Risiken und Nebenwirkungen - Peik Volmer - E-Book

Risiken und Nebenwirkungen E-Book

Peik Volmer

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Beschreibung

Professor Dr. Egidius Sonntag ist ein wahrlich ungewöhnlicher Chefarzt, überaus engagiert, aber auch mit kleinen menschlichen Fehlern behaftet. Sie machen diese schillernde Figur ganz besonders liebenswert, aber auch verletzlich. Manchmal muss man über ihn selbst den Kopf schütteln, wenn er etwa den 15. Hochzeitstag vergisst und seine an Brustkrebs erkrankte Ehefrau töricht vernachlässigt. Er tut dies nicht aus Lieblosigkeit, aber er ist auch nicht vollkommen. Dr. Sonntag ist der Arzt, der in den Wirren des Lebens versucht irgendwie den Überblick zu behalten – entwaffnend realistisch geschildert, aber nicht vollkommen. Diese spannende Arztserie überschreitet alles bisher Dagewesene. Eine Romanserie, die süchtig macht nach mehr! Ich muss Ihnen sagen, ich bin immer noch erschrocken. Es ist ein verzweifeltes Gefühl, neben einem Menschen zu stehen, den man lieb hat, und ihm nicht helfen zu können. Für einen Arzt ist die Situation noch schlimmer und gar nicht mal so selten. Wie ein böser Traum! Einen schönen Traum durchlebt gerade unser Lukas. Frau Wagner. Mathematik, Physik, Sport. Moment mal! Das waren doch die Fächer, in denen Lukas nicht so gut ist, oder? Und einen Albtraum erlebt gerade Professor Sonntag. Dass das Giftbuch nicht stimmt, hat es in St. Bernhard noch nie gegeben. Viel schlimmer ist für den Chefarzt aber der Vertrauensverlust. Immerhin ist die familiäre Atmosphäre doch das, was den besonderen Reiz seiner Klinik ausmacht! Das ist sein Stil, deswegen fühlen sich alle wohl! »Ich schwöre es! Perfektes Französisch! Und wie der mit dem Kellner und mit dem Küchenchef geredet hat … Sie würden es nicht für möglich halten, wenn Sie es nicht selbst erlebt haben, Frau Pahlhaus! Wirklich, ich stand daneben wie das Dummchen vom Land, und mein weltgewandter Begleiter spielte James Bond!« Frau Dr.

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Leseprobe: Das Geheimnis der schönen Antonia

Dr. Leon Laurin stand wie festgewachsen auf einer belebten Straße in der Münchener Innenstadt, während er seine Frau Antonia, die vor einem Café auf der anderen Straßenseite saß, nicht aus den Augen ließ. Seit mehr als siebzehn Jahren waren sie miteinander verheiratet, hatten vier Kinder, führten, jedenfalls seiner Ansicht nach, eine glückliche Ehe. Und nun sah er sie zum dritten Mal innerhalb kurzer Zeit mit ihrem Jugendfreund Ingo Ewert in sehr vertrautem und angeregtem Gespräch – und auch dieses Mal, daran zweifelte er nicht, würde sie die Begegnung zu Hause ihm gegenüber nicht erwähnen. Er war der Ansicht gewesen, die Eifersucht seiner frühen Jahre längst überwunden zu haben, nun musste er feststellen, dass er einem Irrtum erlegen war. Am liebsten hätte er Ingo Ewert – Dr. Ingo Ewert, Leiter der Kinderklinik Dr. Ewert – direkt zur Rede gestellt. Oder noch besser: ihn am Kragen gepackt und geschüttelt und Auskunft darüber verlangt, wie er dazu kam, am helllichten Tag mit seiner, Leons, Ehefrau in einem Café zu sitzen und sich allem Anschein nach gut zu unterhalten. Jetzt griff er sogar nach ihrer Hand und drückte sie! Leon hatte Mühe, an sich zu halten. Als er die beiden vor zwei Wochen das erste Mal zusammen gesehen hatte, war er noch überzeugt gewesen, Antonia werde ihn mit den Worten empfangen: »Rate mal, wen ich heute getroffen habe!« Aber nichts Dergleichen war geschehen, kein Wort hatte sie gesagt, sie hatte Ingo Ewert nicht einmal erwähnt. Dabei wusste er ja nur zu gut, dass Ingo früher einmal bis über beide Ohren in Antonia verliebt gewesen war. Allem Anschein nach war er es immer noch. Er musste sie zur Rede stellen, er brauchte Gewissheit. Aber vielleicht war alles ganz harmlos, und er sah Gespenster. Dann würde sie ihn auslachen, und er stünde da wie der letzte Depp. War es also doch besser, ruhig abzuwarten, bis Antonia von sich aus auf ihn zukam, um mit ihm über Ingo zu sprechen? Aber was würde sie ihm dann sagen?

Dr. Sonntag – 4 –

Risiken und Nebenwirkungen

Kein Mensch geht völlig geradeaus durchs Leben

Peik Volmer

Ich muss Ihnen sagen, ich bin immer noch erschrocken. Es ist ein verzweifeltes Gefühl, neben einem Menschen zu stehen, den man lieb hat, und ihm nicht helfen zu können. Für einen Arzt ist die Situation noch schlimmer und gar nicht mal so selten. Wie ein böser Traum! Einen schönen Traum durchlebt gerade unser Lukas. Frau Wagner. Mathematik, Physik, Sport. Moment mal! Das waren doch die Fächer, in denen Lukas nicht so gut ist, oder? Und einen Albtraum erlebt gerade Professor Sonntag. Dass das Giftbuch nicht stimmt, hat es in St. Bernhard noch nie gegeben. Viel schlimmer ist für den Chefarzt aber der Vertrauensverlust. Immerhin ist die familiäre Atmosphäre doch das, was den besonderen Reiz seiner Klinik ausmacht! Das ist sein Stil, deswegen fühlen sich alle wohl! Bisher, jedenfalls …

Übelst begabt

»Ich schwöre es! Perfektes Französisch! Und wie der mit dem Kellner und mit dem Küchenchef geredet hat … Sie würden es nicht für möglich halten, wenn Sie es nicht selbst erlebt haben, Frau Pahlhaus! Wirklich, ich stand daneben wie das Dummchen vom Land, und mein weltgewandter Begleiter spielte James Bond!«

Frau Dr. Pahlhaus, Chefin der Anästhesieabteilung im Krankenhaus St. Bernhard, lachte lauthals. »Wer weiß, Frau Rommert, wer weiß! Vielleicht ist Anton einer von diesen übelst begabten Menschen, für die man Eliteschulen gegründet hat. Wie heißt dieser Verein für Hochbegabte? Mensa, glaube ich. Gegen die Leute, die dort Mitglied sind, war der olle Einstein mittlerer Durchschnitt!«

»Aber wieso ist er dann hier als Pfleger und nicht im Kernforschungszentrum, Neurochirurg oder Bundeskanzler?«

»Mein Kind, vielleicht hatte er keine Lust? Ich kenne hochintelligente Menschen, die Hausfrau und Mutter sind. Oder Schreinermeister. Oder sogar Pfarrer! Vielleicht war es auch eine Art Protest? Auflehnung gegen die Eltern! Außerdem ist doch die Tätigkeit des Krankenpflegers ein wunderbarer, verantwortungsvoller und hochqualifizierter Beruf. Ich glaube, dass das Glück nicht in einem hochdotierten Job liegt, sondern darin, dass man das, was man tut, mit Liebe tut und darin aufgeht.«

Dagmar Rommert hielt inne. »Donnerwetter. Frau Pahlhaus, Sie haben recht! So habe ich es noch gar nicht betrachtet! Von ihnen kann man lernen, wirklich! Ich bedanke mich bei Ihnen!«

Die erfahrene Kollegin winkte ab. »Nicht doch, Frau Rommert. Ich freue mich, wenn jemand mir alter Frau überhaupt zuhört. Viele junge Leute wollen doch gar nicht wissen, wie die Generation vor ihnen die Dinge beurteilt. Sie wollen ihre eigenen Erfahrungen machen, und das ist auch gut so. Ich halte mich mit Ratschlägen gern zurück!«

Dagmar lächelte. »Sie sind eine wunderbare Ratgeberin und eine zuverlässige Freundin. Und ich bin froh, dass ich in Ihnen jemanden habe, den ich etwas fragen darf.« Ihr Pieper quäkte. Sie hielt ihn ans Ohr. »Die Notaufnahme«, sagte sie bedauernd. »Eine Schnittwunde will genäht werden!«

»Hört sich nach hausfraulicher Tätigkeit an! Viel Spaß dabei!«

*

»Meine Herren«, sagte Prof Sonntag mit sehr ernstem Gesichtsausdruck zu den Doktoren Wachs und Cortinarius, »ich bin zutiefst enttäuscht wegen dieser Angelegenheit. Ich halte nichts von Vertuschungsaktionen, derlei Betrügereien kommen irgendwann heraus und verleiten nur zu weiteren Regelverstößen. Ich möchte Sie davon in Kenntnis setzen, dass ich bei der Ärztekammer, der Klinikapotheke sowie der Polizei diesen Vorfall angezeigt habe. Wann die Beamten zur Vernehmung kommen, oder ob wir eingeladen werden, um eine Aussage zu machen, weiß ich nicht.«

»Alles ist meine Schuld, bestimmt, Herr Sonntag! Ich bin untröstlich! Aber ich war davon ausgegangen, dass der Kollege Wachs – bitte nicht böse sein!«

Egidius Sonntag rückte seine Fliege gerade. »Ich denke, wir können die Wahrheitsfindung getrost den Behörden überlassen, Herr Cortinarius.«

Die Tür öffnete sich. Frau Fürstenrieder betrat den Raum, ihre goldgerandete Brille baumelte an dem Kettchen, das ihren Absturz verhindern sollte. »Darf ich den Herren einen Kaffee servieren?«, befragte sie die Runde.

Professor Sonntag und Herr Wachs waren erfreut. Oberarzt Cortinarius spitzte, wie immer, die Lippen und sah die Sekretärin mit seinen wässrigen Fischaugen an. Mit seiner hellen, öligen Stimme flötete er, »Wenn es möglich wäre, liebe Frau Fürstenrieder – für mich lieber Tee. Grünen Tee, am besten in einer Kanne aus Glas oder Porzellan. Aus weichem Wasser, ja? Erst das Wasser aufkochen, und dann 7 Minuten abkühlen lassen, so lange dauert es, bis es 75-80 Grad hat. Bitte vermeiden Sie unbedingt einen Aufguss mit kochendem Wasser! Für einen Liter Flüssigkeit je nach Sorte und Geschmacksstärke 8-12 g grünen Tee. Sie haben bestimmt nur normalen grünen Tee? Den können sie 1-2, maximal 3 Minuten ziehen lassen.«

Er senkte den Kopf. »Ich mache Ihnen doch hoffentlich keine Umstände, oder? Das täte mir so leid, wirklich! Bitte nicht böse sein!«

Während seines Vortrages hatten Frau Fürstenrieder, Dr. Wachs und Professor Sonntag die Luft angehalten und überrascht gelauscht. Die Sekretärin lächelte grimmig.

»Ich bin nie böse, Herr Oberarzt. Sie haben die Wahl. Kaffee oder einen Teebeutel ›Ostfriesenmischung‹. Ich reiche Ihnen gern ein Fieberthermometer, wenn die Temperatur Ihnen so wichtig ist.«

Egidius und sein Assistenzarzt verbissen sich ein Lachen. Der Oberarzt winkte matt ab. »Vielleicht – ein Wasser? Ohne Kohlensäure?«

»Na also!«, triumphierte Frau Fürstenrieder. »Sehr gern.«

Egidius gab die Anweisung, dass, wenn morgen der Kommissar und der Polizist kämen, diese in ihrer Arbeit auf jeden Fall zu unterstützen seien. Er bat trotzdem um ein möglichst diskretes Vorgehen. »Dies Haus existiert seit 1998. Mit der Polizei haben wir hier noch nie zu tun gehabt, nur eine gelegentliche Blutprobe bei einem alkoholisierten Verkehrsteilnehmer. Ach ja, und bei der Leistenhernie eines Straftäters und dem jungen Polizeibeamten mit der Hepatitis A. Ich hoffe, dass die Presse nicht davor erfährt.«

Und, so schloss er, falls jemand das Bedürfnis in sich entdecken sollte, ihm etwas mitzuteilen – es sei ja allgemein bekannt, wie man ihn erreichen könnte.

Der chefärztliche Pieper ertönte.

»Meine Herren, ich muss dringend auf die Intensivstation. Herr Wachs, Sie sind im Dienst? Es kommt Arbeit auf uns zu. Eine schwere Schussverletzung. Hoher Blutverlust, dem Patienten geht es nicht gut. Bitte rufen Sie Frau Pahlhaus, es gibt keine Zeit zu verlieren!«

Philipp Angerer saß blass, mit zusammengepressten Lippen, auf dem Gang vor dem Einganz zum OP. Seine Augen waren rot unterlaufen, er zitterte. »Philipp, was machst du denn hier? Ich habe keine Zeit für dich, da ist gerade ein Notfall im Anmarsch!«

»Ich weiß, Egidius! Das ist Chris! Jemand hat auf ihn geschossen! Egidius, bitte! Du musst ihn retten! Ich – ich wüsste nicht, wie mein Leben weitergehen sollte, ohne ihn!«

»Ruf bitte Corinna an und richte ihr von mir aus, dass sie hierher kommen soll. Ich kümmere mich. Vertrau' mir. Ich tue alles, was möglich ist, das weißt du!«

»Ich weiß, Egidius.«

Philipp war froh, als er wenig später Corinna über den Korridor hasten sah. »Was macht ihr bloß für Geschichten?«, fragte sie besorgt. »Schusswaffen? In Hausham? Meine Fantasie reicht nicht aus, um mir so etwas vorzustellen! Wer macht denn so was?«

Philipp erzählte ihr, dass sie in Lilys Wohnung waren, um nach dem Rechten zu sehen, Blumen gegossen und vorgehabt hätten, schnell in Holzkirchen bei ihrem Lieblingstürken etwas zu essen. Er hätte einen Knall gehört, ein Auto wäre mit eingeschaltetem Fernlicht an ihnen vorbeigebraust, und weil Chris, der auf seine Bitte hin sich am Kofferraum zu schaffen machte, nicht kam, sei er ausgestiegen und hatte seinen Mann dort in einer Blutlache bewußtlos liegen sehen. Er hatte aus dem Verbandskasten einen Druckverband angelegt, aber die Blutung wäre heftig gewesen. Er hatte die Feuerwehr alarmiert.

»Warum habe ich Chris bloß zum Kofferraum geschickt? Ich werde mir das ewig vorwerfen, Corinna! Wären wir gleich losgefahren …«

»Wäret ihr gleich losgefahren, wäret ihr wohlmöglich beide verletzt. Oder Schlimmeres. Hannes war nicht bei euch?«

»Nein, Gottlob! Hannes macht einen Schulausflug nach Bayrischzell und übernachtet in der dortigen Jugendherberge. Der hat von alledem nichts mitbekommen!«

Die große Schiebetür mit dem kleinen Fenster glitt mit einem Rumpeln zur Seite. Egidius bog um die Ecke. Er war blutverschmiert und durchgeschwitzt. Die Haare klebten nass an seinem Kopf. Corinna und Philipp liefen auf ihn zu. Er hob abwehrend die Hände. »Es geht ihm nicht gut. Der Schuss hat die Iliaca interna links erwischt. Ich habe versucht, das Ding zu flicken, aber es nähte sich wie nasses Klopapier, deswegen habe ich eine Prothese eingesetzt. Auf eine Stenose legen wir ja keinen Wert, oder? Die Kugel steckte im Beckenknochen. Vielleicht muss man das Stück Prothese später gegen ein Stück eigener Saphena magna austauschen. Er hat drei Transfusionen bekommen. So weit hat er alles gut überstanden. Ich hoffe, dass er gut durch die Nacht kommt. Corinna … Meinst du, dass …«

»Das hättest du mir nicht extra sagen müssen, Schatz. Ich werde die Nacht nicht von seiner Seite weichen. Aber du musst dringend schlafen gehen!«

Egidius hob die Schultern. »Ich weiß! Der große Eingriff, morgen! Und dann kommt auch noch die Polizei! Ein Kommissar Severin Pastötter. Und ein Wachtmeister, den Namen weiß ich nicht. Wenn was passiert, passiert alles auf einmal, oder? Murphys Gesetz. Alles, was schiefgehen kann, geht auch schief. Egal. Ich leg mich auf die Untersuchungsliege in der Ambulanz. – Philipp, du bleibst gewiss auch im Haus, oder?«

»Na klar. Zu Hause hätte ich keine Ruhe. Darf ich mit auf die Intensiv, Corinna?«

Sie sah in fragend an. »Wenn ich jetzt Nein sagte, würdest du gehen?«

»Versteh mich nicht falsch, aber nichts kann mich davon abhalten, bei ihm zu sein!«

»Jede andere Antwort hätte mich sehr überrascht!«

In diesem Moment näherte sich Frau Dr. Pahlhaus. »Alles gut, Herr Angerer. Ihrem Chris geht es besser, als ich erwartet hätte. Aber unser Herr und Meister hier hat mal wieder glänzend operiert. Naja, meine Narkose war jetzt auch nicht so schlecht!«

Egidius hob abwehrend die Hände. »Ich habe das getan, was getan werden musste. An dieser Stelle, liebe Frau Pahlhaus, möchte ich mich mal bei Ihnen bedanken für die souveräne Narkoseführung. Sie haben einfach das gewisse Händchen. Ich bin ja hier nur der Handwerker!«

Die erfahrene Ärztin lächelte. »So, Kinder, jetzt aber ab auf die Intensiv! Ich habe einen Peridural-Katheter gelegt, da kann er sich später Schmerzmittel selbst geben. Aber am Anfang sind Sie ja da, nicht wahr, Herr Angerer?«

Ein Inspektor kommt

»Pastötter, grüß Gott, das ist der Kollege Schmidt!«

Kommissar Pastötter sah ungepflegt aus. Seine lockigen braunen Haare waren ungewaschen, auf den Schultern seines ausgebeulten, speckigen Trenchcoats sah man Schuppen. Er war unrasiert. Nein, man konnte das auch nicht durch die Bezeichnung ›Drei-Tage-Bart‹ legalisieren. Die Hosen verbeult, die Schuhe ungeputzt.

Egidius konnte sich ein Lachen nicht verkneifen. »Hat Ihnen schon einmal jemand gesagt, dass Sie diesem Fernseh-Kommissar ähnlich sehen, Herr Pastötter?«

Der Kommissar wirkte schlecht gelaunt. »Jaja. Kenn ich schon. Der hat sooo einen langen Bart!«

Unwirsch erkundigte er sich nach dem möglichen Ablauf der Straftat, den Beteiligten, Verdachtsmomenten. Zusammen mit Polizeiobermeister Schmidt vernahm er Egidius, Dr. Wachs, Dr. Cortinarius und, sehr zu Egidius Verwunderung, auch Ludwig Lechner. »Warum den jungen Kollegen Lechner, Herr Kommissar? Das kann ich wirklich nicht glauben!«

»Er scheint ein gutes Motiv zu haben, Herr Professor«, entgegnete der Beamte leidenschaftslos. »Ihr Oberarzt wies mich darauf hin, dass bei Herrn Lechner das Bargeld knapp ist. Ein Verkauf von Betäubungsmitteln an einschlägige Hehler ist ein lohnendes Zubrot, nicht wahr.«

»Für Herrn Lechner lege ich die Hand ins Feuer«, sagte Egidius, seine Fliege gerade rückend. »Außerdem war er ja noch nicht mal in der Nähe des Giftschranks, als der Diebstahl passiert sein muss!«

»Das glauben Sie, Herr Professor! Ich sage Ihnen, es gibt Profis, die so geschickt sind, dass Sie einen Raub mit keinem Ihrer Sinne wahrnehmen.«

Ludwig war sehr aufgeregt. Er saß nach seinem Verhör im Vorzimmer des Professors. Frau Fürstenrieder hatte alle Hände voll zu tun, ihn zu beruhigen. »Sie kennen mich! Glauben Sie, dass ich drogenabhängig bin? Fehlt bei Ihnen irgendein Gegenstand, seitdem ich bei Ihnen wohne? Ist etwas weggekommen? Fehlt auch nur ein Cent?«

»Ludwig, mein Junge! Keine Aufregung! Keiner hier denkt, dass du irgendwas damit zu tun hast!«

Jetzt hatte sie ihn schon wieder geduzt. Aber es schien in Ordnung zu sein für ihn. »Doch! Wenigstens einer denkt das! Dr. Cortinarius hat mich ja angeschwärzt! Vermutlich hat er dabei ständig seinen Lieblingssatz wiederholt: ›Bitte nicht böse sein, bitte nicht böse sein!‹ Das ist so ungerecht! Ich kann mich nicht mal verteidigen!«

Die grauhaarige Dame sprach beruhigend auf ihn ein. »Schau mal, Ludwig. Wessen Wort ist denn wichtig für dich? Das von Dr. Cortinarius oder die Ansicht vom Professor? Und auch ich weiß, dass du ein guter Mensch bist. Falsche Anschuldigungen tun weh, ich weiß das. Aber gib einem anderen Menschen nicht so viel Macht über dich. Kümmere dich nicht darum. Solange wir hinter dir stehen, ist alles gut!«

»Ich werde ihm seine 100 Euro zurückgeben. Von dem Mann will ich nichts geschenkt!«

»Das ist eine gute Idee, Ludwig. Man muss sich seinen Stolz bewahren, da hast du ganz recht!«

Am Ende des Tages gab es ein Abschlussgespräch, dass Professor Sonntag ganz gegen seine Gewohnheit nicht in seiner Ordination, sondern im Schwesterndienstzimmer führte, sodass alle es mitbekamen. Der Kommissar stellte fest, dass ein Schuldiger so nicht zu ermitteln sei. Man müsse noch die Überprüfung der Fingerabdrücke abwarten, was vermutlich aber auch keine gesicherten Erkenntnisse ergäbe, da ja jeder den Schrank benutzen müsste.

»Ach ja, bevor ich es vergesse: Bitte informieren Sie alle Mitarbeiter darüber, dass sie umsichtig und vorsichtig sein sollen beim Betreten und Verlassen der Klinik, aber auch sonst. Wir gehen davon aus, dass der Unfall von Schwester Lily und das Attentat mit der Schusswaffe in einem Zusammenhang stehen. Inwieweit auch andere Mitarbeiter betroffen sind, können wir zum gegenwärtigen Zeitpunkt und bei unserem jetzigen Stand der Ermittlungen noch nicht sagen. Wir gehen nicht von einer akuten Gefahr aus, aber ein wenig Vorsicht schadet nicht.«

Herr Pastötter verabschiedete sich von der versammelten und, man darf sagen, etwas verunsicherten Mannschaft und zog mit Polizeiobermeister Schmidt von dannen.

»Ich glaube nicht, dass irgendwo ein Heckenschütze lauert. Trotzdem, meine Damen und Herren, bin ich überzeugt, dass die vermehrte Polizeipräsenz, die der Kommissar mir versprochen hat, eine abschreckende Wirkung haben wird«, sagte Egidius Sonntag. »Ich hielte es für sinnvoll, längere Fußwege im Dunkeln zu vermeiden und Fahrgemeinschaften zu bilden. Frau Fürstenrieder, erlauben Sie mir, dass ich Ludwig und Sie nach Hause fahre. Sie liegen gewissermaßen ohnehin auf meinem Weg!«

Vor Frau Fürstenrieders innerem Auge stand die eigentümliche Erscheinung des Kommissars. »An irgendjemanden erinnert er mich, aber ich komme nicht darauf!« Sie erschrak wegen des einsetzenden Gelächters um sie herum.

*

Frau Dr. Pahlhaus war sich sicher. Der Genesungsprozess von Schwester Lily hatte gute Fortschritte gemacht, und gemeinsam mit Professor Sonntag und Professor Oberlechner hatte man beschlossen, das künstliche Koma aufzuheben und die Schwester aufwachen zu lassen. Corinna erhielt entsprechende Anweisungen, in welcher Reihenfolge die verabreichte Dosis über die Perfusoren zu verringern war. Philipp, den Egidius vom Stationsdienst freigestellt und durch Ludwig Lechner ersetzt hatte – auch, damit dieser nicht auf Dr. Cortinarius traf –, saß am Bett seines Lebensgefährten und hielt dessen Hand. Chris erwachte.

»Mein Gott, du siehst fürchterlich aus!« Philipp lachte unter Tränen. »Wenn du nicht anständig bist, hole ich einen Spiegel. Und du hast wenigstens geschlafen, im Gegensatz zu mir. Ich war die ganz Nacht wach!«