Beziehungskisten - Peik Volmer - E-Book

Beziehungskisten E-Book

Peik Volmer

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Beschreibung

Professor Dr. Egidius Sonntag ist ein wahrlich ungewöhnlicher Chefarzt, überaus engagiert, aber auch mit kleinen menschlichen Fehlern behaftet. Sie machen diese schillernde Figur ganz besonders liebenswert, aber auch verletzlich. Manchmal muss man über ihn selbst den Kopf schütteln, wenn er etwa den 15. Hochzeitstag vergisst und seine an Brustkrebs erkrankte Ehefrau töricht vernachlässigt. Er tut dies nicht aus Lieblosigkeit, aber er ist auch nicht vollkommen. Dr. Sonntag ist der Arzt, der in den Wirren des Lebens versucht irgendwie den Überblick zu behalten – entwaffnend realistisch geschildert, aber nicht vollkommen. Diese spannende Arztserie überschreitet alles bisher Dagewesene. Eine Romanserie, die süchtig macht nach mehr! Also, zunächst einmal möchte ich vorausschicken, wie sehr ich mich freue, dass Sie wieder hier sind, liebe Leserin, geschätzter Leser. Dass Sie mich wieder einladen, von schönen und traurigen Momenten zu berichten, von Hoffnungen, Sehnsucht, aber auch Intrigen und Einsamkeit. Was haben wir vor uns? Viel zu viel Gefühl, oder, wie der Bayer sagt, »vui z'vui G'fui«. Ich habe Ihnen in den ersten beiden Bänden schon von Egidius und Corinna erzählt, Lukas und seiner Mutter Leonie. Auch Philipp, Chris, Lily sind schon fast alte Bekannte, oder? Besonders gern habe ich Frau Fürstenrieder. Eine patente, aufrichtige Dame. Frau Pahlhaus, die kein leichtes Leben gehabt hat. Und natürlich Dagmar Rommert, die sich so nach Liebe sehnt – auch wenn sie es sich selten und vor allem ungern, anmerken lässt. Moment mal. Wenn wir gerade von Dagmar sprechen: Was ist denn da los? »Siehst du, Daggi? Das habe ich gemeint, damals. Du hast immer gesagt, es sei egal. Und jetzt bist du kurz davor, alles zu verlieren. Hättest du bloß auf mich gehört! Wäre ich bloß nicht so dämlich gewesen!« Sepandar war aus dem alten, durchgesessenen Sitzmöbel im Gemeinschaftsraum der psychiatrischen Klinik aufgesprungen und lief auf und ab wie ein gefangenes Zirkustier. »Ich hätte es dir vielleicht doch nicht erzählen sollen, Sepandar.

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Dr. Sonntag – 3 –

Beziehungskisten

Sie sind nicht immer leicht zu packen

Peik Volmer

Also, zunächst einmal möchte ich vorausschicken, wie sehr ich mich freue, dass Sie wieder hier sind, liebe Leserin, geschätzter Leser. Dass Sie mich wieder einladen, von schönen und traurigen Momenten zu berichten, von Hoffnungen, Sehnsucht, aber auch Intrigen und Einsamkeit. Was haben wir vor uns? Viel zu viel Gefühl, oder, wie der Bayer sagt, »vui z’vui G’fui«. Ich habe Ihnen in den ersten beiden Bänden schon von Egidius und Corinna erzählt, Lukas und seiner Mutter Leonie. Auch Philipp, Chris, Lily sind schon fast alte Bekannte, oder? Besonders gern habe ich Frau Fürstenrieder. Eine patente, aufrichtige Dame. Frau Pahlhaus, die kein leichtes Leben gehabt hat. Und natürlich Dagmar Rommert, die sich so nach Liebe sehnt – auch wenn sie es sich selten und vor allem ungern, anmerken lässt.

Moment mal. Wenn wir gerade von Dagmar sprechen: Was ist denn da los?

Angst vor Dunkelheit

»Siehst du, Daggi? Das habe ich gemeint, damals. Du hast immer gesagt, es sei egal. Und jetzt bist du kurz davor, alles zu verlieren. Hättest du bloß auf mich gehört! Wäre ich bloß nicht so dämlich gewesen!«

Sepandar war aus dem alten, durchgesessenen Sitzmöbel im Gemeinschaftsraum der psychiatrischen Klinik aufgesprungen und lief auf und ab wie ein gefangenes Zirkustier.

»Ich hätte es dir vielleicht doch nicht erzählen sollen, Sepandar. Bitte glaube mir: Es ist mir egal. Es geht mir nicht um Ansehen oder Geld. Vor fünf oder zehn Jahren wäre mir meine Karriere noch über alles gegangen, und ich bin fast sicher, dass ich unsere Beziehung dieser geopfert hätte. Inzwischen weiß ich, dass Ruhm und Ehre nicht trösten, nicht helfen, nichts bedeuten. Man kann sich nicht an sie schmiegen. Sie spenden weder Wärme noch Geborgenheit. Sie umarmen einen nicht, und satt machen sie schon gar nicht. Sie sind nur eine Zahl auf einem Kontoauszug, ein Pressebericht oder eine geometrische Figur aus Glas oder Metall, die man in einem Regal platziert und regelmässig abstaubt. Ja, glaubst du denn ernsthaft, dass ich irgendetwas davon über dich stelle? Wenn irgendjemand annimmt, dass ich aufgrund persönlicher Probleme für meinen Job nicht mehr geeignet bin, dann kann er mich gern abmahnen und feuern.«

Irgendwie bereute Dagmar, dass sie Sepandar gegenüber erwähnt hatte, dass sie prinzipiell bereit war, ihre Klinik-Karriere ihm zuliebe an den Nagel zu hängen. Sie wollte ihm damit zeigen, dass er der wichtigste Teil ihres Lebens war, nicht die Medizin. Das musste ihre gesellschaftliche Stellung, die er so schwer ertrug, in seinen Augen doch relativieren, oder?

Sie hatte sich der Hoffnung hingegeben, dass sie darüber lachen und dem Ganzen keine Beachtung mehr schenken würden. Aber Sepandar traf das hart, zumal er sich die Schuld an der Situation gab. Er ließ sich auf den Ohrensessel fallen, der die plötzliche Last nicht erwartet hatte und unwillig knurrte. Dagmar zog ihren Stuhl dicht heran und ergriff Sepandars Hand. Dieser schien mit seinen dunklen Augen, die verdächtig schimmerten, einen Punkt in der Unendlichkeit zu fixieren. Plötzlich richtete er sich ruckartig auf.

»Daggi, es geht nicht mehr. Wir tun uns nur noch weh, ohne es wirklich zu wollen. Wir trennen uns.«

Sie atmete tief ein, um entsetzt eine Entgegnung loszuwerden. Er verschloss ihre Lippen mit dem Zeigefinger seiner rechten Hand.

»Pssst, Liebste. Ich weiß, was du sagen wirst. Aber mach es uns nicht noch schwerer, als es ist. Schau mal, jetzt denkst du so, an Liebe, Geborgenheit und so’n Scheiß. Aber ich kenne dich. Ich weiß, wieviel dir dein Job bedeutet. Und vor allem, wie gut du darin bist. Irgendwann, bei einem Streit um etwas ganz Unwichtiges, wirst du mir vorhalten, dass du meinetwegen auf alles verzichtet hast, was dein Leben lebenswert machte. Was deinem Leben Bedeutung verlieh. Und da hab ich einfach keinen Bock drauf, verstehst du? Dafür bist du zu wichtig. Und dafür bist du mir zu wichtig."

»Scheiß? Bock? Du sprichst wie ein heranwachsender Jugendlicher!«

»Das bin ich doch auch, Daggi. Das bin ich doch auch. Ein alkoholabhängiger, ewiger Student, der nach Frittenfett stank, als du ihn kennenlerntest. Der nicht mal sein Studium abgeschlossen hat, weil seine reiche Freundin, die seine deutlich ältere Schwester sein könnte, ihn aushält. Ich bin eine Belastung für dich. Ich zerstöre dein Leben. Wir trennen uns.«

Seine Worte trafen sie wie ein Keulenschlag. Sie war ebenso fassungslos wie unfähig, auf diese Rede zu reagieren. Sie bekam plötzlich keine Luft mehr. Sie sprang von ihrem Stuhl auf. Ihr verstörter Blick umarmte ihn ein letztes Mal, bevor sie aus dem Raum floh.

Es traf ihn mitten ins Herz. Aber sie konnte seine Tränen nicht mehr sehen.

*

Rommert?«

»Hallo, Daggi, ich bin’s, Sepandar. Erinnerst du dich? Ich werde in drei Tagen entlassen und wollte fragen, wann ich meine Sachen holen kann!«

Warum stieß er ihr nicht der Einfachheit halber einen Dolch ins Herz und drehte ihn ein paarmal herum?

»Du hast den ganzen Tag Zeit, Sepandar. Vor 18 oder 19 Uhr bin ich nie zu Hause. Weißt du schon, wo du wohnen wirst?«

»Ja. In Unterhaching. Erinnerst du dich noch an die Kollegin im Burger-Restaurant? Gitti? Bei der kann ich für einige Zeit unterkommen, bis ich eine eigene Bude gefunden habe. Du, Daggi?«

Na, endlich, dachte sie. Jetzt fragt er. Jetzt kommt, lass uns nicht so auseinandergehen. Lass es uns noch mal versuchen.

»Ja, bitte?«

»Darf ich den Armani-Anzug mitnehmen?«

»Er ist für dich geändert, Sepandar. Natürlich. Warum?«

»Ich dachte nur … Falls ich mich mal bewerben muss!«

»Bitte nimm ihn mit. Er gehört dir. – Sepandar, ich habe einen Patienten, ich muss in die Ambulanz zurück. Wenn dann alles geklärt ist …«

Er hörte sich so traurig an. Ihr Herz brach. Warum half ihr niemand? Warum, verdammt noch mal, half ihr denn niemand? Sah denn keiner, wie entsetzlich sie litt? War niemand in der Lage, unter ihrem Make-up, hinter ihrem Lächeln das kleine, verletzte, verzweifelte Mädchen zu entdecken?

»Ja, entschuldige. Daggi?

»Was denn noch?«

»Danke für alles!«

»Jaja, schon recht!«

Es hörte sich an, als wehre sie den Dank für einen Schoko-Riegel ab.

Unerschöpflich?

Jetzt war es wieder so. Hinter der Tür zu ihrer Wohnung lauerte der Geist der Einsamkeit, das finstere Gespenst, das sich in der Leere der Gefühle und der Seelenkälte breit machte. Sie erschauerte. Das Gefühl der Angst zu überwinden, bedeutete einen heftigen Kampf.

Sepandar war fort. Sie hüllte sich ein in seine graue Strickjacke, die sie ihm nicht zurückgeben würde. Sie duftete nach ihm. Vielleicht konnte sie seine Abwesenheit so besser ertragen. Es war totenstill, bis auf das Ticken einer Uhr und das Tropfen des Wasserhahns in der Küche, den sie so lange schon hatte reparieren lassen wollen. Gleich morgen würde sie den Hausmeister anrufen und ihn bitten, sich darum zu kümmern.

Sepandar war fort. Er hatte es mit ihr nicht ausgehalten. Er fühlte sich nicht wohl an ihrer Seite. Seine Unsicherheit hatte ihn krank gemacht. Sie hatte ihn krank gemacht. ›Die Krankheit des Einen in einer Beziehung ist der Andere‹, hatte der Therapeut gesagt. Ihre Liebe zu ihm war aufrichtig, aber sie reichte nicht aus. Sie reichte einfach nicht aus.

War das nicht komisch? Sie liebte diesen Jungen. Von der ersten Sekunde ihrer ersten Begegnung an. Sie hatte immer die Kontrolle behalten wollen. Genau wie bei Ihrem ersten Freund. Dieser hatte einmal, im Streit, zu ihr gesagt, dass sie so verzweifelt versuchte, ihr Leben und das anderer zu kontrollieren, dass sie darüber völlig die Freude an diesem Leben vergass. Diesen Fehler hatte sie bei Sepandar nicht machen wollen. Aber hatte es was genützt? Warteten liebende Arme auf sie, wenn sie heimkam? Jemand, der in der Küche stand und rief, schön, dass du endlich kommst, Schatz, in 15 Minuten können wir essen? Jemand, der ihre sinnliche Begierde stillen konnte, bei dem sie sich fallenlassen und schön fühlen konnte, und begehrenswert? Attraktiv, ohne ständig zu denken, dass sie das T-Shirt hätte anbehalten sollen, weil das Bindegewebe ihrer Brüste leider altersentsprechend nachgelassen hatte? Ach, Sepandar! Du wirst ein nettes, frisches Mädchen kennenlernen, eine unbedarfte, fröhliche, junge Frau, der gegenüber du dich überlegen fühlen darfst, weil sie es zulässt und weil du es letztlich auch bist. Oder zumindest gleichwertig. Ich wüsste gern, ob du, wenn du mit ihr schläfst, manchmal an mich denken wirst, meine Hingabe, meine Liebe. Das Gefühl meiner Haut auf deiner Haut. Den Duft meiner Haare. Den Geschmack meiner Lippen.

Sepandar war fort, und er würde nicht zurückkommen. Sie musste sich an diesen Gedanken gewöhnen. »Nun denn. Gewöhnen wir uns an diesen Gedanken. Es ist eben, wie es ist.«

Trotzig wischte sie die Tränen aus den Augenwinkeln. Sie liebte ihn, sie liebte ihn aufrichtig. Und es half nichts.

Als ob Tränen irgendetwas ändern konnten! Albern! Nein, danke. Sie hatte sich vermutlich ohnehin lächerlich gemacht. Die Dunkelheit des Raumes streckte ihre Klauen nach ihr aus. Es fröstelte sie. Schluss damit.

Sie schaltete das Licht an.

*

»Willkommen in unserem Restaurant! Ihre Bestellung, bitte?« Der junge Mann mit dem offensichtlichen Migrationshintergrund lächelte.

»Du weißt, was ich möchte.«

Sepandar war immer noch jung und schön. Seine wilden lockigen Haare hatte er mit einem schwarzen Kopftuch zurückgebunden, sein Gesicht war apart und gleichmässig.

Ihr prüfender Blick fing sich an seinem Mund, seinen vollen, scharf konturierten, dabei samtigen Lippen, seinen ebenmäßigen schneeweissen Zähnen. Mein Gott, diese Lippen! Sie wusste, wie sie schmeckten, wie sie sich anfühlten auf ihrer Haut, begleitet von dem zarten Prickeln seines Drei-Tage-Barts.

Fasziniert nahm sie die Bewegungen seines Mundes und den sanften Klang seiner Stimme wahr, ohne wirklich zu begreifen, was er sprach.

Er lächelte. Mein Gott, dieser Mund!

Er raunte ihr leise zu, »Nimm den Hamburger mit Tomate und Salat. Schmeckt immer noch am besten von dem Zeugs hier!«

Laut fragte er dann, »Vielleicht noch ein Getränk dazu, meine Dame?«

Sie räusperte sich. Ihre Kehle war trocken.

»Was macht das?«

»Geht auf’s Haus!«

Er legte den Kopf schräg.

»Darf ich dir mit dem Tablett helfen?«

Er strahlte sie an. Dagmar war verunsichert.

»Das ist doch nicht deine Aufgabe, oder?«

Er schüttelte den Kopf.

»Nein, aber ich mach’ das gern. Und du bist, wie üblich, im Augenblick der einzige Gast!«

Er ergriff das Tablett und trug es zu einem der Tische.

»Hier hinten sitzt du am besten«, lächelte er. »Da vorn ist es immer etwas zugig.«

Dagmar fasste sich ein Herz. »Willst du mir nicht ein wenig Gesellschaft leisten?«

Er sah sich im Laden um. Immer noch war kein weiterer Kunde in Sicht. »Gern! Aber nur so lange, bis jemand kommt.«

Schweigend saßen sie sich gegenüber. Sepandar bereitete noch eine Latte zu und servierte sie formvollendet am Tisch.

»Ich hab viel über uns nachgedacht, Daggi. Wir haben eine wunderbare Zeit gehabt. Du bist eine Wahnsinnsfrau. Schön, humorvoll, intelligent, sinnlich, voll Leidenschaft. Aber als Paar funktionieren wir nicht. Ich habe das gemerkt. Seit wir uns getrennt haben, brauche ich nicht mal mehr meine Therapiesitzungen. Ich saufe auch nicht mehr, nur noch die Zitronenbrause vom Discounter. Ich komme zur Ruhe.«

Dagmar schaute ihn an, als sähe sie ihn gerade zum ersten Mal.

»Weißt du was, Sepandar? Ich habe keine Sekunde über uns nachgedacht. Wirklich! Die ganze Zeit! Nicht einen Augenblick. Vermutlich hast du recht. Ja, ganz sicher sogar. Danke für die Latte! Und lebe wohl, Sepandar! Alles Gute!«

Er blickte bestürzt in ihre Augen.

»Sehen wir uns mal wieder, Daggi?«

Nicht, wenn ich es verhindern kann, dachte sie. Laut erwiderte sanft, aber bestimmt, die derart Angesprochene, »Wer weiß?« Sie lächelte huldvoll und rauschte aus dem Laden. Es regnete nicht mehr. Allerdings war es sehr kalt geworden.

Sie hatte es gerade noch bis auf die Straße geschafft. Sie schluchzte laut auf, die Tränen flossen wie Bäche aus ihren Augen. Sie musste einen Moment stehenbleiben, an einem Schaufenster, da fiel es weniger auf. Und im Regen sah man die Tränen nicht.

Trotzig wischte sie mit einem Taschentuch, das sie in der Manteltasche entdeckt hatte, ihr Gesicht ab.

Worüber weinte sie? Das alles hatte man leicht vorhersehen können. Egal: Alles würde wieder gut werden. Sie war stark. Sie würde sich wieder fangen. Sie hatte ein Leben vor ihm gehabt, und sie würde eins nach ihm haben. Sehen wir uns wieder, hatte er gefragt. Sehen wir uns wieder – wozu? Was sollte das? Um zu erleben, wie erneut eine Hoffnung zerbarst wie ein Böller an Silvester? Er hatte sich doch von ihr getrennt, oder? Aber heute waren sie und er ja schon nicht mehr dieselben Menschen wie gestern. Sie würden sich wiederfinden, wenn sie zusammen gehörten. Was aber, wenn nicht?

»Du dumme Gans!«

Sie lachte ihr Spiegelbild aus.

Dann setzte sie ihren Weg fort.

Bis nach Hause war es ja nicht mehr weit.

Jung und Alt

»Frau Rommert, ist alles in Ordnung mit Ihnen? Geht es Ihnen nicht gut?«

Dagmar Rommert stand im Aufenthaltsraum und goss sich nachdenklich Kaffee in einen Becher.

Chefärztin Elenore Pahlhaus nahm die OP-Haube von ihren fuchsroten, leicht verschwitzten Haaren, durch die sie mit den Fingern fuhr, um ihnen wieder so etwas wie Ordnung zu geben. Dagmar lächelte. »Wie kommen Sie denn darauf? Mir geht es blendend! Sieht man das nicht?«

»Nein. Deswegen frage ich ja.«

»Danke, aber – nein. Wirklich. Es ist alles gut!«

Frau Dr. Pahlhaus setzte ihre Haube wieder auf. »Wunderbar. Wenn Sie mit mir reden möchten, bin ich für Sie da, Kind. Lassen Sie sich Zeit. Manche Gedanken sind wie Pickel. Man muss sie reifen lassen, bevor man sie ausdrückt!«

Dagmar lachte schallend. Es klang unecht und aufgesetzt. Vermutlich, weil es unecht und aufgesetzt war. Frau Dr. Pahlhaus sah sie mit großen, traurigen Augen an und wandte sich zum Gehen.

»Ach, äh, Frau Pahlhaus?«

»Ja, Frau Rommert?«

»Waren Sie schon mal erfüllt von einer Erinnerung, ohne zu wissen, ob sie wirklich passiert ist?«

Die Narkoseärztin, die den Raum bereits verlassen hatte, kehrte zurück. »Meinen Sie, dass in diesem Wunderwerk der Technik noch eine Tasse für mich ist?«

»Entschuldigung. Ich bin wirklich unaufmerksam heute. Ich beschäftige mich einfach viel zu viel mit mir selbst!«

Ihre ältere Kollegin führte den Becher zum Mund und pustete vorsichtig Wellen in die Oberfläche.

»Finden Sie? Wie viel ist denn ›zu viel’?«

»Wenn man, so wie ich eben, vergisst, dass man Bestandteil einer sozialen Gemeinschaft ist«, erwiderte Dagmar nachdenklich. »Und dass man dieser Gemeinschaft gegenüber Pflichten hat, die man erfüllen muss.«

»Gut gebrüllt, Löwe. Dennoch – halten Sie es für möglich, dass jeder Mensch hin und wieder in Situationen kommt, in denen es nötig wird, den Kopf frei zu bekommen? Dass man Probleme hat? Dass man kein funktionierender Automat ist, sondern ein denkendes, empfindendes, atmendes Wesen?«

Dagmar murmelte zögernd etwas Zustimmendes. »Aber dafür werde ich nicht bezahlt, Frau Pahlhaus. Wenn ich hier bin, habe ich gefälligst meine Dienstpflicht zu erfüllen, und ich stelle mir nichts Demütigenderes vor als einen Arzt, dem ein schwerkranker Patient sagt, »Doktor, Sie sehen schlecht aus! Wie geht’s uns denn heute?«

Frau Pahlhaus verbiss sich ein Lachen. »Humor als Selbstverteidigung, Frau Rommert? – Ich sehe das anders. Sie haben das Recht auf ihre Gefühle, ihre Probleme, ihren Kummer. Sie dürfen wütend sein, oder hilflos. Sie dürfen traurig sein, oder verzweifelt. Sie dürfen andere um Hilfe bitten. – Prima, der Kaffee! Vielen Dank dafür! Könnte ich noch etwas Zucker haben? Danke nein, keine Milch! Schwarz und süß!«

»Ja, so trinke ich ihn auch am liebsten! – Sie finden nicht, dass ich mir zu viele Blößen gebe, wenn ich hier mit Leichenbittermiene herumlaufe und schlecht gelaunt die Türen zuschlage?«

»Wenn’s Ihnen hilft? Warum nicht? Sagen Sie: Ihr Becher. Ist der leer?«

»Ja.«

»Los. Schmeißen Sie den an die Wand. So kräftig Sie können. Hässlich genug ist er ja. Warum müssen dieses Dinger immer mit lustigen Sprüchen und noch lustigeren Bildchen garniert werden? Ekelhaft. Also! Worauf warten Sie? Holen Sie weit aus, und schleudern das Ding an die Wand, dass es in tausend Stücke zerspringt!«

Dagmar zögerte einige Sekunden. Sie schaute Frau Pahlhaus an, die Tür, wieder die Kollegin.

Dann ging alles ganz schnell. Mit einem lauten Klirren zerbarst die Tasse an der Wand. Alles war mit Splittern übersäht.

Von draußen kam eine Schwester herein. »Was ist den hier passiert?«

»Ein Missgeschick«, erläuterte Frau Pahlhaus. »Uns ist eine Kaffeetasse entglitten!« Dabei zwinkerte sie verschwörerisch der jungen Kollegin zu. »Haben Sie so was wie ein Kehrblech?« Lustlos schlurfte die Schwester hinaus.

Dagmar lachte. »Irgendwie hat mir das tatsächlich gut getan! Ob wir noch eine Tasse …«