Don't Kiss Ray - Susanne Mischke - E-Book
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Don't Kiss Ray E-Book

Susanne Mischke

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Beschreibung

Waffeln zum Frühstück, Shitstorm am Abend Am Waffelstand eines Musikfestivals lernen Jill und Ray sich kennen und zwischen ihnen funkt es sofort. Leider fällt das verabredete Date einem Gewittersturm zum Opfer und Jill stellt sich darauf ein, dass sie Ray nie wiedersehen wird – nur um später, beim Konzert der Nachwuchsband "Broken Biscuits", aus allen Wolken zu fallen: Der Leadsänger der Band, dessen Poster (nicht nur) die Wand ihrer besten Freundin schmückt, ist kein anderer als Ray! Und damit nicht genug: "Hallo, Mädchen mit der Puderzuckernase, falls du da bist … Tut mir leid, dass es vorhin nicht geklappt hat. Versuchen wir es morgen noch mal?", ruft er ins Publikum. Und handelt sich und Jill ungeahnte Probleme ein: Nicht nur, weil Ray laut Vertrag keine Freundin haben darf, sondern vor allem, weil ein fanatischer Fan die beiden fotografiert hat und im Netz eine wahre Hetzjagd lostritt. Jill und Ray müssen sich trennen, bevor ihre Beziehung richtig begonnen hat, doch vergessen können sie sich nicht …

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Susanne Mischke

Don’t kiss Ray

Roman

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

1

Samstagmorgen, wir stehen auf dem Schulparkplatz und hören uns zum tausendsten Mal die Warnungen unserer Eltern vor Drogen, Alkohol und Sex an. Dann, endlich, steigen wir in den Van, und Paul, der seit einem Monat den Führerschein hat, lässt den Motor an und gibt Gas. Ich sehe meine Mutter winken und werfe ihr eine Kusshand zu, ehe wir um die Ecke biegen.

»YES!«, schnauft Fabienne. »Das wäre geschafft. Leute, die Freiheit liegt vor uns, ist das nicht der Wahnsinn?« Mit glänzenden Augen dreht sie sich zu uns um.

»Mann, ich dachte schon, sie hören nie mehr auf, uns vollzulabern«, stöhnt Jonas. Er sitzt mit Katja Händchen haltend ganz hinten, Linda und ich haben die mittlere Bank der Familienkutsche, die Pauls und Fabiennes Eltern gehört.

»Nur weil die sich vor hundert Jahren auf den Open Airs bis zum Anschlag zugedröhnt haben, denken sie, wir machen das genauso«, analysiert Linda glasklar, und ich sage: »Ein Wunder, dass sie uns überhaupt weggelassen haben.«

»Das habt ihr nur mir zu verdanken«, verkündet Paul. »Eurer erwachsenen, volljährigen Aufsichtsperson. Also benehmt euch, Kiddies, und tut immer schön, was ich sage.« Er sucht im Rückspiegel Augenkontakt mit Linda und mir und fügt breit grinsend hinzu: »Und ihr Mädels überlegt euch schon mal, wie ihr euch bei mir revanchieren könnt.«

»Träum weiter«, sagt Linda.

Hinter uns lässt Jonas sein typisches grunzendes Lachen hören.

»Komm wieder runter und schau gefälligst auf die Straße.« Um ihre Worte zu unterstreichen, schnippt Fabienne, die neben Paul sitzt, mit dem Finger gegen sein rechtes Ohr.

Die Fahrt ist lang und die Gegend öde, und weil ich vor lauter Aufregung zu einer aberwitzigen Zeit aufgestanden bin, döse ich nach einer Weile ein.

 

 

Um die Mittagszeit kommen wir auf dem Festivalgelände an. Es ist schon einiges los, aber schließlich finden wir eine freie Stelle, die groß genug ist für drei Zelte, und laden unseren Krempel aus. Dann stehen wir da, umringt von Taschen, Schlafsäcken und eingepackten Zelten, und grinsen uns gegenseitig an. Da sind wir also. Das Mixtape, unser erstes Festival.

Was ich bis jetzt davon gesehen habe, gleicht einem großen, chaotischen Zeltlager. Auf der Hauptbühne macht eine Band gerade Soundcheck. Verheißungsvolle Sirenenklänge in unseren Ohren, sodass wir Mühe haben, genauso cool zu wirken wie die vier Schluffis neben uns, die in ausgeleierten Trainingshosen auf Klappstühlen vor einem Uralt-Wohnmobil herumhängen. Wir sagen »Hi«, machen eine Runde Small Talk, und beginnen mit dem Aufstellen der Zelte. Fabienne hatte angeboten, ein Zelt für Linda, sich und mich zu organisieren, was wir dankbar angenommen haben. Jetzt packt sie es aus und Linda und ich bekommen prompt einen Schreikrampf: Zum Vorschein kommt etwas, das so quietschrosa ist, dass einem davon die Augen tränen.

»Das ist ein dunkles Pink«, erklärt Fabienne, was es aber nicht besser macht. Fehlt nur noch ein riesiges Hello-Kitty-Emblem obendrauf! Paul und Jonas fotografieren das Ding mit ihren Handys. Zwar gibt es hier in der Einöde kein Netz, das haben wir gleich als Erstes ausgetestet, aber natürlich werden sie es sofort nach unserer Rückkehr in die Zivilisation posten.

»Eher schlafe ich im Freien als da drin«, verkünde ich.

»Bitte schön«, meint Fabienne. »Du kannst ja zu Paul ins Zelt ziehen. Aber der schnarcht und furzt und garantiert wird er dich begrapschen.«

»Niemand schläft im Zelt des Häuptlings«, erklärt Paul und verschränkt die Arme vor seiner breiten Brust.

Ich versuche es bei Katja und Jonas: »Wollen wir nicht tauschen? Diese Farbe ist doch eher was für Frischverliebte.«

»No way«, schallt es mir synchron entgegen, und schon sitzen sie schnäbelnd wie die Wellensittiche vor ihrem Pop-up-Zelt und machen Selfies.

»Denkt heute Nacht daran, die Liebesblase, in der ihr euch befindet, ist nicht schalldicht!«, ermahne ich die beiden.

Katja kuschelt sich demonstrativ noch enger an Jonas und antwortet: »Aus dir spricht der blanke Neid, Jill, aber ich verzeihe dir.«

Da mag etwas dran sein. Es ist nicht so, dass ich Katja um Jonas beneide. Jonas ist eher farblos und manchmal noch ziemlich kindisch mit seinen siebzehn Jahren. Und Katja ist meine Freundin, schon deshalb gönne ihr alles Glück der Welt. Doch da ist dieses Leuchten in Katjas Augen, wenn sie ihn ansieht, und da ist dieser neue Klang in ihrer Stimme, wenn sie mit ihm redet, und darum habe ich Angst, dass sich jetzt alles ändern könnte.

Linda, Fabienne, Katja und ich. Seit wir vor sechs Jahren zusammen aufs Gymnasium gekommen sind, ist dieser Viererbund eine feste Größe. Besonders während der vergangenen Monate waren meine drei Freundinnen für mich der einzig sichere Anker, an den ich mich klammern konnte, während sich der Rest meiner Welt in Stücke auflöste. Nein, ich mag keine Veränderungen, und schon gar nicht jetzt. Aber wen kümmert schon, was ich mag und was nicht?

Natürlich ist Katja noch immer unsere Freundin, aber dennoch gehört sie auf einmal in eine andere Kategorie: Sie ist jetzt eine, die einen festen Freund hat. Es war uns immer klar, dass so etwas früher oder später passieren würde, und für diesen Fall haben wir uns gegenseitig hoch und heilig geschworen, trotz Freund und Verliebtsein auf keinen Fall abzutauchen und die Freundinnen zu vernachlässigen. Bis jetzt hat Katja diesen Spagat zwischen Jonas und uns dreien recht passabel hingekriegt, das muss man ihr lassen.

Ich gebe klein bei und pfeffere meine Sporttasche und den Schlafsack in die pinkfarbene Höhle. Wenigstens hat die Ätzfarbe den Vorteil, dass man unsere Behausung tagsüber schon von Weitem sofort erkennt, was sich bei meinem miserablen Orientierungssinn noch als Vorteil erweisen dürfte.

Kaum stehen die Zelte, setzt sich Fabienne vor den Eingang, zwirbelt ihr langes blondes Haar zu einem Knoten und beginnt, sich zu schminken, wobei sie den Spiegel zwischen den Knien eingeklemmt hält.

»Wie, du brezelst dich jetzt schon auf?«, fragt Linda.

»Klar. Könnte ja sein, dass ihr in der nächsten Minute ihr Traumtyp begegnet«, lästere ich.

»Sehr wahrscheinlich, bei dem Meer an Eleganz, das uns hier umgibt.« Linda deutet nach nebenan, wo uns die Schluffis mit ihren Bierdosen zuprosten.

»You better be prepared. Man kann nie wissen.« Unbeirrt kleistert Fabienne weiter ihre langen, hochgebogenen Wimpern mit Mascara zu. Es ist mir schleierhaft, wie sie überhaupt noch die Augen aufhalten kann. Aber in Wahrheit hätte ich auch gern solche Wimpern und so große blaue Puppenaugen.

»Garantiert lauert ihr ein Model-Scout bei den Dixiklos auf«, kichere ich.

»Könnt ihr Mädchen eigentlich auch mal an was anderes denken als an Kerle und euer Aussehen?«, nölt Paul.

»Was schlägst du denn vor?«, entgegnet Fabienne.

»Essen.«

Wir Mädchen sehen uns an und verdrehen synchron die Augen, weil wir haargenau dasselbe denken: typisch Jungs!

»Richtig«, hakt Jonas sofort ein. »Ich verhungere.«

»Hast du nicht im Getränkemarkt sechs Gläser Würstchen eingepackt?«, erinnert Fabienne ihren Bruder.

»Ja, schon. Aber die schmecken scheiße.«

»Warum hast du sie dann gekauft?«, frage ich.

»Für mein Lieblingsgetränk, Wodka-Wurstwasser«, erklärt er, woraufhin Fabienne sich von ihrem Spiegelbild losreißt, die Arme in die Luft wirft und mit theatralischer Verzweiflung ruft: »Da seht ihr, was ich seit sechzehn Jahren durchmache! Ich lebe praktisch mit einem Orang-Utan in einem Haushalt.«

Jonas meint, er hätte vorhin, beim Reinfahren, einen Stand mit Crêpes gesehen.

»Crêpes«, röchelt Linda, und auch mir läuft beim Gedanken daran die Spucke im Mund zusammen.

»Wer geht los und holt welche?«, fragt Fabienne. Sie ist meistens diejenige, die organisiert. Auch dass wir hier zusammen auf dem Mixtape sind, hat im Großen und Ganzen sie in die Wege geleitet.

Das Ergebnis ist mau. Jeder erfindet blitzschnell eine Ausrede und Paul braucht gar nichts zu sagen, denn es ist ohnehin klar, dass er in den kommenden zwei Tagen keinen Finger rühren wird. Wir werden von Glück sagen können, wenn wir ihn nicht mit einer Sänfte herumtragen müssen. Aber auch ich habe nicht das geringste Bedürfnis, mich aufzudrängen. Ich sollte stattdessen lieber duschen gehen, erkenne ich, nachdem ich verstohlen an meiner Achselhöhle geschnüffelt habe.

Fabienne stößt einen Seufzer aus: »Okay, Leute, ihr wollt es nicht anders: Arschkarte.«

Immerhin eine Chance von 5:1, davonzukommen.

Wir setzen uns zwischen unsere drei Zelte im Kreis auf Strandmatten und heben reihum je eine Karte von dem Stapel in der Mitte ab. In der dritten Runde ziehe ich das Herzass. Die Arschkarte. »Weil ein Herz wie ein umgedrehter Arsch aussieht«, hat Linda irgendwann einmal erklärt, und natürlich auch wegen Ass – ass.

Linda und ich befinden uns gerade auf einem heftigen Anti-Romantik-Trip. Lindas Grund dafür liegt auf der Hand: Eine Ewigkeit von sechs langen Monaten hat sie einen gewissen Tom aus ihrer Nachbarschaft angeschmachtet. Bis sie vor ein paar Wochen erleben musste, wie er zur Party von ihrem sechzehnten Geburtstag eine Tussi anschleppte, die direkt aus einer RTL-II-Reality-Show entsprungen zu sein schien.

»Wenn das sein Geschmack ist, mach drei Kreuze«, haben wir sie zu trösten versucht. Linda hat tapfer genickt, aber ich weiß genau, dass sie wegen Tom immer noch geknickt ist, auch wenn sie so tut, als wäre sie längst drüber weg.

Bei mir ist die Sache komplizierter. Zum einen ist mir bis jetzt schlichtweg noch kein passendes Liebesobjekt über den Weg gelaufen. Die Jungs in meinem Alter kann man durch die Bank abhaken. Deren Persönlichkeitsentwicklung befindet sich auf dem Level von Primaten und auch rein optisch liegt da einiges im Argen. Unter den älteren Jungs, die ich kenne, gibt es zwar den einen oder anderen, der nicht völlig beknackt aussieht, und manche von ihnen scheinen sogar Verstand und Umgangsformen zu besitzen, aber noch keiner hat bei mir die berühmten Schmetterlinge im Bauch zum Flattern gebracht. Vielleicht bin ich einfach nicht der Typ für so was. Oder es stimmt was nicht mit mir. Ich meine, hey, ich bin sechzehn und war noch nie richtig verliebt. Das ist doch nicht normal, oder? Wenn man der Literatur und der Filmindustrie glauben darf, dann verlieben sich Teenager doch andauernd. Aber selbst wenn mir eines Tages einer gefallen sollte, so ist es höchst fraglich, ob derjenige sich dann auch für mich begeistern kann. Denn dazu braucht es garantiert mehr, als ich zu bieten habe. Kein seidiges Blondhaar wallt um meine Schultern, weder kann ich Melonenbrüste vorweisen noch große, blaue Fabienne-Kulleraugen. Mein Haar ist braun und die Locken machen meistens, was sie wollen. Meine Augenfarbe schwankt zwischen braun und grün, meine Figur wäre okay, wenn ich endlich mal drei Kilo abnehmen würde, aber selbst dann wäre sie weit entfernt davon, Jungs den Atem zu rauben. Davon abgesehen habe ich von der Liebe bereits die Nase gründlich voll, auch ohne sie am eigenen Leib erfahren zu haben. Denn die sogenannte Liebe war es, die meine Familie in Fetzen gerissen und zu Kleinholz zerlegt hat.

Es fing damit an, dass sich mein Vater in seine Assistentin der Geschäftsleitung verknallte. Schlimm genug, sich als Ehemann und Vater einer Teenager-Tochter in eine andere Frau zu verlieben, aber hätte es nicht wenigstens etwas Originelleres sein können, was weiß ich, eine Opernsängerin oder eine Delfinforscherin? Jedenfalls nicht diese graue Maus, der man jeden Morgen auf den Hintern starrt, wenn sie einem den Kaffee hinstellt. Das ist ja noch ärmer, als wenn ich mich in den schnuckeligen Englisch-Referendar unserer Schule vergucken würde.

Meinen Vater schien das nicht zu stören und meine Mutter kam natürlich dahinter. Das Resultat waren monatelanger Streit und miese Stimmung. Dennoch brach es mir das Herz, als er schließlich auszog.

Am Anfang war es dann aber gar nicht so schlimm, denn eine Weile lang hatte ich ihn tatsächlich, wie er es versprochen hatte, jeden Samstag ganz für mich. Unterm Strich war das sogar mehr als früher, und sein schlechtes Gewissen ließ bald meinen Kleiderschrank überquellen und bescherte mir das neueste iPhone.

Meine Mutter wiederum scheint froh zu sein, dass sie wenigstens noch mich hat. Inzwischen behandelt sie mich manchmal fast wie eine Erwachsene, und wenn wir zusammen neue Rezepte für ihren Partyservice Pasta Basta ausprobieren oder eine Tischdeko entwerfen, fühle ich mich wie ihre Geschäftspartnerin. Sie lobt mich für meine Ideen und ich sehe in ihr nicht mehr nur die lästige Autorität, die mir alles verbietet, was Spaß macht.

Vor einem halben Jahr bekamen mein Vater und seine neue Frau ein Baby. Seither sehe ich Dad nur noch unregelmäßig, weil er immer so furchtbar beschäftigt ist oder weil Klein-Leo krank ist oder weil ich Mum helfen muss. Wenn es dann doch endlich klappt und ich ihn besuche, fühle ich mich wie ein Eindringling in ihrer Puppenstubenwelt. Irgendwie kommt es mir so vor, als hätte mein Vater mich einfach abgehakt und durch ein neues Kind ersetzt. Das tut verdammt weh.

Noch immer warte ich darauf, dass sich bei mir schwesterliche Gefühle einstellen, doch die paar Gene, die Leo und ich gemeinsam haben, lösen bei mir gar nichts aus. Leo sieht aus wie jedes andere Baby auch und fast immer läuft ihm Spucke aus dem Mundwinkel. Einzig seine winzigen Finger finde ich ganz niedlich. Trotzdem ist es mir ein Rätsel, was die Leute immer mit Babys haben, wo doch jeder Hundewelpe einen zehnmal höheren Niedlichkeitsfaktor besitzt. Wie gesagt, schon möglich, dass mit mir irgendwas nicht stimmt.

Als wäre das alles noch nicht genug Stress für meine zarte Teenagerseele, hat sich meine Mutter vor ein paar Wochen ebenfalls einen neuen Lover angelacht. Festhalten, der Typ heißt August. Okay, dafür kann er nichts, aber er ist auch sonst nicht mein Fall. Es gibt nichts Konkretes, was ich ihm ankreiden könnte, außer vielleicht, dass er Lehrer ist. Mathe und Philosophie. Zum Glück wenigstens nicht an meiner Schule, sondern an einer humanistisch ausgerichteten Privatschule. So viel Anstand hatte Mum dann doch. August ist jedenfalls ein ziemlicher Kauz und sieht auch so aus, mit seiner viel zu großen Brille und dem Vollbart. Er benutzt kauzige Worte und trägt fast immer Norwegerpullover.

Man muss kein Psychologe sein, um zu erkennen, dass ich eifersüchtig bin und an Verlustängsten leide. Gleichzeitig komme ich mir fies und egoistisch vor. Müsste ich mich denn nicht für meine Mum freuen, nachdem mein Vater sie so übel behandelt hat? Stattdessen finde ich es nur peinlich, mitansehen zu müssen, wie die eigene Mutter sich benimmt wie ein verliebter Teenager. Sie verbringt neuerdings Stunden im Bad und im Fitnessstudio, sie schmachtet und gurrt ins Telefon, und wenn er mal nicht anruft, tigerte sie unruhig herum und starrt alle zwei Minuten auf ihr Handy. Eine erwachsene Frau von sechsundvierzig Jahren! Nein, habe ich mir geschworen, so weit werde ich es niemals kommen lassen, so tief werde ich niemals sinken, nie, nie, nie!

Fairerweise muss ich einräumen, dass ich es dem Kauz verdanke, dass ich überhaupt hier bin. Ohne seine Fürsprache hätte mich Mum bestimmt nicht zum Mixtape gelassen. »Du bist noch zu jung dafür, man weiß doch, wie es bei solchen Festivals zugeht.«

August hingegen war auf meiner Seite. Keine Ahnung, wie er das hingekriegt hat, aber völlig überraschend stimmte Mum schließlich doch zu. Mag sein, dass sie und der Kauz unser Reihenhäuschen mal zwei Tage ganz für sich allein haben wollen, um nach Herzenslust Alte-Leute-Sex zu praktizieren. Oder er will sich bei mir einschleimen.

Zigmal habe ich Mum während der letzten Tage versprechen müssen, keine Drogen zu nehmen, mich nicht ins Koma zu saufen und Tag und Nacht mit meinen Freundinnen zusammenzubleiben. Was anderes habe ich auch gar nicht vor. Beinahe hätte sie dann doch noch einen Rückzieher gemacht, als nämlich durchsickerte, dass es mit dem Handyempfang auf dem Festivalgelände, das auf einem Acker irgendwo im Nichts von Meck-Pomm liegt, ein Problem geben könnte. Aber der Kauz legte ihr seine Pranke um die Schulter und meinte: »Deine Tochter ist ein vernunftbegabtes Wesen. Lerne, ihr zu vertrauen.«

Also hat sie mich ziehen lassen, während ich mir lieber erst gar nicht vorstellen mag, was sich momentan in meinem Zuhause abspielt.

Ich nehme die Crêpe-Bestellungen entgegen – Ahornsirup, Marmelade, Nutella, Vanillesauce …

»Wenn du schon unterwegs bist, kannst du mir doch gleich noch einen Green-Smoothie mitbringen, oder?«, säuselt Fabienne.

Typisch. Es muss ihr doch klar sein, dass das zweimal Anstehen bedeutete. »Vergiss es. Die Arschkarte gilt nur für Crêpes«, gebe ich zurück, noch immer etwas grummelig, weil ich die Karte gezogen habe. Fabienne nennt mich eine Erbsenzählerin und ich sie eine Diva, aber wir sind nicht ernsthaft sauer. Sie wirft mir sogar eine Kusshand zu, ehe ich mich auf den Weg mache. Vielleicht, überlege ich, bringe ich ihr ja doch ihren bescheuerten Smoothie mit. Es ist schwierig, Fabienne etwas abzuschlagen, ohne hinterher ein schlechtes Gewissen zu haben. Keine Ahnung, wie sie das anstellt. Wenn es so etwas wie das Prinzessinnen-Gen gibt, dann hat sie es jedenfalls.

Linda begleitet mich ein Stück, sie will zu den Duschen. Die Modeikonen von nebenan winken uns lässig zu und wir winken lässig zurück. Wenn ich mich so umsehe, dann scheint ihre Wahl des Outfits stilbildend auf die meisten Festivalbesucher gewirkt zu haben.

»Merkt euch den Weg, Mädels«, ermahnt uns Paul.

Pauls Hinweis ist nicht so ganz unberechtigt. Angeblich tummeln sich hier jedes Jahr etwa dreißigtausend Leute, das kann rasch unübersichtlich werden. Aber alle scheinen relaxed und gut drauf zu sein. Das Mixtape gilt als Festival für Nachwuchsbands, deshalb sind die meisten Besucher zwischen sechzehn und Anfang zwanzig. Abgesehen von ein paar derben Ausreißern: Bei einigen Bedauernswerten sind offenbar die Eltern mitgekommen. Ob Mum wohl auch hier wäre, hätte sie das gewusst? Womöglich zusammen mit dem Kauz? Lieber Himmel!

 

 

»Glaubst du, dass Katja und Jonas Sex haben?«, fragt Linda, kaum dass wir außer Hörweite der anderen sind.

»Keine Ahnung.«

»Mir graust allein bei der Vorstellung«, meint Linda. »Noch dazu hat Jonas Pickel auf dem Rücken.«

»Iih, du bist eklig! Jetzt krieg ich das Bild nicht mehr aus dem Kopf!«

Wir schaudern und kichern dazu.

»Sie ist noch immer unsere Freundin, aber es ist anders«, spricht mir Linda aus der Seele.

»Ich dachte immer, Fabienne würde die Erste sein«, sage ich.

»Fabienne wird eher die Letzte sein.«

»Hä?« Das kapiere ich nicht. Fabienne ist haargenau der Typ, auf den die Jungs abfahren wie Affen auf Erdnüsse. Natürlich weiß sie das und suhlt sich nur zu gern in deren Bewunderung. Aber eines ist auch wahr: Sobald es ernst wird, lässt Fabienne die Typen abblitzen.

»Glaub mir«, sagt Linda feierlich, »tief in ihrem hollywoodverseuchten Herzen ist Fabienne felsenfest überzeugt, dass das Schicksal den Einen für sie bereithält. Für den spart sie sich auf, auch wenn sie immer so tut, als wäre sie die übelste Bitch aller Zeiten.«

Ich bin jedenfalls heilfroh, dass es nicht Linda ist, die in Sachen »fester Freund« den Anfang gemacht hat. Linda und ich kennen uns seit Sandkastentagen und seither hängen wir zusammen. Wie Schwestern. Aber im Gegensatz zu echten Schwestern streiten wir uns so gut wie nie, vielleicht, weil wir nicht um die Gunst gemeinsamer Eltern buhlen müssen. Jedenfalls wäre es schwierig für mich, Linda mit einem Jungen teilen zu müssen. Oder sie an einen zu verlieren. Denn Schwur hin oder her – dass solche Dinge vorkommen, habe ich bei anderen aus unserer Schule oft genug beobachtet.

Wir lassen das Thema fallen und überlegen, zu welchen Bands wir gehen sollen. Es gibt eine Hauptbühne und zwei kleinere, die sich in ehemaligen Flugzeughangars befinden.

»Also auf jeden Fall schon mal kein Techno und kein Softrock«, steckt Linda die Grenzen ab.

»Einverstanden.«

»Ansonsten weiß ich nur, dass wir später garantiert zu den Broken Biscuits gehen. Fabienne fährt total auf den Sänger ab.«

»Und ewig grüßt das Murmeltier«, seufze ich. Fabiennes Zimmer ist zugepflastert mit Postern von halb nackten Kerlen, die alle irgendwie denselben Gesichtsausdruck haben. Wenn sie uns deren YouTube-Clips vorspielt, sabbert sie wie eine Dogge.

»Broken Biscuits? Ich meine, ich hätte den Namen schon gehört«, grüble ich.

»Eine vielversprechende Newcomer-Band, wie es so schön heißt. Momentan laufen sie unter Geheimtipp.«

»Wer hätte das gedacht?« Bis auf die Headliner treten auf dem Mixtape praktisch lauter »Geheimtipps« auf.

»Mir sind sie manchmal ein bisschen zu soft, aber Fabienne hat nicht unrecht. Der Sänger ist ein Schnuckelchen«, fährt Linda fort.

Ich werfe ihr einen schrägen Blick zu. »Seit wann schwärmst du für Rockstars?«

»Ich schwärme für überhaupt niemanden«, stellt Linda richtig. »Ich habe lediglich ganz objektiv festgestellt, dass es sich bei dem Sänger um einen äußerlich attraktiven Menschen handelt.« Sie greift in die hintere Tasche ihrer Jeans und will ihr Handy herausziehen, um mir den Typen zu zeigen, aber mitten in der Bewegung fällt ihr ein, dass das ja nicht geht.

»Verdammte Axt, das darf doch nicht wahr sein!« Linda hat die Schlange vor den Containern mit den Duschen bemerkt.

»Tja, dann viel Spaß«, wünsche ich. »Ich glaube, ich dusche erst wieder, wenn ich zu Hause bin.«

»Ferkel!«

»Bis später!«

»Verlauf dich nicht, Jill! Hier ist kein Netz, wir können dich nicht retten.«

2

Kein Netz. Ich bin unerreichbar. Ein total ungewohnter Zustand, ein bisschen fühle ich mich, als wäre ich nackt. Oder wie ein Seiltänzer ohne … äh, ja … Netz. Seit ich elf bin, besitze ich ein Handy, seit drei Jahren ein Smartphone, ich kann mir ein Leben ohne gar nicht mehr vorstellen. Aber bis jetzt vermisse ich die digitale Welt kein bisschen, im Gegenteil, es ist regelrecht befreiend. Endlich einmal, so wird mir schlagartig klar, bin ich wirklich weg. Außer Reichweite meiner Mutter und der restlichen Welt. Zum ersten Mal seit Monaten fühle ich mich richtig gut. Wozu, spinne ich übermütig rum, brauchte ich Telefon und Rechner? Ein Lebensgefühl wie dieses hier kann man nicht downloaden.

»Ich schaffe das schon«, versichere ich Linda, bevor ich weiterziehe. Allerdings muss ich mich wirklich konzentrieren und mir Anhaltspunkte einprägen. Der knallrote Falafel-Stand. Das Zelt mit den Tibetischen Gebetsfahnen. Der Bus von den Typen, die Häkelmützen verkaufen …

Ich kann den Stand mit den Crêpes schon riechen, bevor ich ihn sehe. Im Geist schlage ich bereits meine Zähne in den weichen, süßen Teig und schmecke den Ahornsirup. Aber auch andere sind auf die Idee gekommen: Mindestens zwanzig Leute warten vor dem Tresen und der Typ dahinter scheint die Ruhe weg zu haben.

Scheiß Arschkarte! Im Geist repetiere ich gerade die Bestellung meiner Freunde, als sich ein langer Typ in einem Hoodie frech vor mich schiebt. Das gibt meiner Laune den Rest. »He, Lulatsch! Für wen hältst du dich, stell dich gefälligst hinten an!«, motze ich drauflos, denn als waschechte Berlinerin bin ich es gewohnt, kein Blatt vor den Mund zu nehmen.

Er macht einen Schritt zur Seite. »Sorry, ich dachte, du überlegst noch.«

Eine melodiöse Jungsstimme, voll, aber nicht zu tief.

»Nein, ich steh an«, erwidere ich um eine winzige Nuance milder und schaue in sein Gesicht. Die Augen werden von einer dunklen Sonnenbrille verdeckt, der Rest sieht nicht übel aus: schmale, gerade Nase, kühn geschwungene Lippen, hohe Wangenknochen. Ein paar dunkle Haarsträhnen fallen ihm in die Stirn, das übrige Haar steckt unter der Kapuze. Der Hoodie ist nicht ganz sauber und viel zu babyblau für einen Kerl, aber ihm steht die Farbe, denn sie lässt seine Augen leuchten wie Saphire. Das erkenne ich jetzt, als er seine Sonnenbrille abnimmt und mich mit einem Ausdruck ansieht, mit dem man eine Kakerlake auf einer Käsetorte betrachten würde.

Ich habe keine Lust, klein beizugeben, also halte ich seinem Blick grimmig stand. Okay, sage ich mir, der Kerl sieht gut aus, aber deswegen hat er noch lange keinen Anspruch auf eine Sonderbehandlung, das wäre ja noch schöner!

Wie lange starren wir uns eigentlich schon an? Es ist verdammt schwer auszuhalten, aber Wegsehen heißt Aufgeben, und das kommt gar nicht in die Tüte.

Inzwischen hat sich sein Gesichtsausdruck verändert. Sein Blick ist freundlicher geworden und ein Lächeln umspielt seine Lippen, als würde er sich klammheimlich über mich amüsieren. Und wieso steht der Typ jetzt eigentlich neben mir, und nicht schon längst hinter mir? Was soll die Grinserei, was ist so witzig an mir? Auf einmal fühle ich mich unwohl. Wäre ich sanftmütig und klug wie Katja, cool und pragmatisch wie Linda oder eine selbstbewusste Prinzessin wie Fabienne, würde ich ihm den Vortritt lassen. Vielleicht mit einem charmanten oder gönnerhaften Spruch dazu. Jetzt stehe ich lediglich da wie eine sture Rechthaberin. Erbsenzählerin. Hat mich nicht Fabienne gerade so genannt? Warum benehme ich mich immer wieder wie jemand, der ich gar nicht sein will?

Ich zermartere mir das Hirn auf der Suche nach Worten, um die verkrampfte Situation etwas aufzulockern, aber mir fällt ums Verrecken nichts ein. Mein Mund klappt auf und wieder zu, ohne dass dabei ein Laut herauskommt, wie bei einem Karpfen. Herr im Himmel, das Ganze wird immer peinlicher! Ich gebe mich geschlagen, wende den Blick ab und sage: »Geh vor, wenn’s dich glücklich macht.« Das kommt schon wieder viel grantiger rüber, als ich eigentlich gewollt habe.

»Wie wär‘s mit einem Duell?«, schlägt er vor.

Hä? Tickt der noch ganz richtig? Will der sich etwa mit mir prügeln? Ein Kerl mit einem Mädchen? Noch dazu ein Typ, der fast einen Kopf größer ist als ich? Mir wird ein wenig mulmig. Hätte ich doch bloß meine freche Klappe nicht so weit aufgerissen.

Noch immer schaut er mich auf diese intensive Weise an. Diese Augen! So blau wie bei einem Husky. Sie scheinen die Fähigkeit zu haben, meinen Blick wie mit unsichtbaren Drähten festzuhalten. Vorsicht, Jill. Wahrscheinlich ist der Kerl besoffen, bekifft oder sonst irgendwie neben dem Gleis.

»Was hältst du von Schnick Schnack Schnuck?«

»Schnick Schnack Schnuck?«, wiederhole ich verblüfft.

»Kennst du doch, oder?«

»Klar. Also gut, meinetwegen.« Schon stehen wir uns gegenüber und schütteln unsere Fäuste. Er hat seine Sonnenbrille wieder aufgesetzt. Will wohl einen auf cool machen, aber das wird ihm nichts nützen, denn ich bin gut im Schnick Schnack Schnuck. Gegen Fabienne und Katja gewinne ich immer, einzig Linda hat eine Chance gegen mich.

Ich gebe mir wirklich Mühe. Dennoch verliere ich zwei Mal hintereinander und beim dritten Mal habe ich den Verdacht, dass er mich absichtlich gewinnen lässt.

»Großer Meister, der Platz vor mir in der Schlange gebührt Ihnen«, sage ich mit einer kleinen Verbeugung, und dafür, dass ich gerade ein Spiel verloren habe und jetzt noch länger vor einer Fressbude rumhängen muss, bin ich auf einmal ziemlich gut gelaunt.

Er bleibt jedoch neben mir stehen und sagt: »Ich bin Ray. Ray wie Raymond.«

»Ich bin Jill. Jill wie … Jill.«

Jill wie Jill! Was rede ich denn da für einen Mist daher? Und warum bin ich auf einmal so hibbelig?

Er deutet mit dem Kinn über meinen Kopf hinweg und meint: »Da hinten gibt es Waffeln. Die sind fast so lecker wie die Crêpes, aber man muss nicht so lange anstehen.«

»Danke für den Tipp«, sage ich. »Aber meine Freundinnen wollen unbedingt Crêpes und ich muss sie besorgen, weil ich die Arschkarte gezogen habe.« Wenn ich nervös bin, gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder ich bringe keinen Ton heraus, oder ich sondere unkontrolliert Schwachsinn ab, so wie jetzt. Arschkarte, wieso fasele ich jetzt was von der Arschkarte daher? Wieso habe ich Paul und Jonas mal so eben unterschlagen?

»Hey, Jill …«

Jill. Selten hat mein Name je so schön geklungen wie jetzt, wo Ray ihn ausspricht. Das Dsch von Jill klingt bei ihm so samtweich, ohne dass er dabei das D verschluckt und »Schill« sagt, wovon ich jedes Mal die Krätze kriege. Das Doppel-L klingt kehlig und weit hinten gesprochen. Kann es sein, dass er einen britischen Akzent hat? Würde zu Raymond ja passen. Oder hat es was mit seiner Stimme zu tun? Ja, ich glaube, das ist es.

»… was hältst du davon, wenn wir zusammen ein paar Waffeln essen gehen? Vielleicht stehen hier später weniger an, oder der Typ legt doch noch einen Zahn zu, dann kannst du immer noch Crêpes für deine Freundinnen kaufen.«

Alles okay mit meinen Ohren? Dieser Ray wie Raymond will mit mir Waffeln essen gehen? Ich versuche, eine gleichmütige Miene aufzusetzen, habe aber das Gefühl, dass es gründlich danebengeht. Auch mein Lächeln – es sollte ein kleines, charmantes Lächeln werden, so als wäre ich geschmeichelt, müsste aber noch überlegen und im Geist meinen übervollen Terminkalender durchgehen – entgleist und gerät so breit wie eine sechsspurige Autobahn. »Von mir aus«, nuschle ich.

Super Jill, überaus charmant, eines deiner rhetorischen Highlights!

Er nimmt meine Hand. Er nimmt meine Hand!!! Einfach so, als würden wir uns schon ewig kennen. Und ich tue so, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt, Hand in Hand neben einem Jungen herzugehen, den ich seit dreieinhalb Minuten kenne. In mir tobt ein Tornado aus schierer Verzückung und Verzweiflung. Mir wird nämlich in dieser Sekunde klar, dass ich heute noch nicht geduscht habe, und geschminkt bin ich auch nicht. Hätte ich doch wenigstens ein frisches T-Shirt angezogen und nicht dieses Teil mit der Jever-Werbung drauf. Es hat meinem Dad gehört, bis es zu heiß gewaschen wurde. Seither ist es mein Lieblingsteil. Das Dunkelgrün steht mir gut, es betont das Grün in meinen Augen, aber der Schnitt ist nicht sonderlich vorteilhaft. Außerdem ist es verschwitzt. Bestimmt müffele ich wie eine Sportumkleide. Und dann diese Shorts! An der hinteren Tasche ist eine Naht offen, ich finde sie auch ein bisschen zu kurz und vor allen Dingen zu eng.

Das kann auch nur dir passieren, Jill Goldberg! Triffst Mr Megahot und siehst aus wie hingerotzt. Fabienne, du hattest so was von recht, man sollte IMMER auf alles vorbereitet sein!

Gleichzeitig genieße ich den Druck seiner Hand und die Art, wie er uns sanft und geschickt durch das Gewirr aus Imbissständen und Zelten manövriert. Meine Hand fühlt sich an, als wäre sie ein kleines Tier, das seine kuschelige Höhle wiedergefunden hat. Schräger Vergleich, ja, aber solche Gedanken gehen mir gerade durch den Kopf. Jedenfalls ist mir plötzlich ganz leicht und warm, so von innen heraus, und ich wünsche mir, die Zeit möge stehen bleiben. Ja, schon gut, Kitsch, Schmalz & Schund lassen herzlich grüßen, und könnte jemand meine Gedanken lesen, würde das den finalen Image-Gau einläuten. Aber genau das wünsche ich mir in diesem Moment: ewig so mit Ray durch die Menge zu gehen, Hand in Hand. Es genügt mir vollauf, zu wissen, dass er Ray heißt. Ich will nicht, dass er mir gleich bei Kaffee und Waffeln von seiner Freundin erzählt. Ich will nicht in die Realität zurück, die doch immer nur böse Überraschungen bereithält. Alles, was jetzt noch kommt, wird mir garantiert nur den Tag versauen. Ich versuche, mich innerlich zu wappnen, um die unweigerlich bevorstehende Enttäuschung mit Fassung zu tragen. Denn dass so ein Typ keine Freundin hat, das ist in dieser Welt schlichtweg nicht möglich.

 

 

Wie Ray prophezeit hat, ist bei den Waffeln viel weniger los, obwohl sie genauso verführerisch duften wie die Crêpes. Schon jetzt weiß ich, ich werde nie wieder in meinem Leben den Duft frischer Waffeln riechen können, ohne dabei an diesen Jungen zu denken. Mein Magen hat mit Romantik nichts am Hut, er knurrt. Richtig laut. Nein, das sind definitiv keine Schmetterlinge, das hört sich eher nach einem Rottweiler an. Verdammt, hat er das gehört?

Natürlich hat er das. »Da ist ja jemand am Verhungern!«, ruft er grinsend, während ich die Farbe einer englischen Telefonzelle annehme. Seit Neuestem werde ich bei jeder Kleinigkeit rot, ich komme einfach nicht dagegen an. Sicher so ein Pubertäts-Ding, aber ein hochgradig lästiges.

Er lässt meine Hand los. Sie prickelt und brennt, als hätte ich voll in die Brennnesseln gegriffen.

Vor dem Stand sind zwei Biertische mit Bänken aufgebaut. Wir setzen uns einander gegenüber, ich mit Blick auf den Stand. Ray hat sich nur mit halbem Hintern hingesetzt, da er ja gleich wieder aufstehen wird. »Ich mag sie am liebsten mit Ahornsirup, und du?«

»Ich auch.« Das stimmt sogar. Aber muss ich es unbedingt mit diesem Strahlen im Gesicht sagen?

Er steht auf. »Kaffee?«

»Gern. Nur mit Milch.« Ich krame in der Tasche meiner Shorts nach der Geldbörse, aber er ist neben mich getreten und legt mir die Hand auf die Schulter. »Lass. Du bist eingeladen.«

»Supi«, sage ich.

Supi? Bin ich eigentlich noch zu retten? Ich verabscheue Leute, die supi sagen! Genau wie Hallöchen. Wo, zum Henker, ist eigentlich mein Verstand, macht der gerade Pinkelpause, oder was? Wieso lässt mich mein Hirn Dinge tun, die ich nicht will? Ich versuche, den Schaden zu begrenzen. »Ich … ich meine, danke. Das ist sehr … nett.« Halt endlich die Klappe, es reicht!, brüllt mich meine innere Stimme an.

Der Typ vor Ray gibt offenbar eine größere Bestellung auf. Das lässt mir Zeit, Ray mit den Augen Löcher in die Jeans zu sengen. Die Jeans ist zu weit, um wirklich sexy zu sein, dennoch ist der Anblick nicht übel. Ich lasse meine Blicke hochwandern, zu den Schultern. Breit, aber kein Schrank. Gern hätte ich seinen Nacken betrachtet. Könnte er vielleicht mal diese dämliche Kapuze abnehmen? Damit ich dir das Haar zerwühlen kann! – Hey! Zusammenreißen jetzt! Ein gut aussehender Typ kauft dir eine Waffel – na und? Vielleicht ist ihm gerade langweilig, vielleicht hat er Gott weiß was genommen und ist nicht ganz bei Sinnen. Vielleicht ist er ohne Freundin hier und sucht was für sein Zelt heute Nacht. Und du trottest ihm brav hinterher wie ein Beagle!

Ich beschließe, vorsichtig zu sein. Dennoch fühle ich mich auf einmal so, als könnte ich, wenn ich nur wollte, über dem Boden schweben. Liegt es an dieser ganz besonderen Festivalstimmung, an diesem kollektiven Ausnahmezustand, dem sich hier alle hingeben? Vielleicht wabert irgendwas in der Luft herum, eine riesige Graswolke oder so was in der Art? Oder spielen meine Hormone verrückt, sodass ich mich blindlings auf das nächstbeste Objekt stürzen muss?

Ray kommt zurück mit zwei Bechern Kaffee. Er stellt sie hin und geht noch einmal zum Stand zurück, um die Waffeln zu holen. Sie sind dick mit Puderzucker bestäubt.

»Sorry, sie hatten keinen Ahornsirup.«

»Macht nichts, danke.«

Er setzt sich hin und nimmt die Sonnenbrille ab. Seine Hände umschließen den Kaffeebecher. Sie sind breit und kräftig, aber mit langen Fingern. Zwei blaue Adern schimmern durch die Haut am Handrücken.

Ich spüre, wie er mein Gesicht mustert, und als ich von seinen Händen hochsehe, verhaken sich unsere Blicke erneut ineinander. Eine Sache ist eigenartig: Sein Gesicht kommt mir bekannt vor. Nein, nicht bekannt, eher vertraut. Auch wenn das ganz und gar unmöglich ist, denn ich bin ihm bestimmt noch nie zuvor begegnet. Denn das wüsste ich! Aber ich weiß auch: Würde er jetzt aufstehen und gehen, wäre ich imstande, seine Züge bis ins letzte Detail nachzuzeichnen, und das, obwohl ich mir sonst Gesichter nicht sonderlich gut einprägen kann.

Weil mir unser Schweigen schon viel zu lange dauert, frage ich: »Bist du auch mit Freunden hier?« Saublöde Frage, wird mir im selben Moment klar. Kaum jemand kommt wohl alleine hierher.

»Ja, so ungefähr«, antwortet er.

Was soll das denn heißen? Wohl doch nur eines: Da lauert ein weibliches Wesen im Hintergrund. Oh, wie ich diese Unbekannte beneide! Meine Ahnung wird bestätigt, als Ray sich unvermittelt nach beiden Seiten umschaut. Na also, da haben wir den Salat. Gleich wird Miss Sechser-im-Lotto hier auflaufen. Ich werde abgelenkt, denn endlich zieht er auch seine Kapuze vom Kopf und fährt sich mit den Fingern durch sein dunkles Haar. Haar, das heute garantiert auch noch keinen Kamm gesehen hat, aber trotzdem verdammt gut aussieht. Vorsichtshalber verknote ich meine Hände. Nicht dass die sich noch selbstständig machen.

»Deine Waffel wird kalt.«

Stimmt, ich sollte was essen, schon damit mein Magen nicht noch einmal so laut knurrt wie eben. Die Waffel schmeckt wunderbar fluffig, so wie Waffeln sein müssen. Doch irgendwie gerät mir der Puderzucker in die Atemwege, und noch ehe ich den Bissen ganz hinunterschlucken kann, muss ich husten. Es ist ein Reflex, ich kann gar nichts dagegen tun. Als Nächstes sehe ich durch einen weißen Nebel Rays Gesicht. Es ist weiß überpudert, genau wie sein Haar, und vereinzelt kleben kleine, zerkaute Waffelstückchen auf seinen Wangen und hängen in den Haaren.

Nein, nein, nein! Das darf nicht wahr sein, das ist ein Albtraum! DU bist ein Albtraum, Jill Goldberg!

Ich will mich entschuldigen, aber mein Mund ist trocken und meine Zunge besteht aus Schmirgelpapier. Alles, was ich fertigbringe, ist, ihn erschrocken anzustarren, mit Augen so groß wie Untertassen, während ich schon einen neuen Hustenreiz verspüre. Schnell ein Schluck Kaffee. Ich greife hastig nach der Tasse und etwas von ihrem Inhalt schwappt heraus und läuft über mein Kinn auf mein T-Shirt. Am liebsten würde ich im Boden versinken.

Ray, der gerade von seiner Waffel abbeißen wollte, als ihn die Salve aus Puderzucker und halb zerkauter Waffel traf, stutzt. Bestimmt ist er angewidert davon, was für eine Schweinerei ich binnen weniger Sekunden anrichten kann. Aber dann lacht er hinter seiner Waffel unkontrolliert los, und jetzt bin ich es, die eine volle Breitseite Puderzucker abbekommt. Ich blinzele. Von meinen Wimpern rieselt es weiß.

»Sorry!«, presst er zwischen zwei Lachern hervor. »Das wollte ich nicht.«

»Ich auch nicht!«

»Ich glaub dir kein Wort!«

»Doch, ich schwör’s«, jammere ich. »Ich kann anständig essen. Nur nicht Waffeln mit Puderzucker.«

»Du siehst aus wie Königin Elisabeth die Erste.«

»Du solltest dich mal sehen!«

Das Eis ist gebrochen, die peinliche Situation ist jetzt nur noch witzig. Wir lachen uns mit unseren weißen Gesichtern gegenseitig aus, und auf einmal fühlt es sich an, als würden wir uns schon ewig kennen.

Noch immer vor sich hin kichernd steht Ray auf und holt mehr Servietten. Aber anstatt mir eine zu reichen, tupft er mir ganz vorsichtig den Puderzucker aus dem Gesicht. Noch während ich damit beschäftigt bin, mich wieder einzukriegen, sehe ich ihm zu, wie er sein Haar ausschüttelt und sich Puderzucker und Waffelstückchen aus dem Gesicht wischt. Das Ganze scheint ihm überhaupt nicht unangenehm zu sein. Er besitzt die beneidenswerte Lässigkeit schöner Menschen, denen ihr Aussehen egal ist, weil sie tief im Innern wissen, dass sie immer gut rüberkommen, sogar mit einer halb zerkauten Waffel im Gesicht. Ich sammele die Servietten ein und werfe sie in den Papierkorb, ehe sie der Wind, der jetzt aufgekommen ist, in der Gegend herumwehen kann.

»Die Arschkarte also«, sagt er, als wir uns wieder mit halbwegs sauberen Gesichtern gegenübersitzen.

»Ja. Das ist das Herzass …« Ich erkläre es ihm, und er schaut mich dabei so aufmerksam an, als würde ich ihm eine megaspannende Geschichte erzählen.

»Ihr seid also nicht gerade der romantische Typ, du und deine Freundin«, schlussfolgert er.

»Ach, es ist hauptsächlich Linda, die so zynisch ist«, sage ich. Sorry, Linda! »Sie hat gerade eine Enttäuschung erlebt.«

»Ah, verstehe. Und du?«, fragt er.

»Ich nicht … ich meine … Mir fehlt es auf diesem Gebiet etwas an Erfahrung«, stottere ich und werde schon wieder flammend rot.

Zum Glück lässt er das Thema fallen und wir machen ein bisschen Small Talk. Wundersamerweise schaffe ich es, weder zu stammeln noch wild draufloszuplappern. Ich erzähle, dass ich zum ersten Mal auf dem Mixtape bin. Als wir feststellen, dass wir beide in Berlin leben, strahlen wir uns gegenseitig an.

»Wo?«, will er wissen.

»Reinickendorf«, sage ich. »Ziemlich fade, aber da ich noch zur Schule gehe …« Ich zucke mit den Schultern. »Und du?«

»Kreuzberg.«

»Cool. Du wohnst nicht mehr bei deinen Eltern, oder?«

Er schüttelt den Kopf. »Mit ’nem Kumpel zusammen.«

Kumpel. Das klingt gut, obwohl ich mir sage, dass er dennoch eine Freundin haben kann. Ihn danach zu fragen, traue ich mich nicht. »Wie alt bist du?«, quetsche ich ersatzweise hervor.

»Achtzehn«, sagt er und schaut mich fragend an.

»Sechzehn.« Am liebsten würde ich »beinahe siebzehn« hinzufügen, aber so was sagen nur Leute, die mit sich und ihrem Alter nicht im Reinen sind, und diesen Eindruck will ich unbedingt vermeiden. Außerdem werde ich erst Ende Oktober siebzehn. »Und was machst du so?«, frage ich.

Es kommt mir so vor, als würde er kurz zögern, ehe er sagt, dass er eigentlich Sport studieren wollte.

»Sportstudenten sind meiner Mum am liebsten«, platze ich heraus. »Sie meint immer, die würden wenigstens die halbe Nacht durchhalten, selbst wenn es hoch hergeht, und nicht schon nach zwei Stunden schlappmachen wie die Juristen oder die Pädagogen.«

Von dem Blick, mit dem er mich anschaut, hätte ich gern ein Foto gemacht. »Meine Mum hat einen Partyservice«, erkläre ich. »Für größere Events heuert sie Studenten an, für den Service. Wenn du also mal Kohle brauchst … Ich könnte ein gutes Wort für dich einlegen.«

»Das ist beruhigend zu wissen.« Er grinst und fragt dann: »Und womit beschäftigt du dich, wenn du nicht gerade zur Schule gehst?«

Kaum zu glauben, er scheint sich wirklich für mich zu interessieren. Nur hat er da leider Pech, denn über mich gibt es nichts Interessantes zu berichten. Ich bin eine halbwegs gute Schülerin, ich habe kein exotisches Hobby und erst recht keine außerordentlichen Fähigkeiten. Meine hundertsiebzig Facebook-Freunde sind fast alles Leute aus der Schule oder aus der Nachbarschaft. Ich fürchte mich vor Schlangen und bin nicht besonders sportlich. Ich lese gerne Bücher und zwar alles, was mir zwischen die Finger kommt, egal ob Thriller, Fantasy oder Liebes-Schmonzetten. Ach ja, und neuerdings bin ich ja ein Scheidungskind. Von alledem eignet sich praktisch nichts, um damit Eindruck zu schinden.

»Ich koche«, sage ich, ohne nachzudenken.

Er hebt die Augenbrauen, was auf eine leicht arrogante Art sexy aussieht. Hätte ich bloß nicht davon angefangen. Jungs, die kochen, findet jeder cool, bei Mädchen gilt es derzeit eher als hip, gar nicht kochen zu können und stattdessen einen Freund zu haben, der kocht. »Nur vorübergehend«, erkläre ich. »Wie gesagt, meine Mutter hat einen Partyservice. Schwerpunkt italienische Küche, darum heißt er auch Pasta Basta. Sie kann sich im Moment keine Hilfskraft in der Küche leisten, deshalb muss ich ihr ab und zu helfen. Sie ist … sie hat das Geschäft eine Weile lang etwas schleifen lassen, weil sie nach der Scheidung nicht so gut drauf war.« Ich verstumme. Großartig, Jill, du bist voll die Stimmungskanone. Wer will schon deine trübselige Familiengeschichte hören?

»Kochen finde ich super«, sagt er. »Ich wünschte, ich könnte es, denn ich esse für mein Leben gern. Was ist dein Lieblingsgericht?«

»Steinpilzrisotto«, sage ich, froh über den eleganten Themenwechsel.

»Ja, das ist genial«, stimmt er zu. »Ich steh auf Risotto und Pasta. Ich bin Vegetarier. Mit gelegentlichen Ausreißern in Richtung Fisch.«

»Da wärst du bei uns richtig«, sage ich.

Er lächelt, beinahe verlegen, und dann, völlig unvermittelt, streckt er die Hand aus und berührt mein Gesicht. Sachte streichen seine Finger vom Nasenflügel zum Mundwinkel und hinterlassen eine brennende Ameisenspur auf meiner Haut.

»Da war noch Puderzucker.« Er streckt mir zum Beweis seinen Finger hin.

Ich lächle. Ich will, dass dieser Nachmittag niemals aufhört.

»Irgendwie sind Waffeln kein gutes Essen für ein erstes Date«, sagt er.

»Haben wir denn ein Date?«, höre ich mich sagen, während mein Herz gegen meinen Brustkorb hämmert.

»Haben wir nicht?«, fragt er zurück.

»Muss man sich für ein Date nicht erst verabreden?«

Er nickt. »Ja, stimmt. Wollen wir uns verabreden, Jill?«

Träume ich? Unter dem Tisch kneife ich mich heimlich in den Schenkel. »Aua!«

»Was ist?«

»Nichts, gar nichts. Äh … du meinst, hier, auf dem Festival?«

»Ja.«

Was ist mit meinen Freunden, was mit meinem Versprechen gegenüber meiner Mutter? Zum Teufel damit!

»Wir könnten uns zusammen eine Band ansehen«, meint er.

»Und welche?«

»Worauf hast du denn Lust?«

»Ich weiß nicht.« Mein Musikgeschmack eiert im Moment genauso orientierungslos herum wie ich selbst, und bis auf die Top-Acts kenne ich kaum welche von den Bands, die auf dem Mixtape auftreten. Jetzt rächte es sich, dass ich mich nicht eingehender mit dem Festivalprogramm befasst, sondern mich blind auf die anderen verlassen habe.

»Du weißt nicht, ob du dich verabreden willst, oder du weißt nicht, welche Band wir uns ansehen sollen?«, hakt Ray nach.

»Die Band«, gestehe ich. »Ich bin hauptsächlich mitgekommen, weil meine Freunde hier sind.« Die Worte sprudeln einfach aus meinem Mund. Bestimmt hält er mich jetzt für bescheuert.

»Das ist doch kein schlechter Grund«, sagt er. »Du bist also kein Groupie?«

»Du meinst, ob ich mich um Autogramme prügle und Unterhosen auf Bühnen werfe?«

Er lacht aus vollem Hals.

Ich grinse erleichtert und auf einmal werde ich mutig und sage: »Das, was ich eigentlich am liebsten höre, gibt’s hier leider nicht.«

Jetzt will er natürlich wissen, was das ist.

»Ach, vergiss es.« Ich hätte wirklich nicht davon anfangen sollen, gleich wird er die Augen verdrehen.

»Sag schon. Hörst du Klassik? Operetten? Kirchenmusik?«

Ich muss kichern und schüttle den Kopf.

»Blasmusik?«

»Nein!«

»Etwa Musicals?« Er reißt in gespieltem Entsetzen die Augen auf.

»Nein«, kreische ich und senke gleich darauf verschwörerisch meine Stimme. »Okay, ich verrate es. Ich mag argentinischen Tango. – Was ist denn?«

Ray schaut mich plötzlich mit einem sehr seltsamen Blick an. »Du verarschst mich, oder?«, fragt er – ziemlich barsch, wie ich finde.

»Nein«, sage ich verunsichert und ein bisschen beleidigt. »Ich mag Tango einfach. Ich weiß, meine Freundinnen sagen auch immer, das wäre Alte-Leute-Musik, aber ich find’s eben …«

»Quatsch«, unterbricht er mich und hält meinen Blick mit schmalen Augen fest. »Die haben keine Ahnung. Lass dir den Tango bloß nicht ausreden. Tango ist …« Seine Hände scheinen nach Worten zu suchen. »Tango ist ein trauriger Gedanke, den man tanzen kann.«

Besser hätte man es nicht ausdrücken können, und mir fällt vor Verblüffung die Kinnlade runter.

»Das ist nicht von mir, sondern von Enrique Santos Discépolo, einem der bekanntesten Tangokomponisten«, erklärt Ray. Auf einmal wirkt er wieder so offen und gut gelaunt wie vorhin. »Aber klar, Tango gibt’s hier leider wirklich nicht.«

Ich muss schlucken, ich kann noch immer nichts sagen. Das alles ist irgendwie surreal, so was gibt es nicht, das kann es nicht geben. Hat mir jemand Pillen in die Cola getan, kommt gleich das böse Erwachen? Da ist dieser tolle Junge, und er mag dieselbe Musik wie ich, obwohl die sonst keiner mag, zumindest niemand in meinem Alter …

»… mach ich normalerweise nicht.«

»Was?« Ich war so in meine Gedanken versunken, dass ich den Anfang seines Satzes nicht mitbekommen habe.

»Wildfremde Mädchen zum Waffelessen abschleppen ist normalerweise nicht so mein Ding«, sagt er. »Bitte, das musst du mir glauben. Ich bin eigentlich … Ich bin kein Typ, der Mädchen anmacht, echt nicht, auch wenn …« Er unterbricht sich und sieht plötzlich verlegen aus.

Was war denn das für ein seltsamer Vortrag? Anscheinend ist ihm wichtig, was ich über ihn denke. Mag sein, dass ich das naivste Schaf der ganzen Mädchenherde hier auf dem Festival bin, aber ich glaube ihm jedes Wort. »Schon in Ordnung«, sage ich.

Er zieht ein Handy aus der Hosentasche und schaut auf die Uhr. »Ich muss leider los. Wollen wir uns heute Abend um halb acht hier am Waffelstand treffen?«

»Ja«, presse ich atemlos hervor.

»Fein.«

Dann stehen wir uns gegenüber.

»Bis später, Jill.«

Wieder dieses Kribbeln, wie von tausend Ameisen.

»Bis später, Ray.«

Es ist ein komisches Gefühl, seinen Namen auszusprechen.

Keiner von uns rührt sich. Normalerweise umarme ich Freunde zum Abschied und drücke ihnen einen angedeuteten Kuss auf die Wange. Linda und ich machen manchmal High Five. Aber Ray und ich sind keine Freunde, wir sind … keine Ahnung, was wir sind. Soll ich ihm die Hand geben? Auch ziemlich uncool.

Er nimmt mir die Entscheidung ab, indem er mich an den Schultern sanft zu sich heranzieht. Ich kann seinen Duft riechen, nach Zimt und Butter. Oder sind das die Waffeln? Also doch ein Abschiedsküsschen, denke ich, und schon nähert sich sein Gesicht meinem und ich spüre seine Lippen auf meinen. Ganz zart. Es ist nur der Hauch eines Kusses, und doch ist es … unbeschreiblich. Meine Lippen brennen, meine Wangen brennen, ich bekomme Herzrasen und mir bricht der Schweiß aus.

Er lässt mich los und tritt einen Schritt zurück.

»Entschuldige, es hat mich überkommen«, murmelt er mit einem reuigen Dackelblick. Dann schiebt er seine Sonnenbrille wieder auf die Nase, obwohl die Sonne gerade gar nicht scheint, zieht sich seine Kapuze tief ins Gesicht und schaut sich nach rechts und links um, als müsse er eine belebte Straße überqueren. »Versetz mich heute Abend nicht, sonst sehen wir uns nie wieder und der Rest unseres Lebens verläuft öde und sinnlos«, sagt er und geht mit langen Schritten davon.

»Spinner«, murmele ich und sehe ihm so lange nach, bis er in der Menge verschwunden ist, während ich mich frage, ob das alles gerade wirklich passiert ist.

Als Ray definitiv nicht mehr zu sehen ist und ich mich umdrehe, stoße ich beinahe mit einem Mädchen zusammen, das gerade irgendwas – wahrscheinlich sich selbst – mit dem Handy fotografiert hat. »Sorry«, sage ich automatisch.

Sie funkelt mich so böse an, so als wäre ich ihr tatsächlich auf die Zehen getreten. Dann stapft sie wortlos davon. Zicke! Aber noch während ich das denke, vergesse ich sie auch schon, weil ich sofort wieder an Ray denke.

Ich habe ein Date! Ich! Mit einem unfassbar tollen Jungen!

Mir fällt ein, dass ich für meine hungrigen Freunde noch Crêpes besorgen muss. Und danach duschen und was mit meinen Haaren anstellen, und irgendwie muss ich es schaffen, die anderen heute Abend abzuwimmeln. Außer vielleicht Linda. Ja, ich sollte Linda einweihen und sie fragen, ob sie mitkommt. Als Anstandsdame, sozusagen. Nur nicht Fabienne – auf keinen Fall! Gegen sie wirke ich so farblos, und wie ich sie kenne, würde sie sofort hemmungslos mit Ray flirten. Aber werden die anderen nicht beleidigt sein, wenn Linda und ich uns einfach abseilen? Also doch allein verschwinden und nur Linda Bescheid sagen? Und dann ist da noch die Frage aller Fragen: Was soll ich anziehen?

Zu diesem Zeitpunkt ahne ich nicht, dass all diese Probleme sich von selbst lösen werden – allerdings anders, als ich es mir erhofft habe.

3

Allmählich nehmen meine Wangen wieder ihre Normalfarbe an und mein Herzschlag beruhigt sich. Ich kaufe gleich acht Crêpes. Die Jungs werden sicher zwei essen, nachdem sie so lange warten mussten. Die Tüte mit den warmen Crêpes in den Händen mache ich mich auf den Rückweg. Noch immer kommen Leute an, wodurch sich das Aussehen der Zeltgassen stetig verändert. Ich kapiere das nicht: Hier waren doch eben noch die Duschen, wo ich mich von Linda verabschiedet habe. Aber wo ist der Falafel-Stand, an dem ich schon längst hätte vorbeikommen müssen – der kann sich doch nicht in Luft aufgelöst haben? Ich stehe kurz vor einer Panikattacke. Was, wenn ich unsere Zelte nicht mehr finde? Und was, wenn ich womöglich heute Abend den Waffelstand verfehle? Das sähe mir ähnlich! Als ich endlich begreife, dass es mehrere Stationen mit Duschen gibt, habe ich die Orientierung bereits völlig verloren und mir bleibt nichts anderes übrig, als das Gelände im Zickzack abzulaufen. Der Verzweiflung nah, sehe ich endlich von Weitem unser quietschrosa Zelt aus der Menge hervorleuchten und daneben das gelbe von Paul. Erleichtert lege ich einen Zahn zu und – hebe ab. Die Papiertüte mit den Crêpes darin wird im hohen Bogen durch die Luft katapultiert, während ich bäuchlings im staubigen Gras lande. Ein Typ mit tätowierten Armen hilft mir auf und sammelt meine Tüte und die Crêpes wieder ein. Schon hat sich eine kleine Menschenansammlung um mich gebildet. Ist da nicht auch diese Zicke von vorhin, die ich beinahe umgerannt hätte? Sie hat schon wieder ihr Handy in der Hand, das sie jetzt, wo ich sie anschaue, hastig wegsteckt. Hat sie etwa fotografiert, wie ich mich auf die Schnauze lege? Wäre ja echt krank. Nein, das ist sicher nicht dasselbe Mädchen. Langmähnige Blonde mit Mittelscheitel, Jeans und Sneakers sind hier zahlreich vertreten, und ihr Gesicht habe ich mir nicht wirklich gemerkt.

»Diese Zeltschnüre sind die reinsten Todesfallen, vor allem in der Nacht«, meint der Typ, der mir aufgeholfen hat, mitfühlend und deutet auf meinen Fuß. »Du blutest.«

Kaum dass er es ausgesprochen hat, kommt auch schon der Schmerz. Ich habe mir den mittleren Zeh am Zelthering aufgerissen. Scheiß Flipflops!

»Hier.« Er reicht mir ein Tempotaschentuch, das ich um meinen pochenden Zeh wickele. »Kannst du laufen?«

»Ja, geht schon. Danke«, nuschele ich beschämt. Wahrscheinlich denken die Leute, ich sei betrunken. Bei dem Gedanken werde ich schon wieder rot.

 

 

»Sag nichts! Du hast dich verlaufen«, begrüßt mich Fabienne. Die Arme in die Seiten gestützt, blickte sie mich mit einer lehrerinnenhaften Mischung aus Strenge und Nachsicht an.

Ich nicke und reiche ihr die ramponierte Tüte mit den Crêpes. »Wo sind Katja und Jonas?«

»Schon los, was zu Essen holen. Du weißt doch, Jungs mutieren zu Monstern, wenn sie Hunger haben«, meint Fabienne mit einem Blick auf Paul, der mich mit gerunzelter Stirn mustert. Erst jetzt bemerke ich, dass meine Knie und Ellbogen voller Dreck sind. Dabei wollte ich von meinem Sturz eigentlich gar nichts erzählen.

»Mann, die Crêpes sind ja eiskalt«, beschwert sich Linda.

»Und matschig«, mault Fabienne. »Iiih, da klebt ja Gras dran!«

»Das ist die vegane Variante«, sage ich.

»Oh, Mann, wie soll man die denn essen?«, legt Fabienne nach.

Zu meiner Überraschung mischt sich Paul ein: »Wir hätten Jill nicht allein gehen lassen sollen. War doch klar, dass sie nicht zurückfindet.«

»Ph«, mache ich nur.

Er betrachtet meinen Fuß. Das Taschentuch ist schon ziemlich rot. »Du blutest.«

»Ich weiß.«

»Komm mit zum Auto, wir müssen das sauber machen.«

»Es ist nur ein Kratzer.«