Dorf ohne Gewissen - Dana Smith - E-Book

Dorf ohne Gewissen E-Book

Dana Smith

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Beschreibung

Ines lebt in einem kleinen niedersächsischen Dorf. Ihr Leben ist geprägt vom Klatsch an der Kasse des elterlichen Dorfladens. Sie träumt schon lange davon, den Ort mit seinem boshaften Gerede und dem eintönigen Tagesablauf hinter sich lassen zu können. Als ihre beste Freundin und zweifache Mutter Susanne eines Tages nicht nach Hause kommt, vermuten die Bewohner des kleinen Ortes, dass sie einem Verbrechen zum Opfer gefallen ist. Schnell ist ein Schuldiger gefunden – Ines bester Freund Frank. Eine Hetzkampagne nimmt ihren Lauf, und Ines ergreift, zum Entsetzen ihrer Eltern und der restlichen Dorfbewohner, Partei für den Sonderling. Doch dann geschieht ein erschütterndes Unglück. Ines erkennt, dass Beistand alleine nicht reicht, wenn Menschen ihr Gewissen begraben, einen Einzelnen zum Täter erklären und ihn damit zum Opfer machen. "Dana Smith entfaltet in ihrem Werk eine spannende, mitreißende und zugleich humorvolle Geschichte, die eine ernste Botschaft so verpackt, dass sie einen ins Grübeln kommen lässt, ob man das wahre Leben lebt."

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2020

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24. Franks Trauerfeier
25. Fünf Tage später
26. Neun Monate später, kurz vor Nürnberg

 

 

 

Dorf ohne Gewissen

 

 

 

Dana Smith

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

1. Auflage © 2019 Vanessa Seedorf Silberseestraße 124 27619 Schiffdorf Telefon 04749-4423074 Mail: [email protected] Webseite: www.dana-smith.de Facebook: www.facebook.com/AutorinDanaSmith Umschlaggestaltung: Art of Kat - Design, Katja Lippner,www.artofkat.de Lektorat, Korrektorat: Eva Maria Schürmann-Lanwer,www.lektorat-schuermann-lanwer.de Coverfoto: www.pixabay.de, user: Free-Photowww.pixabay.de, user: MabelAmber Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

1.

 

When nothing goes right, go left.

Frank starrte auf die kleine Postkarte an seiner Zimmertür. Die hatte Ines ihm vor langer Zeit geschenkt. Sie hatte ihm erklärt, was das bedeuten sollte, denn er konnte kein Englisch. An seiner Schule hatte man ihm das nicht beigebracht.

Er war nicht auf der gleichen Schule gewesen wie die anderen Kinder im Dorf, er war auf die Sonderschule gegangen. Frank war immer noch überzeugt, dass das ›Sonder‹ für sonderbar stand, aber Mama hatte immer gesagt: »Sonder steht für besonders, denn das bist du, mein kleiner Junge.« Dann hatte sie ihm über den Kopf gestreichelt und gelächelt.

›Right‹ bedeutete im Englischen rechts oder richtig. »All right, Sir!«, sagte Ines immer, wenn er sie um etwas bat. Dabei knallte sie lustig die Hacken zusammen.

Wenn nichts richtig läuft, einfach die Richtung ändern. Das hat auch immer geklappt, wenn die anderen ihm auf dem Schulweg aufgelauert haben. Einfach die Richtung ändern und einen großen Bogen laufen.

Frank dachte an Ines. An ihre blonden Haare, die sie immer viel zu dünne Spaghetti nannte. Er mochte ihr Haar, es duftete so gut – wie frischer Sommerwind. Er würde sie vermissen, wenn er nicht mehr hier war, aber das konnte er jetzt nicht ändern. Es war an der Zeit, auf Reisen zu gehen und dieses Leben hinter sich zu lassen. Mama war schon früher los und sie hatte immer gesagt, dass sie nicht wüsste, wie lange die Reise dauern und wann sie sich wiedersehen würden. Frank hatte keine Lust mehr, zu warten. 43 Jahre war Mama bei ihm gewesen, und jetzt hatte sie plötzlich gehen müssen, einen Monat war er jetzt schon ohne sie, und das reichte ihm, er würde jetzt hinterher reisen. Hier im Dorf hielt ihn nichts mehr, er hatte keine Lust mehr auf den ständigen Ärger und die Boshaftigkeiten der Nachbarn. Außerdem verstand er immer noch nicht, was er eigentlich verbrochen hatte. Er hatte nichts zu tun mit dem plötzlichen Verschwinden von Susanne, aber das glaubte ihm ja keiner.

Frank atmete schwer aus und drehte den Kopf in Richtung Schreibtisch. Dort lag der Brief für Ines, in dem er ihr alles, so gut wie er konnte, erklärte.

Hatte er an alles gedacht, bevor es losging? Er hatte die Hintertür abgeschlossen und den Herd ausgeschaltet. Einstein, sein Kater, hatte genug Futter für die nächsten Tage. Zwar glaubte er, dass Ines heute noch käme, aber man wusste ja nie, und Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste, hatte Mama immer gesagt. Seine Kleidung war frisch und die Schuhe waren geputzt. Sein Blick wanderte zu den schwarzen Schuhen mit den leichten Kratzern auf den Spitzen. Die waren dort, seit er mit Mama und Ines auf der Feier gewesen und dort gefallen war. Auch mit der Schuhcreme hatte er sie nicht ganz wegbekommen. Wenn das Mama sah, dann wird sie den Kopf schütteln und sagen: »Bei dir halten die Sachen auch von zwölf bis Mittag.« Dann würde sie seinen Kopf in die Hände nehmen, ihn zu sich herunterziehen und ihn auf den Scheitel küssen.

Er freute sich auf seine Mutter. Die Aussicht, sie wiederzusehen, schmälert die Trauer über den Verlust von Ines.

Frank blickte sich noch mal um und prüfte, ob alles aufgeräumt war in seinem Zimmer. Er wollte nicht, dass die anderen einen falschen Eindruck von ihm bekamen. Dann klatschte er einmal in die Hände. »Auf, auf, keine Maulaffen feilhalten, Frank! Jetzt geht es los.« Er machte einen großen Schritt auf den Hocker. Dann legte er sich den Strick, welchen er schon am Morgen an dem Deckenbalken in seinem Zimmer befestigt hatte, um den Hals und zog die Schlinge zu. »Bis gleich, Mama«, flüsterte er, gab dem Stuhl einen beherzten Ruck, sodass er mit einem Schwung gegen die Wand prallte, und fiel ins Freie.

2. Ein paar Monate zuvor

 

»Ja, Mann, ich bin schon angezogen! Nerv mich nicht!«

Die ›dämliche Kuh‹, die Hannes hinterher schob, hatte Susanne auf der Treppe noch hören können. Sie biss die Zähne so fest zusammen, dass sie knirschten. Manchmal würde sie ihn am liebsten gegen die Wand klatschen. Warum entwickelten sich die lieben Kleinen in der Pubertät zu missgelaunten Arschlochkindern? Sollte das den Abnabelungsprozess erleichtern?

Am Fuß der Treppe angekommen, klopfte sie zaghaft an die Badezimmertür. »Mona?«

Keine Reaktion.

»Mona, Schatz? Bist du fertig? Ihr müsst euch beeilen, der Schulbus kommt bald.«

Als Antwort flog die Tür auf, und ihre Tochter stürmte heraus. »Mama, nerv nicht jeden Morgen rum!«

»Ich muss ja! Ihr trödelt immer derartig, dass ihr den Bus verpassen würdet, wenn ich nicht aufpassen würde.«

»Jaaaaaa, is’ klar, Mama.«

Susanne hasste es, wenn ihre Tochter so mit ihr sprach. Dieses langgezogene ›Ja‹ und die Betonung brachten sie in Rage. Sie war hier nicht der Depp für alle, mit dem man reden konnte wie mit einem Lui von der Straße.

»Dann fährst du uns halt. Wo ist dein Problem?« Mona schlenderte in die Küche und ließ ihre Mutter an der Badezimmertür stehen.

Susanne atmete tief ein und eilte ihrer Tochter hinterher. »Hör mal, so geht das nicht!«

»Hallo Papa«, sagte Mona und küsste ihren Vater auf die Wange.

»Guten Morgen, mein Schatz. Hast du gut geschlafen?« Jürgen Rieker sah von seiner Zeitung auf und lächelte seine Tochter an.

Mona nickte und ging weiter zu ihrer Oma, trat hinter sie und legte ihr die Hand auf die Schulter. »Hallo Omi.«

Hilde hob ihre knochige Hand und tätschelte die ihrer Enkelin. »Guten Morgen, mein Kind, setz dich und frühstücke noch etwas.«

»Nö, kein‹ Hunger.«

»Aber du musst …«, weiter kam Hilde nicht.

»Mona, ich habe mit dir gesprochen«, fuhr Susanne so vorsichtig, wie es ihr noch möglich war, dazwischen.

»Was willst du?« Der Ton ihrer Tochter verschärfte sich.

Jetzt nicht die Nerven verlieren, Susanne, provoziere jetzt keinen Streit, redete sie sich gut zu. »Du sollst ein für alle Mal begreifen, dass ihr morgens zeitig aufstehen müsst und dass ich euch nicht immer fahren kann, nur weil ihr hier in der Frühe nicht aus dem Quark kommt.« Sie hörte, wie Hannes die Treppe herunterkam und mit einem lauten Türknallen im Bad verschwand.

»Mein Gott, Susanne!« Hildes Stimme war scharf wie ein Rasiermesser. »Jetzt mach hier keinen Aufstand! Es kann ja wohl kein Problem darstellen, die Kinder morgens zur Schule zu fahren.«

»Misch dich da nicht ein, das ist eine Sache zwischen mir und meinen Kindern.« Susanne trat die Röte ins Gesicht.

»Nein, wenn ich mir dein Gezeter jeden Morgen anhören muss, dann ist es auch meine Sache.«

Das reichte! Susanne fühlte sich wie ein Kessel auf einer heißen Herdplatte, kurz vor dem Siedepunkt. Sie ging einen Schritt auf den Tisch zu und stützte sich mit den Händen auf die Tischplatte. »Wenn dir die Atmosphäre in unserem Haus nicht passt, meine liebe Hilde, dann geh doch nach nebenan und iss in deiner eigenen Küche dein eigenes Frühstück.« Susanne funkelte ihre Schwiegermutter böse an, wunderte sich jedoch, dass sie es schaffte, einen ruhigen, wenn auch nicht ganz freundlichen Tonfall beizubehalten.

»Mama!« Monas Ton war vorwurfsvoll. »Omi isst immer mit uns Frühstück! Was soll das denn jetzt?« Sie drehte sich zu ihrem Vater. »Papa, sag du doch auch mal was. Mama will Omi rausschmeißen.«

Jürgen Rieker ließ die Nordsee-Zeitung sinken und sah die drei nacheinander an. »Der Einzige, der hier irgendjemanden rausschmeißt, bin ich«, sagte er, »und jetzt hört bitte auf, ich will meine Zeitung in Ruhe zu Ende lesen, bevor ich in den Hafen muss.«

»Das glaub ich alles nicht!«, flüsterte Susanne und stemmt sich mit einem so heftigen Ruck von der Tischplatte ab, dass der Kaffee aus den Tassen schwappte.

»Ach, Susanne! Tut das Not?«, hörte sie Hilde sagen, als sie aus der Küche stürmte.

Sie durchquerte das Wohnzimmer und öffnete die Terrassentür. Der kühle und feuchte Februarwind schlug ihr entgegen. Sie angelte nach der Packung Zigaretten in der Tasche ihrer Strickjacke. Nur noch zwei Stück.

Scheiße, dann muss ich gleich zu Tülze und neue holen, dachte sie. Der Edeka war zwar im Ort, jedoch so weit entfernt, dass laufen nicht in Frage kam – nicht bei dem Nieselregen.

Was für eine Scheiße!

Jeden Morgen derselbe Mist mit den Kindern. Jeden Morgen ihre Schwiegermutter, die zu allem etwas Schlaues zu sagen hatte. Jeden Morgen ihr Ehemann, den das alles nicht zu interessieren schien. Hauptsache, es gab Kaffee und die Tageszeitung und abends nach der Arbeit was Warmes zu essen und die Tagesschau. Sie zog an ihrer Zigarette und inhalierte den Rauch tief. Die Woche fing ja wieder richtig super an.

Hatte sie sich ihr Leben so vorgestellt?

Nein! Auf keinen Fall!

Als sie damals zu Jürgen und seinen Eltern nach Hasenbrönn gezogen war, hatte sie nicht geahnt, dass das Leben im Dorf einen derart krassen Gegensatz zum Stadtleben bot. Ebenso wenig hatte sie damit gerechnet, dass ihre Schwiegermutter nach dem Tod ihres Manns quasi bei ihnen einziehen würde. Sie war mehr bei Jürgen und Susanne als in ihrer eigenen Wohnung, die direkt nebenan, auf der anderen Seite des Hofes, lag.

Wie wäre ihr Leben verlaufen, wenn sie nicht ihren Mann geheiratet hätte, schwanger geworden und hierher aufs Land gezogen wäre?

Was wäre gewesen, wenn sie bei Mario, ihrem langjährigen Freund vor Jürgen, geblieben wäre? Er war zurückgegangen in das Geburtsland seiner Eltern und besaß heute in Sizilien ein kuscheliges Restaurant am Meer, das hatte sie im Internet recherchiert. Lange hatte sie gezögert und dann hatte sie ihn angeschrieben. Sie konnte nicht sagen, was sie damit bezwecken wollte. Letztendlich war es auch egal, denn er hatte sich nicht gerührt. Keine Antwort bis heute.

Susanne seufzte. Am Meer zu leben und zu arbeiten, das wäre schön gewesen. Sie nahm den letzten Zug von ihrer Zigarette und zündete mit dem Rest eine neue an. Dann zerknüllte sie die leere Packung in ihrer Hand.

»Scheiße!« Sie warf die Schachtel in die Forsythie, wo sie rot leuchtend auf dem laubfreien Erdreich liegen blieb. Sie betrachtete das Stillleben. Ja, so fühlte sie sich, wie ein Fremdkörper, der nicht hierhin gehörte.

Sie rauchte ihre Zigarette zu Ende, öffnete die Terrassentür und ging ins Wohnzimmer. Brutus, der viel zu dick geratene Familienlabrador, kam ihr entgegen und wedelte vor Freude beinahe die Deko vom Beistelltisch.

»Ja, mein Großer, du bist gleich dran, wenn ich die Gören in die Schule kutschiert habe.« Sie tätschelte ihm den Kopf, was er mit einem ausgiebigen Lecken ihrer Hand quittierte.

Susanne blieb einen Augenblick stehen und sah Brutus an. Eines Tages wären die Kinder aus der Pubertät heraus und ausgezogen. Im besten Fall war bis dahin ihr Schwiegerdrachen unter der Erde und dann würde ihr Leben bessere Formen annehmen. Vielleicht könnten Jürgen und sie in den Urlaub fahren, nach Mallorca oder Teneriffa, denn sie waren nie weiter als bis nach Österreich gekommen.

Susanne atmete aus und warf einen Blick auf die Uhr. Viertel vor acht, in fünfzehn Minuten war Schulbeginn. Als könnte sie Gedanken übertragen, hörte sie ihren Sohn aus der Küche brüllen: »Mama! Wo bist du denn schon wieder? Wegen dir kommen wir noch zu spät zur Schule!«

Susanne schloss kurz die Augen und atmete tief ein und aus. »Nützt ja nix«, flüsterte sie und verließ das Wohnzimmer.

 

Susanne parkte den Wagen am Straßenrand und blieb einen Augenblick hinter dem Steuer sitzen. Nachdem sich Hannes und Mona auf dem gesamten Weg zur Schule gestritten hatten, genoss sie die Ruhe und schloss die Augen. Was für ein Morgen! Sie lauschte dem fast unhörbaren Geräusch ihres Atems. Einatmen, ausatmen. Sie sollte wieder einen Yoga Kurs besuchen, das hatte ihr früher gutgetan. Du bist die Ruhe und die Kraft, sagte ihr ihre innere Stimme. Das Leben ist eines der schönsten und du wirst alles meistern, was dir im Leben …

»Hey! Schläfst du oder bist du tot?«

Jemand klopfte so heftig an die Scheibe ihres Autos, dass Susanne vor Schreck tief einatmete und sich dabei an ihrer eigenen Spucke verschluckte.

»Ines!«, krächzte sie und hustete, bis sie wieder halbwegs normal atmen konnte. »Bist du irre?« Susanne stieß die Wagentür auf und stieg aus dem Auto. »Ich hätte sterben können!«

Ines stütze sich an der Motorhaube ab und hielt sich vor Lachen den Bauch. »Du hättest dich sehen sollen!« Sie rang nach Luft. »Was machst du denn da? Ich dachte, du schläfst.« Sie wischte sich die Tränen aus den Augenwinkeln.

»Nein, Mann, ich hab die Ruhe genossen. Die Kinder rauben mir mit ihrer Lautstärke noch den letzten Nerv.«

»Ach du Arme! Wolltest du zu uns?«

»Ja, ich brauch Zigaretten.«

Ines hakte sich bei ihr ein. »Na, denn kommse ma’ mit, junge Frau.« Sie zog Susanne über die Straße in Richtung des kleinen Ladens. »Und sonst so?«

»Selbe Scheiße, anderer Tag«, entgegnete Susanne und drückte die Ladentür auf.

»SSDD.« Ines grinste.

»Was?«

»Selbe Scheiße anderer Tag. SSDD.« Sie folgte Susanne in den Verkaufsraum.

»Was’n das für ’n Quatsch?«

»Kein Quatsch, kommt doch aus einem Stephen King. SSDD haben die Kids ständig gesagt, für: ›same shit, different day‹. In der deutschen Übersetzung: selbe Scheiße, anderer Tag. Kannst du dich daran nicht erinnern?«

»Nee, ich hab das Buch nie gelesen, das war nur ein Spruch von meinem Ex.«

»Dein Ex, soso. Guten Buchgeschmack hatte er auf jeden Fall.«

Susanne seufzte theatralisch. »Nicht nur das.«

»Und warum ist es dann dein Ex?«

»Ach, lange Geschichte.« Sie winkte ab. »Ich hab mich damals echt dumm benommen und manchmal bereue ich das. Wäre ich bei ihm geblieben, wäre ich heute im warmen Sizilien und nicht hier, im kalten Norden.«

»Na, das klingt ja ganz spannend. Allerdings hätten wir uns dann nicht kennengelernt.« Ines verschwand hinter der Kasse und nahm eine Schachtel Zigaretten aus dem Regal. »Das wäre zumindest für mich ein echter Verlust.«

»Für mich auch, das kannst du mir glauben!« Susanne warf ihrer besten Freundin einen Kuss zu.

»Kommst du heute Abend auch?«

»Heute Abend?« Susanne runzelte die Stirn. »Was soll da sein?«

»Na wegen der 800-Jahr-Feier. Wir besprechen heute Abend, was gemacht werden soll, welcher Verein welche Aufgabe übernimmt und was jeder Einzelne machen kann.«

Susanne tippte sich gegen die Stirn.

»Ach, bitte! Komm doch, das wird bestimmt lustig.«

»Nö, da kann ich mir echt was Besseres vorstellen. Bevor ich mir das antue, schau ich mir mit meiner Schwiegermutter zusammen das Traumschiff im Fernsehen an.«

Ines rollte mit den Augen. »Wie lange bist du jetzt hier bei uns? Siebzehn Jahre? Und immer noch keinem Verein angeschlossen! Vielleicht solltest du es wenigstens bei den Landfrauen versuchen. Außerdem kannst du kein Traumschiff ansehen, das läuft nur noch zu Weihnachten.«

»Mach nur so weiter, dann bist du die längste Zeit meines Lebens meine Freundin gewesen.« Sie zwinkerte. Ines war eine der ersten Menschen, die Susanne in Hasenbrönn kennengelernt hatte. Die beiden Frauen, die fast im selben Alter waren, hatten sich auf Anhieb gut verstanden und sich schnell angefreundet. Ines war ihr Anker, wenn sie, wie so oft, das Gefühl hatte, ihr ganzes Leben würde aus dem Ruder laufen. Egal, ob es um Stress mit Hilde oder den Kindern ging oder um das eingefahrene, besser gesagt, verfahrene Eheleben mit Jürgen, Ines war immer für sie da.

»Du weißt, ich mag dich sehr, aber du solltest dich wirklich mehr in die Dorfgemeinschaft integrieren, du wirst sehen, das hat auch seine guten Seiten. Man muss sich hier etwas anpassen.«

»Wer sagt das? Du? Die vegane Metzgerstochter?« Sie legte zehn Euro auf den Tresen.

»Mein Vater ist kein Metzger, er verkauft die Wurst nur.« Ines lachte auf und gab das Wechselgeld raus. »Ja, das ist schon ein wenig verrückt. Wo hier doch Fleisch das beste Gemüse ist.« Ines schüttelte den Kopf. »Meine Oma versteht das immer noch nicht. Sonntag beim Grillen hab ich mich an meine veganen Kräuterschnecken und den Quinoasalat gehalten. Sie hat mich beobachtet und schließlich gesagt«, sie spitzte die Lippen und ahmte eine alte Frau nach, »Kind, ich hab das ja verstanden, dass du kein Fleisch mehr essen willst, aber iss doch wenigstens eine Wurst!«

»Hör auf, dich über deine Oma lustig zu machen!« Die Stimme ihres Vaters donnerte aus dem Nebenraum. Michael Tülze erschien in der Tür des winzigen Büroraums. »Das ist nicht witzig. Keiner versteht hier, was der ganze Quatsch mit diesem Tierschutz soll. Das halbe Dorf lebt von der Viehzucht und du fängst an, nur noch Körner zu fressen.« Er rauschte an ihr vorbei und würdigte Ines keines Blickes. »Moin Susanne!«, sagte er, bevor er durch die Ladentür nach draußen verschwand.

»Hauaha! Was war das denn?«

»Ach, du kennst doch meinen Vater. Irgendwann wird hoffentlich auch er begreifen, dass es lediglich um meine Ernährung geht. Ich frage mich, was er wohl getan hätte, wenn ich ihm stattdessen eröffnet hätte, dass ich lesbisch bin.«

Susanne lachte los. »Dann hätte er gebetet, dass der Herrgott den Boden öffnet und er darin versinken kann.« Sie schüttelte den Kopf. »Mein Gott, was für ein Kaff! Wie bin ich hier bloß gelandet?«

Ines zwinkerte verschwörerisch. »Such dir doch einen heißen Lover und verschwinde in einer Nacht-und-Nebel-Aktion. Was meinst du, was dann hier los wäre? Da käme mal richtig Schwung ins Dorf.«

»Ich lass es mir durch den Kopf gehen, aber jetzt fahr ich erst mal nach Hause und mache die Wäsche.« Sie griff nach den Zigaretten und hob zum Abschied die Hand. »Wir sehen uns.«

 

Frank drückte die schwarze Erde über den frisch gesetzten Tulpenzwiebeln fest. Einstein lag im Beet und suhlte sich. Manchmal, dachte Frank, benimmst du dich wie ein Schweinchen, nicht wie ein Kater.

Seine Mutter kniete neben ihm im Beet und klaubte die toten Eichenblätter aus der Buchsbaumhecke.

Er beobachtet, wie sie sich immer wieder eine lose Haarsträhne aus dem Gesicht wischte und mit ihren dürren Fingern das Laub in den Plastikeimer warf.

Mariechen Koslowski trug, so lange Frank denken konnte, die Haare hochgesteckt oder zu einem Dutt gedreht. Nur, dass diese im Laufe der letzten dreißig Jahre stetig dünner geworden waren, so wie die ganze Person.

Eigentlich war sie nur noch ein Persönchen.

Sie war bereits einundachtzig und ließ sich die Gartenarbeit noch immer nicht verbieten. Er sah ihr an, wie schwer ihr die Handgriffe mit ihren gichtgeplagten Händen fielen, wie stark ihr Kreuz unter der immerwährend gebeugten Haltung schmerzte, wie schwer es ihr fiel, wieder auf die Beine zu kommen.

»Lass gut sein, Mama!« Er stand auf und griff Mariechen, die lieber Marie genannt wurde, unter die Achseln, um ihr beim Aufstehen zu helfen.

Sie hasste ihren Namen, das wusste Frank. Bereits in ihrer Kindheit hatte man sie damit aufgezogen. Mariechen sagt zu Mariechen, lass mich ma’ riechen, Mariechen. Da ließ Mariechen Mariechen ma’ riechen.

Was für ein dummer Spruch, dachte Frank. Und woran sollte die eine die andere eigentlich riechen lassen?

»Geht´s?«

Seine Mutter rappelte sich auf und zog die Kittelschürze, die sie unter der dicken Wolljacke trug, zurecht. Dann tätschelte sie Frank die Hand. »Jümmers langsam mit de jungen Peer. Denn klappt das ooch.«

»Ja, Mama, immer langsam, so ist es richtig.« Er liebte es, wenn seine Mutter so sprach. »Damals nach dem Krieg haben wir nur so geschnackt«, sagte sie oft. Aber heute verstand das ja kaum noch einer. Auch Frank konnte so nicht reden, egal, wie viel Mühe er sich gab. Vielleicht lag das daran, dass er nicht der Gescheiteste war, aber letztendlich war es auch egal, er verstand sie, und das war die Hauptsache.

Einstein kam zu ihnen und strich seiner Mutter um die Waden.

»Na, kleiner Kater, wie geht es dir?« Sie bückte sich langsam und streichelte liebevoll das rote Fell. Einstein begann augenblicklich zu schnurren. Wie alt er geworden war, seit damals, als Frank ihn halb tot vor dem Bauern gerettet hatte. »Entweder du nimmst ihm mit oder ich erledige das heute Abend«, hatte der Bauer gesagt. Frank hatte das kleine Bündel in seinen Pullover gebettet und ihn mit nach Hause genommen. So war Einstein dem sicheren Tod entronnen und dankte es Frank mit jeder Minute seines Daseins.

»Was hältst du davon, wenn ich hier die Arbeit fertig mache und du uns einen Kaffee kochst? Dann können wir eine Tasse davon zusammen trinken. Okay?«

Sie sah ihn mit ihren wässrigen Augen an und strich mit dem Rücken ihrer knochigen Finger über seine Wange. »Was würde ich nur ohne meinen Jungen tun? Ich käme hier alleine gar nicht zurecht.«

»Mama! Ich bin doch da! So was darfst du nicht denken.« Er nahm sie in den Arm und drückte sie sanft an seine Brust.

Ganz vorsichtig, damit sie nicht kaputtgeht!

Er ließ sie los und lächelte. »Machst du Kaffee?«

Sie nickte, ging langsam zum Haus hinüber. »Komm, Einstein, wir gehen Kaffee kochen.«

Der Kater rannte los und einen Augenblick später verschwanden beide hinter der Eingangstür.

Frank atmete schwer ein. Was würde sie ohne ihn machen? Die Frage war wohl eher, was würde er ohne sie machen. Seine Mutter war seit dem Tod seines Vaters der einzige Mensch in seinem Leben, außer Ines vielleicht. Nachdem Heinrich Koslowski vor gut siebenundzwanzig Jahren bei einem Unfall ums Leben gekommen war, hatten Mutter und Sohn sich aufeinander konzentriert. Der Unfall, so sollte er es nennen, hatte Mama damals gesagt, schweißte die beiden bis heute zusammen. Er hatte darüber nie reden dürfen, er hatte immer gesagt, dass er nicht im Garten gewesen sei und nichts gesehen hätte. Aber mit irgendjemandem hatte er nach dem schrecklichen Ereignis reden müssen und deshalb hatte er es in sein Tagebuch geschrieben. Ins Tagebuch schreiben war nicht reden und so hatte er auch nicht gegen die Weisung seiner Mutter verstoßen. Egal, wie es passiert war, es war gut, dass es passiert war.

Heinrich Koslowski war dem Alkohol nicht abgeneigt gewesen. Immer wenn er zu viel getrunken hatte, war er gemein geworden. Er hatte Frank und seine Mutter beschimpft, und das eine oder andere Mal hatte es eine Ohrfeige, oder Schlimmeres gesetzt. Marie Koslowski hatte die verbalen Attacken, die sich gegen sie richteten, ausgehalten, aber wenn sie Frank betroffen hatten, dann war sie zur Furie geworden.

Sie hatte ihren Jungen erst spät bekommen. Mit achtunddreißig hatte sie die Hoffnung auf ein Kind aufgegeben. Ob es ein Gottesgeschenk oder lediglich der Tatsache geschuldet war, dass sie einen Seitensprung mit dem Metzgerssohn gehabt hatte, das wusste sie nicht, und letztlich war es ihr auch egal, hatte sie Frank eines Tages erzählt. Auf jeden Fall war er der beste Unfall, den sie jemals gehabt hatte.

Er hatte nur gute Erinnerungen an die Kindheit mit seiner Mutter. Sie war die beste, die er sich vorstellen konnte. Immer liebevoll, immer für ihn da, und wenn sein Vater ungerecht geworden war, dann hatte sie sich immer dazwischen gestellt. So auch am Tag des Unfalls.

Frank ließ seinen Blick durch den Vorgarten schweifen. Nur noch die Blätter zusammenharken, und dann war die Arbeit getan. Er holte die Harke aus dem Schuppen und schlenderte zurück. Nachdem er gut eine weitere halbe Stunde das Laub zusammengerecht und in Säcke gestopft hatte, hielt ein roter Opel Corsa auf der anderen Seite der Straße, und das Fenster fuhr herunter.

»Hallo Frank, was machst du denn hier bei dem Schietwetter?«

Frank lächelte unsicher und sein Blick sank in Richtung Boden. »Hallo Susanne. Ich mach den Garten sauber.«

Sie lachte. »Ja, das sehe ich. Kannst du dir denn dafür kein besseres Wetter bestellen?«

Frank sah sie ernst an. »Das kann ich nicht! Gott macht das Wetter und da kann man nichts bestellen.«

Sie lächelte. »Ach, Frank.« Sie sah ihn eine Weile an. Es wurde ihm unangenehm, da sie nicht sprach. Er riskierte einen kurzen Blick auf ihre langen braunen Haare, die ihr so wunderschön um die Schultern fielen und seine Finger schlugen unruhig aneinander.

Diese Angewohnheit hatte er als Fünfjähriger entwickelt. Er tippte Daumen und Mittelfinger aneinander, als würde er Morsezeichen senden. Sein Vater hatte diese Angewohnheit gehasst. Er hatte ihm eines Morgens, Frank konnte sich nicht erinnern, wie alt er damals gewesen war, das Frühstücksbrett auf die Finger geschlagen und gebrüllt: »Lass den Scheiß, du siehst aus wie ein Spasti.« Dann verhielt er sich wie ein Behinderter und tat, als könne er nicht in die Hände klatschen. »Ey Franky-Boy, klatsch mal in die Hände, bekommst auch ein Eis«, sagte er. Nachdem er nach einigen Versuchen ein Händeklatschen zustande brachte, nahm er ein imaginäres Eis entgegen, welches es sich mit einem dümmlich klingenden »Danke!« an die Stirn donnerte. Dann lachte er und schlug sich auf den Oberschenkel. Frank war wütend aufgestanden und in sein Zimmer gelaufen. Von dort hörte er seinen Vater noch immer lachen. Seine Mutter hatte damals im Krankenhaus gelegen und es war niemand da, der ihn in Schutz nahm, und so hatte er sich unter seine Bettdecke gelegt und sich gewünscht, er könne sich in Luft auflösen.

Er erschrak, als Susanne ihn plötzlich aus seinen Gedanken riss. »Komm mal kurz zu mir.« Sie winkte ihn zu sich.

Frank stakste durch das Beet, stiefelte den langen, gepflasterten Weg entlang und öffnete ungeschickt die Gartenpforte. Nachdem er sich versichert hatte, dass kein Auto in Sichtweite war, überquerte er die Straße und blieb vor der Fahrertür stehen.

»Da bin ich.« Er drehte an einem der Zottel, die von seinem Schal herabhingen. Susanne griff nach seiner zappelnden Hand. »Frank, schau mich an.«

Er hob langsam den Blick, Scham und Unsicherheit standen in seinen Augen. Susannes Finger war warm und weich und es fühlte sich an, als würde seine Hand in ihrer verbrennen.

»Frank, hör mir gut zu! Du bist ein guter Mensch, verstehst du mich?«

Er nickte.

»Lass dir von keinem der Dösköppe hier im Dorf etwas anderes einreden. Die sind die Idioten, mit ihrem kleingeistigen Getue, nicht du! Du und deine Mama, ihr seid gute Menschen!« Sie lächelte ihn an. »Und jetzt sieh zu, dass du fertig wirst, du bist ja schon ganz nass.« Sie ließ seine Hand los, winkte zum Abschied, schloss das Fenster und fuhr los.

Frank hob die Hand und eilte zurück auf den Bordstein vor seinem Haus. Er sah den Rücklichtern hinterher, bis sie am Ende der Straße verschwunden waren.

Er warf einen Blick auf die Uhr am Handgelenk. Auf dem Zifferblatt war der DeLorean DMC-12 aus seinem absoluten Lieblingsfilm Zurück in die Zukunft zu sehen. Wie Marty McFly, hatte er schon in seiner Jugend sein wollen und daran hatte sich bis heute nichts geändert. Allerdings zweifelte er an seinem Wunsch, seit er sich bei seinem ersten Versuch, wie Marty Skateboard zu fahren, den Arm gebrochen hatte.

Kurz nach halb vier, jetzt war es wirklich Zeit für einen Kaffee.

 

Ines hockte zwischen zwei Regalreihen, neben sich den Rollwagen mit der Ware für diese Woche, als sie hörte, wie die Ladentür aufging.

»Huhu, ich bin’s! Jemand daaaa?«

Gott bewahre, dachte Ines, die alte Schumann.

Anneliese Schumann war die Besitzerin der einzigen Kneipe im Dorf, die den wahnsinnig einfallsreichen Namen »Die Kleine Dorfkneipe« trug, und war das größte Klatschweib am Platze.

Das Lokal, welches ein paar Straßen entfernt lag, war der Dreh- und Angelpunkt im Dorf. Dort trafen Jung und Alt, Arm und Reich und jeder, der Neuigkeiten hatte oder hören wollte, aufeinander. Ines fand, dass es die gruseligste Kaschemme war, die sie jemals betreten hatte. Aber was sollte es, nach ein paar Bieren und Körnchen sah sogar diese Spelunke super aus. Dann merkte man auch nicht mehr, dass man am Tresen kleben blieb, weil Anneliese wieder zu faul gewesen war zum Abwischen.

Ein eigenes Lokal, das war der Traum von Ines und Susanne. Wenn sie könnten, wie sie wollten, hätten sie vor langer Zeit eines eröffnet. Eine gemütliche Kneipe mit Livemusik am Wochenende. Ines seufzte verträumt, klemmte eine Strähne ihres dünnen Haars hinters Ohr und stellte eine Dose Bohnen ins Regal. Die Realität sah leider anders aus. Sie hockten beide in diesem Kaff fest. Auf Geld oder moralische Unterstützung konnten sie nicht hoffen. Ines Vater hatte sich mit dem Finger an die Stirn getippt. »Der Laden ist in dritter Generation in unserer Familie. Oma und ihre Eltern konnten froh sein, dass die Amerikaner sie nicht ausgebombt haben. Du wirst das Geschäft in vierter Generation führen, damit das klar ist. Was die Amis nicht geschafft haben, werden nicht deine Hirngespinste vollenden.« Mehr hatte er zu dem ganzen Thema nicht gesagt. Gerda Tülze hatte nur genickt und hinzugefügt: »Hör auf deinen Vater, Kind!«

Was für eine Familie.

Susanne erging es nicht besser. Mit ihrem Mann, der sich aus allem raushielt und einer Schwiegermutter, die den vorlauten Kindern ständig die Hand vor den Arsch hielt. Susanne kämpfte an allen Fronten. Sie hielt das Haus in Schuss, kümmerte sich um den riesigen Garten des alten Hofes und versuchte, die Kinder in der Spur und sich die Schwiegermutter von Hals zu halten.

»Haaallooooo!« Annelieses Gequietsche riss sie aus ihren Gedanken. Gerade, als sie aufstehen wollte, vernahm sie die Stimme ihrer Mutter.

»Ich eile, ich eile, Anneliese! Wie geht es dir heute?«

»Gut, meine liebe Gerda, sehr gut! Ich brauche nur ein paar Kekse für meinen Besuch. Um 16 Uhr kommen die Landfrauen zum Kaffee. Ich hab also nicht viel Zeit.«

Ines rollte mit den Augen und verstaute zwei weitere Dosen Bohnen.

»Kein Problem, meine Liebe, du weißt ja, wo sie stehen.«

Im Regal neben der Kasse, du dusselige Kuh, dachte Ines.

»Die Koslowskis sind auch schon wieder im Garten zugange. Ich weiß nicht, wie die Alte das macht. In ihrem Alter sollte sie nicht mehr im Garten herumkriechen. Aber ihr missgebildeter Sohn ist ja auch zu nichts in der Lage.«

»Ach, Anneliese«, Gerda klang empört, »das ist jetzt aber auch ein bisschen hart, findest du nicht? Er ist zwar nicht die hellste Kerze auf der Torte, aber missgebildet ist er ja nun wirklich nicht.«

»Wie auch immer, dumm bleibt dumm, da helfen keine Pillen.«

Ines biss die Zähne zusammen, um nicht aufzuspringen und der Alten an die Gurgel zu gehen. Sie hasste es, wenn die Dorfbewohner so über Frank sprachen. Er war zwar nicht mit einem hohen IQ gesegnet, dafür war er der liebevollste und netteste Mensch im ganzen Dorf.

»Dass du ihn in Schutz nimmst, nach dem, was er mit deiner Tochter angestellt hat! Das verstehe ich nicht, Gerda.«

»Ach, Ines hat ja keinen Schaden zurückbehalten. Ich denke, es wäre ungerecht, wenn wir ihm das noch immer nachtragen würden.«

»Keinen Schaden? Von irgendwas muss ja dieser Blödsinn mit der Ernährung kommen.«

»Anneliese!«, entgegnete Gerda vorwurfsvoll und tippte Beträge in die Kasse.

»Die Psyche eines Menschen geht komische Wege, meine Liebe. Da kann ein sexueller Übergriff auch zu einer Essstörung führen.«

Ines ballte die Fäuste. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals. Am liebsten wäre sie nach vorne gerannt und hätte der Alten etwas gepfiffen. Aber wenn sie jetzt aufsprang, dann würde die Situation mit Sicherheit eskalieren und einen riesen Streit mit ihrem Vater nach sich ziehen. Der war um jeden Kunden besorgt und heulte deshalb permanent mit den Wölfen.

»Ines hat doch keine Essstörung!«

»Ach nein? Und wie würdest du dann die Abneigung gegen Fleisch nennen? Wie auch immer, auf den muss man aufpassen.«

Ines hörte, wie sie die Kekse in ihre Einkaufstasche stopfte.

»Eben habe ich gesehen, wie er sich an die Frau vom Jürgen rangemacht hat.«

»An Susanne?«

»Ja, ja, Susanne. Schöne Augen hat er ihr gemacht, als sie mit ihrem Auto vor seinem Haus gehalten hat.«

Ines überlegte, wie sie das auf die große Entfernung gesehen haben wollte. Franks Haus lag ein ganzes Stück die Straße runter. Die Kneipe lag in die komplett andere Richtung. Das konnte sie auf dem Weg zum Laden oder vor dem Geschäft nicht gesehen haben.

»Schöne Augen? Bist du sicher?« In Gerdas Stimme lag Zweifel.

»Wenn ich es dir sage. Ich hab es im Rücken, aber nicht mit den Augen. Die sehen wie die eines Adlers.«

Du hast es nicht im Rücken, sondern im Kopf. Vielleicht sollte sie die nächste Dose werfen, statt sie ins Regal zu stellen.

»Wie auch immer, ich denke, er ist gefährlich. So, und nun muss ich los, damit die Damen nicht vor verschlossener Tür stehen.«

Anneliese verließ ohne ein weiteres Wort das Geschäft und Ines betete, dass sie eines Tages dieser verlogenen Spießerhölle würde entkommen können.

 

»Susanne! Ich bin wieder da!« Jürgen schloss die Eingangstür hinter sich und hängte den Parka an den Haken. Er hob sein Bein und zog an einem seiner Schuhe. Nach Gleichgewicht suchend griff er nach der Kommode. Der Schuh flog mit einem Poltern auf den Boden, zeitnah gefolgt von dem zweiten. Er ging fröhlich pfeifend ins Bad und wusch sich die Hände. Mit feuchten Fingern fuhr er sich durch das dünner werdende Haar, um es ein wenig zu richten. Er formte mit Daumen und Zeigefinger eine Pistole und zeigte mit einem geräuschvollen Zungenschnalzen auf sein Spiegelbild. »Gut siehst du heute wieder aus, mein Freund.« Er zwinkerte sich zu und verließ das Bad in Richtung Küche.

»Susanne, ich bin wieder da! Was gibt es heute zu essen? Ich hab einen …« Er verstummte, als er die leere Küche betrat, und drehte sich einmal um die eigene Achse. »Susanne?«, wiederholte er leicht verunsichert. Er ging zur Treppe und sah nach oben. »Susanne!«, brüllte er, damit man ihn im Obergeschoss hörte.

Monas Tür ging auf. Sie trat an den Treppenabsatz und kämmte sich weiter ihre langen blonden Haare. »Papa, schrei nicht so rum. Mama ist nicht da.«

»Wie? Sie ist nicht da? Was soll das heißen?«

Mona rollte mit den Augen. »Nicht da heißt nicht da.«

»Ja, aber wo ist sie denn?«

»Woher soll ich das wissen?«

»Ist sie beim Sport?«

»Nee, heute ist Montag, und außerdem geht sie doch immer erst nach dem Abendbrot.«

»Hm, stimmt.« Jürgen polterte die Treppe nach oben und klopfte an die Tür am Ende des Flures. »Hannes?«

Keine Reaktion.

Er drehte sich zu Mona. »Ist er auch nicht da?«

»Doch, eigentlich schon.«

Jürgen klopfte stärker an die Tür. »Hannes!«

Keine Reaktion.

Er öffnete. Hannes saß mit einem großen Kopfhörer auf den Ohren im Bett und tippte auf seinem Handy. Jürgen war es unbegreiflich, dass er es schaffte, mit zwei Daumen so flink über das Display zu fliegen, aber beim Abräumen des Abendbrottisches zum Bewegungslegastheniker mutierte.

»Hey, Hannes!« Er zeigte auf seine Ohren. »Nimm ma’ die Dinger ab.«

Hannes hob die Kopfhörermuschel vom linken Ohr. »Was?«

»Nicht Fass, Tonne rollt besser.« Jürgen machte eine Pause. »Das heißt wie bitte.«

»Oh, Papa! Nerv nicht, was willst du?«

»Wo ist Mama?«

»Das wüsste ich auch gerne. Wir mussten heute mit dem Schulbus nach Hause fahren! Zusammen mit den ganzen Losern aus der Schule.«

»Na, na, so schlimm wird es ja wohl nicht sein.«

»Doch, ist es! Und es wird auch so bleiben, wenn ich nicht endlich meinen Lappen machen darf.«

Hannes war seit gut vier Monaten siebzehn und lag seinen Eltern täglich mit dem Führerschein und begleitetem Fahren in den Ohren.

»Klär das mit Mama«, versuchte sich Jürgen aus der Affäre zu ziehen. »Hast du eine Ahnung, wo sie sein könnte?«

»Nee, aber es wird Zeit, ich hab Hunger.«

»Wem sagst du das?«, stöhnte sein Vater und zog die Zimmertür zu. Nachdem er die halbe Treppe hinter sich gelassen hatte, hörte er, wie die Eingangstür ins Schloss fiel. »Das wird aber auch Zeit, Susanne! Die Kinder und ich haben …« Am Fuß der Treppe blieb er enttäuscht stehen. »Mama! Ach, du bist es!«

»Wen hast du denn erwartet?«, entgegnete Hilde. Sie schlüpfte aus ihren Straßenschuhen und zog ihre Hausschuhe an, die sie schon vor geraumer Zeit bei Jürgen und Susanne einquartiert hatte. »Es ist Abendbrotzeit!«

»Ich fürchte, das fällt heute aus.«

Hilde blieb wie vom Donner gerührt stehen und schob ihre Brille zurück auf die Nasenwurzel. »Was soll das denn bitte heißen?«

»Susanne ist nicht da und ich weiß nicht, wo sie ist.«

»Papperlapapp! Hast du in den Kühlschrank gesehen, ob sie was vorbereitet hat? Vielleicht ist sie ja endlich zur Vernunft gekommen und nimmt heute Abend an dem Treffen für die 800-Jahr-Feier teil.« Sie marschierte zum Kühlschrank. »Konnte ja auch nicht ewig so gehen, irgendwann muss sie sich ja fügen und sich in die Dorfgemeinschaft einbinden.« Sie öffnete mit einem Ruck die Kühlschranktür. »Die Leute reden schon!« Ihr Blick wanderte abschätzig über den Kühlschrankinhalt, während sie ihre Brille zurück in ihre Position schob. »Kruzitürken! Sie hat tatsächlich nichts zu essen gemacht!«

»Mutter! Fluch hier bitte nicht rum. Was soll ich denn jetzt machen? Kannst du nicht etwas kochen?«

»Da wird mir wohl nichts anderes übrig bleiben. Du und die Kinder, ihr müsst ja versorgt werden.« Hilde ging kopfschüttelnd durch die Küche und inspizierte die Lebensmittel im Küchenschrank. Sie griff nach einer Dose und hielt sie in die Höhe. »Kannst du mir bitte verraten, was man mit«, sie warf einen zweiten Blick auf das Etikett und las erneut, »Kichererbsen anstellen soll?«

Jürgen zuckte hilflos mit den Schultern. »Ich kann auch zum Imbiss fahren.«

»Ich denke, das ist das Beste. Es ist ja nichts Essbares im Schrank«, mäkelte sie und legte eine Packung Glasnudeln zurück. »Hol uns und den Kindern was. Susanne kann dann zusehen, was sie isst, wenn sie nach Hause kommt.«

 

»Meine Güte! Wo bist du denn gewesen?«, Marie Koslowski schlug die Hände vor der Brust zusammen, »ich habe schon geglaubt, dir sei etwas passiert!«

Frank stand mit hängenden Schultern im Flur.

Nachdem er seine Gartenarbeit beendet hatte und ins Haus gegangen war, um mit seiner Mutter Kaffee zu trinken, hatten sie beide festgestellt, dass ihnen die Milch ausgegangen war.

Da Frank es hasste, im örtlichen Edeka einkaufen zu gehen, hatte er seiner Mutter den Vorschlag gemacht, mit dem Zug in die nahegelegene Stadt zu fahren. So könne er noch ein wenig Gebäck und frisches Jägermett für das Abendbrot mitbringen, hatte er sein Vorhaben begründet. Außerdem führe der Zug jede Stunde und er wäre zeitig wieder zu Hause.

Seine Mutter hatte ihm Geld gegeben und er hatte sich auf den Weg nach Bremerhaven gemacht. Dort war der den kurzen Weg vom Bahnhof zum Supermarkt gelaufen. Er hatte gewusst, wenn er sich beeilte, dann würde er den nächsten Zug zurück nach Hasenbrönn bekommen und würde nicht mal eine Stunde brauchen. Er wäre gegen fünf, zu einem späten Kaffee, wieder zu Hause.

Nun war es neunzehn Uhr und seine Mutter hatte sich zu Recht Sorgen gemacht.

»Frank! Jetzt steh da nicht wie ein begossener Pudel! Wo bist du gewesen? Ist etwas passiert?«

Frank zuckte hilflos mit den Schultern. »Nein, es ist nichts passiert.«

»Aber warum hat das so lange gedauert?«

Wieder ein Schulterzucken. »Ich hab jemanden getroffen und wir haben uns unterhalten. Dann bin ich zum Bahnhof gegangen und der Zug kam nicht.«

»Ja, ist denn da kein Münzfernsprecher? Du hättest ja wenigstens anrufen können«, warf sie ihm vor.

»Ich hab mich nicht getraut, das Gleis zu verlassen. Wenn dann der Zug gekommen wäre, hätte ich ihn verpasst.« Frank hob die Schultern und ließ sie gleich wieder sinken. »Mama! Ich kann doch nichts dafür, wenn die Bahn nicht fährt. Sei bitte nicht böse auf mich.«

Marie betrachtete ihren Sohn einen Augenblick, ging schließlich zu ihm rüber, legte ihre Hände auf seine Oberarme und schaute ihn von unten an. »Ich bin dir doch nicht böse, mein Jung. Ich wusste nur nicht, ob du alter Dröömbaddel wieder die Zeit vertrödelt hast oder dir etwas zugestoßen ist.«

»Aber Mama, wenn was mit mir wäre, dann würde dich doch jemand anrufen! Deine Telefonnummer ist doch in meiner Brieftasche«, protestierte er.

»Nu’ ist ja gut! Für Kaffee ist es zu spät. Lass uns Abendbrot machen. Komm, zieh dich aus und dann ab in die Küche mit dir.«

Einen Augenblick später saßen sie am Küchentisch und schmierten sich Jägermett auf das Schwarzbrot. Frank schnitt seine Scheibe in der Mitte durch, biss hinein und betrachtete das Brotmesser. Es war eines dieser alten Messer mit der gebogenen Klinge, die oben rund und nicht spitz waren und einen Horngriff besaßen. Die dürfen nicht in einen Geschirrspüler, hatte Mama ihn einst aufgeklärt. Er war nach dieser Aussage verwirrt gewesen, da sie noch nie ein solches Gerät besessen hatten. Mama hatte nur sichergehen wollen, dass er das wusste, da sie ja eines Tages nicht mehr da sein würde.

Verträumt kaute er auf seinem Bissen Brot, als ihre Stimme ihn zurück ins Diesseits holte.

»Wo bist du denn nur wieder?« Sie lächelte ihn an.

Frank zog entschuldigend seine markanten Augenbrauen nach oben. »Entschuldige. Hast du etwas gefragt?«

»Ja, ich wollte wissen, wen du getroffen hast.«

»Getroffen? Wo?«

»Frank!«, ihr Ton war vorwurfsvoll. »Du hast mir doch vorhin erzählt, dass du jemanden beim Einkaufen getroffen hast.«

»Ach so, das!« Er schob mit dem Zeigefinger sein Brot auf dem Brett hin und her. Das karierte Muster darauf war vom vielen Abwaschen kaum noch zu erkennen.

»Nun lass dir doch nicht jedes Wort aus der Nase ziehen!«

»Ach, nur jemand von früher, mit dem ich mal zusammen gearbeitet hab.«

»Frank, sieh mich mal an!«

Er hob langsam die Augen und versuchte, dem prüfenden Blick seiner Mutter standzuhalten.

»Flunkerst du etwa?«

»Nein, Mama, wirklich nicht. Es war ein alter Kollege, mit dem ich zusammen gearbeitet habe. Ich habe bestimmt keine Frau getroffen.«

»Na gut.« Ihre dünnen Finger holten zitternd eine weitere Scheibe Brot aus der Tüte. »Du weißt, was das damals für ein Desaster war mit der Kleinen von den Tülzes. Du musst dich in Acht nehmen vor den Weibern. Halt dich von ihnen fern, die bringen nichts als Scherereien. Ich will nicht, dass du dich mit ihnen triffst oder mit ihnen sprichst.« Sie tätschelte ihm liebevoll die Hand. »Ich will nur das Beste für dich, mein Junge.«

Er lächelte sie an und dachte an Ines. Das war eine schlimme Geschichte gewesen damals. Wenn er daran dachte, wie traurig seine Mutter wegen ihm gewesen war … Jeden Abend hatte sie geweint, und gelacht hatte sie auch nicht mehr. An zwei Tagen hatte sie sogar im Bett bleiben wollen. Frank hatte große Angst um sie gehabt. Es hatte Wochen gedauert, bis sich alles wieder halbwegs normalisiert hatte und das alles, weil er Ines gerne mochte. Sein Magen krampfte sich zusammen und es fühlte sich an, als wolle er durch den Hals nach oben steigen. Schnell schob er die Erinnerungen zur Seite. Er wollte sich nicht die Laune verderben. Sie hatten genug gelitten.

Er kniff kurz die Augen zusammen, als ob er die Erinnerungen so abschalten könnte, und legte seine Hand auf die seiner Mutter. »Ich weiß doch, Mama, ich weiß doch.«

 

Eine Stunde, nach dem sie mit dem Essen fertig waren, saß Jürgen noch immer am Küchentisch und starrte auf die leeren Plastikteller, die Reste von Jägersoße, Mayonnaise und Ketchup zierten. Seine Kinder waren nach dem Essen wortlos in ihre Zimmer verschwunden. Keiner von den beiden war auf die Idee gekommen, den Tisch abzuräumen, und sogar seine Mutter war, ohne einen Finger zu rühren, in ihre Hälfte des Hauses verschwunden. Jürgen holte tief Luft, stand auf und räumte ab. Da er nicht wusste, wann Susanne nach Hause kam, würde er nolens volens selber aufräumen müssen.

Als die Teller im Müll lagen und das Besteck seinen Weg in die Spüle gefunden hatte, entschied er, sich noch ein Bier in der Kneipe zu gönnen. Das tat er sonst nie, da er wusste, dass seine Frau Kneipengänge missbilligte. Selbst, wenn sie dienstags und donnerstags im Fitnesscenter war, ging er dort nicht hin. Susannes Stimme hallte in seinem Kopf wider. »Da musst du nun wirklich nicht hin. Wenn das erst mal losgeht, dann reißt das irgendwann ein und du sitzt jeden Abend wie die anderen Assis in der Kneipe. Pass auf, mit sechzig sind die alle Alkoholiker.« Und so weiter und so fort. Was war er bloß für eine Lusche, dass er sich von seiner Frau einen Abend in der Kneipe verbieten ließ? Sie tat, als würde er sich dort stetig die Birne wegschießen und nicht wissen, wann genug war! Heute würde er sich gar nichts verbieten lassen!

Die Kleine Dorfkneipe war nur wenige Straßen von seinem Haus entfernt, und so fand er sich zehn Minuten später an der Theke wieder.

»Jürgen, mein Liebchen«, Anneliese strahlte ihn an, »was kann ich dir Gutes tun?«

»Ein Bier und ein Korn.« Er zog seine Jacke aus und setzte sich auf einen der verschlissenen Barhocker am Tresen. Die Kneipe gab es, solange er denken konnte. Vor Anneliese hatte sie ihren Eltern gehört und Jürgen war als Kind oft dort gewesen. Im Auftrag seiner Mutter hatte er den Alten abgeholt.

Die Einrichtung hatte sich seitdem nicht geändert und sogar der Geruch war noch derselbe. Es roch nach abgestandenem Bier und jahrzehntealtem, kaltem Rauch, gepaart mit modriger, uralter Vertäfelung. Die alten Lampen aus Kupferblech zierte eine Staubschicht und Glasränder verschiedener Jahrzehnte schmückten die Thekenplatte. Er wollte nicht wissen, wie alt die grün karierten Stoffbezüge der Stühle waren und was sie alles gesehen oder geschluckt hatten. Ihn schüttelte es.

Ein Bierdeckel flog vor ihm auf den Tresen und kurz darauf stellte Anneliese mit einem Knall das Bierglas hin. »Hier, Schätzchen, das Körnchen kommt gleich und geht auf mich, da du der Einzige heute Abend bist.«

»Wo sind denn die anderen?«

»Alle auf der Sitzung zur 800er-Feier.« Sie stellte zwei Gläser Korn ab. »Los, nich’ lang snacken, Kopp in Nacken.«

Als Jürgens Glas leer war, hatte sie ihres wieder gefüllt und hielt ihm auffordernd die Flasche entgegen.

»Nee, das reicht.«

»Stell dich nicht so an. Bist du ein Mann oder ein Mädchen?«

Er gab auf. »Ein Mann.« Er hielt ihr das Glas hin. Welcher echte Kerl wollte als Mädchen bezeichnet werden?

»Na also! Und was für ein Prachtbursche!« Sie kippte Korn in sein Glas. »Soll ich uns ein bisschen Musik anmachen? Dann können wir eine Runde schwofen, jetzt, wo mein Mann nicht da ist.« Sie drückte die Hände links und rechts gegen ihre dicken Brüste und hob sie so weit in die Höhe, dass oben im Ausschnitt zwei fleischige Wölbungen zu sehen waren. Jürgen erinnerte der Anblick an einen zu fetten Hintern.

Er schüttelte den Kopf. »Nee, Anneliese, lass ma’. Ich hab doch meine Susanne.«

Sie ließ ihre Brüste los, die mit einem Ruck nach unten sackten und nachschwangen. »Ach! Susanne, Susanne, Susanne. Dass die dich heute überhaupt rausgelassen hat, ist ein wahres Wunder.«

Jürgen wollte zum Protest ansetzen und seine Frau verteidigen, als hinter ihm die Tür aufging und der harte Kern der Kneipenbesucher den Raum betrat.

Als Erstes Michael Tülze, auch Edeka-Michi genannt, da ihm der Supermarkt gehörte, gefolgt von Herbert Schumann, dem Ehemann von Anneliese. Bei seinem Anblick war Jürgen heilfroh, dass er sich nicht auf einen Tanz mit der Wirtin eingelassen hatte. Zum Schluss betraten die Ganter den Raum. Das waren Gisbert Gans und seine drei Söhne Gustav, Georg und Günther. Herbert hatte die Vier vor vielen Jahren als die Gänse betitelt, woraufhin Gisbert ihm ein blaues Auge geschlagen und gebrüllt hatte: »Willst du uns vielleicht noch als dumm bezeichnen?«. Seit dem Zeitpunkt verwendeten alle die männliche Form und aus den Gänsen waren die Ganter geworden.

Anneliese zapfte sechs Bier und die Männer nahmen ebenfalls an der Theke Platz. Sie stellte jedem ein leeres Schnapsglas hin, goss in jedes, auch in Jürgens und ihr eigenes, einen Korn und prostete den Männern zu.

Nachdem alle ihr Glas geleert und mit einem Knall auf den Tresen gestellt hatten, drehte sich Edeka-Michi in Jürgens Richtung. »Na, hat deine Olle dir heute Ausgang gewährt?«

Die anderen lachten.

Jürgen ließ den Kopf sinken. »Nicht direkt, sie ist nicht da.«

»Na, dann sieh ma’ zu, dass du vor ihr zu Hause bist«, antwortete Michael und schlug Jürgen auf die Schulter.

Sein Blick wanderte zu seinem Bier und er drehte den Tropfenfänger hin und her. »Ich weiß gar nicht, wo sie ist. Eigentlich wollte ich euch fragen, ob ihr sie gesehen habt.«

Alle schüttelten den Kopf, nur Anneliese wurde hellhörig. »Was soll das heißen? Du weißt nicht, wo sie ist?«

»Sie war nicht da, als ich von der Arbeit gekommen bin, und die Kinder hat sie auch nicht von der Schule abgeholt. Keinem hat sie etwas gesagt.«

Die Wirtin schlug mit der flachen Hand auf den Tropfkasten unter dem Zapfhahn, dass es nur so schepperte. »Ich wusste, dass man dem Typen nicht trauen kann.«

Die Runde sah sie fragend an, nur in Jürgens Blick lag mehr Schreck als Neugierde.

»Na, der Koslowski! Ich hab gesehen, wie er sich heute an Susanne rangeschmissen hat. Die stand mit ihrem Auto vor seinem Haus und hat sich mit ihm unterhalten.«

»Was will die denn von dem?«, schaltete sich Gustav dazwischen und sah abwechselnd zu Anneliese und zu Jürgen.

Sie hob die Hände vor die Brust und drehte den Kopf zur Seite. »Das kann ich dir nicht sagen.«

»Na ja, ich auch nicht«, entschuldigte sich Jürgen. »Was hast du denn genau gesehen?«

»Sie saß im Auto am Straßenrand und er stand an der Fahrerseite und hat sich mit ihr unterhalten und dann«, sie tippte sich nachdenklich mit dem Zeigefinger gegen die Unterlippe, »dann hat er ihre Hand genommen.«

»Er hat was?« Jürgens Stimme überschlug sich. »Wieso grabbelt der meine Frau an?«

Schulterzucken von Anneliese.

»Hast du sonst noch was gesehen?«, wollte Michael Tülze wissen.

»Na ja, ich bin zu deiner Frau in den Laden. Wenn ich genau überlege, dann meine ich, dass er auf die andere Seite des Wagens gegangen ist.«

»Ist er eingestiegen?«, fragte Gisbert und kniff die Augen zusammen.

»Das weiß ich nicht mehr so genau, ich bin ja in den Laden. Ich brauchte noch Kekse für die Landfrauen, die …«

»Ja, ja, Anneliese, das will jetzt keiner wissen«, fuhr Herbert Schumann dazwischen, »manchmal redet sie zu viel, ihr kennt sie ja.« Er zuckte entschuldigend mit den Achseln. »Schenk mal lieber noch einen ein.«

»Also, ich denke, den Koslowski-Burschen muss man im Auge behalten. Vor allem nach dem, was er mit deiner Tochter angestellt hat, Michael.«

»Erinner’ mich nicht daran«, sagte Edeka-Michi und hielt ihr sein Schnapsglas entgegen.

»Was war denn mit Ines?« Jürgen runzelte die Augenbrauen.

»Ach, das ist schon einige Jahr her, der Perverse hat damals versucht, meine Tochter zu vergewaltigen.«

»Was?«, in Jürgens Blick lag Ungläubigkeit. »Das kann ich mir von dem gar nicht vorstellen. Das ist doch so ein Unscheinbarer.«

»Hast du nicht Psycho gesehen?«, meldete sich Günther zu Wort. »Norman Bates war auch so ein unscheinbarer Normalo und hinten rum war er ein eiskalter Killer.«

Seine Brüder nickten zustimmend.

»Was ist denn passiert?« Jürgen sah Michael an.

»Na ja, das war bei uns. Das muss man sich mal vorstellen, im eigenen Haus! Meine Frau ist zufällig und gerade noch rechtzeitig ins Zimmer gekommen, als sich das Schwein auf Ines gewuchtet hatte, um sich an ihr zu vergehen.« Michael Tülze schüttelte sich bei dem Gedanken. »Die beiden kannten sich von der Schule und Ines hatte ja schon immer eine schwache Ader für Bedürftige oder Minderbemittelte, und so hat sie sich öfter mit dem getroffen. Bis zu dem Tag, ab da war Schluss.« Seine flache Hand glitt durch die Luft, wie die von einem Dirigenten, der sein Orchester zum Schweigen brachte.

»Was ist dann passiert? Habt ihr ihn angezeigt?«

»Wir waren bei der Polizei, aber Ines hat alles abgestritten und ihn auch noch in Schutz genommen. Wir haben vermutet, dass das der Schock war und sie einfach nicht wahrhaben wollte, was ihr da fast passiert wäre. Da sie sich weigerte, ihn zu belasten, ist das Ganze im Sande verlaufen.«

»Boah, üble Geschichte!« Jürgen kippte den Korn runter und spülte mit einem Schluck Bier nach. Seine Augen weiteten sich, als er die beiden Geschehnisse kombinierte. »Meint ihr, Susanne ist was passiert?«

Schulterzucken bei allen anderen.

»Auszuschließen ist das nicht, das sag ich euch«, wandte Anneliese ein.

»Nu’ lass uns mal nicht die Pferde scheu machen«, entgegnete Herbert. »Warte bis morgen, vielleicht ist sie dann ja wieder da.«

Michael klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter. »Du weißt doch, wie die Weiber manchmal sind. Wer weiß, was ihr in den Kopp gekommen ist. Sie ist morgen wieder da.«

»Na dein Wort in Gottes Ohr«, antwortete Jürgen.

3.

---ENDE DER LESEPROBE---