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Der große Pianist Carl Schimick gibt ein Konzert. Unter den 1500 Gästen befindet sich auch sein ehemaliger Schulfreund, der Hauptkommissar Leonhard Donner mit seiner Frau Elke. Am späten Abend nach dem Konzert klingelt Donners Smartphone. Es ist Schimick, der den Donner Leon um Hilfe bittet: Als der Pianist kurz nach dem Konzert nachhause kommt, findet er seine Haushälterin und Geliebte tot im Swimmingpool seiner Villa. Die junge Tschechin wurde brutal ermordet... Schimicks geschiedene Frau, Donatella Boreatti-Schimick, ist Künstlerin. Bei einer Vernissage philosophiert sie über die Farben Schwarz und Weiß in der Symbolik und bezieht sich dabei auf alte Totenkulte. Nicht nur die Farbe Schwarz sei die Farbe des Todes, nein, in manchen Kulturen war es das Weiß der bleichen Gebeine. Schwarz und Weiß seien elementare Gegensätze wie männlich und weiblich und würden in der Symbolik des chinesischen Daoismus als Yin und Yang zu einer Einheit verschmelzen. Yin und Yang seien demnach Ausdruck für den Gedanken, dass alles ein Gegenteil besitze und erst damit ein Ganzes bilde. Dieser Krimi ist ein literarischer Cocktail aus Wortwitz, Gesellschaftskritik, Spannung bis zur letzten Seite - und ein Spritzer Lebensphilosophie. Ein Lesevergnügen nicht nur für Liebhaber der Weltkulturerbe-Stadt Regensburg.
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Seitenzahl: 459
Veröffentlichungsjahr: 2023
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Steinway-Tastatur: mit freundlicher Genehmigung von Pianohaus Harke, Detmold, www.piano-harke.de „Donaublick auf Steinerne Brücke und das historische Zentrum von Regensburg“: 2019, Benutzung freigegeben unter Angabe der Quelle – Eintrag „Regensburg“ bei Wikipediahttps://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/deed.en beide Bilder bearbeitet von Herbert Fritsch
Die Handlung des Romans und die darin vorkommenden Personen sind fiktiv. Ähnlichkeiten mit lebenden oder bereits verstorbenen Personen sind rein zufällig.
Gewidmet einem alten Schulfreund, der leider tragisch und unverhofft aus dem Leben schied…
In der Liebe Glück zu haben
Ist nicht immer leicht
Doch es gibt verschied'ne Wege
Wie man das erreicht
Mit Musik geht es am besten
Und sie „lesen“ hier
Wie man schöne Frau'n bezaubert
Am geduldigen Klavier
Der Klang des gespielten Klavieres
Wirkt auf jede erregend wie Sekt
Und ihre geheimsten Gefühle
Werden piano doch forte geweckt
Man müsste Klavier spielen können
Wer Klavier spielt, hat Glück bei den Frau'n …
(aus einem Schlager von Johannes Heesters)
„Und die vielen schwarzen Tasten wechseln ab mit Weiß
Genauso wie im Menschenleben
Kalt folgt schnell auf Heiß
Ging es leidenschaftlich heiß her
Folgt rasch Liebesnot
Weiß strahlt hell die Lebensfreude
Schwarz ist stets der Tod“
Das Konzert
Schrödinger
Die Leiche
Boandlkramer
Der Hauptverdächtige
Die Nachbarn
Mit Löffel und Gabel
Am Montagmorgen
Kriminaloberrat Dr. Franz Ferdinand Hofmeister
Jens Hartmann
Die Urschrift der Bayernhymne
Der Ganja
Gleitende Arbeitszeit
Der Prügelpianist
Die Ratte
Die Kunstausstellung
Im Haus der Boreatti
Im Goldenen Kreuz
Von Männern und Frauen
Die Wohnung in Königswiesen
Die Augustenburg
Im Leichenkeller
Der Thinktank
Der Gorilla
Der entlassene Pianist
Die Fahrt nach Prag
Angela Schimick
Störung der Totenruhe
Das Schlüsselerlebnis
„Ich sehe wunderbare Dinge!“
Das Geständnis
Epilog
Regensburg, an einem Samstagabend im Frühsommer, 20:25 Uhr. Das Auditorium Maximum, oder kurz „Audimax“, war mit seinen fast 1500 aufsteigenden Sitzplätzen bis hinauf in die Galerien und Logen fast vollständig besetzt. Selbst Weltstars der klassischen Musik, große Solisten oder Dirigenten wie Anne-Sophie Mutter, Kurt Masur oder Ricardo Muti sind oder waren hier zu Gast und schätzten den größten Konzertsaal Regensburgs wegen seiner ausgezeichneten Akustik. Aber auch Theaterfreunde und Anhänger der leichten oder seichten Unterhaltung fanden hier regelmäßig im Jahr einen Höhepunkt in ihrem kulturellen Zeitvertreib. Manch Individuum aus dem unzähligen Publikum fühlte sich möglicherweise spätestens nach der ersten halben Stunde Klavierkonzert kulturell überfordert und hätte sich wahrscheinlich dann doch lieber einen Abend mit den „Kastelruther Spatzen“, mit Herbert Grönemeyer oder mit einem der zahllosen Comedians gewünscht, die mit ihrem meist flachen Niveau die Volksmassen zu belustigen versuchten.
Andere waren hier, weil sie sich ob ihres gesellschaftlichen Standes dazu genötigt sahen. Die meisten Besucher kamen aber wegen Beethoven, beziehungsweise wegen seines berühmten Interpreten, dem Starpianisten Carl Schimick.
Zu erwähnen seien aber auch diejenigen „Banausen“, die sich den Abend mit Klaviersonaten nur antaten, weil sie die Eintrittskarten geschenkt bekommen hatten.
Im mittleren Parkett, Reihe 3, Platz 15 und 16, saß so ein scheinbar Mitleid erregendes Geschöpf dieser Gattung neben seiner Frau. Diese Anhängerin der gehobenen Kultur hatte die Karten von ihren Eltern bekommen und wollte ihre Freude an einem derartigen musikalischen Ausnahme-Hochgenuss nicht mit einer guten Freundin oder einem anderen Lieblingsmenschen teilen, sondern ausschließlich mit ihrem Göttergatten, dem Kriminalhauptkommissar Leonhard Donner.
Sein Schwiegervater, ein pensionierter Dozent an der Regensburger Akademie für Kirchenmusik, hatte sich Monate lang auf diesen Abend mit Beethoven-Sonaten gefreut, aber dann fühlte sich seine Frau nicht wohl und alleine wollte der ältere Herr dann doch nicht.
Der prächtige D-274 Flügel, das „Flaggschiff“ der Firma Steinway & Sons, glänzte in hochpoliertem Schwarz. Wegen seines außerordentlichen Klangvolumens hätte dieser „Maserati unter den Tasteninstrumenten“ gewiss nicht der hochmodernen computergesteuerten Beschallungsanlage im Audimax bedurft, die ein unbeschreibliches Hörerlebnis selbst in den hintersten Winkeln des Saales gewährleistete. Darüber hinaus ermöglichte die riesige Leinwand an der Bühnenrückseite einen optischen Kunstgenuss auch für die hinteren Reihen, indem sie mit verschiedenen Kameraeinstellungen abwechselnd den Maestro bei seiner anspruchsvollen Tätigkeit im „long-shot“ oder im „close-shot“, also in der „Totalen“ oder in der „Nahaufnahme“, ablichtete.
Carl Schimick war sein Geld wert. Der Klaviervirtuose, der normalerweise im schlichten dunklen Anzug oder sogar „hemds-ärmlich“ und leger auftrat, war zu diesem besonderen Event seiner Heimatstadt im klassischen Frack erschienen und betörte sein Publikum mit Beethovens Waldstein-Sonate. Kristallklar in Ton und Form überzeugte dieses Meisterwerk der Klavierkunst durch orchestrale Klangfülle. Ein Klavierkonzert ohne Orchester sozusagen.
Der Schwalbenschwanz seines schwarzen Fracks hob und senkte sich hinter dem Klavierhocker, wenn Schimick den Rücken beugte, bis seine markante Nase im „pianissimo“ fast bis an die Tastatur reichte, so, als wolle er die subtile Feinheit der Töne „erriechen“. Dann streckte sich sein Körper wieder. Langsam bis in den Hohlrücken, das Haupt mit dem verklärten Gesicht und mit geschlossenen Augen in den Nacken gelegt. Angespannt wie ein Bogen kurz vor dem Abschuss seiner treffsicheren Pfeile. Die Arme in den Ellbogen gestreckt, dass die weißen Manschetten seines Frackhemdes vor den schwarzen Ärmeln hervortraten und den Blick auf die kostbaren Brillant-Manschettenknöpfe freigaben.
Festzementierte Statik. Nur seine Finger tanzten, flogen oder hämmerten über die Tasten. Mit einem Tempo- oder Tonartwechsel wechselte auch der Maestro seine Körperhaltung. Wie ein Schamane sich in Trance wiegend den Regen beschwor, wie ein indischer Fakir und Schlangenbeschwörer, so beschwor Carl Schimick seinen D-274. Spannung pur, bis sein träumerischer Regen-Tanz vom Nieselregen zum Wolkenbruch und vom Hagelschauer zum Sturmgewitter führte, seine Finger die geballte Kraft seiner Virtuosität entluden und er im „fortissimo furioso“ wie ein Berserker auf den sündhaft teuren Steinway-Flügel eindrosch. Dabei bebte seine Brust unter der weißen Frackweste und die weiße Schleife am Vatermörder-Hemdkragen drohte fast zu platzen. Und wie beim „headbanging“ eines alten „Metal“-Rockstars warf der Pianist seinen Kopf in rhythmischen Bewegungen vor und zurück, dass die langen Locken seines schütter gewordenen Haupthaares durcheinanderwirbelten.
Diese Art körperlichen Ausdrucksvermögens hätte sogar gehörlosen Menschen einen Grund geboten, dem Konzert beizuwohnen. Selbst der alte Beethoven, der ja bekanntlich gegen Ende seines Lebens stocktaub geworden war, hätte wohl seine wahre Freude an dieser Darbietung gehabt.
Die meisten Zuhörer saßen festlich gekleidet in den roten, kuschelig gepolsterten Sitzreihen. Andächtig und stumm wagten sie kaum zu atmen. Fast wie bei einem religiösen heiligen Akt. Hätte die Kamera sich nicht nur mit dem Star auf der Bühne beschäftigt und öfter mal zu einem Schwenk ins Auditorium ausgeholt, der Mehrzahl der über1400 Konzertbesucher wäre der kleine Tumult in der Mitte der zweiten, dritten und vierten Reihe nicht entgangen. Die aschblonde Frau mit der hochgesteckten Frisur und dem ärmellosen Oberteil eines bordeauxroten Abendkleides zischte immer wieder den Mann an ihrer Seite vorwurfsvoll an, rempelte ihm sogar gelegentlich den nackten Ellbogen in die Rippen.
Eine gewisse Aggressivität konnte man ihr durchaus unterstellen, wenn man sie so beobachtete. Der Mann auf Platz 15 im blauen Anzug mit weißem Hemd und klassischer Seidenkrawatte wehrte sich kaum gegen die Attacken dieser Frau von Sitznummer 16. Es handelte sich schließlich um seine Gattin Elke. Ihre Miene war finster geworden und eine Zornesfalte zeichnete sich auf ihrer Stirn ab. Eigentlich ganz und gar nicht die Art dieser sonst so bescheiden und ruhig wirkenden Frau. Dass ihm gegenüber seine Elke zum „Ekel“ mutierte, hatte sich Hauptkommissar Leon Donner selber zuzuschreiben.
Warum musste er auch immer wieder über die Aufmachung und die Posen des Pianisten ablästern? Warum musste er einmal so laut lachen, dass sich reihenweise die Leute nach ihm umdrehten und jemand aus der vierten Reihe ihm sogar entrüstet auf die Schulter tippte?
„Der schaut doch aus wia a Pinguin!“ „Leon, das ist ein Frack, und der ist für einen so renommierten Pianisten wie Schimick wohl mehr als angemessen…“ „Und wia der sich ziert und verbiegt -hihi- wia a orthodoxer Rabbiner vor der Klagemauer wippt der vor und zruck, der Maestro! Alles bloß Angeberei und eitles Heischen nach Anerkennung…“
„Du kannst manchmal so ein unsensibler Klotz sein, Leon, wenn du nicht ehrliche Leidenschaft von eitler Show unterscheiden kannst… Dieser Mann ist ein Virtuose. Der verschmilzt geradezu mit der Musik. So ist das! Und jetzt gib endlich Ruhe! Mit dir muss man sich ja schämen vor all den feinen Leuten hier.“ So ging das eine ganze Weile. Und je mehr Elke sich aufregte, desto mehr reizte es Leonhard Donner, seine Frau liebevoll zu necken. Nur hatte die liebe „Elly“, wie der Kommissar sein Herzblatt gerne nannte, keinerlei Verständnis für derartige Liebesbeweise.
Die kleine Meinungsverschiedenheit unter diesen langjährigen Eheleuten war zwar nur als ein leises Flüstern oder höchstens als ein echauffiertes Zischen und kicherndes Brummen zu vernehmen, störte aber die Jünger der gehobenen Kultur auf den Nachbarplätzen offensichtlich deutlich. Und das zeigten sie auch.
Still und ausschließlich durch ihre Gestik und Mimik, wie sich das schließlich für feine Leute geziemte. Die letzten Minuten des ersten Konzertteils war der Donner aber vorbildlich still. Nicht wegen der Leute. Nicht der gesellschaftliche Druck ließ ihn verstummen. Es war der Druck auf seiner Blase.
Schon seit geraumer Zeit verspürte der Kriminalkommissar das dringende Bedürfnis, die Keramikabteilung des Audimax aufzusuchen. Inzwischen hatte der Druck eine derartige Heftigkeit erreicht, dass Leonhard an nichts anderes mehr denken konnte als an „P…“, an „P…“, an „Pause“. Endlich dann verstummte das Klavier, der Pianist verließ nach einer kurzen Verbeugung seine Bühne und die große Leinwand fror mit einem Kamerafokus auf den leeren Steinway-Flügel ein.
Elly und ihr Leon verabredeten einen Treffpunkt im Foyer, dann schob man, trotz heftigen Harndrangs, diszipliniert wie alle anderen Konzertbesucher langsam, Schritt für Schritt, durch eine der zugeordneten Türen hinaus in die Sichtbetonarchitektur des Treppenhauses und der Wandelhalle des Foyers.
Eine Catering-Firma hatte Buffetts mit Getränken und kleinen Imbissangeboten aufgebaut. An Stehtischen fand man Gelegenheit, die kulinarischen Angebote zu genießen und sich dabei mehr oder wenig fachkundig über Beethoven und seinen Interpreten auszutauschen oder über andere Besucher zu tratschen.
Nachdem Leon Donner seine „Befreiungshalle“ verlassen hatte, machte er sich sogleich auf die Suche nach seiner Frau. Mit knapp 1,90m war der Kommissar eine stattliche Erscheinung und es fiel ihm leicht, sich seinen Weg durch die Menschenmenge zu bahnen. An einem der Buffets legte er einen Stopp ein.
Eine Butterbreze und ein Fläschchen gut gekühltes 0,33-Pils für sich selbst und Weißbrotschnittchen mit Räucherlachs und einem Klecks Meerrettich auf einem Teller, dazu ein Glas Prosecco für seine Elly.
Das Pils steckte er ungeöffnet in die Jacketttasche, damit er die anderen Imbisssachen leichter durch die Trauben von Konzertbesuchern jonglieren konnte. Leute, die ihn kannten, waren darunter. Andi Blacher, der Chefredakteur der „Mittelbayrischen Zeitung“ war darunter, auch Stadträte und andere Prominenz. Sie grüßten mit dezentem Kopfnicken. Da erblickte er auch schon seine Frau an einem Stehtisch, die sich nach ihm streckte und ihn zu sich heranwinkte.
Auf dem Tisch ein Teller mit Räucherlachsschnittchen und einen Prosecco für sich selbst und eine Butterbreze mit einem Fläschchen Bier für ihren Leon. Über das doppelte Gedeck mussten beide schmunzeln.
„Schön, dass du da bist!“ Nach über zwanzig Ehejahren durchrieselte die beiden immer noch ein angenehmer Schauer, wenn sie sich unverhofft erblickten. Elly sah zu dem Mann mit dem dunklen, inzwischen graumelierten gewellten Haar auf. Im wörtlichen wie im übertragenen Sinne. Sein grauer Fünftagebart ließ sein Gesicht noch markanter erscheinen und seine dunklen Augen hatten nichts von der funkelnden Leuchtkraft der Jugend verloren.
Auch der Donner musste seine Elly unwillkürlich von oben bis unten betrachten: Das bordeauxrote lange Abendkleid hatte sie sich zur Hochzeit ihres Sohnes Felix gekauft. Die Haarspangen, die die Frisur zusammenhielten, waren farblich gut dazu passend.
Dunkelroter, perlmuttartig schimmernder Kunststoff mit Strasssteinen besetzt. Dass sie den Haarschmuck für 9,90 Euro im Drogeriemarkt gekauft hatte, sah man ihm nicht an. Ihr Collier und die zum Set gehörigen Ohrgehänge waren dagegen echt und antik. Filigran in Gold gefasste glutrote böhmische Granate. Wunderschöner Schmuck, zeitlos schön. Elke hatte ihn von einer Großtante geerbt.
„Warum musstest du dich so seltsam danebenbenehmen? Ich dachte du liebst Beethoven?“ Elkes Fragen ließen keinen vorwurfsvollen Ton mehr erkennen und Leon erklärte: „Natürlich mag ich Klassik. Ich kann es nur nicht leiden, wenn jemand sich so affektiert aufplustert. Ein gekünsteltes Geziere is das, was der Frack-Aff da aufführt…“
„Ja, da is er ja, der Donner! Servus Leon, wann hab‘m mir uns das letzte Mal gesehn? I glaub, es war beim Abiturtreffen vor fünf Jahren…“
Leon drehte sich zu der Männerstimme um, die ihn da ansprach. Carl Schimick stand da und streckte ihm die Hand zur Begrüßung entgegen. Hoffentlich hatte er den „Frack-Aff“ nicht mitbekommen. Normalerweise zogen sich die meisten Künstler in der Pause zurück in Kontemplation. Carl Schimick genoss es aber offensichtlich, sich unters „gemeine Volk“ zu mischen.
„Habe d‘Ehre Charly. Schön hast g‘spielt!“ Sie hatten noch kaum drei Sätze gewechselt, da tauchte ein reptilartiges Wesen hinter dem Pianisten auf und griff ihm aufdringlich an den Unterarm.
„Hallöchen Carl! Wie immer ein Ereignis, eines deiner Konzerte zu besuchen…“ Die impertinente Frau im schrillen Outfit beachtete die Donners gar nicht. „Darf ich vorstellen: Mein alter Schulfreund Leonhard Donner und seine Frau ‚Heike‘. Die Galeristin und Kunstkennerin Ulla von Falkenau…“
„Angenehm, ich heiße zwar Elke, macht aber nichts…“ Elke Donner ließ sich ihren aufkeimenden leichten Zorn nicht anmerken. Leon hatte aber sofort ihre Stirnfalte bemerkt. „Doner wie Döner?“ Die aufgetakelte Fregatte gackerte arrogant fast ohne Luft zu holen weiter. „Donner wie der Blitz“, antwortete Leon.
„Bloß nicht so schnell…“, ergänzte der Pianist mit schallendem Lachen. Nur Schimick selbst fand sein Wortspiel lustig. Außer ihm lachte niemand am Tisch, schon gar nicht Leonhard Donner.
Jetzt verfinsterte sich auch Leons Miene und seine Augen wurden zu Schlitzen. „Donner, wie der Blitz, nur nicht so schnell“, das war ein „running gag“ aus seiner Schulzeit. Er hasste ihn. Damals, als er noch Mittelstürmer in der Schulmannschaft war. Heute verwendete er das Wortspiel gelegentlich selber und kokettierte sogar damit.
Er selbst durfte das schließlich. Beschrieb er mit dieser Metapher doch eine gewisse emotionale Gelassenheit und kognitive Gründlichkeit mit der er sich normalerweise einer Problematik zuwandte. Ein Zeichen von Reife, nicht von Trägheit.
Leon kannte die Frau mit der üppigen unnatürlichen Oberweite und dem Knackarsch aus der Tagespresse. Sie hatte den Adelstitel durch die Ehe mit Arno von Falkenau, einem Immobilienmogul, erhalten und konnte sich ihre Kunstgalerie sozusagen als Hobby leisten. Ihr sonst dürres, solariumgebräuntes Gestell wurde nur teilweise von einem „Jumpsuit“ aus reiner Seide umhüllt. Ins Violette gehendes Tiefblau mit kräftigem Floraldekor in orangegelbem Komplementärkontrast. Die Hosenbeine weit ausgestellt, das Silikon ihrer Oberweite im Neckholder-Oberteil rückenfrei gebändigt.
Der Kommissar konnte seinen Blick kaum von diesen Brüsten abwenden und er musste unwillkürlich an die Renovierung seines Badezimmers denken. Wie viele Duschkabinen hätte man mit dem Übermaß an Silikon abdichten können? Diese Assoziation verwarf er aber gleich wieder. Auch wenn ihr übertrieben geschminktes Gesicht maskenhaft und unnatürlich glattgespannt wirkte, der Truthahnhals und die schlaffe Muskulatur an den dünnen Oberarmen ließen ihr wahres Alter erahnen. Fast noch schlimmer als die aufdringliche Art dieses „Reptils“ fand Leon aber ihre Frisur. Tiefschwarz gefärbter raspelkurzer Männerhaarschnitt, der ihn an eine Badekappe erinnerte.
„Carl, Sie kommen doch sicher zur Vernissage Ihrer Frau nächste Woche? Der Titel der Ausstellung ist „Schwarz-Weiß“ “
„Ex-Frau! Wir sind geschieden.“, berichtigte Schimick, „nächste Woche gebe ich ein Konzert in Wien. Da bin ich leider nicht in Regensburg.“ „Schade. Na hier haben Sie jedenfalls einen Flyer. Sie können die Einladung ja weitergeben…“
Das Reptil mit der Badekappe kramte ein paar Broschüren aus ihrem Designertäschchen, steckte ein Faltblatt ungefragt hinter das Frackrevers des Maestros und legte noch zwei davon auf die Tischplatte. Anscheinend waren die für die Donners gedacht. Mehr Zuwendung gab es nicht für den für sie unbedeutenden Kommissar und dessen Ehefrau.
Und ohne sich großartig zu verabschieden zogen der Pianist und seine ununterbrochen schnatternde Entführerin weiter. Die Konzertpause musste auch bald vorbei sein.
„Jetzt kann ich ein bisschen verstehen, warum du dich bei der Waldsteinsonate über den Pianisten so lustig gemacht hast. Hat mich schon gewundert, wo du doch Beethoven magst…“ Elke hielt jetzt wieder zu ihrem Mann. „Tschaikowski mag ich lieber, oder guten Jazz… aber… Du kennst Schimick seit deiner Schulzeit…“
„Mir warn im gleichen Abijahrgang, aber richtige Freunde warn wir nie. Der war schon damals a weng abghoben…“
Das Ehepaar Donner plauderte noch bis zum Gongsignal, das den zweiten Teil des Konzertes einläutete. Dann steckte Donner die Handzettel zur Kunstvernissage gedankenlos ein, nicht ahnend, dass er die Info noch mal brauchen könnte.
Wortlos folgte er mit seiner Elly der Menschenmenge zurück zu ihren Plätzen. Leon wollte seiner Frau nicht den ganzen Abend verderben und verzichtete jetzt auf sarkastische Zwischenbemerkungen und Spötteleien. So verlief der zweite Teil des Konzerts für beide sehr angenehm.
Das Auto hatten sie in der Uni-Tiefgarage geparkt, deshalb erreichten sie es trockenen Fußes. Es hatte nämlich schon leicht zu regnen begonnen.
„Wollen wir noch zum Essen gehen?“ Elke war immer noch freudig erregt und wollte den wunderschönen Abend gemütlich ausklingen lassen. „Wo geh´n wir denn hin, bei dem Wetter? Bei der Diana könnt ich parken. Des is die Nichte von meinem alten Freund Herbert und hat nix dagegen, wenn unser Auto bei ihr im Röhrlgasserl steht. Das Parkhaus am Dachau-Platz is um die Zeit sicher voll.“, schlug Leon vor.
Der alte Opel-Astra-Kombi brachte die beiden trocken in die Altstadt. „Schad, dass es den Brandlbräu in der Ostengasse nimmer gibt…“ „Ach Leon, auf Schweinebraten oder Würstl hätt ich jetzt sowieso keine Lust. Wie wäre es mit Sushi?“
Bis zum Parkplatz im Röhrlgässel hatten sie sich geeinigt: Pizza essen im „Pam Pam“, einer stilvollen Holzofen-Pizzeria im Landhausambiente mit Bruchsteinwänden.
Zum Glück hatten sie einen Regenschirm dabei. Die Nacht war warm und es regnete nur noch wenig. Untergehakt an Leons Arm, dicht beieinander unter dem Schirm gingen sie am „Leeren Beutel“ vorbei zum Dachauplatz. Dann durch die mittelalterlichen Gassen Regensburgs. Drei-Kronen-Gasse, Schwarze-Bären-Straße und über den Neupfarrplatz hinein in die Gesandtenstraße und die Rote-Hahnen-Gasse in Richtung Haidplatz.
Das alte Kopfsteinpflaster glänzte vor Nässe und die nostalgischen Straßenlaternen tauchten die romantische Szenerie in goldene Sprühnebelschleier. Die Altstadtgässchen waren fast menschenleer, doch aus den zahlreichen Studentenkneipen, Stehlokalen oder Schickeriabars drang Musik und volles Leben. In den meisten Restaurants brannte aber bereits kein Licht mehr.
„Elly, ich glaub wir müssen uns um diese Zeit mit einem Döner begnügen. Regensburg klappt wahrscheinlich gleich die Gehsteige hoch“, meinte Leon trocken, „Komm, stellen wir uns in der Pustetpassage unter, ich ruf mal in der Pizzeria an!“
Im Schutz des Durchgangs stellte Donner den nassen Schirm ab und kramte sein Smartphone heraus. Drei Anrufe in Abwesenheit. Vor wenigen Minuten. Seit dem Konzert hatte er das Gerät immer noch stumm geschaltet. Nicht die Nummer des Polizei-Kommissariats…. unbekannte Nummer… Er hatte dieses Wochenende frei. Nicht einmal Bereitschaftsdienst. Sollen sie ihn doch alle am…
„Jetz ‚google‘ doch mal Öffnungszeiten Pizzerias. Ich hab jetzt bald keine Lust mehr… Hat jemand angerufen? Is was mit der Oma? Ruf doch…“, wurde Elke langsam unruhig.
„Moooment!“ Hauptkommissar Donner behielt wie immer die Ruhe, wenn seine Frau nervös wurde. Der pflichtbewusste und neugierige Polizist in ihm gab aber keine Ruhe und so wählte er die unbekannte Nummer. Elke konnte sich aus den einseitigen Gesprächsfetzen keinen Reim machen, ahnte aber, dass der restliche Abend ins Wasser fallen würde.
„Hier Donner… ja, Leonhard Donner, Kriminalhauptkommissar… wer spricht? Der Empfang ist etwas… Jetzt höre ich… Charly, bist du das? Was? Du bist jetz grad heimgekommen? Eine weibliche Leiche in deinem Schwimmbecken?... Deine Putzfrau?... Ja dann ruf doch die Polizei… Ja freilich bin ich die Polizei! … Ja, schon, aber ich hab frei. Wochenende. Ruf 110, dann kommen meine Kollegen!... Was? Du meinst, es war kein Unfall? Also Fremdverschulden?... Mord? … Okay…Und du willst, dass ich als dein Freund… Schulfreund… Ja, verstehe… Na gut. Beruhige dich jetzt erst mal. Rühr nix an, wegen der Fingerab… Ja, dann is deine Villa wohl jetz a Tatort. I kümmer mi scho… Pfiatde. Servus, bis glei…“
Emotionsbedingt wechselte der Donner Leon immer wieder vom bayrisch geprägten Hochdeutsch in den Dialekt…
„Halt, Charly, wart amal! Woher host jetz du eigentlich mei Telefonnummer? Ach so… Und, wo wohnst du denn überhaupt? Alles klar, kann i mir merken... Wiederschaun…“
Elke war inzwischen vor einem beleuchteten Schaufenster gestanden und wirkte genervt: „Welcher Charly war das? Leon, du hast versprochen, dass wir ein gemeinsames Wochenende miteinander verbringen.“
„Schatzi, Ellymausi, ich bring dich jetz heim. Es war der Schimick. Ja, der Pianist. Er ist wohl von der Bühne aus gleich nach Hause gefahren. Als er grad eben vom Konzert heimgekommen ist, hat er eine Leiche in seinem Kellerschwimmbad gefunden. Unser Abend is jetz leider auch ins Wasser gfalln… Wie die Putzfrau vom Schimick… Wahrscheinlich Mord. Ich kann ihn doch nicht hängen lassen…“, wollte der Hauptkommissar seine Frau beschwichtigen und witzelte, „aber gehängt wird ja heutzutage sowieso niemand mehr… höchstens lebenslänglich…hehehe…“
Über seinen „Galgenhumor“ konnte die Frau des Polizisten schon lange nicht mehr lachen. Mit ihrem Leon hatte sie schließlich auch Mord und Totschlag geheiratet. Und das Verbrechen schläft nicht. Es nimmt keine Rücksicht auf Familienleben. Und das Familienleben eines Kriminaldienststellenleiters ist eben manchmal „SCHWARZ-WEISS“, „ON-OFF“.
Ein Dazwischen gab es nicht.
Gleich wählte der Polizeibeamte die Nummer der Kollegen im Präsidium und orderte schon mal die Spurensicherung und das Team der Kriminaltechnischen Untersuchung an den Tatort. Zur Aufklärung eines Mordes zählten gerade die ersten Stunden.
Der Regen hatte nachgelassen und ohne Schirm und ohne Händchenhalten eilte der Donner Leon strammen Schrittes zurück zum Auto. Elke hatte Mühe, mit ihren eleganten Schuhen ihrem Mann hinterher zu kommen. Gleich saßen sie wieder in ihrem alten Opel Astra.
„Ich bring dich erst mal heim.“, murmelte Leon in Gedanken versunken. „Danke, das ist sehr freundlich von dir. Ich dachte schon ich darf als Höhepunkt des Abends eine Wasserleiche besichtigen…“, Elkes bissiger Sarkasmus war nicht zu überhören.
Wortlos und stumm fuhren die beiden jetzt durch das Ostentor hinaus über die Nibelungenbrücke auf die B15 nach Lappersdorf in die Hasenstall-Siedlung. Diese Wohngegend wurde unter den Einheimischen so genannt, weil alle Häuser nach gleichem Bauplan gebaut waren. Eingeschossig, Hanglage, Pultdächer. Die einheitliche Architektur erinnerte tatsächlich ein wenig an die Behausung von Stallkaninchen. Erst vor der Garageneinfahrt unterbrach Donner sein Schweigen:
„Ja Zefix, was macht denn der da?“ Vor dem Garagentor stand ein alter Ford Mustang. Schwarz lackiert. Protzige Breitreifen aber mit billigen orange-gelben Flammenaufklebern aus dem Autozubehör-Laden auf der Kühlerhaube.
Nicht nur das einzigartige „do it yourself“-Design ließ sofort auf den Besitzer des Youngtimers schließen. Das Kfz-Kennzeichen machte einen Irrtum unmöglich: R-JS … Joshua Schrödinger, Kriminalkommissar, jung, eitel und seit ein paar Monaten Donners Mitarbeiter und Untergebener.
Elke wunderte sich, dass Leon so überrascht war und moserte: „Der Joschi ist doch seit kurzem mit unserer Jasmin zusammen. Wusstest du das nicht? Ach Leon! Da sieht man mal wieder, dass du so wenig an unserem Familienleben teilnimmst. Da ist sein Kriminaler-Kollege und engster Mitarbeiter mit der einzigen Tochter, die er hat, liiert… und der Herr Hauptkommissar weiß nichts davon. Nichts… Hat nicht die geringste Ahnung, was in seiner Familie vorgeht. Du bist ja mehr mit deiner Arbeit verheiratet als mit mir!“
Leonhard Donner schwieg betreten. Seine Frau hatte ja recht. Man schälte sich aus dem alten Astra und drückte die Autotüren sanft zu. Bloß nicht zuknallen! Das störte Leonhard empfindlich. 70% Ersatzteile und 30%Rost sollten schließlich den nächsten TÜV überstehen. Umso heftiger schlug der Hauptkommissar kurz darauf die Haustür hinter sich zu.
„Schrööö-dinger!“ Leons Ruf schallte wie Donnerhall durch das Gebäude.
„Felix, bist du das? Was schreist du denn so?“, die Oma war noch wach.
Kurz darauf stand Maria Donner, Leonhards Mutter, im Nachthemd auf der Treppe zum Kellergeschoß.
„Oma, wir sind´s bloß. Der Felix wohnt doch in München.“, kümmerte sich Elke gleich um die alte Frau, die ein Zimmer im Souterrain bewohnte, seit ihr Mann Georg verstorben war. In letzter Zeit fiel eine zunehmende Demenz bei ihr auf. Immer öfter vergaß sie Dinge oder brachte Erinnerungen durcheinander.
Es dauerte auch nicht lange, da öffnete sich die Zimmertür des Töchterleins Jasmin und Joshua Schrödinger stand in Designer-Unterhosen im Flur. Zwar einen Kopf kleiner als der Vater seiner neuen Freundin aber sportlich drahtig mit einer wohl definierten Muckibuden-Muskulatur und Waschbrettbauch. „Sch…sch… Chef, wie seh´n Sie denn aus? Respekt!“, wenn der Joshi aufgeregt war, fing er immer leicht an zu stottern.
Er musterte den Hauptkommissar anerkennend von oben bis unten, wie er da in seinem gutsitzenden blauen Anzug und den braunen rahmengenähten Halbschuhen dastand.
„Herr Schrödinger!“, fauchte der Donner, „los, ziehen Sie sich an, wir haben einen Mordfall.“ „A… aber Chef, es ist Wochenende. I… ich habe eigentlich frei und wollte…“ „Machen Sie schon! Ich hätte auch keinen Dienst, aber es sind besondere Umstände. Sie können den Einsatz als Überstunden abfeiern. Aber jetzt… Mann, ich brauche Sie! Sie sind doch mein bester Mann!“
Donner hatte bewusst den Schwachpunkt seines Mitarbeiters getroffen: Die Eitelkeit. Dieses Lob aus dem Mund seines Vorgesetzten ging Schrödinger runter wie Öl.
„N… natürlich Chef. Bin gleich soweit. Muss nur noch schnell ins Bad…“ Schrödinger verschwand kurz wieder im Zimmer und huschte dann in Unterhosen mit einem Packen Kleidung überm Arm an Leon vorbei und schnurstracks hinein ins Badezimmer. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit. Das Wasserrauschen der Dusche wollte gar nicht aufhören. Dann endlich das Surren eines Föns. Und wieder eine halbe Ewigkeit später tauchte der Joschi wieder auf: Hellblauer Sommeranzug, Turnschuhe und noch Spuren einer Gesichtscreme im Gesicht. Er roch wie eine Douglas-Parfümverkäuferin.
„Chef, ich müsste auf dem Weg noch kurz in meiner Wohnung vorbei. Brauche noch eine Kra... Krawatte.“ „Zu was um Himmels Willen brauchen Sie jetzt eine Krawatte?“ „Na, Sie haben doch auch eine an, Chef.“ „Die können Sie gerne haben, aber jetzt beeilen Sie sich bitte!“, brummte Leonhard Donner jetzt sichtlich genervt.
„Nein danke, Chef. Aber Ihre Krawatte…? Neee! Ich muss trotzdem nochmal heim. Muss mich noch um meine Katze kümmern.“
„Schrödingers Katze wird schon nicht gleich sterben.“ Diese witzig gemeinte Anspielung auf das Gedankenexperiment des Quantenphysikers und Nobelpreisträgers Erwin Schrödinger hatte der junge Kollege offensichtlich nicht verstanden. Er verstand viele Witze und die Ironie seines Vorgesetzten häufig nicht. Inzwischen standen die beiden Kriminaler schon vor dem Haus und Leon steuerte auf seinen Astra zu.
„Aber wir wollen jetzt nicht… Ich meine, mit so einem alten Auto?“, protestierte der Assistent. „Ihre Affenschaukel ist doch noch viel älter als mein Opel.“, konterte Leon, „Aber was soll`s. Dann fahren wir eben mit ihrer Zuhälterkarre. Hauptsache wir fahren jetzt endlich!“ Es war gar nicht verkehrt, wenn Elly den Astra zur Verfügung hatte, sollte mal etwas mit der Oma sein.
Der Assistent nervte den Alten langsam gewaltig. „Tür bitte leise schließen! Das alte Mädchen mag´s nicht so brutal…“, meinte der kleine Angeber mit unverkennbarem Stolz in der Stimme. Er wollte auch einmal witzig sein. Und nachdem kein erwarteter Lacher zu vernehmen war, fragte er: „Hören Sie gerne Musik?“
„Looos jetzt!“
Schrödinger steckte den Schlüssel mit dem Totenkopfanhänger ins Zündschloss. Chchchch, chchch, der Motor machte Probleme.
„Mit so einem Auto muss man umgehen wie mit einer Frau beim Sex. Einfühlsam und zärtlich…“, noch einmal der Versuch eines Scherzes von Seiten des jungen Mannes.
„Ich will gar nichts über Ihre Sexerfahrungen wissen, jetzt wo Sie gerade aus dem Zimmer meiner Tochter gekommen sind!“, blaffte ihn der Alte an, „Nehmen wir doch lieber den Astra!“
Chchch, chchch „Gleich kommt sie. Tschuldigung, i… i… ich meinte natürlich er, der Mo Motor…“
Schrödinger stotterte jetzt genauso verlegen wie sein Wagen. Wie peinlich! Doch plötzlich tat der Mustang einen Rums und der Youngtimer röhrte auf wie ein wütendes Tier. „Na, er kommt, hab ich doch gesagt! Und wie der kommt. Gewaltig, oder? Hab ich es nicht gesagt?“, jetzt freute sich der Junge stolz wie ein kleines Kind, das zum ersten Mal Fahrrad ohne Stützräder fährt.
„Fahren Sie endlich, ich sag Ihnen wohin!“, brummte Leon ungeduldig. Die Bässe der Audioanlage wummerten ohrenbetäubend die Rhythmen irgendeines Gangsterrappers. Noch lauter als der Auspuff des alten Schlittens.
„Machen Sie doch die Musik aus!“ „Was?“ „Die Musik! Schrödinger, Sie müssen mir nicht imponieren!“ Leonhard Donner musste gegen die wummernden Lautsprecher anbrüllen und griff dann kurz entschlossen selbst ein, indem er die Musikanlage ausdrehte.
„Ist der Auspuff überhaupt eingetragen? Was soll´s. Geben Sie Kommerzienrat-Trautmann-Straße 7 ins Navi ein. Das ist irgendwo am Regensburger Ortsrand Richtung Sinzing. Fahren Sie am besten durch den Pfaffensteiner Tunnel!“
„Chef, wir sollten vorher noch im Kommissariat vorbei. Ich hab dort meine Waffe im Schrank…“
„Sie brauchen heute keine Waffe mehr. Wer sollte Ihnen denn was tun? Die Leiche wehrt sich nicht mehr und der Täter? …wenn es denn überhaupt einen gibt und es kein Unfall war… Der Mörder ist jetzt sicher längst über alle Berge. Außerdem habe ich vor fast einer Stunde die Kollegen zum Tatort bestellt… Jetz fahrn´s scho los, Schrödinger, sonst is der Fall abgschlossen eh wir da sind!“
Joshua Schrödingers Mustang röhrte den Lappersdorfer Berg hinunter und störte dabei ganz sicher die Nachtruhe einiger Anwohner. Der Straßenname „Kommerzienrat Trautmann“ kam Leonhard irgendwie bekannt vor. Er hatte den Namen schon mal im Feuilleton-Teil der „Mittelbayrischen Zeitung“ gelesen. Seine angeborene Wissbegier drängte ihn danach zu „googeln“:
Die Familie Trautmann waren die Nachkommen eines Hofschneiders der Fürsten von Thurn und Taxis. Im 19. Jahrhundert bauten sie eine Textilmanufaktur an den Regensburger Ortsrand. Man schneiderte vor allem Uniformen und Livreen für den Fürstenhof und das Militär. Nach dem Krieg wurde die Uniformschneiderei eingestellt und man versuchte sich bis zur endgültigen Geschäftsaufgabe mit Trachtenmode. Die alte Fabrik wurde abgerissen und zu Bauland umgewandelt. Bei Schimicks Villa musste es sich wohl um das Wohngebäude der einstmals sehr vermögenden Familie Trautmann handeln.
Während Leonhards interessanter Internet-Lektüre bremste Schrödinger seine röhrende Affenschaukel ab, schaltete ein paar Gänge runter und setzte den Blinker. Das rhythmische Klicken des Fahrtrichtungsanzeigers holte Donners Aufmerksamkeit ins Auto zurück und er blickte durch die Windschutzscheibe. Ein Verkehrsschild „Sackgasse“ und darunter das Schild „Anlieger frei“ leuchteten im Scheinwerferkegel auf. Offensichtlich waren sie gleich am Zielort angelangt.
Im Schein der Straßenlampen blubberte der Ford langsam in das schmale Wohnsträßchen hinein. Auf der rechten Seite waren kleinbürgerliche Häuschen wie an einer Perlenschnur aufgereiht. Dem Baustil nach zu urteilen waren sie lange vor dem Krieg gebaut und zuletzt in den Sechziger und Siebzigerjahren renoviert, beziehungsweise architektonisch verschlimmbessert worden. Große Fenster, mit Rollläden verdunkelt. Vielleicht hatten diese Gebäude im fantasielosen Einheitsstil früher einmal den Betriebsangehörigen der Kleiderfabrik als Wohnungen gedient. Vor jedem Haus ein kleiner Vorgarten mit einem Jägerzaun oder einer Hecke, die vor Fremden abschotten sollten wie das Bollwerk eine Burg. Auf der linken Seite waren die Gebäude moderner und zeugten von der Neuerschließung des Baulandes. Am Ende der kurzen Wohnstraße stand frei auf einem parkähnlichen Grundstück die Villa des Pianisten.
Am Straßenrand parkten in Reih und Glied eine große Anzahl von Fahrzeugen, die der Kriminalhauptkommissar sofort als die Einsatzwagen seiner Kollegen identifizierte. Nicht nur, weil ein Streifenwagen und ein VW-Bus in Polizeifarben darunter waren. Die dunklen BMW-Kombis gehörten zu den Kollegen des KDD, dem Kriminaldauerdienst, der rund um die Uhr in Bereitschaft sein musste.
Nur ein Fahrzeug direkt vor der Hofeinfahrt tanzte aus der Reihe: Ein neuwertiges „Mini Cooper“ Cabrio in der Farbe Weiß mit schwarzem Textilverdeck. Neupreis mindestens 30.000 Euro. Gehörte der Mini dem Pianisten? Oder gar dem Mordopfer?
Donners Gehirn war inzwischen im ON-Status und auf Blitz-Ermittlung eingeschaltet. Schrödinger fuhr an den parkenden Autos vorbei bis zu einem Wendeplatz, drehte um und stellte den Mustang ans Ende der Schlange.
Ein uniformierter Polizist stand im klassizistischen Säulenportal der imposanten Jugendstilvilla auf seinem Posten und begrüßte seine neu dazu kommenden beiden Kollegen:
„ Hauptkommissar Donner? Herr Brettschneider von der Spurensicherung erwartet Sie bereits. Durch die Eingangshalle eine Treppe runter, da ist das Schwimmbad und der vermeintliche Tatort.“
Dann zu Schrödinger gewandt: „Servus Joshi! Scho lang nimmer gsehn…“
„Ja, der Oberhefer! Bist du immer noch bei den Streifenhörnchen?“, antwortete der Angesprochene etwas überheblich. Die beiden beließen es bei der kurzen Begrüßung, denn Leonhard Donner nahm seinen jungen Assistenten kurz zur Seite: „Herr Schrödinger, was sollte gerade die abschätzige Bemerkung mit den Streifenhörnchen?“
„A…, ach, Chef, de…, den Oberhefer kenn ich doch noch au…, aus der Polizeischule. Der ist nicht gerade die hellste Kerze auf der Torte. Hat nur Mittlere Reife und…“ „Schrödinger!“, Leon Donners Empörung war überdeutlich vernehmbar, „meinen Sie, Sie sind was Besseres? Sie haben doch auch nur ein NRW-Waldorfschulen-Abitu…“ Augenblicklich stoppte Donner seine Rede, denn er erkannte sofort seinen eigenen Diskriminierungsversuch gegenüber seinem etwas arrogant wirkenden Mitarbeiter. Leonhard Donner hatte nach seinem Einser-Abitur Psychologie und Philosophie studiert, bevor er sich für den Polizeidienst entschieden hatte. Aber das war vor langer Zeit und davon wusste kaum jemand. Prahlerei und Überheblichkeit konnte er nämlich gar nicht leiden.
In der beleuchteten Eingangshalle stand ein riesiger schneeweißer Steinway-Flügel. Das heißt, die weiße Hochglanzlackierung erinnerte eher an ein Schneefeld auf dem Hinterhof einer Handwerkerfirma, auf dem ein unachtsamer Mitarbeiter mehrere Dosen schwarze Lackfarbe ausgeschüttet haben musste. Was schon in dieser bildhaften Vorstellung eine ungeheure Schlamperei und eine sträfliche Umweltverschmutzung dargestellt hätte, schien auch in Wirklichkeit eine frevelhafte Tat darzustellen.
Dieser Maserati unter den Tasteninstrumenten hatte bestimmt ein Vermögen gekostet. Irgendein Banause hatte schwarze Farbe darüber gekippt, die in bizarren Verlaufsmustern, über den Deckel des Konzertflügels verlief und sich in langen Tropfnasen, der Schwerkraft folgend, ihren Weg über die Seitenflächen nach unten bahnten.
Schwarz auf weiß.
Assoziationen flackerten in Leons Gehirn auf und er dachte an pechschwarze Lavaströme, die über die Hänge eines schneeweißen Vulkans hinabflossen. Er assoziierte schwarzes Blut auf weißem Marmor nach einem grauenhaften Massaker. Der ganze Flügel war übersät mit schwarzen Farbspritzern und Klecksen. ‚Was für ein Vandalismus!‘, dachte sich Leonhard Donner und betastete kopfschüttelnd die schwarze Lackfarbe. Sie war bereits eingetrocknet. Der Fußboden war aber frei von Farbspuren.
Jetzt blickte sich der Hauptkommissar gewohnheitsmäßig weiter im Raum um. Eine geschwungene Treppe führte hinauf zu einer Empore und zu verschiedenen Zimmern. Antike Möbel im Empirestil und die edlen Teppiche und Vorhänge zeugten von einem gewissen Wohlstand und gutem Geschmack. Von einem Marmorsockel blickte die Büste des alten Beethoven grimmig auf sie herab. Wenn der reden könnte, dann wäre der Fall schnell gelöst und sie könnten heim ins Bett. Es war ja schon nach Mitternacht. In einem Seitenflügel der Villa stand eine Türe offen. Ein kurzer Blick hinein verriet, dass es die Küchentür war.
Auf einem Küchenstuhl neben der Spüle saß eine männliche Gestalt, jämmerlich in sich zusammengesunken immer noch im schwarzen Frack: Der Hausherr Carl Schimick. Er hob nur kurz den Kopf, als ihn der Kriminaler begrüßte:
„Servus Charly, ich bin jetz da, gell. Ich kümmer mich gleich um dich, aber erst muss ich ins Schwimmbad.“
Als das Häufchen Elend seinen Gruß nicht erwiderte und den Kopf gleich wieder hängen ließ, ging Leon Donner auf ihn zu. In der offenen Küchentür blieb er stehen. Alles wirkte edel und doch zweckmäßig modern. Auf der Anrichte aus schwarzem Naturstein und der Esstheke fiel ihm sofort die Unordnung auf, die dem Gesamteindruck und der perfekten Ästhetik des Küchendesigns so gar nicht entsprachen.
Weiße, auf Hochglanz polierte Lackoberflächen durch schmale schwarze Elemente geschmackvoll abgesetzt und strukturiert. Dieses Bild ließ im Gehirn des Ermittlers die Assoziation an die Klaviatur des teuren Musikinstruments in der Eingangshalle aufblitzen.
„Leonhard…“, die Stimme des Maestros entsprach seiner niedergedrückten Haltung, „…man hat mir die Fingerabdrücke abgenommen, wie bei einem Verbrecher…“
„Carl, das hat nichts zu bedeuten.“, versuchte Leon zu trösten, „Das ist Polizeiroutine. Am Telefon hast du doch angedeutet, dass es wahrscheinlich kein Unfall war. Da gehen wir natürlich von einem Tötungsdelikt aus. Und deine Fingerabdrücke sind wichtig. Die sind doch überall im Haus. Wie sollen wir sonst erkennen, ob fremde Personen hier waren und ihre Spuren hinterlassen haben? Wir müssen doch deine Spuren ausschließen können… Mach dir deswegen keine Sorgen!“
Der Schulfreund tat ihm irgendwie leid. Die ganze mitreißende Energie, sein Temperament und sein außerordentliches Selbstbewusstsein waren seit dem Konzert aus dem Mann im Frack gewichen, wie die Luft aus einem Ballon.
„Charly, ich muss jetzt zu den Kollegen. Mir einen Überblick verschaffen. Wir sprechen uns später, gell.“, Leonhard Donner ließ die leere Ballonhülle im Frack erst mal zurück.
Gleich neben der Küche und dem Bad führten weiße, mit schwarzen Schlieren durchzogene Marmorstufen hinab ins Untergeschoß, wo alle Räumlichkeiten vom grellen Licht der Polizeischeinwerfer ausgestrahlt waren. Sein Assistent Schrödinger war die ganze Zeit hinter ihm gewesen und dackelte seinem Vorgesetzten hinterher wie ein junger Hund. Jetzt räusperte er sich verlegen: „Chef, was meinen Sie, könnte ich vielleicht, ich meine, brauchen Sie mich gerade oder könnte ich kurz mit Polizeimeister Oberhefer…?“
„Ja, Schrödinger, gehen Sie ruhig zu Ihrem Freund. Wenn ich Sie brauche, weiß ich ja wo ich Sie finde.“
Joshua Schrödinger war noch jung und Tatorte mit Leichen waren noch nicht zu seiner Berufsroutine, geschweige denn zu seiner Leidenschaft geworden. Außerdem wollte er „eine“ rauchen. Seitdem er das Zimmer seiner Freundin und das Haus seines Chefs in Lappersdorf verlassen hatte, war sein Nikotinspiegel deutlich wahrnehmbar abgesunken. Vor der Haustür der Villa stand immer noch sein uniformierter Kollege und bewachte den Eingangsbereich.
„Joshi, willst du mir beim Wacheschieben Gesellschaft leisten? Hast du nix besseres zu tun? Ich meine, so richtige Kriminalarbeit?“, die Ironie in Oberhefers Frage war wie ein Pfeil abgeschossen worden, verfehlte aber ihr Ziel. Ironie ist nämlich eine stumpfe Waffe, wenn sie auf Ignoranz stößt.
„Wollt nur kurz ‚eine‘ rauchen…“, antwortete Schrödinger, zündete sich eine Zigarette an und sog den Rauch tief in sich hinein. Dann legte er den Kopf in den Nacken und blies den Qualm mit gespielter Lässigkeit in die Luft, „…hab nicht viel Zeit. Donner braucht mich gleich wieder. Der gehört langsam zum alten Eisen… Wenn ich mal so alt bin wie der, so kurz vor der Pensionierung, dann hoffe ich, dass der Beruf bei mir nicht so zur langweiligen Routine geworden ist… Für Kriminalarbeit musst du schon was auf dem Kasten haben. Zündende Ideen und so… knifflige Fälle lösen… Streifendienst wär nix für mich.“
Schrödinger blies immer wieder den Rauch in den Nachthimmel. Er verhielt sich arrogant und überheblich seinem Kollegen gegenüber und merkte es selber gar nicht. Irgendwann schnippte er die abgerauchte Kippe mit den Fingern in die Lavendelsträucher, die den Eingangsweg säumten.
„Aber Herr Kommissar, geht’s noch?“, trumpfte jetzt Oberhefer auf, „du kontaminierst ja den Tatort mit deiner DNA. Aber bittschön, wenn die Spusi deine Kippe findet, wird der Herr Kommissar Schrödinger ganz schön dumm ausschaun!“
Polizeimeister Oberhefer genoss es sichtlich, sich über den Angeber lustig zu machen. Er grinste hämisch, als der junge Kommissar sich auf die Suche nach seinem, mit der eigenen DNA behafteten Zigarettenstummel machte und auf allen Vieren in der Lavendel-Vegetation herumkrabbelte.
Unterdessen hatte sich Leonhard Donner die Schutzkleidung übergezogen, die ihm die Kollegen der Spurensicherung gereicht hatten: Ein Overall aus Papier mit Kapuze, Plastikfolienüberschuhe mit Gummizug, Latexhandschuhe und eine OP-Maske sollten verhindern, dass seine physische Anwesenheit nicht die forensische Arbeit der Kollegen behinderte. Jetzt sah er genauso aus wie alle anderen „Schlümpfe“, die Spezialisten der Spurensicherung und der Kriminaltechnik, die hier schon emsig wie Bienen ihren Aufgaben nachgingen. Wie weiße Aliens schauten sie aus.
In dieser Halle, mit dem gleichen schwarz melierten weißen Marmorfußboden wie im ganzen Souterrain, roch es dezent nach Chlor. Nach Schwimmbad eben. Aber kaum wahrnehmbar. Noch in der Tür stehend fiel Leons Blick gleich auf den menschlichen Körper, der in Polizeifolie eingewickelt am Boden lag. Das war also der Grund für seinen Mitternachtseinsatz. Die Kollegen im Raum grüßten mit einem Kopfnicken, ohne ihre Arbeit zu unterbrechen. Die Sicherung der Spuren am Pool lief bestimmt schon seit einer Stunde auf vollen Touren.
Wie sich später herausstellte, hatten diese Männer in ihren weißen Kapuzenoveralls die Leiche erst vor wenigen Minuten aus dem Wasser geborgen. Man hatte bereits ihre Kleidung entfernt und die Temperatur gemessen, was für die Bestimmung des Todeszeitpunkts durch die Rechtsmedizin von enormer Wichtigkeit war. Unzählige Fotos waren gemacht worden und an allen relevanten Stellen hatte man Spuren gesichert. Vor allem Fingerabdrücke sollten beweisen, wer sich ohne Handschuhe am Tatort zu schaffen gemacht hatte.
Stumm betrat Donner den Raum und ließ seinen Blick schweifen. Die Kachelmosaike an den Wänden waren vor Jahrzehnten bestimmt schick und en vogue gewesen. Schnell hatte sich Donner einen Überblick verschafft: Das rechteckige Becken grenzte mit der hinteren kurzen und der rechten langen Seite an die Wände. Die beiden anderen Seiten waren großzügig begehbar. Vor allem an der schmalen Stirnseite im Eingangsbereich war sehr viel Platz, um sich dort aufzuhalten. Dort lag auch die Leiche in die metallisch glänzende Folie gehüllt, wie eine überdimensionale Folienkartoffel. Daneben an der Wand mit dem Zugang zum Keller standen zwei Rattansessel und dazwischen ein Tischchen mit Glasplatte, auf dem zwei leere Sektgläser und ein Schälchen mit Knabbernüsschen standen. Über jedem Sessel hing ein weißes Badetuch, säuberlich zusammengelegt. Der Hausherr liebte es offensichtlich ordentlich.
In einer Ecke hatte sich das Team der Spurensicherung und der Kriminaltechnik mit Hilfe eines Klapptisches einen Arbeitsplatz eingerichtet. Die Villa stand in Hanglage, deshalb lag der hintere Teil der Kelleretage ebenerdig mit dem unteren Teil des Grundstücks auf gleicher Höhe. Die linke Längsseite des Bades war komplett verglast mit einer leicht geöffneten Schiebetür, die hinaus in den Garten führte. Auf dem Fußboden zwischen Becken und Glaswand standen mehrere gelbe Schildchen mit schwarzen Nummern darauf. Stellvertreter für beweiskräftige und bereits sichergestellte Gegenstände und Spuren.
Das Schloss an der Glastür zeigte keinerlei Einbruchspuren. Um von außen hereinzukommen, brauchte man einen Schlüssel. Aber von innen ließ sich die Tür anscheinend auch ohne Schlüssel öffnen. Diese Türe konnte man bei Bedarf so weit aufschieben, dass das Schwimmbad und die Terrasse bequem auf halber Länge verbunden waren. Hauptkommissar Donner reichte aber der offene Türspalt, um die Funktion des Schlosses zu erkunden und einen Blick nach draußen zu werfen.
Im Garten war alles stockdunkel. Nur das Licht die Polizeischeinwerfer, die das Bad ausleuchteten, schien durch die Fensterreihe und erhellte den angrenzenden Terrassenbereich hinter dem Haus. Die Gartenmöbel standen ordentlich an ihrem Platz. Polster fehlten. Wahrscheinlich hatte man sie wegen des schlechten Wetters weggeräumt. Die Markise über dem Sitzbereich war aufgerollt. Aber um hier draußen im Garten nach Spuren zu suchen, war es momentan nicht an der Zeit. Außerdem hatte es ja stark geregnet und der Regen hatte vielleicht sowieso wichtige Hinweise vernichtet.
Donner wandte seine Aufmerksamkeit deshalb wieder dem Innenraum mit dem leichten Chlorgeruch und der Leiche zu. Er bückte sich zu ihr hinunter und schlug vorsichtig die Polizeifolie zurück. Die junge Frau lag auf dem Rücken. Die strumpflosen Beine steckten immer noch in modischen Riemchensandalen. Sonst war die Leiche bereits entkleidet und nackt. Die leblose Frau war offensichtlich noch sehr jung. Vielleicht Ende zwanzig oder Anfang dreißig. Ihr blondiertes Haar klebte in nassen Strähnen an ihrem Kopf, den nackten Schultern und dem bleichen Gesicht mit den starren Augen, aus denen der Glanz des Lebens längst gewichen war. Der grausige Blick des Todes. Donner kannte diesen Blick leider zu genau. Wie oft hatte er es in seiner beruflichen Laufbahn mit Selbstmördern, Unfallopfern oder Opfern von Gewalttaten zu tun gehabt. Der Tod gehörte inzwischen, nach über dreißig Berufsjahren, irgendwie zu seinem Leben.
Das dünne Goldkettchen am schlanken Hals der Leiche schien unversehrt zu sein. An ihm hing ein kleiner Anhänger mit Glitzerstein. Glas? Zirkonia-Schmuck? Oder gar ein echter Brillant? Dann war er bestimmt 0,5 Karat schwer und echt wertvoll. Hatte ihn jemand der jungen Frau zum Geschenk gemacht? Donners Gehirn war trotz der fortgeschrittenen Uhrzeit hellwach.
Der Hauptkommissar richtete sich nun auf und ging um den Körper herum. Dabei erkannte er sofort eine dunklere Stelle von Haaren, die offensichtlich mit Blut verklebt waren, das durch das Schwimmbadwasser teilweise aufgelöst worden war. An der linken Seite des Körpers ging der Hauptkommissar wieder in die Hocke.
Die Armbanduhr am linken Handgelenk der Toten stand auf 17:57 Uhr. Dem Anschein nach hatte diese Uhr wenig gekostet. Modisch zwar, mit Strassbesatz an der Lünette. Ganz sicher keine echten Steine. Kunststoffband in altrosa. Eine handelsübliche Modeuhr, die man in jedem Kaufhaus für wenig Geld angeboten bekam. Viel „pling pling“- wenig Wert.
Wahre Kunstwerke stellten dagegen die Fingernägel der Toten dar. Meisterwerke aus dem Nagelstudio, aufwändig modelliert und in unterschiedlichen Schichten mehrfarbig gemustert und lackiert. Diese Prachtstücke waren teuer, da kannte sich der Hauptkommissar ein bisschen aus. Schließlich arbeitete seine Tochter Jasmin als Nageldesignerin in einem Regensburger Studio. Diese Fingernägel waren perfekt manikürt und ihr Zustand war tadellos. Bis auf zwei. Zwei waren abgebrochen, was möglicherweise auf einen Kampf oder auf Gegenwehr hindeuten konnte. Möglicherweise fand man fremde DNA unter den Nägeln. Möglich, aber unwahrscheinlich, da das Opfer so lange Zeit schon im Chlorwasser gelegen hatte. Der verschmierte Lippenstift im bleichen Antlitz fiel ihm sofort auf. Die karminrote Farbe war bis zur linken Wange verwischt. Die Hände der Leiche waren aber frei von roten Farbspuren. Hatte sie die Farbe nicht selbst verschmiert, dann musste sie jemand von hinten gepackt und ihr den Mund zugehalten haben. Ein Linkshänder vielleicht? Das könnte den Kreis der Tatverdächtigen einschränken.
Erwin Brettschneider, der „Oberschlumpf“ von der Abteilung Spurensicherung, winkte Donner zu sich an den improvisierten Arbeitstisch mit einem Laptop und verschiedenen kriminaltechnischen Utensilien darauf.
„Leon, magst du mal einen Blick auf die Fotos werfen, die wir vom Tatort gemacht haben? Alles dreidimensional mit Laserkameras eingescannt. Mit einer Drohne sind wir übers Becken geflogen, weil wir ja nicht Jesus sind, der wo übers Wasser laufen konnte“, begann der Kollege gleich zu plappern, „schau mal, so haben wir die Leiche vorgefunden…“
Donner konnte die Wasserleiche auf dem Bildschirm von allen Seiten betrachten. Mit dem Rücken nach oben trieb sie in der Nähe des Beckenrandes. Schwarzer, eng geschnittener Minirock, weiße Sommerbluse mit Spaghettiträgern.
„Wir haben in der Nähe der Terassentür kleinere und größere Partikeln von Gartenerde und Gras gefunden“, setzte die Plaudertasche ihren Vortrag fort, „muss aber nix heißen. Muss nicht unbedingt vom Mörder stammen. Jeder kann den Dreck reingetragen haben. Dazu ist die Terassentür ja da, dass man raus und rein geht. Auch der Hausherr natürlich. Die Erde kann natürlich schon ein paar Tage alt sein. Keine Ahnung… Ein Sohlenprofil können wir jedenfalls nicht erkennen.“
Brettschneider scrollte weiter zu anderen Fotos. „Unter den Fingernägeln waren auch Fremdpartikel. Müssen wir noch analysieren. Wir haben auch alle relevanten Stellen mit „Bluestar“ eingenebelt. Mussten wir aber das Licht ausmachen. Das Zeug leuchtet nämlich im Dunklen, wenn es mit Blut reagiert.“
Der Kriminaltechniker erklärte jetzt umständlich die Vorzüge des neuen Mittels gegenüber dem althergebrachten „Luminol-Test“, der die DNA angreifen könne. Winzigste Blutspuren, auch ausgewaschenes Blut, könnten mit „Bluestar-Forensik“ sichtbar gemacht werden. Brettschneiders Erklärung von chemischen Reaktionen, seine umständliche und unnötig ausführliche Exkursion in die Welt der Chemie und der modernen Kriminaltechnik sollte einerseits seine professionelle Kompetenz zum Ausdruck bringen, andererseits würde sein wissenschaftlicher Vortrag nur die Einleitung zu seinem eigentlichen Auftritt bieten. Das wusste Leonhard Donner. Er kannte seinen kommunikationsfreudigen Kollegen schließlich schon lange und war neugierig auf Brettschneiders Hauptvorstellung, die jetzt bestimmt gleich kommen würde.
„Und da, Leon…“, jetzt zeigte der Forensiker sichtliche Aufregung, „…da fanden wir diese Sektflasche!“ Anstelle einer Flasche stand nun ein gelbes Schildchen mit einer Nummer am Marmorfußboden. Brettschneider griff in eine Aluminiumkiste und holte wie ein Zauberkünstler einen großen, durchsichtigen Asservatenbeutel mit einer grünen Flasche heraus. Sie war offensichtlich leer und trug das Etikett einer teuren Champagnermarke.
„Mach´s nicht so spannend, Erwin! Du erzählst mir doch bestimmt gleich was von Fingerabdrücken.“, drängte Leonhard Donner den Kollegen. Wie bei einer Zaubershow kostete Brettschneider die Situation aus. Es war seine Spätabendvorstellung und er erwartete den verdienten Applaus, wenn er zwar kein weißes Kaninchen, aber das mutmaßliche Corpus Delicti aus der Kiste zauberte.
„Leon, halt dich fest!...“, Brettschneider griff dem Chefermittler etwas aufdringlich an den Oberarm, „…das Ding ist übersät mit Fingerabdrücken. Manche sind etwas verwischt, vor allem einige Spuren am Flaschenhals. Das kann passieren, wenn man beim Berühren des Glases die Finger verrutscht. Die Abdrücke zeigen in verschiedene Richtungen und entstanden beim Einschenken oder wenn man das Ding in der Hand hält wie ein Schlagwerkzeug. Und jetzt pass auf, Leon! Alle Fingerabdrücke stammen von einer einzigen Person: Sie stammen von Carl Schimick!“
Der Leiter der Spurensicherung freute sich über die Früchte seiner Arbeit, wie ein kleines Kind, das zum ersten Mal aufs Töpfchen gegangen war. „Und, Leon, halt dich fest! Das ist aber noch nicht alles!“, Erwin Brettschneider war längst noch nicht fertig. Der Donner Leon schnaufte zwar etwas genervt, blieb aber sonst ziemlich ungerührt und gelassen. Bis jetzt jedenfalls, denn Brettschneider sollte jetzt gleich ein weiteres Ass aus dem Ärmel zaubern: „Rat mal, was wir noch gefunden haben, Leon!“ „Keine Ahnung. Aber du wirst es mir sicherlich gleich sagen…“ „Natürlich...“
Abwartendes Schweigen, um den Kulminationspunkt seiner Ausführungen hinauszuzögern und die Spannung zu erhöhen. „Leon, halt dich fest! Der Bluestar-Test ergab Spuren von Blut auf der Flasche. Zwar nur ein winziger Fleck, aber es müsste für einen DNA-Abgleich reichen. Mit großer Wahrscheinlichkeit ist das die Tatwaffe. …Peng, eine auf die Rübe und dann hinein ins Wasserbecken…“
Brettschneider hatte sich in Rage geredet und mimte den vermeintlichen Tathergang theatralisch nach, indem er ausholte und die eingetütete Sektflasche einem imaginären Opfer über den Schädel zog. Der kleine schmächtige Mann liebte anscheinend seinen Beruf. Jetzt griff das Schauspieltalent im weißen Polizeioverall den Kollegen erneut an den Oberarm: „Und noch was wird dich interessieren, Leon. Halt dich fest! Wir wissen wahrscheinlich sogar die genaue Uhrzeit, bei der das Mädel ins Wasser geplumpst ist: 17:57 Uhr. Zu der Zeit ist nämlich die Quarzuhr der Toten stehengeblieben. So, das war´s auf die Schnelle. Mehr erfahren wir von der Gerichtsmedizin.“
„Ja, Dankschön, Erwin! Guat host as gmacht!“, mit diesem Lob gelang es Leonhard Donner, sich dem mitteilungsbedürftigen Kollegen zu entziehen. Es war auch längst an der Zeit, sich seinem Schulfreund, dem Hausherrn und vorläufigem Hauptzeugen Carl Schimick zu widmen.
„Ach noch was, Leon…“, Brettschneider war mit seinen Ausführungen doch noch nicht fertig, „…die Stange da, mit der Kurbel dran, die lag in der Nähe der Terrassentür am Boden. 154 cm lang, Durchmesser 18 mm. Flach endend mit Gewinde… Eine Markisenkurbel… Und, halt dich fest! Fingerabdrücke vom Schimick drauf…“ Donner bestätigte die Information im Gehen ohne sich umzuschauen mit einer Handbewegung und verschwand durch die Tür zum Kellerflur.
Draußen am Eingangsportal stand Polizeimeister Oberhefer immer noch pflichtbewusst auf seinem Posten. Neben ihm stand Schrödinger und laberte ihn voll. Der junge Streifenpolizist musste hin und wieder unwillkürlich an die Wachsoldaten vor dem Buckingham Palast in London denken. Diese Guards mit ihren Bärenfellmützen durften sich auch nicht vom Fleck rühren, unabhängig von der Witterung und anderen Widernissen. Mit regungsloser Mimik waren sie den Touristen ausgeliefert, die die Standhaften mit Grimassen attackierten und damit versuchten, die Aufmerksamkeit der Wache auf sich zu ziehen. Er selbst musste nur Schrödingers Gelabere ertragen. Aber das war schlimm genug, bei seiner niedrigen Besoldungsstufe.
Da kam ein tiefschwarzer Porsche 911 vorgefahren und hielt genau gegenüber auf der anderen Straßenseite unter der Straßenlaterne. Das sonore und kraftstrotzende Brummen des Sportwagens brach spontan ab. Schrödinger wollte gerade losstürmen und die impertinente Person zurechtweisen, die da mit ihrer Luxusschleuder die ganze Sackgasse versperrte.
Doch dann öffnete sich die Fahrertür und ein paar hochhakige Pumps-Damenschuhe aus schwarzem Leder kamen mit den dazugehörigen schlanken Beinen in schwarzen Nylonstrümpfen zum Vorschein. Erst der linke Unterschenkel, dann zog der rechte in elegantem Schwung nach. Joshua Schrödinger hielt augenblicklich die Luft an und erstarrte in seiner Bewegung. In einer lasziven Bewegung schälte sich nun eine komplett schwarz gekleidete Dame aus dem Wagen. Vielleicht Ende dreißig, Anfang vierzig. Das schwarze Etuikleid reichte ihr knapp unters Knie, ein schwarzer Lederblouson schützte vor der Kühle der Nacht. Ihre dunkle Mähne ondulierte bei jeder Bewegung. Die gekräuselten Locken fielen ihr bis über die Schultern und glänzten im Licht der Straßenbeleuchtung genauso wie ihre markante Lederjacke.
Die rassige Frau schien gerade von einer Cocktailparty zu kommen. Mit ein paar ausladenden Schritten war Schrödinger bei ihr und streckte ihr seine rechte Hand entgegen: „Herzliches Beileid…“ Die Angesprochene behielt ihre Hände bei sich und würdigte ihn keines Blickes. Ihre großen dunklen Rehaugen schauten gewissermaßen durch ihn hindurch. „I… ich meine, i…ich dachte …sind Sie vielleicht eine A… Angehörige des Opfers, weil Sie so schwarz…?“
„Papperlapapp…“, fuhr ihm die „Lady in black“ über den Mund. Ihre Stimme klang rauchig und tief, „kommen Sie, Sie Clown, und helfen Sie mir beim Tragen!“ Die beiden gingen ums Auto herum zur Beifahrerseite und holten einen großen Kunststoffkoffer und eine Art Beautycase aus Aluminium heraus. Schrödinger tat, wie ihm geheißen wurde und schleppte die beiden Koffer der Dame hinterher. Er ärgerte sich über sein Verhalten. „Clown“ hatte sie ihn genannt. Wer war wohl diese Frau? Er wollte aber auch nicht fragen, so peinlich war ihm die Situation. Das passierte ihm bei attraktiven Frauen öfter, dass ihm das Testosteron ins Hirn einschoss und seine ganze Gehirnchemie durcheinanderbrachte. Oberhefer, der die Peinlichkeit mitbekommen hatte, grinste übers ganze Gesicht: „Schön, dass Sie da sind, Frau Doktor Kramer.“
„Wer kann mir jetzt sagen, wo ich die Leiche finde?“, fragte sie zackig und ohne Umschweife. Schrödinger wies ihr den Weg zum Keller, immer artig hinter ihr bleibend. Im Schwimmbad angekommen, wurde sie gleich in überschwänglicher Freude vom Kollegen Brettschneider in Empfang genommen: „Ja, habe die Ehre, die Gerichtsmedizin ist auch schon da. Spät, aber dennoch … Haben wir Sie von einer Feier weggeholt, Frau Doktor?“ Keine Antwort.
Er zeigte ihr ein kleines Nebenzimmer im Keller, wo sich die Rechtsmedizinerin umziehen konnte. Auch der junge Kriminaler bekam obligatorisch ein paar Handschuhe und die andere Schutzkleidung gereicht, durfte aber auf den Overall verzichten, wenn er im Eingangsbereich blieb. Kurze Zeit später war die Fachärztin für forensische Medizin wieder da: Diesmal ganz in Weiß. Der Overall mit der Kapuze schadete ihrer attraktiven Erscheinung wenig, obwohl der Gummizug der Kapuze ums Gesicht und der Mundschutz nur noch den Anblick ihrer Rehaugen, der dunklen Augenbrauen und einer Haarsträhne zuließ. Die Pumps hatte sie gegen Überschuhe aus Plastik getauscht und ihre schlanken Hände steckten in OP-Handschuhen.
Als sie sich hinunter zur Leiche bückte, spannte sich der Papieranzug an ihrer sportlichen Gesäßmuskulatur. Schrödinger, den die peinliche Begrüßungsszene auf der Straße stark verunsichert hatte, nahm den sexy Po und die schmale Taille der Frau zwar zur Kenntnis, aber sein trockener Mund und die lahmgelegten Hirnsynapsen erstickten jede Art von verbalem Annäherungsversuch im Keime.
Die Fachärztin drehte jetzt die Tote leicht zur Seite und untersuchte alle Körperteile, vor allem den Kopf. Jetzt sah auch Schrödinger die dunkle Platzwunde an der rechten hinteren Schädeldecke und verzog das Gesicht zu einer Grimasse.
„M… man gewöhnt sich wohl nur schwer an den Anblick einer Leiche…“, stammelte er. Toll! Er hatte seine Stimme wieder! Die Gehirnchemie rieselte anscheinend wieder durch seine Gehirnwindungen. Keine Antwort von Seiten der Rechtsmedizinerin.
„I…ich meine, ich hab mich inzwischen dran gewöhnt. Berufsroutine sozusagen…“ Wieder keine Antwort.
„I…ich wollte sagen, ich tue mich schwer, mich daran zu gewöhnen, dass ich mich bereits dran gewöhnt habe. Daran werde ich mich wohl nie gewöhnen…“
Wieder weckten Schrödingers tollpatschige Annäherungsversuche keinerlei Interesse bei dieser Frau.
„Was meinen Sie, könnte sich die Leiche die Verletzung selbst zugezogen haben, ich meine natürlich, als sie noch lebte… Leichen können ja nicht… Ich meine ein Unfall vielleicht…?“, attraktive Frauen brachten den armen Joshi immer total durcheinander.
„Ja, gewiss ein Unfall!“, kam prompt die Antwort mit rauchiger Stimme, „sie ist bestimmt auf den Stuhl gestiegen, hat versucht einen Salto rückwärts zu drehen und hat dabei das Becken verfehlt“. Ihr Anflug von Ironie war bissig schroff, aber sogleich wurde die kühle Frau ihrem Kollegen gegenüber wieder professionell und ernst, auch wenn ihr der Jungspund auf die Nerven ging: „Diese Platzwunde, die bis in die Schicht der ‚Galea aponeurotica‘ geht, ist ausschließlich durch Fremdeinwirkung erklärbar. Mit einem stumpfen Gegenstand. Das kann ich jetzt schon sagen.“
„Und diese Apo-dings, die Neurotika, ist was … genau?...“