Dr. F. Wörls Zeit - Alexander Dengler - E-Book

Dr. F. Wörls Zeit E-Book

Alexander Dengler

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Beschreibung

Der Roman gibt die Zeitspanne von der Gründung des Deutschen Reichs 1871 bis zu dessen Untergang 1918/19 sowie den ersten Jahren der Weimarer Republik wieder und endet 1923 mit dem Hitler-Putsch. Vor dieser historischen Kulisse wird der Alltag gewöhnlicher Menschen und Stadtbewohner mit seinem regionalen, ganz spezifischen Lebensgefühl erzählt. Wir nehmen den Blickwinkel unseres Helden Franz ein, der diese Epoche erlebt. Sohn aus gutem Hause möchte er stets mit geringstem Aufwand den größtmöglichen Nutzen erreichen. Doch wandelt er sich im Laufe der Zeit: Nach dem Studium der Rechtswissenschaften und dem Aufbau einer Rechtsanwaltskanzlei gründet er eine Familie, geht in die Politik und vertritt dort insbesondere die Interessen der Landbevölkerung, wird zum glühenden Patrioten der Kaiserzeit und erlebt als solcher den anfangs noch als Abenteuer wahrgenommenen Ersten Weltkrieg, der über furchtbare Schlachten insbesondere an der Westfront in einer katastrophale Niederlage Deutschlands und seiner Verbündeter endet. Es ist absehbar, wohin das schwere Erbe des Versailler Diktats und die anschließenden Wirren der Weimarer Republik und deren Ringen mit den extremen Kräften des politischen Spektrums schließlich führen wird … Unser Protagonist Franz Wörl tritt als Durchschnittsbürger auf, der es einerseits versteht, sich um Schwierigkeiten herumzumogeln und oft den Weg des kleinsten Widerstandes wählt, andererseits dabei auch gerne Gewinne auf Kosten Anderer mitnimmt und die angenehmen Seiten des Lebens zu genießen weiß. Mit zunehmender Lebenserfahrung jedoch blickt er über das eigene Umfeld hinaus und begreift allmählich die größeren Zusammenhänge. Er beginnt, sich gesellschaftlich zu engagieren und setzt sich - immer Sohn seiner Zeit - für sein Land ein. In diesem Sinne erzieht er auch seine beiden Söhne und bleibt seinen Prinzipien auch während des Krieges und in den nachfolgenden Wirren treu. In der chaotischen Zeit der frühen 20er Jahre findet er sich nicht mehr zurecht und verliert - wie viele seiner Zeitgenossen - die Hoffnung und den Anschluss an die sog. neue Zeit. Franzens Lebensspanne ist die Epoche unserer Urgroßeltern und etwas weiter zurück. Eine uns fremde, schon sehr ferne Zeit. Und doch ist sie nahe, viel näher, als wir ahnen, da wir durch sie wurden, was wir heute sind. Voreltern, Eltern und Nation können wir nicht aussuchen. Aber für die Gestaltung der Gegenwart und der Zukunft ist die Kenntnis über sie von Wert.

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Alexander Dengler

Dr. F. Wörls Zeit

Aufstieg und Fall des ehrengeachteten Münchener Spießbürgers Franz

Die Zeit des F. Wörl um 1900 ist geprägt vom Patriotismus, übergehend in den Nationalismus mit seinen extremen Ausprägungen, die letztlich zur Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts und der folgenden Rassenüberhöhung geführt hat.Das Cover zeigt die Münchner Paulskirche, die in jener Zeit gebaut wurde.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel I

Das Bett

Kapitel II

Es muss geheiratet werden – Alte Freundschaft lebt wieder auf

Kapitel III

Goldene Berge?- Unruhige Tage und Nächte

Kapitel IV

Franz entdeckt den Fortschritt

und den Glauben an eine herrliche Zukunft

Kapitel V

Franzens beginnender Aufstieg -

die Entdeckung ehelicher Freuden

Kapitel VI

Franz etabliert sich als ehrbarer Bürger und Politiker

Kapitel VII

Neuland

Kapitel VIII

Höhenluft

Kapitel IX

Windstille - “... die beste aller Welten ...”

Kapitel X

Zeitenwende

Kapitel XI

Amageddon - “... tränenreiche Tage ... “

Kapitel XII

Anfang vom Ende

Kapitel XIII

Vor den Pforten der Nacht

Kapitel XIV

Abschied

Impressum

Dr. F. Wörl’s Zeit

Aufstieg und Fall

des ehrengeachteten Münchener Spießbürgers Franz

(1860 – 1923)

... Er hat, das mag er wohl bedenken,

Am Weltgebäude mitgezimmert

Und allerlei daran verschlimmert ...

Wilhelm Busch

Alexander Dengler

Eine kleine Vorrede

Der Mensch ist nicht auf Erden um glücklich zu sein. Eine bittere Wahrheit, die niemand hören will. So war es und so wird es immer bleiben.

Unsere Geschichte erzählt von der “guten, alten Zeit”, die für die Vielen schlecht oder gerade noch erträglich und für Wenige gut war. Und von einem, Franz benannt, der die irdischen Tage damit verbringt, dem Glück nachzujagen. Zumindest dem, was er dafür hält.

Auf diesem Wege begleiten wir ihn, von der frühen Jugend bis zu seinem Tode.

Wir durchleben mit ihm die Höhen und Tiefen seines Lebenspfades. Immer bemüht die vier ungebetenen Begleiterinnen des Menschen, jene grauen Weiber Not, Mangel, Schuld und Sorge sich vom Leibe zu halten. Da und dort kopfschüttelnd ob seiner Torheiten, manchmal ihn bewundernd, manchmal ebenso verständnislos, und ab und an mit einem Lächeln, eventuell auch nachdenklich.

Vielleicht gewinnt er unsere Herzen - dann stellen wir fest, dass wir so anders wie er auch nicht sind. Auch für uns gilt jenes universelle Prinzip der menschlichen Natur, dem Streben nach Erfolg (warum sollten wir sonst davon träumen!). Wir empfinden Entzücken, wenn Rivalen ausgestochen, Schwierigkeiten überwunden werden. Auch hängt unser Glaube an einem steten Fortschritt, der uns das Dasein immer angenehmer macht. Nebenher pflegen wir ebenso wie er Vorurteile (welche wir als Wahrheiten verstehen) und hegen Obsessionen.

Jeder hat gute Gründe für seine Handlungen. Es kommt darauf an, wie man zu ihnen steht.

Der Tod schreibt das Finis. Was bleibt am Ende von all' dem Bestreben übrig, welches Franz uns im bunten Reigen vorführt? Nichts als das baldige Vegessen. Es soll ein Wort Goethes gelten:

“Des Menschen Leben ...

Es hat wohl einen Anfang, hat ein Ende,

Allein ein Ganzes ist es nicht.”

Mit einem "Leider!" pflichten wir dem bei.

Die Katastrophe, die ihn fällen wird, hat er nicht verschuldet - oder am Ende vielleicht doch ein wenig?

Franzens Lebensspanne ist die Epoche unserer Urgroßeltern und etwas weiter zurück. Eine uns fremde, schon sehr ferne Zeit. Und doch ist sie nahe, viel näher, als wir ahnen, da wir durch sie wurden, was wir heute sind. Voreltern, Eltern und Nation können wir nicht aussuchen. Aber für die Gestaltung der Gegenwart und der Zukunft ist die Kenntnis über sie von Wert.

Nicht zuletzt wird auch von einem spezifisch Münchener Lebensgefühl altbayerischer Prägung erzählt. Das - wie so Vieles - längst untergegangen ist.

Nun denn, beginnen wir also mit unserem löblichen Vorhaben. Lernen wir die Welt und die Abenteuer unseres Helden kennen.

Kapitel I

Das Bett

Pancratz Josef Hiereis, solid und hierorts allteingesessener Bürger, geachteter Schreinermeister, stämmiger Mittvierziger, dickbäuchig, gab seinen Unwillen freien Lauf. “Rotzbua, nixiger,” grollte er im tiefen Bierbaß.

“Haut ma der die Zargen an ganzen Zoll z´ tiaf nei!” Sein ausladender Vollbart, der den Staub feinen Sägemehls und gröberen Hobelspänen neben den Resten der letzten Brotzeit sichtbar barg, zitterte vor Wut.

“Glei´ hau´ i dir eine nei!” Schon klatschte es, und Lorenz, der Lehrbub, hielt sich die brennende Backe.

In München, wie anderswo auch, schrieb man das Jahr 1877. Seit etwas über sechs Jahren war der Krieg gegen die Franzosen siegreich beendet und das neue Reich begründet. In allen Gauen jubelten die Stämme deutscher Zunge. Nur viele Bayern nicht. Gulden und Kreuzer hatte die neue Zeit hinweggefegt, dafür waren Mark und Pfennig da. Die Maßeinheit der Maß war plötzlich auch geringer. Das besonders musste jeden biederen Bürger- und Bauersmann empören, waren sie doch alle Biertrinker. Hinzu kam das drückende Gefühl, dass das alte Königreich Bayern seine Selbständigkeit verloren hatte. Freilich, so alt war es nicht, gerade etwas über 70 Jahre. Aber das Gefühl zählt mehr als harte Fakten. Wenn man in Stadt und Land über die neuen Zeiten disputierte, etwa nach der vierten bis sechsten Maß, wurden die Stimmen laut und grob. Manch' herber Fluch wurde nach Norden gesandt, Richtung Bismarck, dem Reichskanzler. Das Bier tröstete, und das Bewußtsein, dass Bayern immer noch einen König hatte. Den schönsten, den man in Europa vorweisen konnte. Freilich, den Ludwig II., der Märchenkönig, wie er auch genannt wurde, hatte kaum jemals einer in der Haupt- und Residenzstadt gesehen. Aber da steckten sicher auch die finsteren Machenschaften der Preussen dahinter.

Und doch, manch' einer strich sich zufrieden über seinen Schmerbauch. Die Geschäfte gingen, ja, sie gingen glänzend, gerade in der Stadt. Das Geld zirkulierte wie noch nie. Es wurde gebaut, unentwegt Firmen gegründet, der Zuzug vom Lande war ungeheuerlich, die Arbeitskräfte daher billig. Die Stadt platzte aus allen Nähten, Wer in der Kaufinger Strasse oder meinetwegen am Stachus seine Löffel aufsperrte, vernahm da fremde Laute, bis dahin ungehörte, selbst wenn einer schon siebzig Lenze zählte. Ja, ja, München, neben Berlin, Paris und Wien, würde bald eine europäische Metropole, in absehbarer Zukunft vielleicht sogar Weltstadt werden.

So hin- und hergerissen zwischen Politik, Weltanschauung und rein persönlicher Empfindung, wobei alles sich in den Köpfen in ein unentwirrbares Knäuel vermengte, fand sich der Schreinermeister Hiereis. Das Werkstück, sein Werkstück, das der baldigen Vollendung harrte, durfte hierfür als Musterbeispiel gelten. Einerseits altväterlich, robust, sogar versteckt derbe. Die eingrenzenden Bettpfosten mit den abschließenden Kugelknäufen zeugten davon. Dann das spielerische, das moderne, wovon das Kopfende Beweis ablegte.

In der Mitte eine überhöhte Muschelform, an diese heranreichend, von den äußern Enden aus, je ein stilisierter Flügelarm. Hiereis legte gerade darin all' sein kunsthandwerkliches Können. Doch der moderne Stil war ihm zutiefst zuwider. Vor seinem geistigen Auge tanzten bei der Betrachtung des Betts leicht bekleidete französiche Kokotten. Jedoch, der Geschäftsmann in ihm siegte über die altbayrisch empfindsame Moral. Abgesehen von seinen Bedenken privater Art konnte er wirklich stolz sein. Das Vertrauen des Kunden hatte er im Ganzen wohl erfüllt. Nichts an den edlen Hölzern war verdorben, nichts am Gesamtgefüge der Konstruktion verpatzt.

Nach einer knappen dreiviertel Stunde war der letzte wichtige Handgriff getan. “So, i´ geh´ jetzt zum Sternbräu und kaaf ma a Quartl oder zwoa. Du ölst dawei des Holz ei, aber nimm fei saubere Lappen! Und schmier ja net ois dick ei.”

Der Lehrbub Lorenz nickte ergeben. “Moasta, is scho recht.”

“Hundsbua,” quittierte der.

Dem Rücken des entschwindenden Hiereis streckte Lorenz die Zunge heraus.

Am übernächsten Tag, am vereinbarten Termin, fand die Besichtigung des noblen Stücks durch den Kunden statt. Der zeigte sich hoch zufrieden. Hiereis hatte es nicht anders erwartet.

“Do schaungs, Herr Justizrat,” sagte er selbstgefällig.

“Jenes Bette entspricht genau meinen Vorstellungen,” sagte der. “Sie wissen, es ist für meinen Filius bestimmt, welcher da nun den Knabenschuhen längst entwachsen, einer adäquate Schlafstatt entbehrt.

“In der Liegerstatt wird der hunder Johr alt, passens auf, da drin kann er seine Gspaßettl hab´n, mit a´ haufn Madln, de kracht net zsamm!” Er lachte über seinen Spaß, sodass sich sein Gesicht heftig rötete. Mit einem grobleinernen Schneutztuch wischte er die Stirn.

Der Kunde war ernst geblieben. Er wollte den groben Handwerkerwitz ignorieren. “Lieferung kommende Woche. Bezahlung prompt nach Rechnungsstellung, wie ausgemacht.” In seinen Worten, besonders im Tonfall, lag Abstand.

“Freili, freili, Herr Justizrat, haut scho!”

“Nun gehaben Sie sich wohl,” er lüpfte leicht den Hut und verließ in straffer Haltung die Werkstatt.

Hyronimus Wörl hieß der Kunde, seines Zeichen Richter. In seinem Beruf fühlte er sich wohl. Wer einmal den undurchsichtigen Paragraphentschungel durchschaute, wandelte auf sicheren Pfaden. Auch die Amtshierarchie war wohltuend. Das Oben und Unten grenzte sich klar ab. Stolpersteine in der Behörde gab es nur für junge Brauseköpfe und dumme Unbelehrbare. Wer sich an die Religion und an den vorgegebenen Buchstaben hält, der kann nicht fehlgehen. Das ist der Weisheit letzter Schluss, so seine feste Überzeugung.

Als junger Referendar erlebte er noch die Zeit da der Amtsrichter den Deliquenten zu fünfundzwanzig Stockschlägen verurteilte. Jene Strafe vollzog der Gerichtsdiener unverzüglich. Dergleichen fand im Hof statt. Die Herren des Gerichts standen an den Fenstern und sahen zu. Keinem kam es in den Sinn, dass er ein Stück mittelalterliches Schauspiel verfolgte.

Verließ der Angeklagte krumm und schmerzverzerrt das Gericht, zeigte Hyronimus Wörl kein Mitleid. Denn was das Gesetz vorschrieb war in Ordnung.

Wenn er verurteilte oder freisprach, tat er das ohne Regung. Gefühle, gar Zweifel erlaubte er sich nicht. Handelte er doch nach dem normativ vorgegebenen Gesetzesvorschriften, und dem Handwerkszeug einer soliden juristischen Ausbildung. Irrtum war da ausgeschlossen.

Stets sah er sich, sei es als Bürger, sozusagen privatim im Schlafrock, wie auch als Beamter, dem Staat gleich verpflichtet. Eine Kritik an ihm verbat er sich. Soweit er denken konnte waren die Vorfahren Beamte. Der Urgroßvater trug nach der Pensionierung Zeit seines Lebens stolz das goldene Ehrenkreuz, mit dem Medaillon Ludwig des I. Verliehen für tadellosen fünfzigjährigen höheren Staaatsdienst. Ebenso würde seine irdische Laufbahn enden.

“Vorsicht! Vo-or-sicht!” unter diesem beständigen Ruf schleppten zwei stämmige Lohntransporteure das Bett aus des Meister Hiereis Händen durch das Eingangsportal, zwei Treppen hoch, in die herrschaftliche Wohnung. Nachdem es seinen angezeigten Bestimmungsplatz fand, zogen sie die Mützen vom Kopf. Der Ältere streckte die offene Hand dem Hausherrn entgegen. Sie war schwielig und nicht sauber. “Schwar wars, des Trumm,” sagte er. “Aber jetzt hammas!”

Wörl ließ in die breite Handfläche ein kleines Geldstück fallen. Der Arbeitsmann konnte seinen Unwillen kaum verhehlen. Mit einem mürrischen Gruß nahm er seinen Abgang. Der ihm folgende Kollege brummelte Undefinierbares.

Frau Babette Wörl, geborene Zanglmair, war glückliche Zeugin des Akts. Sie stammte aus einem Elternhaus, über dessen breiter Ladentür “Königlich Bayerischer Hoflieferant" stand. Also aus wohlhabenden Hause, und mit einer gewissen Kernigkeit versehen war sie immer noch appetitlich anzusehen. Der Justizrat, vor über zwanzig Jahren ein armer Schlucker, konnte sich glücklich schätzen, damals ihre Hand gewonnen zu haben.

“Bubi, was meinst du zu deinem schönen neuen Bett.” Gemeint war der Sohn, der Dritte im Bunde. Über ihrem gutmütigen Gesicht lag der Glanz innerer Freude.

Bubi zuckte mit den Schultern und sagte nichts.

“So will er denn antworten, wenn Mutter eine Frage an ihn stellt!” ließ der Justizrat und Vater nicht ohne Schärfe sich vernehmen.

“Doch, das Bett ist schön, ich danke meinen lieben Eltern.”

Franz, so war Bubis richtiger Vorname im Taufregister eingetragen, trieb auf dem hiesigen Gymnasium seine Studien. Er stand kurz vor der Prima und im siebzehnten Lebensjahr. In der Schule tat er nur soviel, dass er nicht besonders bei den Professoren auffiel, die mitgebrachten Zeugnisse gerade noch herzeigbar waren. Die Belehrungen des Vaters, dass er so im Staatsdienst nie und nimmer sein Glück machen könne, ließen ihn kalt. Sein Sinnen und Trachten stand seit ungefähr einem Jahr woanders. Beim Wirt des “Goldenen Rosses” und seinem geheimen Hinterzimmer, wo man schöne Studentenlieder zum dunklen Biere sang. Bei Anna, der Bedienung, mit dem trallen Hintern, den man ausführlich betätscheln durfte.

Freilich, es kam wie es kommen musste. Bei dieser Haltung konnte es nicht ausbleiben, dass er wie so oft vor dem kommenden Osterfest von einer inneren Unruhe getrieben wurde. Jenem Fest das Jung und Alt sehnlich erwartete und festlich begangen wurde. Begrüßte man doch den Frühling und freute sich an dem Wunder der Auferstehung des Herrn. Jüngling Franz bildete eine Ausnahme. Diesmal hatte es ihn besonders gepackt. Und je näher die Woche vor den Festtagen heranrückte und damit die Ferien, desto schlechter sein Befinden. Denn da gab es das Jahreszeugnis. Und diesmal würde Franz sitzenbleiben! (Er ertappte sich dei dem Gedanken: wenn es Ostern nicht gäbe, gäbe es auch kein Zeugnis. Aber dieser fromme Wunsch war natürlich Schwachsinn, wie er sich sofort eingestand). Peinlich war, dass dies kein einmaliges Ereignis war. Schon zum zweiten Male seiner Studienkarriere blieb er sitzen ... Da war guter Rat teuer, aber es gab keinen.

Das Zeugnis hatte er der Mutter übergeben. Er erklärte ihr die Umstände des Scheiterns ausführlich und nicht ohne Dramatik. Die gute Mutter konnte nicht umhin ihren Bubi zu bedauern. “Was wird der Vater nur dazu sagen”, seufzte sie, als sie die Hiobsbotschaft in seinem Arbeitszimmer gut sichtbar auf den Schreibtisch legte.

Nun saß der Sohn in seinem Zimmer und harrte der Dinge die da kommen sollten. Es klopfte, das Hausmädchen trat ein. “Junger Herr, Sie sollen zum gnädigen Herrn koomen.”

“Jetzt gleich!?”

....“Gleich, er wartet im Arbeitszimmer!” Bänglich machte sich Franz auf den Weg.

Der gefürchtete Augenblick war da. Auge in Auge stand er dem Familienoberhaupt gegenüber. “Sie haben mich rufen lassen, Papa.” Der musterte ihn schweigend. Endlich kam ein: “Dumm oder faul ...?“

Nach gründlicher Erfahrung wusste der Filius, dass er mit weitschweifigen Erklärungen nicht kommen durfte. Eine knappe, präzise Antwort wurde verlangt. So sagte er schlicht "Faul".

Wieder trat Schweigen ein. Ergeben wartete Franz auf kommendes Donnerwetter. Aber es kam nicht.

Stattdessen traf ihn eine ganz und gar unerwartete Frage. Nämlich die, was der Lateiner unter Asinus verstehe.

Der Gefragte gab sich ratlos.

Das Wort bedeute, erklärte der Vater, Esel! Die alten Römer hätten so einen wie ihn benannt. Das Mißgeschick, ein Esel zu sein, lasse sich aber beheben. Zu diesem Zwecke gedenke er, der Vater, ihn über die gesamten Ferien in das Institut des Doktor Gröblich zu geben. Das sei nun vorerst alles, er könne sich entfernen.

“Ich danke Ihnen Papa”, kam es mühsam über dessen Lippen. Geschlagen nahm er den Abgang. Auf dem Flur angelangt, außer Hörweite des Arbeitszimmers, gab er dem Garerobenständer einen Tritt. Von der Mutter, die das zufällig sah, kam ein “aber Bubi!”

Das Institut Doktor Gröblich kannten alle Gymnasiasten der Stadt. Unter ihnen genoss es einen legendären Ruf. Es war berühmt-berüchtigt. Schon manch' einer war hier einmarschiert und kam verwandelt zurück; (wenn meist auch nur für kurze Zeit). Einzig gegründet, um hoffnungslose Fälle zu kurieren, genoss sie bei Eltern hohes Ansehen. Freilich gestaltete sich dorten der Zwangsaufenthalt der Zöglinge nicht billig, das war es ihnen aber wert.

Neun Stunden dauerte der tägliche Unterricht. Der fand in ganz kleinen Gruppen unter strenger Aufsicht statt. Ausgang gab es nur in den hochummauerten Park, höchstens eine Stunde und nur unter Aufsicht. Geschlafen wurde unter dem Dach, auf ausgeleierten Feldbetten. In einem seperaten Verschlag schlief und führte die Aufsicht ein Hilfslehrer. Die tägliche Kost stand der im Zuchthaus von Straubing in nichts nach. Vom Alter unabhängig gebrauchte man von Fall zu Fall (bei verhärteten Gemütern) die Rute. Für die kommenden Wochen war das Franzens Schicksal - schöne Aussichten.

Ansonsten, wenn Franz frühmorgens die elterliche Behausung verließ, um zu der ihm angestammten Bildungsstätte zu eilen, verriet seine Kleidung schon den angehenden Beamten. Nur die bunte Schülermütze auf seinem Haupt verriet seinen derzeitigen Stand. Aus den gegebenen Verhältnissen wünschte er sich brennend hinweg. Afrika oder Amerika, das war sein Traum. Am besten Afrika. Ein Land, in dem die Wilden nackt herumliefen, die Sonne ewig schien, einem die exotischten Früchte in den Schoß fielen und Gold und Diamanten am Strand herumlagen. Aber wie sich diesen Traum erfüllen?

Früher einmal, bei Tisch, äußerte er nach der launigen Frage des Vaters, was er denn werden wolle, den Wunsch eine reiche Frau zu heiraten und dann Weltreisen zu unternehmen. Oder, wenn das nicht gelinge, vielleicht die Laufbahn des Lokomotivführer oder Seemannes zu ergreifen, das stelle er sich aufregend vor. Für diese, in den Ohren des Justizrats unbürgerliche Vorstellung, bekam er eine Ohrfeige. Bei Tisch bekam er übrigens öfter eine; zum Beispiel wenn er mit dem Stuhl schaukelte, was er sich nicht abgewöhnen konnte, oder eine sonstige Benimmregel grob verletzte. Wollte er einen Nachschlag, galt die Regel: “Erlauben Sie, Papa, dass ich mir von den Beilagen noch nehme (die Bitte um ein zweites Stück Fleisch war tabu). So war eben das Leben. “Franz tu dies, Franz tu das, Franz unterlasse es!”

Ein ewig nimmermüdes Lied! Nicht nur im Hause galt das, auch außerhalb. Jedermann fühlte sich berufen, den Aufpasser und Lehrer zu spielen. Was Wunder, wenn da ferne, exotische Welten lockten.

Am langweiligsten aber gestalteten sich die großen Ferien. Mit den Eltern musste er auf's Land. Sommerfrische nannte man das, jeweils für mehrere Wochen in irgend ein langweiliges Kuhdorf. Zwar liebten seine Eltern die eingesessene Bevölkerung nicht, ihrer rohen, groben Manieren wegen. Es fehlte die kultivierte Ansprache. Auch der Komfort ließ zu wünschen übrig. Die Waschgelegenheiten waren dürftig, der Austritt auf dem Hof. Aber die Ruhe und die damit einhergehenden billigen Lebensmittel gefielen schon.

Etwa eine Stunde außerhalb der Stadt schon waren solide Pensionspreise garantiert.

Im Feriendomizil, in dem für Franzens Gefühl die Zeit scheinbar stillstand, fühlte er sich noch strenger kontrolliert und unter Aufsicht gestellt als zuhause. Der Umgang mit der Dorfjugend war im strengstens verboten. Schloss er sich dieser heimlich an, erfuhr er bald Hohn und Spott. Denn ihre Fertigkeiten waren nicht die seinen. Ging es zum verbotenen Fischen oder Obstbaumplündern wurde meist er erwischt. Er steckte dann die Prügel für die andern ein.

Der einzige Höhepunkt des Jahres war das Oktoberfest mit seinem besonderen Treiben und den ungeahnten Düften. Von Kindesbeinen an war ihm das hochwillkommene Abwechslung. An der Hand der Mutter tauchte er in eine bunte und fremde Welt. Schon die Prachtgespanne der hiesigen Brauereien waren eine Attraktion. Das Karussel, die Drehorgelmusik, mannigfaltige Schleckereien, die Schaubuden mit Riesen, Zwergen, Mohren, Indianer und Menagerien mit noch nie gesehenen Tieren hatten eine unwiderstehliche Anziehungskraft auf ihn. Dazu die lauten Späße der Budenbesitzer, die das davorstehend-gaffende Publikum immerfort zum Lachen brachten. Die Wohnwägen der Schausteller, welche auffallend bunt das Auge lockten und doch so fremdartig wirkten.

Die Festwiese mit seinem Trubel bot dem Kinderherzen ein einziges Abenteuer.

Und nun endlich, der Hand der Mutter entwachsen, konnte er ohne lästige Aufsicht sich mit Freunden fast gefahrlos in ein Bierzelt wagen, in dem sonst gestreng gebende Herren sich gehen ließen. Hochgeknöpfte Mädchen und Frauen gaben ganz leger, selbst zu Fremden sich hier gar liebreich, besonders wenn er noch jung in Saft und Kraft stand. Freilich, aufpassen musste man schon, dass man nicht in eine der berüchtigten Schlägereien geriet, die gar nicht selten waren. Aber ja, das alles war Gaudi und höchster Genuss, davon konnte man lange über's Jahr zehren. Als er vor einem Jahr von dort zum ersten Mal im Leben betrunken nach Hause kam, gab es schöne Prügel und ein tagelanges Donnerwetter obendrein.

Hätte ihn jemand gefragt was seine Heimatstadt ausmacht, ohne Zögern würde die Antwort lauten “Unser altes Oktoberfest!”

Neben jenen oben angeführten Träumereien hatte seit neuestem ein anderer Gedanke, er wusste selbst nicht wie, erregend und ausschweifend von ihm Besitz ergriffen.

Wenn er auf seinen Wegen einer Dame oder einem Fräulein begegnete und er sie mit gezogener Schülerkappe grüßte, malte er sich unwillkürlich aus, welch' Geheimnisse sie wohl von den Knöcheln aufwärts, über die Knie zur schlanken Taille, unter gebauschten Röcken und Reifkrinoline bargen. Diese Vorstellungen, die von begierdevollen Ahnungen herrührten und nichts an konkret Erlebten an sich hatten, konnte er bei besten Willen nicht unterdrücken. Da half auch der Weg zum Beichtvater und dessen Ermahnungen nichts.

Da war das Fräulein Isolde sein derzeitiger Schwarm, der schon einen netten Busen sehen ließ. Eine mit Potenzen begabte Person, wie Gymnasiasten zu sagen pflegen, wenn sie von gewissen Vorzügen der Weiblichkeit sprachen. Hatte sie ihm letztens nicht zugelächelt? Dies' liebe Mädchen, das unter ihrem samtschleifenbesetzten Hut eine Flut goldner Ringellöckchen sehen ließ, die …

“Wörl, träumen Sie oder schlafen Sie gar wieder!” wurde er unsanft von seinem Professor und Klassenordinarius geweckt.

“Beides”, sagte der ohne nachzudenken, aufgeschreckt.

“Wenn ich Sie anspreche, haben Sie aus der Bank zu treten, Sie unverschämter Bursche!”

Der beeilte sich der Forderung nachzukommen.

Ein scharfer Blick seines Lehrers traf ihn.

“Sie bekommen einen Eintrag in das Klassenbuch und zwei Stunden Karzer!”

Ja, ja, es war ein Kreuz mit der Schule und den Professoren.

Etwas Trost und Reputation gewährten da die Visitenkarten, die er vor kurzem hatte machen lassen und die er großzügig verteilte. Deren Text aus dem Lateinischen übersetzt lautete: Stud. Franz Wörl, ein Beflissener der schönen Wissenschaften und Künste.

Die unter diesen Umständen häufig geäußerten Befürchtungen des Vaters, dass sein Weg an die Universität sich fraglich gestalte, prallten wie alle anderen Belehrungen an ihn ab. Vor allem weil die Frau Mama ihm stets zur Seite sprang: “Bubi wird’s schon machen!” verbunden mit der speziellen Aufforderung an ihren Liebling “Gell, Bubi!”

Der blickte in ihr rundlich gutmütiges Gesicht, das das in der Mitte gescheitelte Haar umrahmte, auf dem ein kleines Florhäubchen saß. Das ist die Mode von vor fünfzig Jahren, dachte er. Das altmünchnerische und zurückgeblieben Biedere, wird die auch nicht mehr los. Laut sagte er dann: “Ja, liebe Mama!”

Nebenbei: Die hiesige Universität hatte der leidenschaftlich kunstsinnige König Ludwig I. von Bayern, der Erbauer der Münchner Glyptothek und der Pinakothek, gegen den erbitterten Widerstand der Landshuter in die Haupt- und Residenzstadt verlegt. Wofür ihm hiesige Einwohnerschaft nicht dankten, und schon gar nicht dafür, dass er im selben Zuge aus dem Norden immer mehr akademische Lehrer, Wissenschaftler und Künstler berief. Mit einem spinnerten Preussen, der das Rad jeden Tag aufs Neue erfand, konnte man noch weniger anfangen wie meinetwegen mit der Glyptothek! (Des Königs zweite große Leidenschaft, die hiesige, holde Weiblichkeit und da besonders die Affäre im fortgeschrittenen Alter mit einer dubiosen Tänzerin, welche die braven Münchener sehr erzürnte, kostete ihm in der Märzrevolution 1848 die Krone.)

Zweimal in der Woche befanden sich Franzens Eltern außer Haus. Sie gingen ihren gesellschaftlichen Verpflichtungen nach und kehrten meist erst spät nach Hause.

An einem Mittwoch war es wieder soweit. Diese Gelegenheit nutzte der Sohn, um einige Klassenfreunde in die elterliche Wohnung einzuladen. Bei Zigarren und Bier gestaltete die Runde sich recht lustig - vor allem bei Betrachtung eines Buches, das Freund Benno der väterlichen Bibliotkek entwendet hatte. Seite auf Seite zeigte es in schönen Kupfern verführerisch nackte Mädchen. Das gab weitschweifigen Gesprächsstoff. Endlich ging man zu einem beliebten Kartenspiel über, den Tarock. In allen Stücken taten es die jungen Herren den Alten nach.

Und wie bei diesen erhitzten sich bei fortgeschrittener Ausgelassenheit auch ihre jugendlichen Gemüter, blieb Streit nicht aus. Als Franz das dritte Spiel hintereinander verlor, stieg sein Unmut spürbar. “A so a Depp!” schrie er seinen besten Freund Karli aufgebracht an. “Wenn’s d’ mit der Aß steh bleibst, krieg’n wir sein Zehner …waar’n vierasiebzg!”

“Von dir wer i des Tarocka a no lerna,” erwiderte der trocken. “Hätt’st den höchsten Trumpf net bracht Hanswurst …”

Die anderen beiden Freunde, die den Vorteil davon hatten, grinsten. Je länger man spielte, je hitziger wurde Franz. Wieder verlor er. Sein Taschengeld war dahin. Er trank in seinen Ärger hinein. Er spielte leichtsinniger, verdoppelte den Einsatz und verlor wieder. “Warum bringst du denn schon wieder den höchsten Trumpf?” schrie er seinen Busenfreund an. “Du hast mich dadurch zum Schmieren aufgefordert, Depp! Der Benno zieht jetzt zwei Mark mit seinem dummen Solo.”

“Dir geb’ ich gleich an Deppen, du Hornpeppi!” schrie Karli, mittlerweile auch nicht mehr nüchtern.

“Wa-as!”

Ein allgemeiner Tumult erhob sich, volle Gläser gingen zu Bruch.

Babette, das Hausmädchen, hatte seit längerer Zeit die Aufführung des jungen Herrn Franz und seiner Freunde ängstlich verfolgt. Was sollte daraus werden?

Von Frau Wörl war sie eingestellt, weil sie im Lohn billig, in der Arbeit willig und eine reinliche Person war. Wenn die Herrschaft zurückkam, würde es bei dieser Aufführung der ungebärdigen Gesellschaft ein schönes Donnerwetter geben und ein nicht geringer Teil würde sie treffen. Ansonsten war die Herrschaft anständig zu ihr, wie gesagt, sie wollte keinen Ärger. Aber was tun? Aus Erfahrung wusste sie, der ungebärdige Junior zeigte nur vor seinem Vater Respekt. Da halfen nur die Waffen einer Frau.

Also betrat sie beherzt das Zimmer des jungen Herrn, beugte sich durch den Zigarrenqualm dem erhitzten Franz zu und flüsterte ihm ins Ohr: “Wenn Sie jetzt Ruhe geben, komme ich nachher zu Ihnen.”

In Franzens trunkenen Kopf tat sich etwas. Babette, das dralle Mädchen vom Lande, war höchstens drei oder vier Jahre älter als er. Sauber war sie anzusehn; eine Begehrlichkeit stieg in ihm auf. Grob forderte er seine Freunde zum sofortigen Verlassen der Wohnung auf.

Und tatsächlich, kurze Zeit später kam das Mädchen. Als sie ihre Röcke ablegte und sich an ihn schmiegte, atmete er einen Duft, der mehr als an Küchenherd, Kernseife und Abwaschwasser erinnerte. Wilde Begierde ergriff ihn.

Von der braven Babette nachhaltig belehrt, glaubte er jetzt endlich zu wissen, wozu ein weibliches Wesen am besten diente. So fand das neue Bett seine kernige Einweihung.

***

Auch eine üble Zeit findet einmal gottlob ihr Ende - so auch Franzens Gymnasialbesuch.

Mit der Abscheu des Gerechten ließ er die despotische Schule mit ihren dummen Professoren zurück. Niemals wieder würde er diese Zwangserziehungsanstalt freiwillig betreten, schwor er sich (zwei Mal war er sitzengeblieben).

Mit einem Bruchdreier hatte er sie abgeschlossen. Diese Note war ein Gnadengeschenk, der Reputation und Fürbitte des Vaters, den Herren Professoren und dem Studiendirektor gegenüber geschuldet. Nachdem er das Absolutorium bestanden hatte, tauschte er unter dem Tor des Gymnasiums, im Verein mit den Klassenkameraden, die bunte Schülermütze mit der leuchtenden Rotkappe des angehenden Studenten. So mit dem neuen Standeszeichen versehen zog man einige Tage singend und saufend durch die Stadt.

Selbstverständlich war für ihn nun das künftige Studium der Rechte vorgesehen, wofür er insgeheim keine Neigung zeigte. Zuvor aber stand auf Drängen des gestrengen Familienvorstands der Militärdienst, ohne die Privilegien des Einjährig Freiwilligen, der in der Behandlung gewisse Vorteile genoss. Das war als eine nachhaltige Belehrung für den Sohn gedacht. Wovon der Justizrat sich für ihn, eine “durch die Schule der Nation erfolgende männiglich-sittigende Reife” erhoffte, wie er sich auszudrücken pflegte.

Immerhin hatte er Glück. Es verschug ihn in kein fernes oder ödes Nest; eingezogen wurde er in die hiesige Garnison. Jedoch: Der Kasernenhof war nicht nach Franzens Geschmack; er war ihm ein Gräuel. Denn zu seiner großen Überraschung traf er auf eine Armee, die sich entschlossen hatte, den alten Schlendrian fahren zu lassen und es den Preußen in allen Stücken nachzutun.

Das war dem 1866er Krieg an der Seite Österreichs gegen das ungeliebte Preußen geschuldet, der sich für die Bayern kurz aber schmerzvoll gestaltete. Neben der Niederlage selbst beklagte man über 10.ooo Tote. Die Folge war 1867 ein Schutz- und Trutzbündnis Königs Ludwig II. mit dem Sieger.

Wer Neues einführt, schießt meist über das angestrebte Ziel hinaus.

Das Gebrüll der Unteroffiziere und jungen Leutnante ging ihm auf das Gemüt, ebenso die unnachsichtig geforderte Disziplin. In den Instruktionsstunden, wenn er auf hartem Schemel saß, hieß es gleich vom Korporalschaftsführer, einem bärbeißig alten Sergeanten "sitzen Sie nicht so krumm, gerade Haltung, Mann!" Franz musste sich überhaupt wundern, dass ein so grober, ungebildeter Mensch den Lehrer spielen durfte. Dazu kam der ständige Drill, der einem das Letzte abforderte. Das Essen, das einem hier vorgesetzt wurde, konnte er nur als Fraß bezeichnen. Sich selbst in einem ansehnlichen Speiselokal zu versorgen, war verboten. Die Bauernburschen- und knechte, die all' die abgeforderten Strapazen scheinbar mühelos ertrugen, schlangen es mit Heißhunger hinab, ihn ekelte davor.

Was ihn nachhaltig befremdete, es schien ihm, dass er im Ansehehen der Vorgesetzten unter diesen ungebildeten, rülpsenden und furzenden Bauernmannschaften stand. Manchen Spott musste er von diesen primitiven Kerlen einstecken. Schon weil er keine Schwielen an Händen vorweisen konnte, war das für sie Grund genug, ihn auszugrenzen.

Besonders zuwider war ihm das tägliche Stuben- und Revierreinigen. Vor allem das Reinigen der Toiletten, wofür man ihn mehr als einmal einteilte. Eine Tätigkeit, die eines gebildeten Menschen aus gutem Hause unwürdig war, wie er fand. Das Dasein war ein Elend und ein Kreuz. Heftig begann er an Ruhm und besungener Ehre des Soldatentums zu zweifeln.

Einem ausgewiesenen Muttersöhnchen war das alles zuviel.

Hätte er nicht immerfort sich selbst gesehen, er hätte Trost finden können. Da war zum Beispiel der Flügelmann des Zuges, ein hochgewachsener Mensch mit feinen Manieren und intelligenten Gesichtszügen. Eines Tages fragte diesen der kommandierende Kompanieoffizier: “Was sind Sie von Zivilberuf?”

“Professor, Herr Leutnant!”

“Professor? Nur Brotfresser sind Sie hier!”

Wenn er nach getanem endlosen Tagewerk total erschöpft, auf seinem durchgelegen, harten Strohsack in der Mannschaftsstube lag, dachte er wehmütig an sein Bett zuhause. In dem hatte er manch' schöne Stunde müssig verträumt.

Geschlagene drei Monate führte er nun das Leben im bunten Rock.

Jeder Tag kam ihm endlos vor. Er ertappte sich, wie er sich in die verhasste Schule zurücksehnte. Nur die Sonntage waren erhebend, wenn er im Glanze der Uniform Ausgang hatte (selbstverständlich bestand seine nicht aus “den Lumpen” der Bekleidungskammer. Seine war auf Vaters Kosten vom ersten Uniformschneider des Platzes maßgeschneidert). Aber auch da gab es den berühmten Wehrmutstropfen im Kelch der Freuden: der Ausgang war zeitlich streng reglementiert. Wehe dem Unglücksraben, der die Vorgabe nur um eine Minute überschritt!

Für diesen Sonntag hatte er sich mit einem netten kleinen Bürgermädchen verabredet, das er vor kurzem kennenlernte. Im Hofgarten war der Treffpunkt. Im berühmten Cafe Mazzoni (der mit den hübschen Töchtern!), wo man neben gutem Kaffe feine Torten und Liköre anbot. Anschließend, vielleicht, stand der Englische Garten an, der zur schönen Jahreszeit mit seinen lauschigen Ecken für gewisse Dinge gute Gelegenheit bot.

Beschwingt schritt er der Torwache zu. Dort wurde er zu seinem Ärger einer peinlichen Visitation unterworfen. Das Ergebnis war entehrend, niederschmetternd. Fingernägel unregelmäßig geschnitten, auf dem Koppel ein blinder Fleck, Schuhputz mangelhaft, Halsbinde verrutscht, bemängelte der Unteroffizier. Er zog den Urlaubsschein ein und schickte unseren Freund mit den Worten: “Schwirren Sie ab, Sie krummer Hund!” zurück. Noch nie in seinem Leben war man derart roh mit ihm umgesprungen, hatte man ihn so beleidigt. Das war eine bittere Pille, die zu schlucken ihm kaum möglich war. Seine Wut ertränkte er in der Kantine, mit gutem Bier hiesiger Brauereien.

Der folgende Tag, der Montag, sollte der schlimmste seiner bisherigen Soldatenzeit werden.

Er begann mit dem üblichen Antreten und dem Morgenappell.

Der dicke, gestrenge Kompaniefeldwebel mit dem wallenden Rauschebart, auf dessen breiter Brust Auszeichnungen glänzten, darunter das hochgeachtete Ordensbändchen des Eisernen Kreuzes des 70er Krieges zeigte sich von Anfang an nicht als Franzens Freund. So auch jetzt. “Mann!” schrie er, dass es einem durch Mark und Bein ging, “Sie laufen ja halb nackt herum!”

Franz sah ihn verständnislos an. Der Vorgesetzte half ihn auf die Sprünge. “Der vierte Knopf der Montur, Sie Tränentier! Vom Koppel aus.” Tatsächlich, der fehlte.

“Von hier zum Kugelbaum sind es genau einhundert Meter. Zehnmal hin und zurück, im Laufschritt. Marsch, marsch, Musketier Wörl!”

Als dieser nach zurückgelegter Strecke schweratmend vor ihm stand, zog der Feldwebel sein gefürchtetes dickes Notizbuch, den 'Kohlekasten'. “Wieder einmal ein Minuspunkt. Noch einer und der nächste Ausgang ist gesperrt!” Verbittert dachte Franz, dass die Person eines Feldwebels in den Augen des gehobenen Mittelstandes und des Bildungsbürgertums nicht viel galt, eher neben einem Leutnant als Witzfigur bekannt war. Hier aber, in diesen Mauern, war er eine furchtbare und schreckliche Macht.

Nach dieser Strapaze ging es mit feldmarschmäßiger Ausrüstung auf einen Marsch. Zwanzig Kilometer mit nur kurzen Pausen, aber vielen schikanösen Extraeinlagen.

Völlig erschöpft kehrten die Soldaten in die Kaserne zurück. Sofort ging es über in die Reinigung der Montur und sämtlicher Ausrüstungsgegenstände, dann endlich, die ersehnten zwei Stunden Mittagspause. Den Nachmittagsdienst trat Franz zerschlagen, mit schmerzenden Gliedern an. Viele Blasen hatte er sich gelaufen. Ein übler Exerzierdienst folgte, der den letzten Rest an Kraft aus den Mannschaften holte.

Musketier Wörl glaubte sich seinem Ende nahe. Krebsrot im Gesicht, nach Luft ringend, wagte er es seinen Unteroffizier um Dienstbefreiung zu bitten. Der hatte zunächst mit seiner Überraschung über diese unerhörte Forderung zu kämpfen. Auch sein Gesicht gewann eine andere Farbe; sodann überschüttete er den Bittsteller mit Kübeln übelster Stilblüten des Kasernenhofs.

Just in diesen Moment bog sein Hauptmann, der Kompaniechef, auf den Hof ein. Der war Franzens Rettung, denn der gab sich als ein seelenguter Herr. Er brüllte und schimpfte nicht, seine Art war wohlwollend väterlich. Gerade aber plagten ihn Ärger und Sorgen. Die Kleiderkammer wies einen Fehlbestand auf. War der nicht klärbar, hatte er die Kosten aus eigener Tasche zu tragen. Also war sein Kopf voll Sorge, als unversehens ein Musketier auf ihn zutrat, ein Jammerbild von einem Soldaten. Schlapp in der Haltung, schlapp im Gruß und vollkommen vorschriftswidrig in der Anrede. Der überrumpelte Hauptmann verstand nur soviel, dass dieses krumme Individum um sofortige Dienstbefreiung wegen eingetretener Erschöpfung bat; da stieg ihm mächtig der Kamm. Über das Haupt des Musketiers Franz Wörl entlud sich ein noch nie gehörtes Donnerwetter; das selbst abgebrühte Altgediente erschauern ließ. Es endete damit, dass er acht Tage Mittelarrest aufgebrummt bekam, die er sofort abzusitzen hatte.

Nach dieser Erfahrung beschloss unser Franz, hinfort nicht mehr länger zu dienen.

Er besann sich eines alten Freundes seines Vaters, eines Medizinalrats, eine über die Grenzen weithin gerühmte Kapazität. Den suchte er auf. Mit dessen Attest, das ihm Senk-, Knick- und Plattfüße sowie einen beginnend chronischen Herzfehler bescheinigte, nahm er von der ruhmreichen Königlich Bayerischen Armee Abschied.

***

Der gewesene Soldat, der leider, leider schweren Herzens und nur unter dem Zwang gesundheitlich bedrohlicher Umstände halber seinen Abschied nehmen musste, wie er jedermann versicherte, begann seine neue Laufbahn an der Univerität München. Hier bereitete er sich auf die juristische Laufbahn vor.

In den Augen der Studenten überstrahlte aber den Ruhm der Uni bei weitem die umliegenden Restaurationen und Wirtshäuser, von der Anziehungskraft der Münchnerinnen, den koketten, jung-knusperigen, ganz zu schweigen. Unter diesen besonderen Umständen gestaltete sich das Studium zäh und langwierig. Repititoren und Tutoren bekamen Arbeit. Sie verdienten an dem säumigen Studiosus Franz ein schönes Stück Geld. Vater Wörl zahlte zähneknirschend.

Zeigte er sich in den juristischen Kenntnissen bedauerlich schwach, konnte man ihm das Eine nicht nachsagen, nämlich, dass er die studentischen Gepflogenheiten außer Acht ließe, denen er mit heiligem Eifer folgte. Beim Zutrunk leerte er das Bierseidel in einem Zug. Auf dem Fechtboden glänzte er mehr durch Ungestüm als durch Anmut. Sämtliche Lieder, die seit alten Zeiten im Schwange waren, kannte er auswendig. Mit tiefen Baß sang er:

“Vom hohen Olymp herab, da komm ich her …”

Während dieser Zeit hatte sich der Studiosus nicht nur einen Bierbauch angelegt, er war auch zum strammen Deutsch-Nationalen geworden. Der Burschenschaft, der er beigetreten war, trug stolz die Reichsfarben Schwarz-Weiß-Rot.

Großes hatte sich im Vaterlande getan. Bismarck brachte seine Sozialgesetzgebung auf die Bahn, das Alters-, Invaliden-, Kranken- und Unfallsversicherungsgesetz, das erste seiner Art in Europa. 1884 erwarb das jung geeinte Deutschland Kolonien: in Südwestafrika, Togo, Kamerun, Ostafrika und in der Südsee, ein Teil Neuguineas wurde unter den Schutz des Reiches gestellt.

Aber auch die Vaterstadt stand der Entwicklung des Reiches in nichts nach, auch sie erstrahlte im neuen Glanz und war sehr gewachsen. 1854 erfolgten die Eingemeindungen Giesings, Haidhausen und der Au. Die neue Größe stellte sie mit dem Bau des Neuen Rathauses im neugotischen Stil zur Schau. Dies fand im Jahre 1867 statt. Seit 1882 begann die zügige Elektrifizierung. Die Trambahn fuhr seit 1876. Ihr Verkehrsnetz erweiterte sich fortwährend. Münchens Mauern bargen jetzt ein Nationalmuseum und eine Technische Hochschule.

Nicht zuletzt konnte man sich eines Max von Pettenkofer rühmen. Sogar dem einfachen Mann auf der Straße, nicht nur in der Residenz- und Landeshauptstadt sondern in ganz Bayern, war der Professor bekannt, durch das “Pettenkofersche Quantum”. Das gestand einem täglich zwei Maß Bier zu. Wenn es bei dem nicht blieb, es zwei oder drei Maß mehr wurden, machte das auch nichts, so der vorherrschend-beruhigende Gedanke.

Pettenkofer, der Direktor der Hygiene, Initiator des vorbildlichen Abwasser, Kanalisations- und Trinkwassersystems, das der gefürchteten Cholera, die das letzte Mal in München verheerend 1851 zuschlug, für alle Zeiten den Garaus machte.

Wie unendlich groß dieser Verdienst und der allgemeine Nutzen zu veranschlagen war, zeigte sich im Jahre 1892 in Hamburg,! Da schlug die mörderische Seuche mit einer derartigen Wucht zu, dass die Nachrichten über diese Epedemie um die ganze Welt lief. Über 8.600 Todesfälle und die doppelte Anzahl an Erkrankungen in einem Zeitraum von nur zwei Monaten - August und September - waren zu vermelden. Neben der persönlichen Angst und dem Leid der Einwohnerschaft gesellte sich der ungeheure Ansehensverlust der alten Hansestadt und der wirtschftliche Schaden in dreistelliger Millionenhöhe. Das Tor zur Welt hatte in jener Zeit jeden Glanz verloren.

Jedermann durfte auf die Gegenwart stolz sein, im Einzelnen wie im Gesamten. Der ärgste Grimm der Bayern über die verlorene Souveränität hatte sich gelegt. Wer im Privatleben sich schwer tat, trug in seiner Brust immerhin das Gefühl des Stolzes, Teil einer großen und geachteten Nation zu sein. Die glorreiche Zeit, von der die Großväter im zerstückten Deutschland vergebens geträumt hatten, war angebrochen. Die Zukunftsaussichten, das spürte besonders das Münchener Bürgertum, waren herrlich.

Was der Vater kaum mehr glaubte, der Sohn schloss sein Studium ab. Er hielt das Befähigungszeugnis für den Eintritt in den juristischen Vorbereitungsdienst in Händen, freilich mit einer Jammernote. Als Rechtspraktikant am hiesigen Amtsgericht bereitete er sich lässig auf die zweite Staatsprüfung vor. Die legte er mit Erfolg ab. Unter 403 Prüfungskandidaten belegte er den Platz 297.

So, wie die Dinge standen, würde Franz nie in den Königlich Bayerischen Staatsdienst als Staatsanwalt oder Richter treten. Nie würde er in der Beamtenwelt eine geachtete Rolle spielen. Die goldene Auszeichnung für fünfzigjährig gehobenen Beamtendienst würde ihm damit versagt bleiben.

Der geplagte Vater regestrierte es grimmig.

Neben dieser familiären Katastrophe ging fast eine andere, staatstragende, unter. Am 13. Juni 1886 fand König Ludwig II. den Tod. Die Umstände waren seltsam. Wilde Gerüchte durchschwirrten München und das Land. Der “Kini”, wie man ihn nannte, sei bei Schloss Berg am Starnberger See nahe dem Seeufer ertrunken. Mit ihm der begleitende Irrenarzt, der ihn kurz vorher auf Schloss Hohenschwangau, nach Beschluss des königlichen Kabinetts, für regierungsunfähig erklärt hatte. Das Gutachten, das zu diesem Akt diente, stützte sich eben auf jenen Arzt, der dem König eine partielle Geisteskrankeit attestierte, ohne je mit ihm gesprochen zu haben.

Bürger und Bauer zeigten sich in der Ansicht einig - das war Mord!

Der Schuldige war der Malefizpreusse, der Bismarck! Die Einen sagten, er habe den König persönlich ertränkt; die Andern, er habe ihn hinterrücks erschossen und dann ins Wasser geworfen. Wieder Andere meinten, beides hätte stattgefunden. Besondere Nahrung fanden die Gerüchte durch den Umstand, dass der König seit Jahr und Tag die Stadt und den Umgang mit den Untertanen ängstlich scheute.

Wie dem auch sei, das Ereignis machte tiefen Eindruck. Die Betroffenheit und die Niedergeschlagenheit der Menschen war echt.

Nun, als Toter kehrte Ludwig II. in seine ungeliebte Residenzstadt zurück.

Das Leichenbegängnis gestaltete sich, wie es die Münchener schätzten und liebten, nicht unähnlich den Wienern. Die ganze Stadt war auf den Beinen. Ein selten feierliches Gepränge bot sich den Neugierigen: Aufgereiht säumten rechts und links des Weges schwarzbehangene hohe Philonen, aus deren Schalen unruhige Flammenbündel zackten. Die prächtigen, weiß-blau-silberbesetzten Uniformen der Hatschiere zeigten dem Auge Martialisches. In deren Mitte befand sich der Katafalk des Toten, von schwarzen Sternrappen gezogen, unter dem Glockengeläut sämtlicher Kirchen. Dahinter der Hofstaat in Gala und der Hochadel Europas; von der begleitenden weihrauchschwenkenden Geistlichkeit, in prächtigen gold- und brokatgestickten Gewändern ganz zu schweigen..

Das machte tiefen Eindruck. “A schene Leich’ is’”, stellte man allgemein befriedigt fest.

Dieser Umstände und der Tatsache halber, dass der König in den Köpfen eine unantastbar geheiligte Person darstellte, vergaß man, dass Ludwig der unfähigste König des Jahrhunderts war. Durch seine manische Bausucht (nach seinem Tode, so verfügte er, sollten seine Schlösser gesprengt werden) und seinen Wagnerkult drohte Bayern der Bankrott. Die krankhafte Verehrung des vergangenen absolutistischen Königtums Frankreichs und da besonders des sogenannten Sonnenkönigs hatte ihn längst jeden Bezug zur Realität verlieren lassen. Die Welt, wie sie war, akzeptierte er nicht.

Was wusste das Volk schon über ihn, über dessen dunkle Begierden und trübe Neigungen. Er, der ängstlich-menschenscheu nur noch Umgang mit männlichen Dienern hatte. Unter seiner Regierung war der Königsthron quasi verwaist.

Viele, die es wissen mussten, vergaßen es. So lebte dieser unglückselige Wittelsbacher Spross im Gedächtnis des Volkes fort und fort, wie das liebliche Schneewittchen im Märchen.

Wie dem auch sei, seine Nachfolge trat der in seinem sechsundvierzigsten Lebensjahr stehende, leutselige Prinz Luitpold an, Sohn König Ludwigs I. Statt König nannte er sich aus Pietät Reichsverweser, da der rechtmäßige Nachfolger der jüngere Bruder Ludwigs, Prinz Otto, gewesen wäre. Der aber saß seit vielen Jahren als unheilbar Geisteskranker in einer privaten Irrenanstalt.

Wer da nun annimmt, Sohn Franz hätte sich seinige und diese Begebenheiten besonders zu Herzen genommen, der irrt. In manchen Sachen zeigte er sich kalt bis auf des Herzens Grunde.

Die kommenden zwei Jahre ließ er gemächlich angehen.

Irgendwie schaffte es der frischgebackene Jurist Franz, in dieser Zeit eine zusammengeschusterte Doktorarbeit zu fabrizieren. Eine fernabgelegene, unbedeutende Universität nahm die Dissertation für ein schönes Stück Geld aus der geheimen Schatulle der Frau Mutter an. Das folgende Rigorosum ließen ihn die gelangweilten Herren Prüfer mit Ach und Krach bestehen. So errang er den begehrten vollakademischen Grad.

Währenddessen wurde seinem Antrag auf Zulassung als Rechtsanwalt in hiesiger Stadt beim Kgl. Amtsgericht, stattgegeben. Der bürgerlichen Reputation war damit Genüge getan und der Grimm des alten Herrn einigermaßen besänftigt. Mutter, Nachbarschaft, Verwandtschaft und Bekanntschaft jubelierten. Doch niemand zeigte sich auf vollbrachte Leistungen stolzer als er selbst.

Nach all' diesen Mühen und Plagen, die der frischgebackene Dr. jur. Franz ausgestanden hatte, wurde ihm sein Bett aus den Altmünchener Meisterhänden des Pancratz Josef Hiereis lieb (wie der es damals richtig voraussagte). Im Trubel der Welt bot es festen Halt und verlässlichen Ruhepunkt. Ganze halbe Tage hielt er in ihm liegend stille Zwiesprache - oder er teilte es großzügig mit Mädchen, immer dann, wenn die Eltern sich länger außer Haus befanden. Der gestrenge Herr Vater sah dies und das und ahnte jenes - Freude daran fand er nicht. Sein Grimm stieg, den auch Frau Mamas stehende Rede nicht milderte: "Der Bub ist noch jung und unbesonnen, aber warte nur ab, wenn er erst reifer wird …"

Eines Tages packte der alte Wörl, wie man sagt, den Stier bei den Hörnern. Er richtete eine peinliche Frage an den Sohn, nämlich die, wie er denn sich konkret seine Zukunft vorstelle. Jener sah ihn etwas verständnislos an und zuckte ratlos mit den Schultern.

Daraufhin wurde er in Ungnade aus dem Elternhaus entlassen. Der Herr Justizrat wollte, wie er seiner darob aufgelösten Frau erklärte, die letzten Jahre vor der Pensionierung beschaulich und in häuslicher Ruhe verbringen.

Mit Bangigkeit machte sich Franz auf den Weg.

Allerdings begleiteten ihn neben den Tränen der Mama 500 Mark aus deren Hab als Kapital. Mit diesem Geld hatte er sich eine eigene Existenz aufzubauen. Selbstverständlich ging auch das Bett bei seinem Auszug mit. Babette, das Hausmädchen, hatte schon vor einiger Zeit das Haus verlassen, da sie sich auf dem Lande verheiratete. Ihre Nachfolgerin nannte sich Anne, ein hübsches Ding. Auf Drängen der Frau Mama folgte sie ihm als guter Hausgeist, auf dass er im neuen Haushalt eine tüchtige Hilfe habe und nicht verloren sei.

Als dies geschah, befand sich der gute Franz im achtundzwanzigsten Lebensjahr.

Entgegen aller stillen Hoffnungen der Eltern, vor allem der Mutter, hatte der Sohn auch jetzt noch immer nicht die geringste Vorstellung was in der nächsten Zukunft geschehen solle. Wenn er ihnen ab und an, bei früherer Gelegenheit und gegenwärtig, seine Pläne entwickelte, immer mit glühendem Eifer, glaubte er selber fest daran. Allein, wenn das Feuer der Fantasie erlosch, und das geschah allemal schnell, kehrte die leere Rat- und Tatenlosigkeit wieder.

Also ohne Ahnung, stattdessen in seinem Gepäck die neuesten Ausgaben von Karl May, dessen Ruhm im Reich gerade zu strahlen begann, trat er den Weg in die ihm zugewiesene Selbständigkeit an. Der beliebte Reiseschriftsteller eschien erstmals in Buchform, im Verlag Fesenfeld. Sechs Bände mit dem Titel "Durch die Wüste". Vorher waren sie in diversen Wochen- oder Monatsheften als Fortsetzungsromane zu erwerben, wie zum Beispiel in der “Gartenlaube und im “treuen Kamerad”, für jedermann gegen Pfennigbeträge zu haben. Dieser heißbegehrt-exotische Stoff entführte aus seiner zahmen Welt in bunte Abenteuer, daher den Knaben in Schule und Elternhaus meist streng untersagt, natürlich auch bei Franz. So las man heimlich, mit glühenden Ohren. Nun - nach seinem Auszug - wollte er Verbotenes nachholen. In aller Muße konnte er jetzt den schier unglaublichen Abenteuern des weitgereisten Dr. Karl May, alias Kara ben Nemsi, folgen (den er ob seiner bunten Erlebnissse glühend beneidete). May wusste unnachahmlich farbig und packend zu erzählen. Und glänzend die Gewalt seiner Sprache, die Charaktere der Personen, das tiefe Wissen um fremde Völker und ausgefallene Sprachen! In seinem Werk fanden sich Perlen des Humors, in Situationen und Handelnde gepackt. Und all' das beruhte auf Wahrheit - "Selbst erlebt!" wie der Autor nimmermüde versicherte (sehr viel später sollte sich zu seiner Enttäuschung herausstellen, das alles, auch der Doktortitel, erdichtet war).

Wenn schon das Morgen recht unsicher war und ihm vor der Zukunft heimlich graute, fände er darin Trost, Erbauung und Ablenkung. Und natürlich bei Anne, dem begleitenden Hausgeist für alles. Auf jeden Fall war sie ein allerliebst gefügiges Mädchen, welches seinem Hang zum Hauspersonal liebevoll entgegenkam.

Kapitel II

Es muss geheiratet werden – Alte Freundschaft lebt wieder auf

Die liebe Vaterstadt hatte Franz nicht verloren. Etwa zwanzig Minuten zu Fuß vom Elternhaus entfernt befand sich das neue Domizil.

Entweder lag er angekleidet im Bett und träumte haltlos vor sich hin, oder er starrte die Zimmerdecke an, ohne dabei an etwas zu denken. Meist aber stand er am Fenster. Dabei ertappte er sich ab und an, dass er einen Schuster- oder Bäckerjungen beneidete, der sorglos vor sich hinpfiff.

Seine jetzige Behausung lag in der Ludwigstrasse, einer der vornehmen Prachtstraßen Münchens. Da die Mieten der Örtlichkeit angemessen, also unverschämt hoch waren, wohnte er fast an deren Ende, dem Norden zu, wo bald das ländlich-dörfliche Umfeld begann und daher dem schmalen Beutel sich erschwinglicher gestaltete.

Wenn er also am Fenster stand, zweiter Stock, blinkte unter ihm , am breiten Hauseingang ein großes, poliertes Messingschild, auf dem zu lesen stand:

Dr. jur. Franz Wörl

Anwalt für Straf- und Zivilrecht

Allein, das Schild reichte nicht, um die Praxis zu füllen. Auch nicht die eine Wandseite des Büros, dessen gesamte Höhe und Breite ein Regal einnahm, vollgepfropft mit juristischer Fachliteratur, welche den staunenden Laien beeindrucken musste. Was der Betrachter nicht ahnen konnte, diese Fachliteratur bestand durchgehend aus wertloser Makulatur, alten ausgedienten Amts- und Verordnungsblättern, gebunden in gewichtige Einbände, um ein Billiges aus dem Antiquariat erstanden.

Zu seinem neuesten Erwerb gehörte auch ein Monokel, obwohl er hervorragend gute Augen hatte. Wenn ein sorgenbeladener Mandant ihm vertrauensvoll gegenübersaß, klemmte er es sich auf den Nasenrücken. Das hob bedeutend den Eindruck der Gelehrsamkeit. Wie gesagt, er tat es hiermit den Vielen nach, deren Motto lautete: "Mehr scheinen als sein - die dumme Welt will betrogen werden."

Wenn er müßig das Gewühl der Straße betrachtete, die Droschken, Lohnfuhrwerke, sonstige Gefährte aller Art und die Leute, die scheinbar alle einer Beschäftigung nachgingen, erfasste ihn Bitternis. Und besonders dann, wenn er den Blick hin gegenüber zur Stadtmitte schweifen ließ. Da befand sich die alteingesessene Advokatur Siberstamm & Güldenmann. Die tat seinen Geschäften heftigen Abbruch, da gab sich eine zahlreiche Mandantenschaft die Klinke in die Hand. Ein heimlicher Groll gegen die auserwählten Söhne Jehovas hatte Besitz von ihm ergriffen. Den kollegialen Kontakt mit diesen Itzigs, wie er sie zu nennen pflegte, lehnte er kategorisch ab. Mit seiner Abneigung gegen dieses Volk stand er nicht alleine. Alle Korpsbrüder aus alten Studententagen teilten sie.

Die Fußgänger da unten hoben seine Laune ebenfalls nicht. Die nämlich gehörten größtenteils dem situierten Bürgertum an. Warum, zum Teufel, führten die keine Prozesse, lag ihnen doch die Streitsucht im Blut. Und wenn, warum kamen sie nicht zu ihm. Selbstbewusst und selbstzufrieden ging er einher, dieser Münchner Schlag. Etwas robust fettleibig-ordinäres zeichnete die raumgreifenden Figuren und Gesichter aus, mit den dichten, weitausgezogenen Schnauzbärten, die kaum mittlere Körpergröße erreichten, über deren pralle Bäuche protzige Uhrketten hingen und denen der Früh- und Dämmerschoppen und ihr Verein heilig waren.

Die Mode der Damen hatte sich geändert. Die ausladende Weite der Kleider war verschwunden. Jetzt trug die zeitgemäße Dame vom Kinn bis zu den Knöcheln sich hochgeschlossen in Tüll, Taft, Seide und Rüschen, wobei das Hinterteil durch übermäßige Polsterung und breiten Schleifen besondere Beachtung fand. Verunzierend und hässlich fand Franz das besonders bei Matronen mittleren Alters, bei denen die Fettleibigkeit begann. Die da promenierten, hatten sicher irgendwo auf dem Lande einen Sommersitz, der in der Baulichkeit genauso geschmacklos auftrat wie sie. Und deren Stadtwohnungen wiesen in der Belletage sicher eine Bibliothek, Musik-, Speise- und einen Gesellschaftsraum auf, überladen mit Plüsch und Pomp, ordinär wie die Besitzer.

Es tröstete nicht, dass er ab und an den Prinzregenten von seinem Logenplatz aus betrachten durfte, der sich in einem einfachen, offenen Wagen leger, ohne große Begleitung, nach allen Seiten freundlich grüßend kutschieren ließ.

Wenn Franz einen Mandanten empfangen durfte, hatte er es meist dem Vater zu verdanken, der kurz vor der Pensionierung stand. Immer ging es um unbedeutende Fälle. Das Honorar war danach. So minderten sich die Sorgen nicht, vor allem, wenn er auf seine schwindenden Kapitalien sah. Wäre da nicht die Mutter gewesen, die hilfreich zur Seite stand, manch' schlaflose Nacht mehr hätte er gehabt. Da aber war auch noch Anne, sein Hausmädchen für alles. Wie erwähnt, das “Alles” darf man getrost wörtlich nehmen. Sie war gefügiger Trost unruhiger Nächte und unausgefüllter, langweiliger Tagesstunden. Er nannte sie Mieze.

Wieder einmal stand Franz am Fenster und sinnierte über den baldigen Bankrott. Da trat der gute Hausgeist Anne ein und meldete mit einem Knicks: “Gnädiger Herr, im Vorraum wartet ein Herr, er bittet empfangen zu werden."

Auf einem kleinen Tablett reichte sie eine Visitenkarte. Franz las: Alois Bieringer, Metzgereibesitzer im Thal, Königlich Bayrischer Hoflieferant.

“Was will er, ist er ein Mandant?”

“Das weiß ich nicht, gnädiger Herr.”

“Führe ihn herein!”

Es trat ein stämmiger, runder Bayer mit gewaltigen Knebelbart ein. “S’god, Herr Dokta”, sagte er, den Hut mit zierendem Gamsbart leicht lüpfend.

“Ja bitte, was kann ich für Sie tun?” fragte der Beehrte, mit der Würde des überlegenen Anwalts.

“Passen's auf, da wern’s spitzen! I’ bin der Vata von der Klara, de wo mei Tochta is’, ham’s me!”

“Äh, nein, nicht ganz,” sagte Franz.

“Hammas glei,” meinte der robuste Metzgermeister mit dem beeindruckenden Knebelbart. “Mei Klara is’ nämlich schwanga, von Ena! I’ bin net da, dass i an Ramasure mach deswegn. Aba g’heirat muss wern!” zur Bekräftigung stieß er den mit Silberknauf verzierten Spazierstock kräftig auf.

Der Herr Anwalt setzte sich überrumpelt. Um nur irgend etwas zu sagen, stammelte er: “Da-darf ich Ihnen etwas anbieten?”

“Na-a!”

Klara, Klara, Klara … ging es ihn im Kopf um. Momentan konnte er mit diesen Namen nichts anfangen. Seine letzte Flamme war Monika gewesen. Da begann es zu dämmern. Letztes Frühjahr, Englischer Garten … Er dachte an den drohenden Skandal und fand keine Worte. Nervös fingerte er nach einer Zigarette am Rauchertischchen - die Überraschung war einfach zu groß. Er sah das Gegenüber an, das man hiesig und weit über heimische Breiten nur den ungekrönten Weißwurstbaron nannte. Undeutlich fühlte er, dass er dem Meister jener Spezialität, die Müchen seit 1857 beglückte, nicht gewachsen war. Geschweige denn, dass mit dem Meister zu spaßen war.“Aber, aber ich, Herr …” begann er unsicher. “ …bedenken Sie – ich - meine finanzielle Lage, ich …”

“Wos hoaßt da finanzielle Lage!” der Königlich Bayrische Hoflieferant strich sich über die Spitzen des Bartes. “Mei Klara kriagt 120.000 Markl Heiratsgut mit, hams’ me, Herr Dokta!”

Ein-hun-dert-zwan-zig-tau-send Mark! Dr. Franz hatte auf Anhieb verstanden. Seine flüchtige Liebe zu dem Mädchen zeigte scharfe Konsequenzen, die aber wurden gehörig versüsst. Eine geteilte Liebe, nämlich die zu ihrem Geld, war ja auch eine Liebe. Diesen Gedanken schob er sogleich von sich; der war eines Mannes seines Schlags nicht würdig. Es wollte ihm scheinen, dass sie auch anders aufs Neue erwachen könne.

Und als ob der künftige Herr Schwiegerpapa seine Überlegungen erraten hätte, sagte er: “Wenn d’ Liab no net da is’, Herr Dokta, de kimmt von alloa!”

“Selbstverständlich werde ich mich der Ehrenpflicht nicht entziehen. Hinzu kommt, dass ich Ihre Tochter, das Fräulein Klara aufrichtig verehre, Herr … ah …”

“Bieringer!” half der nach.

“Gut, einverstanden! Ich wiederhole, ich erkläre bei meinem Ehrenwort, Ihre Tochter zu heiraten.”

“Und des a’ bissl schnell, wenn i’ bitt’n darf, Herr Dokta!” quittierte der künftige Schwiegervater in gebieterischen Ton.

“Jawoll!”

Mit den Worten: “Sie hörn von mir!” nahm er seinen Abgang. Einen Franz zurücklassend, in dessen Gehirn eine gewisse Leere herrschte. Nur langsam erholte er sich von diesem unverhofften Schlag. Nach und nach begann es ihm zu dämmern, dass es bald mit der ungebundenen Freiheit vorbei sei.

Trost fand er im guten Bier des Löwenkellers, und in dem anziehenden Hausgeist für alles, seiner vielbewährten "Mieze" Anne.

Die Hochzeit und die sich anschließende Festivität fand, wie es sich gehörte, im gehobenen bürgerlichen Stil statt. Den Rahmen, den goldenen sozusagen, bildete als Ehrengast der Herr Gerichtspräsident. Auch dem Fortschritt der Moderne zollte das Hochzeitspaar den notwendigen Tribut. Es ließ sich von einem anerkannt meisterhaften Lichtbildkünstler Daguerreotypien anfertigen, auf dass nicht nur die nähere und weitere Anverwandtschaft eine bleibende Erinnerung habe, sondern auch eine geneigte Nachwelt Kenntnis von diesem Ereignis besitze.

Eine dreiwöchige Hochzeitsreise schloss sich an. Die führte in das schöne Italien, dem Sehnsuchtsland der Deutschen, dem Franz aber nichts abgewann. Die Hitze, die dem männlichen Gehör weibisch klingende Sprache, der vorherrschende Schmutz, die Moskitos deren Stiche er jeden Abend getreulich zählte, das ungewohnte Essen, das beständig leichtlebig-aufdringliches Volk mit der damit verbundenen allgemeinen Unordnung. Hinzu die faden Denkmäler, die es zu besichtigen galt, unnötig viel Krims-Krams, der als Erinnerungsstücke an jeder Station gekauft und mitgeschleppt werden musste und mit das Schlimmste - kein bayerisches Bier!

Was nützte es ihm, dass die frischgebackene Ehefrau von all' dem sich hell begeistert zeigte. Zudem musste Franz feststellen, dass Klara in erotischer Hinsicht keinesfalls das hielt, was er gewohnt war. Insgesamt gewann er, der eingeschworene Deutschnationale, auf dieser Reise nunmehr die unumstößliche Einsicht, dass das Deutsche Reich und speziell Bayern das einzig Wahre auf der Welt sei.

Freilich hätte der Vater, der Herr Justizrat Wörl, sich für den Sohn eine Braut aus dem Beamtenstand erhofft. Jedoch, betrachtete er die Höhe der Mitgift, die den Gegenwert eines kleinen Bauerngutes bedeutete, konnte er gegen diese Partie nichts einwenden. Auch nicht gegen den jetzt verwandten Metzgermeister Bieringer, dessen Stimme in der honorigen Bürgerschaft Gewicht hatte. Vegessen auch die sicher betrübliche Tatsache, dass das Mädchen schwanger vor den Altar trat. Nur Mutter Wörl sah speziell in diesem Umstand etwas Unschickliches, das sich dem Sohn gegenüber schwer verzeihen ließ. Doch lehrte die Erfahrung, dass dies bei ihr einen vorübergehenden Gemütszustand bedeutete, zumindest wenn die Gemütswallung ihrem gehätschelten Franz galt. So ging der nach bewährten Muster über ihre Vorhaltungen leichthin hinweg.

Klara, die nunmehrige Frau Franzens, hatte - wie es sich für die Tochter eines Metzgermeisters und Königlich Bayrischen Hoflieferanten gehörte - einen Ansatz zur Rundlichkeit. Die rosige Gesichtsfarbe, mit den runden Apfelbäckchen zeugten von guter Gesundheit. Griffig und mollig war sie anzusehen. Damit entsprach sie voll dem herrschenden Geschmack der Zeit. Einen Kopf kleiner und sieben Jahre jünger als der Gemahl, ging sie in die Ehe. Jedoch im Ganzen - ein prüfendes Auge konnte ihr zwar keine Hässlichkeit aber auch nicht auffallende Schönheit bescheinigen. Ihre Bildung zeigte sich im näheren Umgang schnell als mäßig, dafür hatte sie, wie man sagt, einen tüchtigen Hausverstand.

Die frischgebackenen Eheleute bezogen eine herrschaftliche Wohnung Richtung stadteinwärts, hinter dem Siegestor. Die Lage konnte, wie es sich gehörte, als exklusiv bezeichnet werden. Nur eine Nebenstraße trennte sie von der Theatinerkirche. Das Domizil wies gar ein neumodernes Bad mit getrennter Toilette auf.

Wenn er jetzt an einem der Fenster stand und einem an Kunden austragenden Bäckerjungen sah, erfasste ihn Mitleid. Nie würde diese Kreatur aus ihrem Sumpf aufsteigen. Wer wollte es Franz verargen, dass er sich in der Heimatstadt als erfolgreich aufstrebender Bürger sah.

Selbstverständlich hatte das altbewährte Bett den Umzug mitgemacht. Im Gästezimmer bekam es eine neue Stellung.

Die tüchtig-anhängliche Anne, die Mieze, wurde von der neuen Hausherrin kurz darauf mit einem zusätzlichen Lohn mit dem Laufpass bedacht. Zwischen ihr und dem ehemaligen Brotgeber fand kein tränenreicher Abschied statt. Ersetzt wurde sie durch eine ältliche Magd.

Durch den resoluten Schwiegervater begann auch die Anwaltspraxis zu florieren, was Franz nicht unbedingt recht war. Schweißtreibender Schriftverkehr, streng einzuhaltende Termine und die Lauferei zu Gericht liebte er nicht. Viel gemächlicher hätte er alles angehen lassen, wäre da nicht der aufdringliche Schwiegervater gewesen. Der kontrollierte ihn wie die Geschäftsgänge seiner Metzgerei.

Um dem zu entgehen, widmete er sich zäh und beharrlich seiner Frau. Langsam aber sicher gelang es ihm, sie dem übermächtigen Einfluss ihres Vater zu entziehen. Nicht unerheblich kam ihm dabei entgegen, dass ihnen vor Kurzem ein Kind geboren wurde: Ludwig Maximilian, ein strammer Junge.

Endlich, statt des Vaters war Franz nun ihr Leitstern. Und eines Tages bekam ein schwer überraschter, an Widerworte nicht gewohnter Bieringer zu hören: “Mein lieber Schwiegerpapa, meine Geschäftsbücher gehen dich nichts an!”

Der Kalender zeigte das Ende des Jahres 1888. Franz feierte seinen 29. Geburtstag.

Dies fast vergangene Jahr war ihm nicht nur wegen erfolgter Heirat und Geburt des Sohnes bemerkenswert. Nein, auch im Reich hatte sich umwälzend Neues, ja, Erschütterndes getan. Kaiser Wilhelm I., auch König von Preußen, der Sohn der verehrten Königin Luise, beschloss hochbetagt ein ereignisreiches Leben mit einundneunzig Jahren (vielleicht hätte ihn die Geschichte den Beinamen “der Große” verliehen, wäre er nicht Jahrzehnte über im Schatten seines Kanzlers Bismarck gestanden). Dessen Nachfolger, Kaiser Friedrich III., folgte ihm nach nur 99-tägiger Regierung in die Gruft.

Nach diesem tragischen Ereignis erfuhr man sodann von der erfolgten Krönung des jetzigen Regenten. Der, ein schneidiger selbstbewusster junger Mann, nannte sich Wilhelm II. Er versprach seinem Volk es herrlichen Zeiten entgegenzuführen. Niemand unter den respektablen Bürgern, der es ihm nicht geglaubt hätte. Dieser Ereignisse halber ging 1888 als das “Dreikaiserjahr” in die Geschichte ein.

Zwei Jahre später:

Die Geschäfte waren aufreibend, die Anhänglichkeit seiner Frau und die Lebhaftigkeit des kleinen Sohnes auch. Also saß Franz wie jeden Tag in der Restauration zum Hofgarten an seinem angestammten Platz, vor sich die Zeitung. Betrübliches musste er da vernehmen. Der Eiserne Kanzler, Bismarck, der Schmied des Deutschen Reiches, wie man ihn zu nennen pflegt, hatte aus der Hand Kaiser Wilhelms II. seine Entlassung erhalten. Umsonst zerbrach sich der Leser den Kopf, warum? Vielleicht war es wirklich an der Zeit, jüngeres Blut an das Ruder zu lassen. Oder wollte der Kaiser selbst übernehmen?

Noch viel schlimmer und betrüblicher las sich die Nachricht, dass die roten Proleten, die sich Sozialdemokraten nannten, nun legalisiert, sich in Halle als Partei konstituierten. Ja, ja, das Sozialistengesetz war ja aufgehoben. "Welch' normale Mensch sollte denn das verstehen!" fragte sich Franz empört. Diese Reichsfeinde gehörten doch wohl in das Zuchthaus und nicht in den Reichstag! Da ging die danebenstehende Nachricht fast unter: Erzeugung des Tuberkulin durch den weltbekannten Mediziner Robert Koch. Auch das bedeutete einen Meilenstein für die Menschheit.

Im Konzert der Völker begann Deutschland in der ersten Reihe mitzuspielen, sinnierte Franz. Wenn da nur nicht die Sozialde … Er wurde in seinem Gedankengang unterbrochen. Ein älterer Herr fragte, ob er an seinem Tisch Platz nehmen dürfe. Franz war die Erscheinung angenehm, er bejahte. Man stellte einander vor. Es entspann sich ein angeregtes Gespräch, in dessen Verlauf sich herausstellte, dass der Tischnachbar, ein Herr Schmidmann, Kriegsteilnehmer des Frankreichfeldzugs war und als Major a. D. in Pension ging. In dieser Eigenschaft übte er die Funktion des zweiten Vorsitzenden des örtlichen Kriegervereins aus.

“Aber sagen Sie Herr Doktor, Sie haben doch sicher auch gedient.”

“Selbstverständlich! Sehr gerne sogar. Aber leider musste ich frühzeitig quittieren, eines Herzleidens wegen. Was halfen da meine Einreden, all' meine erbitterten Proteste. Die Herren Ärzte blieben hart. Wie gesagt, leider!”

“Das ist sehr schade”, sagte Herr Schmidmann. “Aus Ihnen wäre auf jeden Fall ein tüchtiger Reserveoffizier geworden!”

Der Herr Doktor schluckte das Lob mühelos.

“Doch sehen Sie es nicht als Ihre Pflicht an, für Kaiser, Volk und Vaterland einzutreten?”

“Na … Natürlich - das versteht sich von selbst!”