Dorian van Delft - Wolfram Christ - E-Book

Dorian van Delft E-Book

Wolfram Christ

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Beschreibung

Dorian van Delft, ein erfolgreicher holländischer Kaufmann, begegnet im Jahr 1870 in Reykjavik dem Archäologen Dr. Frans Ingmarson. Der Wissenschaftler präsentiert ihm eine spektakuläre Theorie: Auf Island habe zu Zeiten der Wikinger eine Unsterbliche gehaust, eine Wahrsagerin. Es handle sich mit einiger Sicherheit um Kassandra, die legendäre Königstochter aus Troja! Ihren Spuren bis in die Gegenwart zu folgen, fehle ihm allerdings das Budget. Van Delft ist sofort Feuer und Flamme. Für seine Geschäfte könnte eine zuverlässige Seherin von immensem Nutzen sein. Gemeinsam begeben sich die beiden ungleichen Partner auf eine abenteuerliche Reise kreuz und quer durch Europa.

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Dorian van Delft

Kassandras langer Schatten&Trojas dunkles Geheimnis

Phantastische historische AbenteuerZwei Romane in einem Band

comediantes

Verlag für Lyrik und Belletristik des 21. Jahrhunderts

1. Auflage der komplett überarbeiteten Neufassung

Herstellungsleitung: Uta Christ

Illustrationen: Ralf-Alex Fichtner

Bearbeitung: comediantes Lektorat

Cover: Zschiesche GmbH Repro Druck

e-book / EPUB

ISBN 978-3-946691-20-4

© 2020 www.comediantes.de

Dies Buch widme ich allen,die sich ihr kindliches Vergnügenam echten Abenteuer bewahren konnten.

In Dankbarkeit für die phantastischen Welten, dieuns Paul Delvaux und Jules Verne in ihrenGemälden und Romanen hinterließen.

Band 1 – Kassandras langer Schatten – Inhaltsverzeichnis

Die Überlebende von Pompeji

Das Geheimnis der Kalifen

Es riecht nach Krieg

Überfall in den Pyrenäen

Elisabeth

Der Quell von Al Andalus

Die Spur führt nach Lissabon

Ein heiliger Berg

Sankt Peter Port

In der Hand von Freibeutern

Landung auf dem Mont Saint-Michel

Mademoiselle Raguenel

Nachwort

Reiseroute 1870

Band 2 – Trojas dunkles Geheimnis – Inhaltsverzeichnis

Zum Geleit

Eine unerhörte Nachricht

Aufbruch nach Troja

Die Gefangene des Sultans

Zwischen Leben und Tod

Unter Mönchen

Eine heiße Spur

Sophia Schliemann

Das Orakel von Delphi

Thassopoúla

Nachwort

Reiseroute 1871

Kassandras langer Schatten

Die Überlebende von Pompeji

Tagebuch des Dorian van DelftDonnerstag, 12. Mai anno Domini 1870,an Bord des Dampfschiffes „St. Egidius“

Doktor Ingmarson! Zum Kuckuck. Das Schiff schlingert. Fast wäre ich gestürzt. So kann kein Mensch schreiben. Geschweige denn etwas suchen. Irgendwo klirrt es. Splitterndes Glas. Der Seegang wird stärker. Ich bin der Verzweiflung nahe. Ingmarson verdammt, ich kann mein Eau de Toilette nirgends finden. Wozu bezahle ich Sie eigentlich? Doch nicht aus purer Liebe zur Wissenschaft!

Zugegeben, seine Forschungen, die Theorien zu mythischen Kräften und deren Auswirkungen auf Mensch und Natur bereiten mir Freude. Sonst hätte ich ihm keinesfalls versprochen, seine zweifelhafte Unternehmung zu finanzieren. Natürlich unter der Voraussetzung, dass wir das Abenteuer gemeinsam bestehen. Trotzdem. Nie im Leben hätte ich mich ausgerechnet auf diesen Trottel eingelassen, wenn ich mir davon nicht persönlichen und sehr praktischen Nutzen verspräche.

Es mag beruhigen, mir auf diesem Blatt Papier den Frust von der Seele zu schreiben. In der Sache bringt es mich nicht weiter. Ingmarson muss mir helfen. Wo steckt der Kerl? Es kann einfach nicht sein, dass der gute Herr Ingmarson sich rarmacht und irgendwelche Messungen an Bord durchführt, während ich hier unten in der Kabine vergeblich mein Eau de Toilette suche! Und das bei den Wellen! Will er mich umbringen? Was sollen die Leute nachher beim Dinner sagen, wenn sie auf meine aparte Duftnote verzichten müssen?

Fußnote van Delft, Rotterdam im Januar 1871

Ich unterbreche nur ungern. Es lässt sich nicht vermeiden. Bei Durchsicht meiner Notizen aus dem vergangenen Jahr sehe ich mich gezwungen, die eine oder andere Bemerkung einzufügen. Nicht, um das seinerzeit Niedergeschriebene zu korrigieren und also zu verfälschen, wohl aber, um mit bedachtvoller Strenge Dinge zu erläutern, die, im Übereifer des Moments zu Papier gebracht, späteren Lesern ein falsches Bild meiner damaligen Absichten vermitteln möchten. Somit um Nachsicht heischend, fühle ich mich zunächst verpflichtet, ein paar Worte in eigener Sache zu verlieren.

Mein Name ist Dorian van Delft. Ich bin in Rotterdam ansässig, Kaufmann und Weltreisender aus Passion. Mein traditionsreiches und, wie ich nicht unbescheiden hinzufügen darf, recht erfolgreiches Familienunternehmen erfreut sich eines guten Rufes diesseits und jenseits des Atlantiks.

Anfang letzten Jahres war ich mit einer Schiffsladung hochwertiger Stähle und Bleche aus Pittsburgh auf dem Weg nach Reykjavik, wo ich diese Fracht löschte und anschließend meinen Gewinn zu mehren gedachte, indem ich Naturprodukte der isländischen Fischereiwirtschaft für den europäischen Festlandsmarkt erwarb. Tran vor allem, Dörrfisch, Robbenfelle und so weiter. Dass ich Dr. Frans Ingmarson begegnete, ergab sich rein zufällig. Allerdings lief mir dieser schrullige Wissenschaftler genau im rechten Moment über den Weg.

Sie kennen so etwas sicherlich. Nennen Sie es Schicksal, nennen Sie es Fügung. Gottes Wege sind unergründlich. Es sind die unerwarteten Ereignisse, die unseren Lebenskahn von Zeit zu Zeit in eine neue Strömung treiben. Ob dies dann zu unseren Gunsten oder Ungunsten ausfällt, vermögen wir in aller Regel erst im Nachhinein zu entscheiden. Rückgängig machen können wir die einmal getroffene Wahl nicht.

Glauben Sie mir, ich bereue nichts. Mein Leben erhielt damals einen neuen Sinn. Auch wenn mir das nicht von Anfang an klar war. Schon gar nicht an dem oben beschriebenen Abend, unserem dritten gemeinsamen Tag auf hoher See. Mehr noch. Ich bin mir sicher, dass ich mit Hilfe des kleinen Doktors mein Ziel erreichen werde.

Es ist ein hehres Ziel, fernab von gemeinem Gewinnstreben. Und ich bin bereit, einiges dafür zu riskieren. Wen würde es nicht reizen, einmal einer Unsterblichen leibhaftig gegenüber zu treten, ihren Worten zu lauschen, von ihr die Wahrheit über den Weltenlauf zu erfahren?

Denken Sie jetzt bitte nicht an Geschichtsbücher. Menschenwerk! Geschönt und geformt vom Blickwinkel des Autors, tausendmal glattgeschliffen und dem jeweiligen Zeitgeschmack angepasst. Nein, wovon ich rede, das ist die große, die reine, ungeschminkte Wahrheit über den Gang der Dinge, die wir unbedeutenden Erdenwürmer mit unserem Spatzenhirn normalerweise nie erfassen können.

Ich habe an der Schwelle des universellen Wissens stehen dürfen. Ich habe an seiner Tür gerüttelt. Weswegen ich mich verpflichtet fühle, Sie, meine geneigte Leserschaft, und durch Sie die gesamte Menschheit am Stand unserer Forschungen teilhaben zu lassen. Ich schwöre Ihnen: Ich werde nicht ruhen, bis ich diese Pforte öffnen kann.

Ich sehne mich nach dem Augenblick, endlich jener Frau gegenüberzustehen, die Pompejis Bürger vor dem Untergang hätte bewahren können. Es gibt keinen Zweifel. Sie hatte vor dem Ausbruch des Vesuv gewarnt, hatte zur Flucht aufgerufen. Sie erntete Spott und Häme, Unverständnis, Ignoranz.

Ich, Dorian van Delft, verspreche hiermit feierlich: Ich werde diese Frau, wie immer ihr richtiger Name sein mag, finden. Ich werde sie zurück in die Öffentlichkeit führen und zum Nutzen der Menschheit rehabilitieren! Amen.

Ihren Anfang nahm meine Suche wie erwähnt auf Island. In Reykjavik. Wenn ich nunmehr erneut darüber nachdenke, halte ich es zum besseren Verständnis der Ereignisse für sinnvoll, dieser Abschrift einige frühere Tagebucheintragungen ergänzend voranzusetzen. Beginnen wir also von vorn. Ende April vorigen Jahres, kurz nach meiner Landung auf der Insel.

Tagebuch des Dorian van DelftSonntag, 24. April anno Domini 1870,Reykjavik, Pension an der Lokastigur

Endlich am Ziel. Dem Herrn sei Lob und Preis für die glückliche Überfahrt und den guten Erlös, den ich gestern mit meinem Stahl erzielen konnte. Ich komme gerade vom Gottesdienst in einer kleinen Schifferkirche am Hafen. Zwar verstand ich kein Wort von der Predigt, aber einfach nur da zu sitzen und dem Kerzlein zuzusehen, das ich dem Andenken Johanns gestiftet habe, beruhigte meine Nerven. Hoffentlich kommen mir nicht seine Angehörigen mit Schadensersatzforderungen. Sollen froh sein, dass er so heldenhaft in Erfüllung seiner Pflicht von uns gegangen ist und sie Dank der zugegebenermaßen nicht ganz freiwilligen Seebestattung keine Beerdigungskosten haben. Wer ist denn hier in Wahrheit der Leidtragende? Ich! Wegen der Umstände der vergangenen Tage musste ich mein persönliches Logbuch zuletzt sträflichst vernachlässigen. Ich sehe mich gezwungen, das Versäumte nun mühsam nachzuholen. Ärgerlich.

Die Details: Während unserer Reise von den Bermudas herüber nach Island kündigte mir mein alter Kammerdiener Johann die Gefolgschaft. Unerwartet und auf höchst unerfreuliche Art und Weise. Er verschwand einfach. Im wahrsten Sinne des Wortes. Und zwar exakt an jenem Tag, an dem draußen dieser mörderische Tornado tobte, der unseren Kahn fast zum Kentern gebracht hätte. Über dem Geschaukel vergaß der dumme Kerl, mir meinen abendlichen Cherry vom Smutje in die Kajüte servieren zu lassen. Wegen des Sturmes konnte ich natürlich beim besten Willen nicht selbst die Kombüse aufsuchen. Da unser Schiff ein Frachter und kein Vergnügungsdampfer und unsere Unterkunft deshalb nahe der Ladung zu finden ist, führt der Weg in die Küche unweigerlich über das offene Achterdeck. Die hochspritzende Gischt hätte meine Frisur ruiniert. Fürsorglich riet ich Johann noch zur Vorsicht, bevor ich ihn losschickte, das Versäumte nachzuholen.

Als mein Sherry eine halbe Stunde später immer noch nicht vor mir stand, schlug ich natürlich sofort Alarm. Ich ließ die Maschinen stoppen. Heldenhaft trotzte ich dem Seegang und leitete persönlich das Rettungsmanöver. Meine Frisur verdarb, meine Kleider wurden durchnässt. Alles nur wegen diesem Tollpatsch! Die braven Seeleute versuchten, ein Beiboot zu Wasser zu lassen. Vergebens. Es zerschellte an der Bordwand. Nichts zu machen. Johann blieb verschwunden. Friede seiner Seele.

Anmerkung: Frühling in Island ist kein Zuckerschlecken. Der eisige Wind pfeift jämmerlich durch die Gassen. Ich habe auf dem Weg zur Kirche gefroren wie ein junger Hund.

Tagebuch des Dorian van DelftDonnerstag, 28. April anno Domini 1870,Reykjavik, Pension an der Lokastigur

Mein Versuch, in Reykjavik geeigneten Ersatz für Johann zu finden, ist kläglich gescheitert. Diese Fischertrampel mögen nette Menschen und passable Gastgeber sein. Jedenfalls, sofern du als Fremder nicht allzu anspruchsvoll daherkommst. Aber in diesem Dorf, das sich Hauptstadt glaubt nennen zu dürfen, in diesem zusammengewürfelten Haufen bunter Wellblechhütten einen Butler zu finden, der diesen Namen verdient, erweist sich als hoffnungsloses Unterfangen. Gewiss wäre es möglich gewesen, stattdessen ein Mädchen einzustellen, das sich leicht anlernen ließe. Allein, ich muss an die abergläubischen Seeleute denken, auf deren Wohl und Wehe ich angewiesen bin. Außerdem bezweifle ich, dass so ein schmuckes junges Ding auf Dauer gut für mein Seelenheil wäre. Es würde mich von meinen Geschäften ablenken. Warum wohl bin ich bis heute nicht verheiratet? Na bitte! Ich bin ratlos.

Tagebuch des Dorian van DelftSonnabend, 30. April anno Domini 1870,Reykjavik, Pension an der Lokastigur

Halleluja! Dr. Frans Ingmarsons Angebot, sich mir als Diener und Helfer für die Überfahrt nach Holland zur Verfügung zu stellen, wenn ich ihm im Gegenzug wissenschaftliche Forschungen in Spanien ermögliche, kommt im rechten Augenblick. Habe den Mann in einer Schifferkneipe unten an der Austurstraeti kennengelernt. Bei einem Walfischsteak. Übrigens sehr lecker. Irgendwie fest wie Rind und aromatisch wie Tunfisch. Das Essen hierzulande ist genießbar. Jedenfalls, wenn man Fisch mag.

Heulend saß der gute Doktor am Tisch gegenüber. Er habe das Geheimnis gelüftet, wimmerte er ein ums andere Mal in die Ohren seiner Zechkumpane. Er habe die Höhle der Trollhexe im Skessuhorn entdeckt. Aber die Hexe hause da nicht mehr und er verfüge nicht über die Mittel, den vorgefundenen Spuren weiter zu folgen. Die Kerle lachten ihn aus und empfahlen, lieber mit ihnen zum Walfang hinaus zu fahren.

Ich spürte, dass mehr an der Geschichte sein musste. Ich habe für solche Dinge im Allgemeinen ein gutes Näschen. Also winkte ich den Mann zu mir herüber und bat um nähere Auskunft. Wie ich erfuhr, handelt es sich bei diesem Berg nordöstlich der isländischen Hauptstadt um einen legendären Ort. Skessuhorn bedeutet „Hexenjoch“. Die Höhle tief im Innern des Hexenjochs galt seit uralter Zeit als verschollen. Erik, der Rote, habe sie einst entdeckt, erklärte mir der Doktor. Die Leute erzählten sich, der Wikinger habe die Trollhexe persönlich kennen und schätzen gelernt. Sie hätte ihm geweissagt, wann er sich ungefährdet auf Reisen begeben könne und wann nicht, denn sie habe alles gewusst. Alles über das Innere der Erde, über ihren magischen Kern, hereinbrechende Naturkatastrophen und so weiter.

Was für eine ungeheure Behauptung! Ich war natürlich sofort hellwach. Welche Bedeutung solche Informationen für einen geschickten Handels- und Fahrensmann haben können, muss ich wohl nicht extra erläutern. Wenn es gelänge, die Hexe wiederzufinden, fuhr Ingmarson fort, oder wenigstens die Quellen ihres Wissens, könne dies der Menschheit enorm von Nutzen sein. Wie wahr! Und deshalb, fügte Ingmarson geheimnisvoll flüsternd hinzu, würde es denjenigen, der dieses Wissen erlange, unendlich reich machen.

Der Kerl ist ein Witzbold. Als ob ich das nicht selbst wüsste. Doch weiter. Er, Dr. Frans Ingmarson, habe in besagter Höhle Tonplatten gefunden, welche eindeutige Hinweise enthielten. Diese Hinweise zielten nach Süden. Vielleicht nach Spanien. Es fehlten ihm leider einige Puzzleteile, die er jedoch auf Island kaum zu finden glaube. Sehr interessant!

Ich spendierte meinem neuen Freund im Laufe des Abends einige Becher des hierzulande als Bier bezeichneten Gebräus. Je mehr er trank, desto kräftiger sprudelte es aus ihm heraus. Ich nutzte eine seiner wenigen Atempausen, ihm mein Dilemma anzudeuten. Wie soll ich einen Wissenschaftler fördern, solang ich nicht einmal einen Helfer in meinem Dienst weiß, der sich um mein persönliches Wohl kümmert? Der Doktor fackelte nicht lange und bot mir den zu Beginn erwähnten Handel an. Halleluja!

Tagebuch des Dorian van DelftMontag, den 9. Mai anno Domini 1870,an Bord des Dampfschiffes „St. Egidius“

Heute in aller Herrgottsfrühe stachen wir in See. Gute Geschäfte liegen hinter mir. Bessere erwarten mich hoffentlich in Rotterdam. Herr, bewahre unser Schiff und unser Leben. Amen.

Auf der Suche nach der verschollenen Hexe und ihren Geheimnissen stellen sich täglich köstliche Nebeneffekte ein. Ich kann nun meinerseits Studien am lebenden Objekt eines leidenschaftlichen Wissenschaftlers vornehmen. Faszinierend, wie so ein kleiner vertrockneter Bücherwurm auflebt, wenn er leuchtenden Auges über seine Fortschritte berichten darf. Und wie widerwillig murrend er seine Arbeit versieht, wenn es um das Bügeln meiner Hemden oder das Putzen meiner Schuhe geht. So viel Spaß hatte ich bisher mit keinem Diener.

Fußnote van Delft, Rotterdam im Januar 1871

Womit sich der Kreis zum Beginn, zum 12. Mai schließt. Was meinem vorn beschriebenen verbalen Wutausbruch des vermissten Eau de Toilettes wegen folgte, habe ich nicht mehr notiert. Die Zeit bis zum Dinner wurde jedenfalls knapp und später vergaß ich Ingmarsons Fauxpas aus naheliegenden Gründen. Ich hatte einfach Wichtigeres im Kopf. Ergänzend will ich deshalb an dieser Stelle versuchen, die Ereignisse zu rekonstruieren:

Nachdem ich mein Tagebuch verstaut hatte, verließ ich wütend die Kajüte. Es dauerte eine Weile bis ich meinen Begleiter fand. Er stand an der Reling und schien Fische zu beobachten.

„Ingmarson, Sie alter Wurzeltroll! Was soll das? Was treiben Sie sich an Deck herum, wenn ich Sie unten brauche?“

„Mir ist schlecht!“ antwortete der Angesprochene. „Entschuldigen Sie vielmals, Mynheer, es wird bestimmt gleich w…ooah.“ Sein blaßgrüner Teint und die zugehörigen Würgattacken bewiesen, dass es sich um keine faule Ausrede handelte. Ich musste lachen.

„Doktorchen, Doktorchen! Das ist nicht Ihr Ernst? Ein Nachkomme der ruhmreichen normannischen Seefahrernation und füttert mir beim ersten kleinen Wellengang die Heringe. Beugen Sie sich nicht so weit über, Mann! Ich habe keine Lust, mir beim nächsten Landgang gleich wieder einen neuen Butler …“

„Wissenschaftlichen Mitarbeiter, bitte.“

„Von mir aus ‚wissenschaftlichen Mitarbeiter‘ … Was wollte ich sagen? Vergessen. Sie besitzen ein bemerkenswertes Talent, Menschen aus dem Konzept zu bringen. Wie dem auch sei, nehmen Sie sich gefälligst zusammen, Mann! Wir haben noch ein paar tausend Seemeilen vor uns. Genügend Zeit, Ihre Neigungen auszuleben. Jetzt kommen Sie erstmal mit runter und helfen mir, mein Eau de Toilette zu suchen. Sonst können wir uns nachher nicht bei Tisch sehen lassen und es soll heute Abend eine besonders leckere Kreation …“

„Mynheer! Würden Sie bitte aufhören, vom Essen zu reden. Ich … woooooah …“

„Meine Güte, sind Sie empfindlich! Meinetwegen. Bleiben Sie von mir aus hier. In dem Zustand nutzen Sie mir wenig.“ Ärgerlich verließ ich das Deck und kehrte in unsere Kajüte zurück. Das Eau de Toilette stand übrigens mitten auf dem Tisch. Ich sah es beim Eintreten. Eingeklemmt zwischen Bücherstapeln, die Ingmarson mit einem Lederriemen sorgsam festgeschnallt hatte. Eine Vorsichtsmaßnahme gegen den schweren Seegang. Sehr umsichtig.

Erstaunlicherweise schaffte es der Doktor dann doch irgendwie zum Dinner. Zwar stocherte er nur zaghaft mit der Gabel im üppigen Menü herum. Es schien ihm aber deutlich besser zu gehen. Als schließlich die Tischgesellschaft auf sein Lieblingsthema zu sprechen kam, war Ingmarsons Übelkeit wie weggeblasen und Farbe kehrte in die blassen Wangen zurück. Vor allem der zweite Offizier, ein schlaksiger junger Brite namens Atkins, bekam angesichts unserer unglaublichen Geschichte große leuchtende Augen.

„Kann das wirklich sein? Nach so vielen Jahren?“ hakte er nach.

„Wenn ich es Ihnen versichere, Mr. Atkins. Es gibt kaum zu widerlegende Beweise. Es handelt sich bei der Trollhexe im Skessuhorn mit einiger Sicherheit tatsächlich um die letzte, will sagen, die einzige Überlebende von Pompeji. Ich habe mir beglaubigte Kopien römischer Zeitzeugenberichte aus der Vatikanbibliothek kommen lassen. Diese Dokumente bestätigen unsere Vermutungen eindrucksvoll. Tatsächlich soll es eine Wahrsagerin gegeben haben, die einige Wochen vor dem Vulkanausbruch vergeblich zur Evakuierung der Stadt aufrief. Die damals getroffenen Aussagen decken sich weitgehend mit den Hinterlassenschaften der Trollhexe im Skessuhorn.“

„Dann hätte sie zu Zeiten der Wikinger aber schon über 1000 Jahre alt sein müssen. So alt wird kein Mensch.“

„Mr. Atkins, Sie sind jung und ein Heißsporn. Das ist nicht weiter schlimm. Versuchen Sie einfach, ruhig zu überlegen. Ich frage Sie: Sie glauben an Gott?“

„Gewiss, Sir, tun das nicht alle?“

„Die meisten jedenfalls. Nun, sehen Sie: Ist Gott ein menschliches Wesen?“

„Natürlich nicht.“

„Ist Gott so alt wie die Welt?“

„Er ist zweifellos älter.“

„Eben. Rein wissenschaftlich betrachtet: Wenn es ein übermenschliches Wesen gibt, und wir reden ja letztlich in unserm christlichen Glauben außerdem von Engeln und Teufeln, müssen also gar nicht nach den alten Griechen, Römern oder Indern schauen, was sollte uns daran hindern zu vermuten, dass die Überlebende von Pompeji nicht ein ebensolches übermenschliches Wesen ist? Vielleicht ist sie ein Engel, der genau darum in der Stadt weilte. Um die Menschen zu warnen.

Denken Sie an Kassandra, die Königstochter von Troja. Ihr war es bestimmt, die Zukunft exakt vorherzusehen. Allein, keiner glaubte ihr. Das war ihr Fluch. Was, wenn es sich um die gleiche Frau handelt? In Troja, in Pompeji und wer weiß wo sonst überall? Was, wenn diese Frau womöglich gar eine Verkörperung der antiken Erdmutter Gaja darstellt?

Winken Sie nicht ab. Woher wollen Sie wissen, dass die heidnischen Völker des Altertums nicht letztlich die gleichen himmlischen Wesen wie wir heute anbeteten, nur dass sie ihnen törichterweise andere Namen gaben? Aus Unwissenheit. Bedenken Sie, Jesus von Nazareth und seine Jünger waren zu Zeiten des Trojanischen Krieges noch nicht geboren und die Israeliten ein unbedeutender kleiner Stamm in der Wüste.

Nehmen wir also an, diese seltsame Frau ist wahrhaftig von Gott dazu ausersehen, den Wesen seiner Schöpfung behilflich zu sein, Naturkatastrophen und andere Gefahren rechtzeitig zu erkennen und ihnen auszuweichen. Nur dass ein teuflischer Zauber sie dazu verdammt, dass niemand jemals ihren Warnungen Glauben schenkt. Wo immer sie erscheint, verschließen die Leute ihre Ohren und Türen. Das ist Kassandras Dilemma, ihre Tragödie.“

„Und warum sollte sie dann ausgerechnet nach Island gehen und sich in einer Höhle verstecken?“

„Aus Enttäuschung. Aus Enttäuschung darüber, dass ihr Tun und Handeln nie einen Widerhall fand. Stellen Sie sich vor, Sie haben eine Aufgabe und können Sie Ihr Leben lang nicht erfüllen. Stellen Sie sich vor, Mr. Atkins, Sie wären Admiral, sollen eine Flotte über den Ocean führen, aber jedes dieser stolzen Schiffe sinkt unweigerlich nach wenigen Tagen. Würden Sie nicht verzweifeln?“

„Ich würde mir das Leben nehmen, Sir. Auch auf die Gefahr ewiger Verdammnis hin. Das könnte ich nicht ertragen. Die vielen toten Seeleute und Passagiere.“

„Sehen Sie, und so geht es unserer vermeintlichen Trollhexe. Sie muss jedes große Sterben vorhersehen, ohne etwas dagegen tun zu können. Sie leidet darunter, ist aber als göttliches Wesen zu Unsterblichkeit verdammt. Folglich ist auch ihr Leiden ewig. Was bleibt ihr übrig?“

„Das klingt logisch“, mischte sich der Kapitän ein. „Der einzige Fleck, wo sie keinem anderen Menschen begegnet, dem sie den Untergang prophezeien könnte, ist eine eisige Höhle auf einer gottverlassenen, menschleeren Vulkaninsel am Ende der Welt. Entschuldigen Sie, Mr. Ingmarson, wenn ich das so sage, aber zu Zeiten Pompejis, lange bevor die Wikinger kamen, war Island mit Sicherheit der entlegenste Flecken, den sie sich vorstellen konnte.“

„Sie müssen sich nicht entschuldigen, Kapitän. Ich nehme Ihnen Ihre Äußerung nicht übel, denn sie entspricht der Wahrheit. Exakt so muss es sich zugetragen haben.“

„Aber warum konnte Erik sie verstehen? Warum nahm er ihre Worte ernst?“ Der zweite Offizier blieb skeptisch.

„Das, lieber Atkins, kann Ihnen niemand beantworten. Vielleicht besaß er eine besondere Gabe. Vielleicht konnte die Frau ihn überzeugen. Vielleicht war die Zeit einfach reif für neue Erkenntnisse. So etwas gibt es in der Wissenschaft nicht selten. Jahrzehnte, Jahrhunderte lang ist der Blick der forschenden Gesellschaft wie vernagelt. Plötzlich, aus dem Nichts, taucht ein Genius auf. Mit einem Mal liegt die Lösung vermeintlich großer Rätsel glasklar vor diesem Manne ausgebreitet und der Rest der Menschheit wundert sich, warum vorher niemand darauf gekommen ist. Obwohl sie im Nachhinein furchtbar simpel wirkt. Denken Sie an Heißluftballone. Oder an die Dampfmaschine. So lange sich unsere Erde dreht, sah bestimmt jeder irgendwann einmal heiße Luft aus dem Kochtopf aufsteigen, Dampf den Deckel beiseite drücken. Und wie lange dauerte es, bis es gescheiten Leuten einfiel, diese Phänomene nutzbar zu machen?“

„Aber wie kamen Sie bei Ihren Recherchen ausgerechnet auf Pompeji? Wie darf ich mir die Hinterlassenschaften der Trollhexe vorstellen?“ wollte ein Händler wissen, der mit uns reiste.

„Tontafeln“, erwiderte mein „wissenschaftlicher Mitarbeiter“. „Ich fand in der Höhle eng mit Runen beschriebene Tontafeln, deren Form und Größe an das alte Babylon erinnern, die jedoch detailliert den Ausbruch des Vesuvs beschreiben.“

„Ha!“ triumphierte Atkins. „Jetzt habe ich Sie! Runen. Wie passen Wikingerrunen zu einer römischen Botschaft, die auf babylonische Art und Weise niedergeschrieben wurde? Das muss eine Fälschung sein. Ganz unzweifelhaft!“

Im Nu war ich hellwach. Hatte ich bis jetzt den mir nur allzu bekannten Ausführungen mit mäßiger Aufmerksamkeit gelauscht und kurz vor dem Hinüberdämmern in ein wohltuendes Nickerchen gestanden, ließen mich die Worte des Offiziers geradezu hochschrecken. War ich womöglich einem raffinierten Schwindel aufgesessen? Der Doktor, ein abgefeimter Betrüger? Misstrauisch sah ich mich in der Runde um.

Der andere Händler nickte zustimmend. Entdeckte ich in seinen Zügen gar ein hämisches Grinsen? Selbst der sonst so kühle Kapitän mit seinem Pokerface zog die Augenbrauen hoch und sah sich zu einem lobenden Kommentar genötigt.

„Nun, die Beweisführung von Mr. Atkins scheint mir absolut schlüssig und überzeugend. Was haben Sie darauf zu erwidern, Doktor Ingmarson?“ Ich gestehe, dass mir das Herz in die Hose rutschte. Wie würde er reagieren? Noch hatte ich die Chance, unser Unternehmen in Rotterdam abzubrechen. Noch waren mir kaum mehr Kosten entstanden als mit jedem anderen Kammerdiener.

Erstaunlicherweise reagierte Ingmarson überhaupt nicht. War er so eiskalt? Beherrschte er seine Gefühle einfach perfekt oder konnte ich aufatmen, weil er sich den Vorwurf zu entkräften in der Lage sah? Der Mann ließ mich und alle anderen lange zappeln. Seelenruhig entzündete er sein Pfeifchen und lehnte sich genüsslich schmauchend zurück. Die Spannung im Raum war mit Händen zu fassen, die Stille erschien mir unerträglich. Unendlich lange Sekunden vergingen, eher er zu einer Antwort ansetzte.

„Sehen Sie, meine Herren, so leicht kann es sein. Moderne Schrift, historische Technik und eine Botschaft, die irgendwo dazwischen liegt. Fertig ist der Betrug. So darf ich Sie doch verstehen, Mr. Atkins?“

„Nun“, der junge Mann zögerte unsicher, „ich wollte Ihnen mit meiner Feststellung keinen Betrug unterstellen. Höchstens einen Irrtum. Bitte verstehen Sie mich nicht falsch. Aber wäre es nicht möglich, dass Ihnen ein übler Streich gespielt wurde? Vielleicht von einem neidischen Konkurrenten?“

„Lieber junger Freund, ich befürchte, Sie lesen die falschen Bücher und Zeitschriften. Versuchen Sie bitte, Ihre persönlichen Erfahrungen auf eine Unsterbliche zu übertragen. Ich frage Sie: Welche Mitteilungstechnik verwenden Sie selbst? Wie schreiben Sie? Ist es nicht jene Schreibtechnik, die man Ihnen in frühester Jugend gelehrt hat? Mit Feder und Tinte auf Papier?“

„Nun …“

„Ja oder nein?“

„Ja.“

„Gut, Sie haben seither viele neue Worte gelernt, nicht wahr? Wenn ich richtig orientiert bin, durften Sie sogar fremde Sprachen studieren. Niederländisch, deutsch. Sprachen, die Sie hier an Bord bisweilen benutzen. Und warum?“

„Um mich Passagieren oder Seeleuten aus diesen Ländern verständlich zu machen.“

„Eben. Angenommen, Sie schrieben also mit Ihrer gewohnten alten Schreibfeder in der erlernten Schreibtechnik einen Brief in deutscher Sprache, sagen wir, an einen Freund in Hannover, um ihm ein Erlebnis während Ihrer letzten Seereise zu schildern. Was wäre dies anderes als eine römische Geschichte, die den Wikingern in ihrer Sprache erzählt wird? Allerdings auf die Art und Weise, die unsere geheimnisvolle Schöne vor Zeiten in Babylon vermittelt bekam?“

Die Gesichtszüge des Kapitäns nahmen wieder ihren gewohnten Gleichmut an. Der junge Engländer bekam ob der Belehrung einen hochroten Kopf und der Händler hüstelte peinlich berührt. Mein pfiffiger kleiner Begleiter hatte sich wacker geschlagen. Lachend hieb ich ihm auf die Schulter.

„Nichts für ungut, mein Freund. Aber woraus schlussfolgern Sie eigentlich, dass das Weibsstück eine Schönheit sein könnte?“

„Mynheer van Delft“, antwortete er ohne zu zögern, „das ergibt sich meines Erachtens aus einer simplen Tatsache. Schönheit liegt immer im Auge des Betrachters. Und eine Frau, die über derart übersinnliche Fähigkeiten verfügt, ist für jeden echten Wissenschaftler geradezu unvorstellbar schön. Völlig unabhängig von ihren körperlichen, mit den Augen erfassbaren Vorzügen.“

„Sie sind ein Teufelskerl, lieber Doktor. Solche Schlagfertigkeit hätte ich Ihnen gar nicht zugetraut. Sie erstaunen mich jeden Tag aufs Neue, guter Freund.“ Lachtränen kullerten mir über die Wangen. Der Angesprochene zuckte nur mit den Schultern und sog an seiner Pfeife. Der Kerl ist einfach unbezahlbar.

Das Geheimnis der Kalifen

Tagebuch des Dorian van DelftMittwoch, 18. Mai anno Domini 1870,an Bord des Dampfschiffes „St. Egidius“

In wenigen Stunden erreichen wir Noordwijk. Allen Stürmen und Widrigkeiten zum Trotz. Gelobt sei Jesus Christus. Endlich zu Hause. Na, fast jedenfalls. Und das, obwohl wir nicht nonstop reisten sondern zwischendurch in Norwegen weitere Ladung aufnahmen. Erstaunlich, wie schnell die neuen Dampfschiffe sind. Ich schätze, es wird nicht mehr lange dauern und solche Frachter kommen ganz ohne Segel aus.

Jedenfalls werde ich die niederländische Erde küssen, sobald ich meinen Fuß an Land setze. Halleluja. Es lebe der König! Kaum zu glauben, wie sehr man sich nach dem heimischen Boden, nach den leckeren Pfannkuchen, Käsespezialitäten und nicht zuletzt unseren rotbackigen Mädchen verzehren kann, wenn man monatelang einsam über die Weltmeere schippert. Unbegreiflicherweise halte ich es, einmal daheim, nicht lange aus. Dann muss ich wieder los. Die Ferne ruft. Der Mensch ist ein seltsames Wesen.

Genau genommen ist Noordwijk nicht das Ziel unserer braven „St. Egidius“. Die Waren an Bord sind samt und sonders für meine Heimatstadt Rotterdam bestimmt. Beziehungsweise für den Umschlag im dortigen Hafen. Ich habe den Kapitän allerdings gebeten, Doktorchen und mich bereits hier an Land gehen zu lassen. Das hängt mit unseren weiteren Reiseplänen zusammen. Wir wollen den Landweg nehmen, um unterwegs in Leiden einen Geschäftsfreund aufzusuchen. Tarik al Sabah. Der Bursche ist Muslim und stammt ursprünglich aus Damaskus, wenn ich nicht irre. Ein Gewürzhändler mit ausgezeichneten Kontakten nach Spanien, Indien und in den arabischen Raum. Ich wickle nahezu meinen gesamten Kaffee- und Olivenhandel über Tariks Niederlassung ab. Wenn uns einer etwas über magische Plätze auf der iberischen Halbinsel sagen kann, dann er.

Unsere Ladung betreffend mache ich mir keine Sorgen. Ich werde von Noordwijk aus sofort eine Depesche an meinen Kontoristen Jasper senden. Er wird alles Notwendige im Rotterdamer Hafen veranlassen.

Tagebuch des Dorian van DelftDonnerstag, 19. Mai anno Domini 1870,Leiden, nachts im Hause von Tarik al Sabah

Was für ein Abend! Was für eine Begrüßung im Hause meines Freundes Tarik! Wir haben die schönsten Zimmer mit allen nur erdenklichen Annehmlichkeiten. Und erst das Abendessen! Der Tisch bog sich fast unter den Köstlichkeiten heimischer und orientalischer Küche. Mein guter Ingmarson, gewöhnt an Dörrfisch und Knäckebrot, Walspeck und dürre Suppen, wirkte angesichts der ihm unbekannten Herrlichkeiten hoffnungslos überfordert. In den weichen, tiefen Kissen schien er kleiner als sonst, schüchtern verloren in der ungewohnten Pracht.

Wobei seine Schüchternheit natürlich auch an den Tänzerinnen gelegen haben mag, die uns unser Mahl versüßten. Zu seiner Genugtuung konnte ich ihn heute erstmals von seiner Kammerdiener-Rolle entbinden. Tarik stellt uns beiden genügend dienstbare Geister zur Seite. Ich hoffe, dem Doktor steigt dieser Abend nicht zu Kopfe. Nicht, dass er nächstens von mir ähnlich verwöhnt werden will.

Nein, das war ein wirklich erstaunlicher Abend. Tarik ist brillant. Käme es nicht bei unseren prüden, verklemmten Holländern schlecht an, bei Gott, ich würde genau so leben wollen wie dieser Muselmann. Gut, der Wein würde mir fehlen. Wobei ich mir nicht sicher bin, ob sich in seinem Becher wirklich nur kalter Tee befand. Aber mit welcher Raffinesse er das hiesige Verbot der Vielweiberei umgeht! Offiziell gilt er als Junggeselle. Als steinreicher Junggeselle, wohlgemerkt. Er macht keinen Hehl daraus, verwandt mit einflussreichen Würdenträgern seiner Heimat zu sein. Diese wiederum stehen im Dienst der Hohen Pforte in Konstantinopel. Mit solchen Leuten wird sich ein Händlervolk wie das unsere natürlich nicht ohne Not anlegen. Zumal al Sabah zu den besten Steuerzahlern von Leiden zählt.

Folglich tolerieren es die maßgeblichen Herren der Stadt und mit ihnen die gesamte Leidener Öffentlichkeit, dass Tarik sich einen ganzen Harem von offiziell als Tänzerin, Dienerin, Zofe und so weiter angestellten „Damen“ aus der Heimat in seinen Patrizierpalast am Wall kommen ließ. Eine hübscher als die andere, keine älter als höchstens Mitte zwanzig. Der Mann hat Geschmack. Und seine Geschäfte laufen bestens.

Nach dem Essen eröffneten wir ihm unser Anliegen. Tarik hörte aufmerksam zu und … es klopft.

Fußnote van Delft, Rotterdam im Januar 1871

Unvermittelt bricht mein Eintrag vom 19. Mai ab. Ich gestehe, dass es mir peinlich ist, meine Chronistenpflicht einer Frau wegen unterbrochen zu haben. Wenn ich mich recht erinnere, nannte sie sich Suleika oder so ähnlich. Selbstverständlich durfte ich ihr unzweideutiges Angebot nicht ablehnen. Tarik ist ein Mann mit Prinzipien. Er pflegt, seine Freunde großzügig zu beschenken. Seine Kultur gebietet ihm andererseits, es als tödliche Beleidigung anzusehen, wenn man seine Gaben geringschätzt. Ich hatte keine Wahl. Ein Duell mit dem heißblütigen Araber hätte ich mit Sicherheit nicht überlebt. Den weiteren Verlauf des Gespräches muss ich nun leider wieder aus dem Gedächtnis rekapitulieren, denn tatsächlich erhielten wir von dem Gewürzhändler wertvolle Hinweise. Gut.

Tarik, wie gesagt, folgte aufmerksam den Ausführungen von Doktor Ingmarson. Als mein Begleiter geendet hatte, fragte er nachdenklich:

„Wie kann ich Ihnen, lieber Doktor, bei Ihrer Suche nach der Unsterblichen behilflich sein?“

„Tarik, mein Freund“, mischte ich mich ein, „es geht uns um deine brillanten Kenntnisse über Spanien. Und damit meine ich nicht nur das gegenwärtige Königreich, sondern vor allem dein Wissen um die verflossenen Reiche der Emire und so weiter, die vor der Reconquista die iberische Halbinsel beherrschten.“

„Ja“, ergänzte Ingmarson, „es gibt auf den Runentafeln, die ich in der Höhle fand, neben dem Bericht über den Untergang Pompejis Hinweise auf heilige oder magische Orte im Süden. Ich habe Grund zur Annahme, dass die Trollhexe, also unsere Pompejianerin, möglicherweise dorthin ausgewandert ist, nachdem Erik der Rote irgendwann nicht zurückkehrte. Ich nehme an, dass die übrigen Nordmänner ihr so wenig Glauben schenkten, wie alle Menschen zuvor.“

„Sie könnte aber auch überall anders hin ausgewandert sein?“

„Im Prinzip ja, aber es gibt zwei Aspekte, die mir in dem Zusammenhang nicht unwichtig scheinen. Erstens, zwischen den üblichen Runen tauchen Zeichen auf, die ich nicht deuten kann. Ich tippe auf arabische Schriftzeichen. Zweitens, wie Ihnen, mein Herr, sicher nicht unbekannt ist, erscheinen normannische Krieger im betreffenden Zeitraum erstmals in Spanien. Soviel ich weiß, drangen sie von Süden her, dem Flusslauf des Rio Guadalquivir folgend, mindestens bis Sevilla vor. Vielleicht sogar bis Cordoba. Zu der Zeit stand das Kalifat von Cordoba in höchster Blüte. Kunst und Philosophie galten mehr als Reichtum. Wäre es nicht möglich, dass der verlorene Schatz, den die Wikinger in Andalusien suchten, statt aus Gold und Silber aus einer geradezu unbezahlbaren Wahrsagerin bestand? Ich nehme an, die Leute hatten sehr schnell ihren Fehler erkannt und wollten die Trollhexe zurückholen. Die Tontafeln konnten ihnen als Kompass dienen.“

„Spekulationen, lieber Doktor, Spekulationen. In Wahrheit verließen die Wikinger damals, sofern wir ihrer nicht habhaft wurden, unsere iberischen Besitzungen mit reicher Beute. Und zwar mit echten, greifbaren Schätzen. Juwelen, Diademe, Ringe, goldenes Geschirr.“ Ich horchte auf.

„Du sprichst von ‚unseren‘ Besitzungen. Bist du am Ende selbst ein Zeitreisender, mein lieber Tarik?“ Der Araber lachte.

„Keine Angst, Dorian, ich bin ein Mensch wie du oder unser verehrter Herr Doktor. Es ist allerdings so, dass ich einer sehr alten und traditionsbewussten Familie entstamme. Um es kurz zu machen: Einige meiner Vorfahren dienten dem Kalifen. Den Nasriden, den späteren Königen von Granada, waren sie sogar verwandtschaftlich verbunden. Sie ließen ihr Blut bei der Verteidigung der Stadt und gehörten zu den letzten Kriegern, die unsere Heimat, jenes gelobte Land Al Andalus, verließen. In unseren Bibliotheken finden sich umfangreiche Folianten, die über siebenhundert Jahre arabischen Glanzes im Süden der iberischen Halbinsel dokumentieren. Das ist ein längerer Zeitraum, als die katholischen Könige seither dort herrschen.

1492 christlicher Zeitrechnung mussten wir Granada verloren geben. Heute schreiben wir 1870. Die Differenz kannst du leicht selbst überschlagen. Mein Vater legte stets großen Wert darauf, dass ich diese frühen Höhepunkte unserer Familiengeschichte gründlich studiere. Insofern bin ich recht gut über die damaligen Ereignisse in Spanien orientiert.“

„Hochinteressant.“

„Doktor Ingmarson, wollen Sie mir die besagten Tontafeln vielleicht einmal zeigen? Sollten es tatsächlich arabische Schriftzeichen sein, könnte ich Ihnen bei der Übersetzung behilflich sein.“ Ingmarson sank tiefer in seine Kissen.

„Wollen schon. Können hingegen … Soll heißen, die Tontafeln, sie vertragen anscheinend kein Tageslicht. Möglicherweise hat sie die Hexe mit einem Fluch belegt. Sobald ich versuchte, einige der Tafeln aus der Höhle zu bringen, zerfielen sie zu Staub. Ich habe jedoch Abschriften der erhaltenen Tafeln in der Höhle angefertigt.“ Er griff nach seiner Aktenmappe und zog den Ordner mit seinen Kopien heraus. „Bitte sehr. Das sind sie. Ich habe viele Stunden im Skessuhorn zugebracht und mit klammen Fingern beim Schein der Öllampe Tafel für Tafel abgezeichnet. In der zweiten Zeile finden Sie jeweils die lateinische Übersetzung.“

„Warum Latein?“

„Welcher Mensch, der nicht von unserer Insel stammt, spricht schon isländisch? Und mir war nach wenigen Sätzen bewusst, dass weitere Forschungen allein in Reykjavik sinnlos wären. Sind Sie des Lateinischen mächtig oder soll ich …“ „Nein, nein, schon gut.

Auch wenn jetzt alle Welt französisch redet, hielten es meine Lehrer für erforderlich, mich ein wenig in der alten Weltsprache zu schulen. Ich beherrsche sie leidlich. … Hm. … Sie sind sicher, dass Ihre Übersetzungen korrekt dem Wortlaut entsprechen?“

„Da ich der Runensprache einigermaßen Herr bin, versichere ich Ihnen, dass Inhalt und Reihenfolge stimmen. Ob ich jedoch im Abzeichnen der mir unbekannten Schriftsymbole Fehler gemacht habe und ob der Zusammenhang, in dem sie stehen, letztlich den gesamten Text erhellen, vermag ich natürlich nicht zu beschwören.“

„Sind es arabische Zeichen?“ warf ich ein. Tarik nickte.

„Ingmarson hat sehr sauber kopiert, Dorian. Da er versichert, nicht arabisch zu sprechen und dies zudem eher altertümliche, heute kaum gebräuchliche Schriftbilder sind, würde ich ihre Echtheit kaum anzweifeln.“

Ich hielt die Luft an. Ingmarson rutschte aufgeregt hin und her. Tarik ließ sich von unserer Ungeduld nicht anstecken. Nachdenklich durchblätterte er die Seiten, hielt an den betreffenden Stellen inne, griff nach Papier und Bleistift, machte sich Notizen. Nach einer Weile legte er den Stift beiseite. Er lehnte sich zurück und starrte in die Luft. Schließlich hielt es der Doktor nicht mehr aus.

„Und?“ fragte er. „Können Sie uns Auskunft geben?“ Tarik nickte langsam.

„Es ist nicht eindeutig. Tatsächlich weisen die Betrachtungen der Frau, sofern sie sich auf die Quellen ihres Wissens beziehen, in Richtung eines geheimen Zugangs zum Erdinneren. Es muss einen Punkt geben, an dem sich göttliche und irdische Energien begegnen. Dort, sagt sie, liege ihre Heimat, in die sie einst zurückkehren werde. Sie spricht von einem heiligen Berg oder Hügel, in dem die Zeit stillstehe. Diese Anhöhe sei zwar belebt, in ihren Gewölben jedoch, bewacht von weisen Männern, liege ein Geheimnis, welches der Welt verborgen bleiben müsse, um die Urkräfte nicht zu erzürnen. Es könnte auch ‚entfesseln‘ heißen. Für das betreffende Wort gibt es verschiedene Deutungsmöglichkeiten. Das Wissen um diesen Ort sei nur auserwählten Männern gegeben. Und die vermitteln es von Generation zu Generation ausschließlich in ihren Reihen weiter. Es muss sich also um eine Art Priesterschaft handeln.“

„Wo liegt dieser Punkt, dieser Berg? In den Runen wird nur allgemein eine ‚Heimat im Süden‘ erwähnt.“

„Sehen Sie, von Island aus betrachtet kann das so ziemlich jeder Punkt der Erde sein.“

„Aber die arabischen Zeichen?“ Ingmarson blieb hartnäckig.

„Ja, Sie könnten recht haben. Es gibt allerdings auch in der arabischen und vorderasiatischen Welt mythische Berge. Denken Sie an den Sinai in Ägypten oder den Ararat in Armenien.“

„Ach herrje!“ In Gedanken begann ich zu rechnen, was mich Ingmarson mit seinem Abenteuer an Zeit und Geld kosten konnte, wenn wir all diese Orte aufsuchen müssten. Tarik durchschaute meine etwas fassungslose Miene. Er grinste.

„Wirf nicht gleich die Flinte ins Korn, Mynheer Dorian. Es gibt Aspekte, die eure Suche eingrenzen. Weder auf dem Sinai noch auf dem Ararat lebten sonderlich lange Priester oder sonstige weise Männer. Am ehesten wäre der Apoll-Tempel in Delphi mit den Darstellungen der Seherin in Einklang zu bringen. Aber dort war damals, als die Texte entstanden, die legendäre Erdspalte längst verschlossen. Diese Spalte, aus welcher das Orakel in griechischer Zeit seine Botschaften erhielt. Ihr habt sicher davon gehört. Den Römern waren Leute, die mehr wussten als sie selbst, grundsätzlich suspekt. Da kannten sie keine Gnade. Und sie arbeiteten so gründlich, dass der ganze Ort seither als verschollen gilt.“

„Immerhin“, ergänzte der Doktor eifrig, „könnte das Orakel von Delphi ein weiterer Hinweis auf unsere Unsterbliche sein. Stellen Sie sich vor, meine Herren, die Pythia des Apoll, Kassandra, die Warnerin von Pompeji, die Trollhexe von Erik dem Roten: Alles ein und dieselbe Frau! Wahrscheinlich stoßen wir am Ende auf weitaus mehr Zeugnisse ihres Wirkens.“

„Möglich ist alles!“ knurrte ich. Langsam wurden mir die vielen Spekulationen lästig. Ich bin ein Mensch, der ab und an klare Aussagen braucht und nicht immer nur ‚wenns‘ und ‚abers‘. „Macht es nun Sinn, weiter zu suchen oder war’s das?“ Tarik lächelte milde und legte mir nachsichtig die Hand auf die Schulter.

„Mein Freund, was seid ihr Holländer immer so ungeduldig? Wenn ihr nicht sofort eine Antwort erhaltet, verliert ihr die Lust aufs Abenteuer. Ruhe und Gelassenheit sind die Väter des Erfolgs. Bei Allah, glaub mir, niemand hätte weniger Interesse an der Lösung dieses Rätsels als ich. Denn natürlich weiß ich so gut wie du um den Wert dieser Frau, wenn es sie denn wirklich gibt.

Meine Herren, passen Sie auf. Ich bin bereit, Ihnen ein streng gehütetes Geheimnis meiner Familie zu lüften. Ich kenne einen zweiten Ort, auf den die Beschreibung der Wahrsagerin passen könnte!“ Er machte eine Kunstpause, schloss die Augen. Es sah aus, als müsse er sich sammeln oder gar in schweigendem Gebet eine Anfrage an Allah richten, ob er uns Ungläubige einweihen dürfe. Ich blickte zu Ingmarson. Der Doktor nickte mir zu und Tarik begann seine Erklärung. Er sprach geradezu behutsam, als müsse er jedes Wort einzeln auf die Goldwaage legen:

„Ich sagte Ihnen vorhin, meine Vorfahren hätten zu den Letzten gehört, die Al Andalus verließen. Das ist nur die halbe Wahrheit. Was ich Ihnen nun eröffne, ist möglicherweise eines der bestgehüteten Geheimnisse der Menschheit. Ich erwarte von Ihnen keinen Schwur auf Allah, jedoch Ihr ausdrückliches Ehrenwort als Gentlemen, über das, was ich Ihnen berichte, absolutes Stillschweigen zu bewahren.“ Er erhob sich von seinem Sitz. Wir folgten seinem Beispiel. „Darf ich auf Ihre Loyalität vertrauen?“ Bei diesen Worten öffnete er seine Handflächen und hielt sie in die Mitte des Dreiecks, das wir nun stehend bildeten. Ich griff zu und der Doktor folgte meinem Beispiel.

„Tarik al Sabah, mein Freund und Geschäftspartner, ich versichere dich meiner vollsten Loyalität und Verschwiegenheit.“

„Auch ich, verehrter Herr al Sabah, gebe Ihnen mein Ehrenwort als Wissenschaftler, Ihre Informationen vertraulich zu behandeln und, sollten meine Forschungen zum Erfolg führen, den von Ihnen gewiesenen Weg in keiner Veröffentlichung zu erwähnen.“ Mir lag auf der Zunge, Ingmarson zurechtzuweisen. Das Beste für alle wäre es, wenn außer uns dreien gar kein anderer etwas über die Trollhexe erführe, weil wir nur dann, wie seinerzeit Erik, einen echten Wettbewerbsvorteil davontrügen. Allein, Tarik gab sich mit unseren Erklärungen zufrieden und dem Doktor seine Veröffentlichungen auszureden, konnte ich später nachholen. Wir setzten uns wieder.

Zurück in die Gegenwart. Es scheint mir eine Erklärung nötig. Da mich mein Versprechen jenes Abends bindet und Dr. Frans Ingmarson aus verschiedenen Gründen bis heute keine Veröffentlichung zuwege brachte, gebe ich von Tariks nachfolgenden Worten ausschließlich Passagen wieder, die zum Verständnis unserer Geschichte absolut unvermeidlich sind. Dennoch bitte ich Sie auch für diese Zeilen um Diskretion. In falschen Händen könnten solch vertrauliche Informationen erheblichen Schaden anrichten.

„Meine Freunde!“ setzte Tarik an. „Ich habe nicht gelogen, als ich sagte, Angehörige meiner Familie gehörten zu den Letzten, die das Königreich Granada verließen. Es verließen jedoch nicht alle Al Andalus. Mehrere konvertierten zum Christentum, um bleiben zu dürfen. Das belegt die offizielle Geschichtsschreibung.

Was keiner weiß: Tief unten, im Hügel Sabika, einem Ausläufer der Sierra Nevada mitten in Granada, auf dem sich unsere stolze Festung Alhambra erhebt, gibt es eine Höhle. In dieser Höhle sprudelt eine unterirdische Quelle, der seit alters her magische Kräfte zugeschrieben werden. Entdeckt haben sie vermutlich schon die Iberer, die Ureinwohner der Gegend, die oben auf dem Hügel eine Ortschaft gründeten. Ob die Römer nach ihrer Eroberung des Landes von der Quelle erfuhren, ist zweifelhaft. Als gesichert hingegen können Sie annehmen, dass sich schon während der Römerzeit eine Bruderschaft aus den Reihen der Einheimischen rekrutierte, die die Geheimnisse der Höhle bewahren sollte.

Die Bruderschaft eliminierte systematisch alle Mitwisser, egal ob Weib, Kind oder Greis. Es sollen blutige Orgien zu Ehren ihrer heidnischen Götter gefeiert worden sein.“

„Wie schrecklich!“ konnte sich der Doktor eines Kommentars nicht enthalten.

„Wie auch immer. Nach den Römern kamen die germanischen Barbaren und nach diesen wir. Als meine Vorfahren im frühen achten Jahrhundert die Alhambra auf jenem Hügel errichteten und nach und nach mit Palästen, Gärten und Wasserkünsten verschönten, stießen sie zwangsläufig auf Höhle und Bruderschaft. Nun wäre es ein Leichtes gewesen, mit diesen ungläubigen Hunden und ihrem Spektakel kurzen Prozess zu machen. Allein, unsere Krieger zollten in jener Zeit, anders als heute, auch Wundern und Geistern ihren Respekt, die älter waren als der Koran. Das Wissen um eine heilige Quelle konnte von Nutzen sein. Zumal sie geeignet schien, das Bewässerungssystem des Hügels, zu speisen.

Fortan wurde die Existenz der Höhle zwar weiter vor der Öffentlichkeit geheim gehalten, allein die Führung der Bruderschaft übernahmen brave Muslime, die ihren Königen treu ergeben waren. An die Stelle blutiger Rituale traten Blumenopfer. Und so ist es gar kein Wunder, dass in jener trockenen Gegend blühende Gärten aus dem Stein wuchsen und die Herrschaft der Nasriden dem Land Glück und Wohlstand brachte.

Die katholischen Könige interessierten sich nur wenig für Granada und seine Alhambra. Jedenfalls unter militärischen Gesichtspunkten. Da jedoch der prächtige Palastkomplex im Innern der Festung ein durchaus schöner und romantischer Flecken war, wohin man sich gelegentlich zur Erholung zurückziehen konnte, überließen sie Erhaltung und Pflege der Anlagen jenen, die etwas davon verstanden.“

„Angehörigen der Bruderschaft?“ kombinierte ich.

„Genau. Ohne natürlich zu wissen, dass diese Konvertiten einer Bruderschaft angehörten. Von der tieferen Bedeutung der Quelle hätten sie schon gar nichts erfahren dürfen. Alle, die damit zu tun hatten, wären vermutlich als Ketzer verbrannt worden.

Uns eröffnete die neue Konstellation die Gelegenheit, mitten im Herzen von Spanien einen Brückenkopf zu belassen. Mit dem Segen von oberster Stelle. Und was ein Brückenkopf im strategischen Sinne bedeutet, muss ich Ihnen, meine Herren, nicht erklären.“

Ich war verblüfft. Die Mitteilung meines Freundes bedeutete nicht mehr und nicht weniger, als dass sich seine Familie seit nunmehr fast vierhundert Jahren auf eine Rückeroberung Spaniens vorbereitete. Unglaublich. Nun, als protestantischem Niederländer, dessen Ahnen einst selbst den Spaniern ihre Freiheit abgetrotzt hatten, waren mir die tieferen Absichten der Araber egal. Abgesehen von deren Erfolgsaussichten. Von Bedeutung schien allein die Tatsache, dass Tarik für uns wahrhaftig der Schlüssel zum Erfolg sein konnte. Ich gratulierte mir innerlich zu der Entscheidung, im letzten Jahr mit meinen Geschäften nicht zu einem Konkurrenten gewechselt zu sein. Es hatte da ein interessantes Angebot gegeben.

Es riecht nach Krieg

Tagebuch des Dorian van DelftDonnerstag, 2. Juni anno Domini 1870,Rotterdam, in meinem Schlafgemach

Mein Gott, zwei Wochen, vergangen wie im Fluge. Seit dem Abend in Leiden komme ich nicht mehr zur Ruhe. Ich werde zwischen meinen kaufmännischen Verpflichtungen, den wissenschaftlichen Belangen des Doktors und unseren Reisevorbereitungen regelrecht zerrissen. Wenigstens konnte ich Ingmarson nun endgültig aus seinem Dienst entlassen und gegen einen echten Lakaien tauschen. Für mein geliebtes Tagebuch fehlte mir abends die Kraft. Deshalb vorab ein kurzes Resümee:

Von Leiden holte uns gegen Mittag des 21. Mai die Kutsche ab. Jasper hatte einen Jagdwagen geschickt. Ein erneuter Beweis, dass mein Kontorist ein kluger Kopf ist. Ich liebe diese schnellen Gefährte. Der größte Teil unseres Gepäckes war auf der „St. Egidius“ geblieben. Der Himmel zeigte sich zur Begrüßung in der Heimat freundlich, fast wolkenlos. Beste Voraussetzungen für eine fröhliche Tour im leichten, offenen Wagen. Schneller kommt man nur voran, wenn man selbst reitet.

Nach der langweiligen Schiffspassage genoss ich das flotte Tempo und den warmen Frühlingswind um die Ohren. Die Dampfeisenbahn soll zwar ähnliche Geschwindigkeiten erreichen aber von Leiden führt keine direkte Verbindung nach Rotterdam. Überhaupt messen meine Landsleute dem Thema Bahn bislang wenig Bedeutung bei. Die meisten Güter werden nach wie vor auf Kanälen transportiert. Ob das mit Blick auf künftige Entwicklungen klug ist, sei dahingestellt. Außerdem sagen die Leute, störe bei so einem Dampfross der ewige Qualm und Ruß. Vielleicht sollte ich es irgendwann selbst ausprobieren. Aber für den Moment? Nein, besser ging‘s nicht. Erst die guten Neuigkeiten von Tarik, dann die rasante Fahrt durch blühende Wiesen und Felder. Das Getrappel der Hufe und das Klappern der unzähligen Windmühlen, an denen wir vorüber kamen.

Unterwegs schmiedeten Doktor Ingmarson und ich bereits eifrig Pläne, wie uns unser weiterer Weg nach Granada führen sollte. Denn nach Tariks Erzählungen, auf die ich hier nicht weiter eingehen will, sind wir uns nahezu vollständig sicher, dass genau dort die Trollhexe zu finden sein muss. Wobei ich den Namen „Trollhexe“ nicht mehr verwenden darf. Ingmarson bat mich darum. Soviel wir bisher über die Wahrsagerin in Erfahrung bringen konnten, neigt er dazu, sie ein für allemal „Kassandra“ zu nennen. Er ist in das Weib regelrecht vernarrt. Dabei kennt er sie gar nicht persönlich. Ich lasse ihm seinen Willen. Er hat ja recht. Ehre, wem Ehre gebührt.

In Rotterdam angekommen, erwartete mich eine böse Überraschung. Neue Einfuhrbeschränkungen und Zölle für maritime Erzeugnisse, die nicht von holländischen Fischern stammen. Egal, ob sie hierzulande überhaupt zu erlangen sind oder nicht. Gieriges Bürokratenpack! Sogar mit meinen Robbenpelzen erziele ich nur mäßige Gewinne. Einerseits überschwemmen wieder einmal die Russen den Markt mit billigen Rauchwaren, andererseits verdirbt die Rivalität zwischen Preußen und Franzosen jegliches Börsengeschäft. Es riecht nach Krieg. Die spanische Krone ist vakant. Beide Großmächte wittern ihre Chance. Sie lassen die Muskeln spielen.

In ihrer Angst agieren unsere Händler vorsichtig. Wenigstens bei Luxusgütern. Sowohl der Norddeutsche Bund als auch das französische Kaiserreich sind wichtige Absatzmärkte. Ihr schwelender Konflikt schneidet uns vom Rest des europäischen Festlandes ab. Ich hätte meinen Pittsburgher Stahl lieber direkt nach Hause bringen sollen. Eisen erzielt in unruhigen Zeiten immer höchste Preise.

Am enervierendsten benimmt sich allerdings mein lieber Dr. Frans Ingmarson. Seitdem er wieder Herr seiner selbst ist, überschwemmt er mich fast täglich mit Sonderwünschen: Schaufeln, Lupen, Pinzetten, Kerzen, Fackeln, Papier, Bleistifte und weiß der Kuckuck was alles. Ich habe ihm jetzt ein festes Budget gesetzt. Mit dem muss er auskommen. Außerdem habe ich ihm einen meiner Lagerarbeiter zugewiesen, der ihm den ganzen Krempel schleppen hilft. Bis zur Abreise.

Unsere Reisegesellschaft selbst soll möglichst klein bleiben. Arbeitskräfte und sonstige Helfer werden wir sicher vor Ort finden. Tarik hat uns einen Begleitbrief an seine Verwandten mitgegeben. Wenn ich ihn richtig verstanden habe, wird er obendrein einen Boten voraussenden. Also reicht es, wenn uns mein neuer Kammerdiener begleitet.

Der Knabe heißt Fridolin und genauso sieht er aus. Pausbäckig, rotblond mit Stubsnase und Sommersprossen. Keine Schönheit. Ich muss ihn mal fragen, ob seine Mutter aus Irland stammt. Väterlicherseits ist er wohl Deutscher. Sein Familienname lautet Bergmann. Allerdings spricht er akzentfrei niederländisch, weswegen ich es bei seinem Vorstellungsgespräch versäumte, ausdrücklich zu fragen. Muss ich demnächst nachholen.

Fridolin ist etwa fünfzehn Jahre jünger als ich, Mitte zwanzig. Er versteht sein Handwerk blendend. Ein Mann, passend für unsere Zwecke. Jedenfalls auf den ersten Eindruck. Für eine anstrengende, langwierige Reise brauche ich keinen distinguierten Butler englischen Zuschnitts, der sich die Hände nicht schmutzig macht und bestenfalls das Personal zu kujonieren versteht. Wir brauchen einen Menschen mit Herz und Verstand, einer Portion Abenteuerlust und kräftigen Muskeln. Auf diese Arbeitsplatzbeschreibung passte Fridolin von allen Bewerbern am besten.

Ich hoffe, dass wir bald zum Aufbruch bereit sind. Warum die Eile? Ganz klar, jetzt, wo schon so viele von unserem Vorhaben wissen, könnte es auf jede Stunde ankommen. Nur wenn wir die ersten sind, die Kassandra finden, werden wir Nutzen aus dem Geschäft ziehen. Außerdem bin ich neugierig, wie die Geschichte ausgeht.

Gott sei Dank muss ich mich nicht um Johanns Verwandte kümmern. Die wissen noch gar nichts von ihrem „Glück“. Sie wohnen draußen in der Provinz und bekommen nicht viel mit von dem, was bei uns in der Stadt passiert. Jasper wird ihnen am Sonntag einen Kondolenzbesuch abstatten und bei der Gelegenheit Johanns zurückgelassene Habseligkeiten und von mir einen Scheck überreichen.

Tagebuch des Dorian van DelftSonntag, 5. Juni anno Domini 1870,Rotterdam, in meinem Schlafgemach

Immer noch daheim. Es ist wie verhext. Im wahrsten Sinne des Wortes. Ständig türmen sich neue Hindernisse auf, die der Reise entgegenstehen. Ob die Trollhexe, pardon, Kassandra, nicht will, dass wir sie finden? Mal hängt es an Visums- oder Zollformalitäten, dann wieder meldet sich unverhofft ein wichtiger Geschäftspartner, dessen Anliegen keinen Aufschub duldet. So wie es aussieht, sitzen wir mindestens weitere vierzehn Tage in Rotterdam fest. Es ist zum Haare raufen. Hoffentlich kommen wir nicht zu spät.

Tagebuch des Dorian van DelftMontag, 20. Juni anno Domini 1870,Flandern, in einer Postkutsche,

Vor ein paar Minuten haben wir die belgische Grenze passiert. Endlich! Es ging ohne größere Verzögerungen ab. Die Mühen der vergangenen Wochen waren nicht umsonst. Mein Kontorist hat einfach an alles gedacht. Die Papiere sind tadellos. Am interessantesten fanden die Zöllner unsere vielen Arbeitsutensilien. Weil sich Frans Ingmarson jedoch als Archäologe ausweisen konnte und unser Reiseziel nicht in Belgien liegt, verzichteten die Beamten auf langes Prozedere.

Wir haben uns für den Landweg entschieden. Zum einen wegen der Anfälligkeit meines Wikingers bei Wellengang, zum anderen gibt es eine Eisenbahnlinie von Brüssel nach Paris und von da weiter nach Südfrankreich. Praktisch gesprochen:

Wir erreichen Brüssel voraussichtlich gegen Abend. Von dort nehmen wir ein Schlafwagenabteil im Nachtzug und sind schon am nächsten Morgen in Paris. Jasper hat die Billetts telegrafisch bestellt. Unglaublich, was mit moderner Technik alles möglich ist. In Paris kümmern wir uns um eine schnelle Anschlussverbindung und wenn alles gut geht, sind wir in zwei Tagen in den Pyrenäen. Das schafft kein Schiff und keine Kutsche! Ich freue mich auf meine erste Zugfahrt. Bin gespannt, ob ich in so einem stählernen Ungetüm schlafen kann.

Wie heute Morgen in der Zeitung stand, hat Leopold von Hohenzollern-Sigmaringen gestern erklärt, er sei bereit, die spanische Krone anzunehmen. Es ist ja nun schon die zweite Offerte der Madrider Übergangsregierung nach Ende des Bürgerkrieges. Ich nehme an, Bismarck hat ihm in den Allerwertesten getreten, damit er nicht wieder kneift. Napoleon wird schäumen! Hoffentlich beeinträchtigt der Thronstreit nicht unsere Pläne.

Tagebuch des Dorian van DelftMittwoch, 22. Juni anno Domini 1870,im Zug von Paris nach Toulouse

Grandios! Wir fliegen förmlich über Felder und durch Wälder dahin. So schnell schafft das kein Jagdwagen der Welt. Nicht mal vierspännig. Und dabei ist so eine Eisenbahnfahrt erstaunlich ruhig. Nur das sanfte klack-klack, klack-klack der Schienenstöße spürt man. Aber das ist nicht halb so enervierend wie das Geholper einer Kutsche auf Kopfsteinpflaster oder gar ungepflasterten Waldwegen.

Wir reisen natürlich erster Klasse. Jedenfalls Doktor Ingmarson und ich. Fridolin sitzt hinten in der vierten Klasse. Ganz in der Nähe des Gepäckwagens. Von dort aus kann er besser die Verladung unserer Koffer überwachen. Er hatte bislang wenig Arbeit. Überall wo wir hinkamen standen sofort dienstbare Geister auf dem Perron, die beim Ein- und Ausladen behilflich waren.

Ich habe von Paris aus die östliche Route über Andorra gewählt, obwohl die etwas länger ist. Das kleine Pyrenäenfürstentum fehlt mir bislang in meiner persönlichen Sammlung kurioser Reiseziele. Außerdem scheint mir die dortige Passstraße zuverlässiger. Im Westen machen seit ein paar Jahren baskische Sezessionisten die Gegend unsicher.

Uns gegenüber im Abteil sitzt eine elegante Pariserin mit ihrer Zofe. Sehr aparte Person. Doktor Ingmarson hat sie gleich in ein kleines Gespräch verwickelt. Irgendwie schreckt der Kerl vor nichts zurück. Ich hätte mich nie getraut, die Dame ohne vorherige offizielle Vorstellung anzusprechen. Aber so sind diese Intellektuellen. Keine Manieren. Zum Glück. Die Französin zeigte sich ihrerseits keineswegs schüchtern. Typisch! Die Folge ist eine äußerst angeregte und amüsante Unterhaltung, aus der ich mich gerade für ein paar Minuten heraushalte, um meiner Chronistenpflicht in eigener Sache Genüge zu tun. Wenn der Doktor redet, komme ich sowieso nicht zu Wort.

Madame ist auf dem Weg zu ihrer Schwester nach Toulouse. Ein paar Wochen ausspannen vom Pariser Trubel der vergangenen Ballsaison, sagt sie. Der Herr Gemahl käme nach, sobald er seine Geschäfte beendet habe. Sommerfrische nenne sich so etwas. Also einfach nur verreisen, zum Vergnügen. Das sei der neueste Schrei in den besseren Kreisen.

Sachen gibt es! Ist das nun der endgültige Verfall der Sitten oder vielleicht der Beginn eines goldenen Zeitalters? Ich weiß es nicht. Aber im Ernst, welcher normale Mensch, der nicht gerade wie ich Reisen und Beruf miteinander verbinden kann, ist in der Lage, sich so eine Sommerfrische zu leisten? Wenn beispielsweise einer meiner Lagerarbeiter in Rotterdam sich erdreistete, eine oder womöglich gar zwei Wochen am Stück frei nehmen zu wollen, um in die Sommerfrische zu fahren, er wäre die längste Zeit bei mir angestellt! Und ich selbst? Gut, nun bin ich mit Ingmarson auf Entdeckertour. Aber diese Reise verfolgt einen hehren wissenschaftlichen Zweck und wird hoffentlich Gewinn abwerfen. Unter kaufmännischen Gesichtspunkten muss ich besagte Sommerfrische deshalb wohl für eine ziemlich dekadente Idee halten. Persönlich verhilft mir die Reise der Dame nebenan allerdings zu einem ausgesprochen unerwarteten Vergnügen. Weswegen ich an dieser Stelle meine Notizen für heute beende, um nicht unhöflich zu wirken und mich wieder am Gespräch zu beteiligen.

Nachtrag zum gestrigen Tag: Man ruht in den Schlafabteilen des Nachtzuges wirklich vorzüglich!

Tagebuch des Dorian van DelftMontag, 27. Juni anno Domini 1870,Andorra la Vella, Hotel zum Mistral

Vom 19. Jahrhundert ins Mittelalter. Unglaublich. Zwei Tage durch ganz Frankreich. Fünf die paar Meilen von Toulouse hier herauf. Unglaublich! In den Pyrenäen ist Ende Juni der Winter zurückgekehrt. Unsere Reisebedingungen sind katastrophal. Schon ab Saint-Paul-de-Jarrat gab es für Kutschen kein Durchkommen mehr. Im Tal machen überquellende Bäche und Flüsse jeden Weg nahezu unpassierbar. Weiter oben zum Pass hin taut der meterhohe Schnee nur langsam. Lawinengefahr. Wir mussten unser Gepäck auf sechs Maultiere verteilen und laufen!

Was sich hier Straße nennt, spottet jeder Beschreibung. Unsere kleine Karawane kam nur sehr langsam vorwärts und einmal mussten wir sogar in einer Scheune nächtigen. Unterwegs verloren wir zwei unserer Maulesel. Einer rutschte direkt vor mir aus. Seine Hufe fanden auf dem eisigen Grund keinen Halt, er verlor sein Gleichgewicht und stürzte in die Schlucht. Ich hatte Glück, dass mich das dumme Vieh nicht mitriss. Mit ihm verschwand ein Gutteil von Doktor Ingmarsons teuren Gerätschaften. Alle nagelneu und unbenutzt.

Das zweite Tier verendete gestern ohne ersichtlichen Grund. Es brach einfach im tiefen Schnee zusammen und blieb liegen. Ich schätze mal, dass die Kälte Schuld daran trägt. Vielleicht war es auch schon vorher krank, denn es hatte die ganze Zeit Schaum ums Maul. Es transportierte Lebensmittel sowie den Koffer mit meinem Smoking, den weißen Hemden und einigen Schreibutensilien für dieses Tagebuch. Die Lebensmittel ließen sich problemlos auf die restlichen Tiere verteilen. Nicht so besagter Koffer. Ihn liegen zu lassen oder seinen Inhalt im nassen Schnee umzupacken, kam natürlich überhaupt nicht in Frage. Weil die restlichen vier Maultiere aber ebenfalls fast am Ende ihrer Kräfte waren, mussten sich eben Menschen in die Schlepperei teilen. Genau genommen zwei Menschen. Ich bestand darauf, dass Ingmarson Fridolin zuweilen ablöste. Ich brauche meinen Bediensteten lebend in Spanien. Eigentlich hätte ich deshalb gern unseren Bergführer in die Arbeit einbezogen, aber der impertinente Knabe weigerte sich strikt. Jedem anderen hätte ich bei solchem Verhalten fristlos gekündigt. In seinem Fall musste ich nachgeben. Ohne ihn hätten wir nie und nimmer den richtigen Pfad durch Matsch und Geröll gefunden. Zum Glück konnte er uns hier am Ort Ersatz für das Maultier versorgen. Der Abstieg nach Spanien ist somit gesichert.

Mir tut jeder Muskel einzeln weh. Das Atmen in der dünnen Luft fällt schwer. Der Doktor klagt auch. Wir sind solche Höhen nicht gewohnt. Einzig Fridolin scheint unbeeindruckt. Allmählich beginne ich zu bereuen, nicht das Schiff genommen zu haben.

Fast vergessen: In Ax-les-Thermes, am Fuße der Pyrenäen, erweiterte ich unsere Reiseausstattung vorsorglich um dicke Winterstiefel und warme Pelzjacken. Außerdem erwarb ich auf Anraten unseres Führers eine große Zeltplane. Der Nutzen dieser Investition erwies sich spätestens auf der Passhöhe des Port d‘Envalira. Fast zweitausendfünfhundert Meter über dem Meeresspiegel fegte ein unsäglicher Sturm über uns hinweg. Schlimmer kann es selbst am Nordpol nicht kommen. Fast vier Stunden saßen wir, Mensch und Tier dicht bei dicht gedrängt, unter der Plane fest. Hinterher mussten wir uns mühsam aus dem schweren, fest gepressten Schneepanzer graben.

Während ich diese Erinnerungen zu Papier bringe, hocken wir am Kamin und wärmen uns mit heißem Würzwein. Unser „Hotel zum Mistral“ liegt an einer Straße die sich „Avenida Santa Coloma“ nennt. „Mistral“! Allein der Name des Wüstenwindes ist in dieser Gegend der blanke Hohn. Bei der „Avenida“ handelt es sich um einen ausgefahrenen, schlammigen Hohlweg, rechts und links von Hütten aus Naturstein gesäumt. Unser Nachtlager im „Hotel“ ist ein unbeheizter Schlafsaal. Die ganze Kneipe erinnert eher an ein Wirtshaus aus finsterer Ritterzeit. Dunkel, verräuchert, ohne Kultur. Jedenfalls wurde hier seit Karl dem Großen nicht mehr renoviert. „Hotel“, „Mistral“ und „Avenida“! Ha! Dass ich nicht lache! Die Leute in Andorra neigen eindeutig zu Hochstapelei. Drei Kreuze, wenn wir das Gebirge endlich hinter uns lassen. Gut, das Schlimmste sei überstanden, meint unser Führer. Ich hoffe, er neigt nicht ebenfalls zur Hochstapelei.

Fußnote van Delft, Rotterdam im Januar 1871

Eine Randbemerkung im Rückblick, um nicht ungerecht zu wirken. Natürlich ist dieses kleine Fürstentum in den Bergen mit seiner trotzigen Eigenständigkeit zwischen französischen und spanischen Herren ein Eldorado für romantische Geister. Die Zeit scheint dort oben irgendwann stehengeblieben. Kirchlein und Brücken aus rohem Felsgestein sind wie für die Ewigkeit geschaffen. Der Menschenschlag in Andorra la Vella und Umgebung zeigt angesichts der rauen Witterung ein erstaunliches Stehvermögen. Allerdings waren mir solche Überlegungen damals völlig fremd. Ich war einfach nur erschöpft.

Für die folgenden anderthalb Wochen bricht mein Tagebuch wieder einmal komplett ab. Unerwartete Ereignisse zwangen mich zur Tatenlosigkeit. Im Anschluss fehlte mir die Kraft, das Erlebte sofort aufzuarbeiten. Ich versuche, das nun an dieser Stelle nachzuholen. Mit Hilfe meines kleinen Doktors, den ich gebeten habe, sich zu beteiligen. Ich werde seine Erinnerungen von Zeit zu Zeit einfügen. Selbst Fridolin war bereit, ein paar Gedanken beizusteuern. Ich habe ihm dafür heute frei gegeben. Er sitzt nebenan und schreibt.

Kehren wir also in die Pyrenäenwildnis Andorras zurück. Ich glaube, am besten lasse ich Dr. Frans Ingmarson den Anfang machen. Sein nüchterner wissenschaftlicher Blickwinkel dürfte erhellender ausfallen als mein emotional aufgeladener. Ich bin heute noch sehr erregt, wenn ich an jene Tage denke.

Überfall in den Pyrenäen

Anmerkungen von Dr. Frans Ingmarson, Rotterdam im Januar 1871

An das genaue Datum erinnere ich mich nicht. Ich notiere für gewöhnlich wissenschaftlich relevante Daten, nicht Reiseerlebnisse. Mynheer van Delft meint, es sei der 28. Juni gewesen. Aber das ist gleichgültig. Als gesichert betrachte ich die Tatsache, dass wir nur unwesentlich erholt aus dieser furchtbaren Kaschemme in den Bergen aufbrachen. Ich bin aus Island weiß Gott merkwürdige Wetterlagen und Behausungen gewohnt, aber dieses prähistorische Andorra la Vella übertrifft alles. Genug davon. Wir brachen auf.

Ziemlich präzise drei Wegebiegungen später, die letzten Hütten waren seit vielleicht fünf Minuten außer Sicht und unser Pfad wurde steiler und schmaler, fiel ein Schuss. Ein Meisterschuss, muss ich hinzufügen. Unser Führer brach ohne ein Wort zusammen. Er war sofort tot. Blut strömte aus seinem Mund. Es sickerte auch aus dem Loch in seiner Jacke. Ein Volltreffer. Präzisionsarbeit. Ehe wir uns versahen, tauchten sechs Banditen auf. Schwerbewaffnet. Zwei vor uns, einer hinter uns, drei rechts am Berg. Zur Flucht wäre nur ein Sprung in die Schlucht zur Linken infrage gekommen. Selbstmord. Fridolin versuchte, sich des Jagdgewehrs unseres Führers zu bemächtigen. Ich hielt ihn zurück. Es wäre sein Todesurteil gewesen.