir hier redeten. Es handle sich um eine rein private Schätzung. Also eine zwielichtige Sache, aber auch das war uns beiden klar. Das war die Art von Angebot, die kein anständiges Mädchen annehmen sollte, zumindest nicht, bevor sie nicht weiß, wie hoch das Honorar ist. Wie auf ein Stichwort erklärte Kazbich, dass sein mysteriöser Auftraggeber ein vorläufiges Beratungshonorar von zwanzigtausend Euro zuzüglich Spesen bot, dem eine Zahlung von hunderttausend bei Abgabe meines Berichts folgen würde. Ich würde mir die Sammlung vor Ort ansehen, und dann hätte ich zwei Wochen, um meine Schätzarbeit abzuschließen.

»Das würde mich sehr interessieren«, antwortete ich sofort, denn ich glaubte nicht, dass jemand, der solche Summen bot, sich von Zeitverschwendung durch Ziererei beeindrucken lassen würde. Was der Kunde mit der Schätzung anfangen wollte, ging mich überhaupt nichts an.

Dr. Kazbich reichte mir einen dicken cremeweißen Umschlag und schaute mich erwartungsvoll an, während ich das Kuvert öffnete. Darin steckte nicht nur ein Scheck über die erste Summe, der auf den Namen von Elisabeth Teerlinc ausgestellt war, von einer Bank auf Zypern, sondern auch ein Zettel, auf dem nur ein Name stand. Pavel Yermolov.

Einen Augenblick starrte ich wie belämmert auf den Namen. Ich bin sonst nicht so leicht sprachlos. Aber nun sollte ich mir tatsächlich Pavel Yermolovs Bilder ansehen. Oder besser gesagt, Pavel Yermolov hielt mich für gut genug, seine Bilder zu begutachten. Ich glaube, Kazbich wusste, dass ich ihm jederzeit mit Freuden den Scheck zurückgegeben und selbst einen ausgeschrieben hätte, um mir die Chance zu sichern, die sich mir hier bot.

Yermolovs Sammlung war ein Geheimnis, Gegenstand von Legenden, aber auch gierigen Gerüchten. Als Oligarch der zweiten Generation hatte er den Ruf eines äußerst seriösen Käufers, aber er erschien nie selbst in den Showrooms, sondern zog es vor, durch eine Reihe von austauschbaren und anonymen Mittelsmännern zu kaufen. Man hatte ihn in den letzten fünf Jahren mit erfolgreichen Geboten auf einen Matisse, einen Picasso und – nicht ganz so vorhersehbar – einen Jacopo Pontormo in Verbindung bringen können, ein Pollock war jedoch definitiv im Namen eines seiner Firmentrusts gekauft worden. Und dann waren da noch die Jameson-Botticellis. Sie waren nach dem amerikanischen Raubritter benannt, der sie im neunzehnten Jahrhundert unter dubiosen Umständen aus Italien in die Staaten gebracht hatte. Der Ort, an dem sich diese Gemälde befanden, war unbekannt, und die Gerüchte wuchsen sich schon bald zu Verschwörungstheorien aus.

Ein Gemäldepaar in ovalen Rahmen, eine Verkündigung und eine Madonna mit dem Kinde, hatte die Öffentlichkeit seit hundertfünfzig Jahren nicht mehr zu Gesicht bekommen. Ein paar Experten bezweifelten ihre Existenz und behaupteten, sie seien bei einem Brand des Jameson’schen Anwesens zerstört worden, jedoch mit betrügerischer Absicht neu versichert, um das schwindende Familienvermögen zu vergrößern. Andere hingegen berichteten, die Bilder seien in Qatar oder Korea gesehen worden. Vor einem Jahrzehnt in Zürich war Yermolovs Name auf jeden Fall im Zusammenhang mit diesen Bildern gefallen, doch niemand wusste mit Sicherheit, ob er sie besaß.

»Meine Antwort lautet Ja. Bitte richten Sie Mr …«

Er unterbrach mich, indem er sich theatralisch einen Finger an die Lippen hielt. »Mein Arbeitgeber erwartet von Ihnen die absolute Diskretion.«

»Selbstverständlich. Entschuldigen Sie bitte.«

»Kein Problem, Miss Teerlinc. Sie haben ja meine Visitenkarte. Sobald Sie reisen können, nehmen Sie bitte Kontakt mit mir auf, und ich werde die erforderlichen Arrangements treffen.«

Er trug zwar keinen Hut, aber als sich die Tür der Galerie hinter ihm schloss, war ich mir sicher, dass er sich grüßend an die imaginäre Kopfbedeckung getippt hatte.

Wenig später, als ich in meiner Wohnung am Campo Santa Margherita in der Wanne lag und es mir mit einem Glas Soave gut gehen ließ, umklammerte ich die Visitenkarte wie einen Talisman. In den frühen Abendstunden lag ich gerne dort und lauschte den Kindern, die unten auf dem Platz spielten. Die Mädchen schwangen eine Wäscheleine und sprangen Seil, die Jungs spielten mit ihren Fußbällen und Skateboards, während die Markthändler ihre Kisten mit Tintenfisch und Moleche zusammenpackten und die Cafés sich mit Touristen und Studenten füllten. Es fühlte sich an, als wären es … meine Nachbarn.

Ich versuchte, mir die Stücke von Yermolovs Sammlung vorzustellen. Das Einzige, was mir von meinem Job im Auktionshaus in London wirklich fehlte, waren die Bilder selbst. Bis jetzt hatte ich zwar vermieden, mit Werken zu handeln, die ich nur voller Verachtung betrachtete, aber ich konnte mir auch nicht vormachen, dass die Stücke, die Gentileschi gerade verkauft hatte, mehr gewesen wären als vordergründig beeindruckender Mist. Ich vermisste nicht nur diesen anfänglichen Schock, in den einen die Schönheit wahrer Meisterwerke versetzte, sondern auch das Privileg an sich, mit diesen Gemälden Zeit verbringen zu dürfen, dieses geradezu erotische Vorgefühl, das man verspürte, wenn sie sich einem Stück für Stück öffneten, die Art, wie man in ein Bild eintauchen konnte, es immer und immer wieder anschauen und dennoch bewegt sein konnte oder verstört oder erstaunt. Mein erster Besuch als Schulmädchen in der National Gallery hatte mein Leben verändert, und seitdem waren Gemälde das Einzige, was mich niemals enttäuscht hatte. Na ja, und Zigaretten wahrscheinlich.

Als ich über meine Pläne für den Herbst nachdachte, wurde mir klar, dass Yermolovs Angebot nicht nur extrem schmeichelhaft war, sondern auch perfekt getimt. Die Gewinne der Balkan-Ausstellung würden die Ausgaben der Galerie eine Weile abdecken, aber meine Wohnung und die Arbeiten daran hatten gerade die Hälfte meines verfügbaren Kapitals verschlungen. Reichsein kostet so ein Heidengeld. Ich hätte mir bei meiner Ankunft in Venedig vor neun Monaten auch etwas mieten können, doch der Wunsch nach einem Ort, der eindeutig nur mir gehörte – vielleicht war es sogar der Wunsch nach einem Zuhause –, war um Längen stärker gewesen als jede Vernunft. Die Wohnung gehörte der Gentileschi Gallery und war von der Bank der Galerie in Panama in bar bezahlt worden. Ich hoffte, irgendwann auf den sekundären Markt vorzudringen und gute Bilder aus Privatbesitz weiterzuverkaufen, aber vorerst fehlte mir das bewegliche Kapital, um mit irgendetwas anderem zu handeln als mit »Nachwuchskünstlern«, also unter der Hunderttausend-Euro-Grenze. Trotzdem konnten neue Arbeiten, die abgesehen von ihrem Status als Geldanlage keinen Wert besaßen, extrem lukrativ sein, wenn eine Laune der Mode es so wollte. Ich brauchte also etwas Sensationelles für die nächste Saison, eine Entdeckung, die ich billig kaufen und nächstes Frühjahr teuer verkaufen konnte. Es gab da ein dänisches junges Mädchen, das mich interessierte. Ich hatte mir ihre Abschlussarbeiten am St. Martin’s College in London online angesehen, und darunter befand sich eine Serie von schlichten grafischen Gemälden, seltsam fesselnde, golden schimmernde Himmelskörper vor dunklem Hintergrund, die sich meiner Meinung nach ganz wunderbar vor dem sirupartigen Licht der Lagune ausnehmen würden. Vielleicht ließ sich in meiner Galerie eine privaten Schau bei Sonnenaufgang arrangieren, falls ich die Bilder bekam …

Dann waren da noch meine russischen Sprachkenntnisse, die ich dringend etwas aufbessern sollte. Ich hatte schon immer das Gefühl gehabt, dass solche Kenntnisse in meiner Branche praktisch sein dürften, weil mittlerweile so viele Russen Kunst im Westen kauften. Doch wie es jetzt aussah, würde ich sie schon viel früher brauchen als gedacht. Ich machte mir keine Illusionen, dass ich mich mit Yermolov fließend auf Russisch unterhalten könnte (falls er überhaupt vorhatte, anwesend zu sein), aber die Klänge der Sprache begannen langsam zu gelieren, und ich nahm mir vor, mir zumindest die gängigsten Höflichkeitsfloskeln wieder einzuprägen.

Ich fand eine pensionierte Opernsängerin, Mascha, die hinter La Fenice in einer richtigen Dachkammer wohnte, wo sie Russischunterricht gab. Meine Lehrerin war gebürtige Venezianerin, wie sie sagte, Kind eines russischen Opernsängerpaares, das kurz nach dem Zweiten Weltkrieg auf dem Weg nach Italien aus der Sowjetunion geflohen war. Sie sprach Italienisch immer noch mit starkem Akzent. Und ihr dämmriges Studio, im sechsten Stockwerk, das man über immer schmaler werdende Treppen erreichte, sah aus wie das Bühnenbild einer Amateurtheaterproduktion eines Tschechow-Stücks. An jeder Fläche, die nicht mit fransenbesetzten Schals verhängt war, hingen Ikonen. Sie hatte einen richtigen Samowar, Regale voller russischer Lyrik, und dazwischen hing ein schwacher Hauch von gekochtem Schweinefett. Mascha musste an die achtzig Jahre alt sein und hatte noch nie einen Fuß auf russischen Boden gesetzt, doch sie beschrieb Szenen aus dem Leben ihrer Eltern in St. Petersburg, die sie sich nur aus Romanen zusammengeklaubt haben konnte. Hochnäsig korrigierte sie die Deklinationsendungen der Sprecher der russischen Radiosender, die sie einstellte, um mir beim Üben zu helfen. »Off«, rief sie höchst angewidert und rollte die Augen unter ihrem schwarz gefärbten Schopf, »nicht ovvv. Eine Tragödie ist das. Eine Tragödie.« Ganz so, als hätten sich sämtliche Schrecken des Stalinismus in der falschen Aussprache eines russischen Vatersnamens auskristallisiert. Im Großen und Ganzen war sie eine großartige alte Schwindlerin. Vielleicht mochte ich sie deswegen so sehr.

3. Kapitel

Wie sich herausstellte, hatte ich jede Menge Zeit für zusätzliche Unterrichtsstunden, denn die Vorbereitungen für meine Begutachtung der Yermolov-Sammlung zogen sich über einen Monat hin. Zeit ist für die Reichen diese Welt eine skalare Größe, das hatte ich von meinem Freund Steve gelernt, dem eingeigelt lebenden Millionär, dessen Jacht, die Mandarin, sowohl mein Zufluchtsort als auch die Startrampe für meine eigene Galerie gewesen war. Die Reichen sind vollkommen immun für die Hinweise ihrer Untergebenen, für sie verschiebt oder dehnt sich der Kalender, je nachdem, wie sie es gerade brauchen.

Dr. Kazbich hatte mir die Nummer einer gewissen Madame Poulhazan gegeben, Yermolovs Assistentin, die unser Treffen in den nächsten Wochen energisch festsetzte und dann doch wieder verschob. Ich war erleichtert, als sie mir mitteilte, dass Yermolov mir sein Flugzeug zur Verfügung stellen werde, aber ich machte die Fahrt zum Flughafen mit dem Wassertaxi zweimal – nur um zu erfahren, dass Yermolov wieder abgesagt hatte. Er war in São Paulo, er war in New York, er war bei einer Krisensitzung in London, er war nicht mehr zu sprechen.

Ich nutzte die Verzögerungen, um das Potenzial seiner Sammlung einzuschätzen, notierte mir die letzten belegten Kaufpreise für Gemälde, die Yermolov angeblich besaß, verglich sie mit vergleichbaren Verkäufen im Artprice Index und fügte Hintergrundinformationen über die Bewegungen von Gemälden hinzu, von denen bekannt war, dass sie in den letzten zehn Jahren auf dem Markt gewesen waren. Als der Tag meiner Abreise schließlich gekommen war, fühlte ich mich gründlich vorbereitet.

Meine Recherchen hatten ergeben, dass Yermolov vier Flugzeuge besaß, und sogar nach den Maßstäben des Marco-Polo-Flughafens war seine Dassault eine auffällige Maschine. Nicht wegen ihrer Farbe, einem hübschen, diskreten Marineblau, sondern wegen der vier uniformierten Flugbegleiter, die geduldig auf dem Rollfeld warteten, um mich zu begrüßen, als wäre ich ein Staatsgast. Die zwei Hostessen rückten keck ihre winzigen Hütchen im Wind zurecht.

Ich lehnte Wodka, Champagner, Kaviar mit Blinis und kalt gepressten Grünkohlsaft ab. Nur das Armani-Wasser nahm ich widerstrebend an, als wir abhoben. Bis wir die Wolkendecke durchstießen, betrachtete ich das herrliche rosarote Gestein der Dolomiten mit ihren frisch beschneiten Gipfeln, die unter mir hinwegzogen. Dann lehnte ich mich zurück, um meine Notizen zum Chef der emsigen Hostessen durchzugehen. Jeder wusste Bescheid über Yermolov, aber ich wusste nur, was jeder wusste, und das war letztlich nichts. Yermolov passte perfekt ins Muster des neuen Oligarchen: zuerst eine Ausbildung in der Organisation, die einmal der KGB gewesen war, großes Interesse an Mineralien und industrialisierter Landwirtschaft, enge Verbindungen zur Regierung, offizieller Wohnsitz in Russland, doch Besitzer von Häusern in Frankreich, in London, auf Anguilla und in der Schweiz. In einem Bericht über die Bildhauerin Taïs Bean im Architectural Digest war ein Kronleuchter zu sehen, den sie für Yermolovs Skihütte entworfen hatte. Im ersten Moment überraschte es mich zu erfahren, dass er auch Politiker war, er hatte einen Gouverneursposten in seiner Herkunftsregion im Kaukasus, aber als ich das mit den Biografien von Seinesgleichen verglich, stellte ich fest, dass das keine ungewöhnliche Art war, Loyalität gegenüber Mütterchen Russland zu zeigen. Forbes, Spears und Financial Times förderten nichts Kontroverses zutage. Ich hatte es sogar mit alten Ausgaben der Rossijskaja Gaseta und der Vedomosti versucht, doch trotz meiner Anstrengungen mit Mascha fühlte sich mein Russisch immer noch sehr rudimentär an, und es war schwierig gewesen, irgendetwas Unvorhergesehenes aufzustöbern. Yermolov besuchte die üblichen Wohltätigkeitsbälle und ab und zu einen Selbstbeweihräucherungs-Thinktank, hatte sein Lager auch mal in Davos und Yerba Buena aufgeschlagen und war sogar schon mit Elton John und Bono fotografiert worden, doch im Vergleich zu seinen Vorgängern aus der letzten Generation postsowjetischer Cowboys war er entschieden wenig extravagant. Sein Wohlstand war offiziell respektabel und unanfechtbar. Seine Sammlung mochte geheimnisumwittert sein, doch da Yermolov nie auf einer der großen Biennalen auftauchte und auch nie im Garage-Museum für Zeitgenössische Kunst in Moskau fotografiert worden war, kam ich zwangsläufig zu der Schlussfolgerung, dass er Bilder vielleicht doch aufrichtig mochte.

Als wir in Nizza landeten, führten mich die eifrigen Hostessen zu einem wartenden Maybach, der genauso dunkelblau lackiert war wie das Flugzeug. Ein Typ hielt mir die Tür auf, der mich an Shrek erinnerte. Sein Anzug wölbte sich über dem Pistolenholster und seinen schwellenden Halsmuskeln. Ich wusste es zu schätzen, wie ich behandelt wurde, wir hätten genauso gut alte Freunde sein können, doch ich fragte mich schon, ob ein Bodyguard und ein Chauffeur nicht ein bisschen übertrieben waren. Die beiden saßen vorne, während das Auto über die Autobahn Richtung Toulon brauste und kurz hinter Saint-Tropez abfuhr. Wir blieben an einem Tor stehen, an dem der Fahrer einen Sicherheitscode eingab, dann fuhren wir weiter über eine Allee mit Platanen, die goldgefleckt in der Schwere des Frühherbsts leuchteten. Wir fuhren ein Stück bergab und wieder bergauf, in der Ferne erahnte ich das aufregende Funkeln des Mittelmeers. Wieder ragte ein Tor vor uns auf, doch diesmal bog der Chauffeur von der Straße ab und auf eine Betonauffahrt. Dort ging bereits ein Garagentor auf und ließ uns ein. Wir bewegten uns durch ein plötzliches bläuliches Zwielicht, bis eine weitere Tür aufglitt und das Auto in eine enge, niedrige Zementbox hineinfuhr. Der Fahrer öffnete mir die Tür und führte mich zu einer runden Glaskabine in einer Wandnische.

»Bitte hier herein, Madam. Einen Moment.«

Die Kabinentür glitt auf, ein Licht summte und brummte an der Decke – vielleicht eine Art Röntgenscanner? Man ließ mich wieder hinaus, und der Fahrer unterzog meine Taschen feierlich demselben Manöver, um sie dann zu einem Aufzug in der gegenüberliegenden Wand zu tragen. Schweigend fuhren wir nach oben, bis sich die Türen zu einem Ausblick öffneten, bei dem ich vor Freude loskichern musste.

Wir standen ganz oben auf einem flachen Hügel, von dem ein kiesbestreuter Weg, gesäumt von Kiefern und Pappeln, zu Yermolovs Villa hinunterführte. Direkt dahinter lag das Meer. Das Haus war blassrosa, es stammte aus dem neunzehnten Jahrhundert und war so bombastisch und frivol wie eine Hochzeitstorte, ein Haus für eine Kurtisane von Colette, für jasminduftende Rendezvous und gemietete Betten, die Art von Haus, die man einst im Casino von Monte Carlo verwettet haben mochte. Nach den etwas düsteren Sicherheitsmaßnahmen im Untergeschoss verbreitete dieses Gebäude mit seiner absurd hübschen Gefälligkeit den zart betörenden Duft einer verschwundenen Fin-de-Siècle-Welt. Als wir auf die blassgrüne Doppeltür zuhielten, mit einem riesigen Messingtürklopfer in Form eines Löwenkopfs, begannen versteckte Springbrunnenhähne rechts und links auf dem Rasen ihre Wasserspiele, sodass wir durch eine Fontäne aus Regenbögen gingen. Beinahe hätte ich dazu die Klänge eines Walzers erwartet. Manchmal kann Vulgarität so vergnüglich sein.

Ein angemessen behäbiger Butler führte Miss Teerlinc zu ihrem Zimmer im ersten Stock. Weitere Flügeltüren öffneten sich zu einem kleinen achteckigen Vorraum mit Rosenholztäfelung, einem Balkon auf der einen Seite und dem Schlafzimmer auf der anderen. Doch ich nahm die Umgebung kaum zur Kenntnis, denn in diesem Moment schlug mir ein Schwall von schwerem Lilienduft entgegen, und ich konnte gerade noch ein Dankeschön murmeln, bevor ich auf ein Bett sank, das auch in einem anderen Zimmer hätte stehen können, in dem ich vor langer Zeit neben einem aufgedunsenen Körper gewartet hatte, der im Tod auf einmal ganz verletzlich geworden war. Jetzt wartete ich wieder, bis mein Blut aufhörte, mir in den Ohren zu pfeifen und zu wirbeln.

Vielleicht bin ich in der Hinsicht oberflächlich veranlagt, aber ich halte mich nicht lange damit auf, über die Vergangenheit nachzudenken. Ich verstehe mich auf das Zusammentreffen von Ereignissen und Reaktionen. Genau derselbe dicke Geruch hatte das Zimmer im Hôtel du Cap durchdrungen, in dem ich James’ Leiche gefunden hatte. Ich hatte lange nicht mehr an jenen Ort gedacht, doch das riesige Arrangement aus Calla-Lilien mit ihren pergamentenen Blättern hatte mir einen Augenblick vorgegaukelt, dass ich ihn niemals verlassen hatte. Musste ich für immer in dieser Szene stecken bleiben, gefangen mit meinen zitternden Händen im Portemonnaie eines toten Mannes?

Neben der Vase auf dem Nachttisch bemerkte ich einen schweren cremefarbenen Umschlag, der mir bekannt vorkam. Ich öffnete ihn mit den Zähnen und einer Hand, während ich mit der anderen Hand systematisch die Blüten von den Stängeln abbrach und damit die Kette, die mich an jenen Moment fesselte, Glied für Glied zerriss. Die Staubgefäße gaben kleine orange Wölkchen ab, die Flecken auf meinen Manschetten hinterließen. Ich las:

Miss Teerlinc,

ich hoffe, Sie hatten eine angenehme Reise und das Zimmer ist zu Ihrer Zufriedenheit. Bitte zögern Sie nicht, Ihre Wünsche zu äußern, wenn Sie irgendetwas benötigen. Man wird Ihnen die Sammlung zeigen, sobald Sie dazu bereit sind. Anschließend würde ich mich über Ihre Gesellschaft beim Abendessen freuen. Ich bedanke mich für Ihren Besuch.

Hochachtungsvoll

P. Yermolov

Meine Augen glitten mehrmals über das Blatt, bevor die letzte Lilie zu Boden fiel. Das riss mich aus meiner Trance. Meine hübsche Chloé-Seidenbluse war ruiniert. »Verdammt, Judith«, sagte ich laut. »Bring das sofort wieder in Ordnung.« Doch dann hielt ich inne. Der Teppich war schmutzig, aber das hier war eben meine neue Welt. Irgendjemand anders würde sich später darum kümmern. Ich war nicht mehr das Mädchen, das in einem stickigen Zimmer stand und um Fassung rang. Ich war reich, ich war unabhängig, ich war frei, und ich war hier. Zu meinen eigenen Bedingungen, in beruflicher Funktion. War ich nicht der lebende Beweis dafür, dass man werden konnte, was man wollte, wenn man nur an sich selbst glaubte und seinen Traum verfolgte? Über die toten Beweise dachte ich am besten nicht weiter nach. In meinem Leben ging es nur um die Macht des Hier und Jetzt, um mich. Geschichte war unnütz, und Proust konnte mich mal kreuzweise, mitsamt dem Lindenblütentee seiner Tante.

Ich ging ins Bad und ließ mir kaltes Wasser über die Handgelenke laufen, dann duschte ich und zog mich um, wusch mir das Gesicht und band mir die Haare straff zurück. Ich war so weit gekommen, es brauchte schon mehr als die Erinnerung an einen Geruch, um mich aus der Bahn zu werfen. Höchste Zeit, dass ich mich an die Arbeit machte.

Als der Fußsoldat mich durch die Villa zu dem schlichten, modernen, würfelförmigen Gebäude führte, in dem Yermolov seine Kunstsammlung aufbewahrte, war ich wieder ganz bei mir. Ich hatte ein schwarzes Shiftkleid von Max Mara angezogen, dazu robuste Marni-Clogs – grässlich, aber ich fand, sie nahmen sich neben der schlichten Seide wunderbar künstlerisch aus. In meiner Aktentasche hatte ich ein Maßband und meine Notizen zu den Maßen der Gemälde, zusammen mit einer Taschenlampe und einem Vergrößerungsglas – es ist nämlich überraschend, wie viele Fälschungen unbemerkt bleiben, weil die Experten die Grundlagen vernachlässigt haben. Ich hatte auch eine altmodische Polaroidkamera dabei, denn ich konnte mir nicht vorstellen, dass man mir erlauben würde, mit meinem Handy zu fotografieren. Als wir ankamen, nahm mich eine Französin mit missbilligender Miene in Empfang. Sie trug einen Rock, der dem von Yermolovs Stewardessen nicht unähnlich war. Das war also Madame Poulhazan, die Assistentin, mit der ich bereits zu tun gehabt hatte. Ihr Ton war effizient und höflich, doch der lange prüfende Blick, den sie auf meinen Beinen und meiner Aktentasche ruhen ließ, verriet, dass es ihr schrecklich gegen den Strich ging, mich einlassen zu müssen. War ich zu jung, oder zeigte ich mich nicht überwältigt genug? Getönte Glastüren glitten auf, nachdem sie eine komplizierte Prozedur aus Iriserkennung und Sicherheitscodes abgespult hatte, dann traten wir in eine dämmrige Lobby, die nach Ozon und Lack roch.

»Alors, Mademoiselle. Das hier ist eine Vertraulichkeitsvereinbarung. Unterschreiben Sie bitte hier und hier und hier.«

Das Dokument war drei Seiten lang und auf Englisch abgefasst. Es ging so ins Detail, dass ich im Grunde nicht nur auf mein Recht verzichtete, mit irgendjemandem über die Inhalte dieser Sammlung zu sprechen oder mich anderweitig zu äußern, sondern quasi versprechen musste, sie hinterher aus meinem Gedächtnis zu streichen. Ich kritzelte trotzdem Elisabeths Unterschrift darunter.

Madame scannte mich mit einem leuchtenden Gerät, das aussah wie ein Luxusdildo, sie blätterte misstrauisch in meinen Papieren und sortierte dann triumphierend die Polaroidkamera aus.

»Die ist nicht gestattet.«

»Die brauche ich aber für die Begutachtung.«

»Können Sie Ihren Augen denn nicht trauen?«, schnaubte sie höhnisch.

Ich hätte natürlich sagen können, dass ich eher Yermolovs Augen nicht traute, aber das hätte mir ja nicht wesentlich weitergeholfen, also schlug ich ihr höflich vor, im Haupthaus anzurufen und die Genehmigung einzuholen. Mir war die Freude vergönnt, wenig später ihre angewiderte Miene sehen zu dürfen, als mir die Erlaubnis gewährt wurde. Es dauerte noch einen Moment, als sie am letzten Schloss einen langen Code eingab, dann waren wir drinnen.

Der Boden war aus Malachit, doch der Klang meiner Blockabsätze auf der glasartigen Oberfläche hätte mir nicht mehr Befriedigung geben können, wenn er aus gehämmertem Smaragd gewesen wäre. Während mich die durch den Lilienduft ausgelöste Panikattacke völlig unvorbereitet getroffen hatte, musste ich jetzt an die Kilometer denken, die ich in den endlosen Korridoren des Auktionshauses zurückgelegt hatte, an Monate voller langweiliger Botengänge in den Straßen von London. Es war ein gobelinbespannter Weg, der direkt zurückführte zum ersten Mal, als ich ein Gemälde wirklich gesehen hatte, in der National Gallery. Was mich wiederum hierhergeführt hatte, professionell, unabhängig, sogar angesehen. Nur selten wird einem wirklich bewusst, dass man genau das bekommen hat, was man wollte. Ein paar Sekunden fühlte ich mich schwerelos, wie auf einer Zeitspirale schwebend, mühelos anwesend in meinem eigenen Erfolg. Nicht schlecht, Judith. Gar nicht schlecht. Ich schlug die Augen wieder auf und merkte, dass Madame mich fragend musterte. Ich gönnte ihr nicht die Freude, mich beeindruckt zu sehen, aber obwohl ich schon so einige außergewöhnliche Orte gesehen hatte, war mir so etwas wie Yermolovs private Galerie noch nie untergekommen.

Der Raum war lang und hoch, sanft beleuchtet wie durch Kerzenlicht. Zwei Breuer-Sofas aus zahnpastaweißem Wildleder standen Rücken an Rücken in der Mitte, ein paar andere Sitzgelegenheiten, darunter einige Regency-Stühle mit Lyra-Rückenlehne und ein Louis-XIV.-Bergère-Stuhl mit einem Bezug aus grauer Seide. Das Ganze sah aus wie eine Szene aus einem Konversationsstück, die darauf wartete, mit Menschen bevölkert zu werden. Ohne einen weiteren Schritt in den Raum tun zu müssen, erkannte ich den Pollock und den Matisse – das Maison à Tahiti, das in New York für eine Sensation sorgte, als vor fünf Jahren ein anonymer Käufer offenbar von der Straße hereinspaziert gekommen war und knapp vierzig Millionen Dollar geboten hatte –, drei Picassos, einen Rembrandt, zwei Breughels, einen Cézanne, einen Tizian, verdammt, einen Tizian, wer besaß denn allen Ernstes einen Tizian?, sowie Pontormos Ritratto di un giovane con un berretto rosso. Es war schwindelerregend. Ich musste den Drang unterdrücken, zu den Gemälden zu rennen und meine Hände auf ihre glänzenden Oberflächen zu legen, um ihre Faszination ganz in mich aufzusaugen. Die linke Wand gehörte russischen Künstlern, ein wirbelnder Vrubel-Drache, ein Grigoriev, ein Repin, dann der Übergang zu einem Poussin, gefolgt von einer Serie von Klimt-Landschaften.

»Und hier sind die Zeichnungen.« Madame richtete eine Fernbedienung auf ein Bedienfeld unter den Klimts. Eine Luke glitt mit geschmeidigem Surren auf, und ein Stahlbehälter, der aussah wie ein altmodischer CD-Ständer, wurde ausgefahren. Als sie die Knöpfe drückte, glitten sie vorbei, ein Riesenrad aus Kohlezeichnungen und Radierungen, von denen jedes einzelne für sich genommen ein Meisterwerk war.

Meine Begeisterung wurde so bitter wie ein Martini Kaviar. Ich hatte durchaus erwartet, einer anspruchsvollen Aufgabe gegenüberzustehen, und ich hatte die Herausforderung aufregend gefunden, aber das hier war zu viel. Das war einfach zu viel, und das Zuviel war zu gut. Ich hätte ein Team gebraucht, mit Assistenten, Leitern, Handschuhen, weiß Gott was für Ausrüstung. Ich traute mich diese Objekte ja kaum anzufassen, geschweige denn, sie zu untersuchen und zu schätzen. Was führte Yermolov eigentlich im Schilde? Warum sollte ein Mann, der eine Sammlung dieses Kalibers besaß, überhaupt in Erwägung ziehen, eine einzelne, unbekannte Galeristin zu bitten, Kunstwerke zu schätzen, deren Schönheit mir auf einmal vorkam wie der blanke Hohn? Madame hatte sich steif auf eines der Sofas gesetzt und den lippenstiftbemalten Mund zu einem schmalen, erwartungsvollen Lächeln verzogen. Jetzt bloß keine Angst zeigen, dachte ich.

»Wenn ich das richtig verstanden habe, gibt es auch ein paar Renaissance-Kunstwerke?« Etwas Trotzigeres wollte mir gerade nicht einfallen.

»Natürlich. Hier entlang.«

Ich folgte ihr durch die Galerie. Jetzt, wo sie es nicht sehen konnte, senkte ich den Kopf. Die hintere Wand war kahl, was nur die Schätze betonte, die dorthin führten. Madame legte die Handfläche auf ein weiteres verstecktes Bedienfeld, und eine winzige Tür glitt auf. Es sah aus, als würden wir die Zelle eines mittelalterlichen Mönchs betreten. Als wir drin waren, bemühte ich mich gar nicht erst, mein Erstaunen zu verbergen. Der winzige Raum war eine Kopie des berühmten studiolo des Herzogs von Urbino, komplett vertäfelt, mit komplizierten Holzintarsien. Die Trompe-l’Œil-Bilder wechselten mit den klassischen Philosophen, die in der Renaissance verehrt wurden. Meine Augen tanzten über diesen glänzenden Wirbel. Und dann entdeckte ich zwei Medaillons, so nah, dass ich nur den Arm hätte ausstrecken müssen, um sie zu berühren. Sie zeigten zwei glänzende emaillierte Gesichter, zwei modellierte Kinne unter fragenden grauen Augen, zwei blonde Köpfe, die sich unter einem derart zarten Schleier verbargen, dass er meinem verblüfften Gesicht entgegenzuwehen schien. Die Verkündigung und die Madonna mit Kind. Sie waren hier. Die Gemälde, die ich studiert, aber nie gesehen hatte, die kaum ein lebender Mensch je gesehen hatte. Die Jameson-Botticellis. Langsam wurde mir klar, warum Yerlomov diesen ganzen Papierkram verlangt hatte.

»Sind das die Jameson-Botticellis? Die echten?« Ich konnte die Ehrfurcht in meiner Stimme nicht verbergen.

»Allerdings«, erwiderte Madame und taute allmählich etwas auf. Vielleicht hätte ich mir meine blasierte Show von vornherein sparen sollen. Nur ein Trottel wäre angesichts dieser Sammlung nicht überwältigt gewesen. Ich war froh, dass ich mich überhaupt auf den Füßen halten konnte. Das dritte Bild, das gegenüber von uns an der Wand hing, war mit einem schweren grünen Samtvorhang bedeckt. Vorsichtig zog ich ihn beiseite.

»Oh.«

Ich hatte meine Galerie nach Artemisia Gentileschi benannt, der Malerin, in die ich mich als Teenager verliebt hatte. Artemisia hatte mit ihrer Malerei Vorurteile, Armut und sogar eine Vergewaltigung überwunden. Sie hatte sich für die Tollkühnheit entschieden, statt sich einer Welt zu unterwerfen, die sie besudelt und missachtet hatte.

Im Jahr 1598, als Artemisia Gentileschi noch ein kleines Mädchen war, hatte ihr Vater und Lehrer Orazio viele wilde Nächte in Gesellschaft seines Freundes verbracht, eines norditalienischen Malers namens Michelangelo Caravaggio. Damals waren gute Zeiten für böse Buben in Rom. Caravaggio und seine Freunde liefen wie eitel-vergnügte Rockstars durch die Straßen, brachen Streitigkeiten vom Zaun, gingen zu Huren, taumelten mit dem Schwert im Gürtel durch die Tavernen der römischen Unterwelt, berauscht von Wein und Bleiweiß.

Caravaggio, der nach dem bewaffneten Erzengel benannt war, malte in jenem Jahr ein Bild von unerbittlicher Virtuosität und umwerfender heidnischer Leuchtkraft. Es war ein Geschenk seines Arbeitgebers, des Kardinals del Monte, an Ferdinando de Medici in Florenz – und zugleich Caravaggios Selbstporträt als gorgonische Medusa. Das Gemälde befindet sich auf einem konvex gewölbten Prunkschild aus Pappelholz, einer Nachahmung der Bronzewaffe, mit der Perseus den versteinernden Blick der Gorgone abwehrte, indem er sie tötete. Wenn Ovids Held der Zauberin direkt in die Augen geschaut hätte, wäre er zu Stein geworden. Caravaggio gab dem Monster sein eigenes Gesicht. Er zeigte den Augenblick des letzten Erwachens, kurz bevor das Haupt der Medusa durch Perseus’ Schwert vom Körper getrennt wird.