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Ein Roman aus der schillernden Welt Chinas zur Zeit des Boxeraufstandes. Stanton Ware, ein englischer Major, ist in geheimer Mission unterwegs, um die von den Boxern drohende Gefahr abzuwenden. Begleitet wird er von Zivana, Tochter eines emigrierten russischen Prinzen, einer bildhübschen und hochintelligenten Frau. Aus dem Team zur Erledigung der bisweilen äußerst schwierigen und lebensgefährlichen Rettungsmission wird allmählich ein verliebtes Paar...
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Veröffentlichungsjahr: 2020
»Ich kann Ihre Besorgnis nicht verstehen, Major Ware«, sagte Sir Claude Macdonald.
»Dem Premierminister sind Gerüchte von beträchtlichen Unruhen in den Provinzen zu Ohren gekommen.«
»In China gibt es immer irgendwelche Unruhen, und ich kann Ihnen versichern, daß ich sehr wohl in der Lage bin, mit jeder möglichen Situation fertig zu werden.«
Sir Claude sprach in beinahe scharfem Ton, als fürchte er, seine Autorität könne in Frage gestellt sein.
Stanton Ware, der ihn nachdenklich betrachtete, pflichtete insgeheim dem Premierminister bei, der ihm gegenüber einmal angedeutet hatte, daß Sir Claude nicht der richtige Mann am richtigen Platz sei.
Der Marquis von Salisbury war zu taktvoll gewesen, um deutlicher zu werden. Seine Berater im Außenministerium hingegen hatten kein Blatt vor den Mund genommen, noch weniger die Presse.
So hatte der Korrespondent der »Times« geschrieben:
Jedermann mißbilligte seine Ernennung. Man warf ihm mangelnde Bildung vor... Schwäche, Geschwätzigkeit, Leichtfertigkeit. Der Typ eines Militärbeamten der zunächst mit großen Worten herausgebracht wird und sich dann als Seifenblase entpuppt.
Stanton Ware hatte gelacht, als er den Artikel gelesen hatte. Jetzt jedoch betrachtete er Sir Claude Macdonald voller Zweifel; er spürte, daß er nicht in der Lage sein würde, die Situation zu beherrschen, wenn ihm die Dinge aus der Hand glitten. Und das war zu erwarten.
Es war wirklich eine Tragödie, daß England gerade jetzt von einem Gesandten repräsentiert werden sollte, der über keinerlei Erfahrungen mit dem chinesischen Volk verfügte, wenn man von seiner Zeit als Militärberater in Hongkong absah.
Einer seiner Kritiker hatte Sir Claude einmal als eine »große, einfältige Bohnenstange mit übertrieben langem Schnurrbart« bezeichnet.
Das letztere stand außer Zweifel, und Sir Claude zwirbelte ihn selbstgefällig.
»Sie können dem Premierminister mitteilen, Major Ware, daß wir alles unter Kontrolle haben und die wenigen Zwischenfälle, die sich zugetragen haben, wirklich kaum von Bedeutung sind.«
Stanton Ware antwortete nicht sofort.
»Ich meine, daß der Mord an Brooks schon von Bedeutung ist, insbesondere für ihn selbst«, sagte er schließlich.
»Brooks war ein Missionar«, erwiderte Sir Claude, »und die Missionare haben in China schon immer für Ärger gesorgt, seit man ihnen im Jahre 1860 die Einreise erlaubte. Die Chinesen machen ihnen zum Vorwurf, daß sie ihren Ahnenkult, der für sie von tiefer Bedeutung ist, untergraben.«
»Ich weiß das sehr genau«, entgegnete Stanton Ware, »doch leider kümmern sich die chinesischen Christen häufig nicht um die Gefühle ihrer Mitbürger.«
Er dachte daran, wie die Missionare chinesische Tempel beschlagnahmt hatten mit der Rechtfertigung, daß sie früher Eigentum der Kirche gewesen seien und die Chinesen lediglich die Erlaubnis erhalten hätten, ihre heiligen Stätten zu errichten. Die Franziskaner versuchten sogar, Mietrückstände für die letzten dreihundert Jahre einzutreiben.
»Ich wiederhole, daß ich solchen Vorkommnissen nur geringe Bedeutung beimesse«, erklärte Sir Claude. »Von viel größerer Bedeutung für uns sind die Machtverhältnisse in China, die vor vier Jahren aus dem Gleichgewicht gebracht wurden, als russische Kriegsschiffe in Port Arthur einliefen.«
In diesem Punkt mußte Stanton Ware ihm zustimmen.
Die fünf Großmächte umkämpften ihre Positionen in China und teilten es auf - wie ein Karikaturist es zutreffend darstellte - wie eine Melone.
Und so verhinderten tatsächlich nur ihre Mißgunst und die ständige Rivalität zwischen den westlichen Großmächten, daß sie sich noch mehr von China einverleibten, als bereits geschehen war.
Stanton Ware jedoch wußte, daß die Mandschus in Peking, der nördlichen Hauptstadt des Reichs des Himmels, sich selbst etwas vormachten, wenn sie glaubten, stark zu sein und daß China die fremden Einflüsse würde überwinden können.
Ein Angehöriger des Außenministeriums beschrieb diese Situation sehr treffend: »Die Mandschus sind arrogant und schwach, die Europäer arrogant und schwach. Das Resultat wird Krieg sein.«
Als wüßte er, daß Stanton Ware nicht davon überzeugt war, daß es keine Krise gab, fuhr Sir Claude fort: »Wir können hundertprozentig darauf vertrauen, daß die Witwe des Kaisers innere Schwierigkeiten im Lande erfolgreich bewältigen wird.«
»Der Witwe des Kaisers vertrauen?« wiederholte Stanton Ware erstaunt. »Das kann nicht Ihr Ernst sein! Die in London eintreffenden Berichte zeigen deutlich, daß die Kaiserin - auch wenn sie es nicht zugibt - sehr fremdenfeindlich eingestellt ist.«
Sir Claude lachte und zwirbelte erneut die Enden seines Schnurrbarts.
»Mein lieber Major, die Witwe des Kaisers lud meine Frau und die anderen Damen der Gesandtschaft in die Verbotene Stadt zum Tee ein, um ihren Geburtstag zu feiern und die guten Beziehungen zwischen Ost und West zu untermauern.«
Er nahm an, daß Stanton Ware nichts davon wußte, und fuhr lächelnd fort: »Die Kaiserin - oder der alte Buddha, wie wir sie gewöhnlich nennen - schenkte jedem ihrer Gäste einen großen, in Gold gefaßten und mit Perlen besetzten Ring und bot ihnen eigenhändig Tee aus einem kostbaren Jadebecher an.«
»Sehr großzügig«, murmelte Stanton Ware ironisch.
»Es war eine symbolische Geste«, erklärte Sir Claude. »Die Kaiserin trank zuerst und reichte den Becher mit den Worten ,Wir sind alle eine Familie' weiter.«
»Und Sie glauben ihr?«
Sir Claude zuckte die Achseln.
»Ich sehe keinen Grund, es nicht zu tun.«
»Trotz der Tatsache, daß der I Ho Ch’uan von Tag zu Tag größer wird?«
Sir Claude lachte.
»Der Bund der ,Fäuste der gerechten Harmonie', die wir kurz die Boxer nennen, besteht hauptsächlich aus Jugendlichen, von denen nur wenige älter als neunzehn Jahre sind. Sie konzentrieren sich auf die nördlichen Provinzen, insbesondere an den Grenzen von Shantung und Chihli.«
»Es heißt, daß ihr Einfluß sich weiter ausdehnt.«
»Wohin?« fragte Sir Claude mit einer weit ausholenden Bewegung seiner Hand. »Nur leichtgläubige Chinesen schließen sich den Boxern an, weil diese vorgeben, magische Kräfte zu besitzen. Doch für jeden, der auch nur ein bißchen Verstand besitzt, sind sie nicht mehr als ein Witz.«
»Ich glaube, daß wir diesen Witz überhaupt nicht lustig finden werden«, erwiderte Stanton Ware ernst. »Sie sollten unbedingt Schutztruppen anfordern, Herr Minister, wenigstens für das Gesandtschaftsviertel. «
Sir Claude lachte.
»Schutztruppen? Unsere Truppen hier haben ohnehin zu wenig zu tun. Ich kann dazu nur sagen, Major Ware, Sie machen aus einer Mücke einen Elefanten. Sie sehen Drachen, wo es nur Papierdrachen gibt.«
Er lachte über seinen eigenen Witz.
Stanton Ware erhob sich.
»Danke, daß Sie mir so viel Ihrer Zeit gewidmet haben, Herr Minister. Ich werde dem Premierminister berichten, was Sie mir gesagt haben. Ich bin sicher, es wird ihn sehr interessieren.«
»Sie fahren nach Hause?« fragte Sir Claude.
»Nicht sofort«, antwortete Stanton Ware ausweichend. »Ich habe hier ein paar Freunde, die ich besuchen möchte. Vielleicht gehe ich danach nach Tientsin und nehme ein Schiff nach Hongkong.«
»Dann gute Reise!« sagte Sir Claude. »Es war schön, Sie kennenzulernen, Major Ware. Ich hoffe, Ihr Aufenthalt in Peking gefällt Ihnen.«
Stanton Ware verbeugte sich und verließ das Gesandtschaftsgebäude.
Er hatte gewußt, daß der britische Minister ein bornierter, halsstarriger, dümmlicher Mann war, doch er hatte nicht erwartet, daß er ein solcher Narr war, als der er sich während ihrer kurzen Unterhaltung erwiesen hatte.
An jenem Abend wurde ein verschlüsseltes Telegramm an das Außenministerium aufgegeben, in dem die dringende Lieferung »neuer Teile für die Maschine« angefordert wurde.
Stanton Ware ging zu seiner Unterkunft zurück und ließ sich in einen Sessel sinken, um in Ruhe über das, was er soeben erfahren, und das, was er bereits vor seiner Ankunft über die Lage in China gewußt hatte, nachzudenken.
Er war ein Experte in allen Dingen, die den Fernen Osten betrafen. So war es unvermeidlich, daß man dem Premierminister, dem Marquis von Salisbury, raten würde, als er über die Nachrichten aus China beunruhigt war: »Holen Sie Stanton Ware!«
Stanton Ware war nicht sehr erfreut darüber gewesen und war der Aufforderung nur widerstrebend gefolgt.
Doch als der Premierminister ganz offen mit ihm sprach und er die Berichte der britischen Agenten aus ganz China las, erkannte er, daß es genau die Art Aufgabe war, die ihn interessierte.
Und er erkannte auch, welche Auszeichnung dieser Auftrag für ihn bedeutete.
Im Alter von dreiunddreißig Jahren hatte er sich bereits umfassende Kenntnisse über den Fernen Osten angeeignet und beherrschte fließend eine Reihe seiner Sprachen und Dialekte.
Er hatte viele Expeditionen in unbekannte Gegenden voller Gefahren unternommen und so manche gefährliche Situation unbeschadet überstanden, die mancher andere Mann zweifellos nicht überlebt hätte, so daß sein sprichwörtliches Glück schon zu einer Legende unter seinen Zeitgenossen geworden war.
»Wir sind Ihnen sehr zu Dank verpflichtet für das, was Sie in Afghanistan geleistet haben, Major Ware«, erklärte der Premierminister Stanton Ware zum Abschied. »Und ich hoffe, man wird mir vergeben, daß ich Ihnen schon heute unter dem Siegel der Verschwiegenheit anvertraue, daß man Sie auf die neue Liste der hohen Staatsorden setzen wird.«
Aus Stanton Wares Miene war nicht zu erkennen, ob er sich über diese Auszeichnung freute oder nicht.
Er verbeugte sich knapp, murmelte ein paar Worte des Dankes und verließ den Premierminister, ehe dieser noch etwas hinzufügen konnte.
»Seltsamer Bursche«, dachte der Marquis von Salisbury. »Doch zweifellos ein ungeheuer fähiger Mann!«
Stanton Ware war ein bedachtsamer Mensch, und so pflegte er stets, wenn er mit einem Problem konfrontiert wurde, dessen Tragweite nur er erkannte, erst in Ruhe nachzudenken, ehe er etwas unternahm.
Nur sehr wenige Leute wußten, daß er zwei Jahre lang Yoga erlernt hatte und sich von einem Lama in einem der großen Lamaklöster des Fernen Osten in die Geheimnisse der orientalischen Meditation hatte einführen lassen.
Dieses Training kam nicht nur seiner körperlichen Leistungsfähigkeit zugute, sondern verlieh ihm auch jenen Scharfsinn und Weitblick, den die Chinesen als die »Fähigkeit, die Welt hinter der Welt zu sehen« beschreiben.
Stanton Ware glaubte nicht an magische, oder übersinnliche Kräfte, doch er wandte zweifellos das an, was die Tibetaner als »das dritte Auge« bezeichnen.
Dieser Sinn war allen menschlichen Wesen gegeben, doch sie verloren ihn, sobald sie materiellen Dingen nachjagten und die körperlichen vor die geistigen Kräfte setzten.
Wie ein Mann, der eines der in Elfenbein geschnitzten chinesischen Puzzles betrachtet, deren Lösung ein ganzes Leben beanspruchen kann, saß Stanton Ware tief in Gedanken versunken und durchdachte die augenblickliche Lage in China und deren mögliche weitere Entwicklung.
Und er kam zu dem Schluß, daß die Situation weitaus beunruhigender war, als er geglaubt hatte, weil die offiziellen Stellen - insbesondere der britische Gesandte - blind für die möglichen, zukünftigen Gefahren waren.
Bei Einbruch der Dunkelheit wurde eine Sänfte durch die Straßen der Stadt getragen.
Weniger als hundert Meilen südlich der Großen Mauer, die das nördliche China von West nach Ost durchzieht, erhob sich zwischen unzähligen Pinienhainen auf einer flachen Ebene die Stadt Peking.
Hinter der Stadt erstreckte sich eine grüne Hügelkette, die nach Norden und Westen hin wellenförmig anstieg; Tempel und Paläste schmiegten sich in die fruchtbaren, im Dunst verschwimmenden Talmulden.
Reisende, die Peking durch das Südtor der Äußeren oder Chinesen-Stadt betraten, stellten mit Erstaunen fest, wie sehr sie sich von der Schönheit der Außenwelt unterschied.
Entlang der breiten Straße, die zur Kaiserstadt führte, drängten sich dicht hinter- und nebeneinander kleine Hütten, Buden und Läden. Fahnen, auf denen die verschiedensten Waren angepriesen wurden, flatterten im Wind, organisierte Bettlerbanden bedrängten die Passanten.
Durch die Gardinen der Fenster seiner Sänfte konnte Stanton Ware die Tempeltänzer beobachten, die vor einer staunenden Menschenmenge herumwirbelten, während Taschendiebe unbemerkt ihrem Handwerk nachgingen.
Da gab es Hellseher, die »Jahrbücher der glücklichen Tage« verkauften, und Hausierer, die in ihren Bauchläden Süßigkeiten, Nadeln, Spielzeug, Tee, Reiskuchen und Fächer anboten.
Fußpfleger und Friseure verrichteten ihre Arbeit neben Schreibern, Quacksalbern und den von den Chinesen so heiß geliebten Akrobaten und Jongleuren mit ihren Bären und Affen.
Für Stanton Ware war diese Atmosphäre sehr vertraut und übte eine ganz besondere Anziehungskraft auf ihn aus.
Und ihm wurde bewußt, daß er diesen unnachahmlichen Geruch von gebratenem Fleisch und Wild, von Ginseng, Sojabohnenöl, Knoblauch und Tabak, der über den Straßen zu hängen schien, beinahe vergessen hatte.
Die Sänfte tauchte unter in dem Gewühl von Handwagen und Schubkarren, von unter ihrer turmhohen Last strauchelnden Eseln und Kamelen aus der Mongolei.
Das war das echte China, wie die Chinesen es liebten, mit seinen barfüßigen Bettlern und den Wachmännern mit ihren Laternen und Klöppeln.
Nach kurzer Zeit wurde die Sänfte von der belebten Hauptstraße fort in einen Teil der Stadt getragen, wo die Häuser weniger ärmlich wirkten. Schließlich wurde sie vor dem »Haus der tausend Freuden« abgesetzt.
Wie überall gab es auch hier kein äußeres Zeichen dafür, was das Haus enthielt.
Das Äußere des Hauses wirkte trist und beinahe schäbig. Als Stanton Ware jedoch aus der Sänfte gestiegen war, den Kuli entlohnt hatte und durch die Eingangstür trat, bot sich ihm ein völlig anderes Bild.
Hinter der Eingangstür befand sich eine zweite, purpurrote, mit fünf Knäufen versehene Tür.
Das Innere entsprach dem üblichen Bild eines chinesischen Hauses: Es bestand aus neun oder zehn über eine weite Fläche verteilten Höfen, die jeweils von drei oder vier einstöckigen Pavillons umgeben waren.
Das Außergewöhnliche an dem »Haus der tausend Freuden« war, daß jeder der kleinen Pavillons mit seinen erlesenen Gitterfenstern, seinen winzigen Höfen und dem Goldfischteich einer schönen Frau zugewiesen war.
Der Diener, der ihn einließ, starrte Stanton Ware neugierig an, denn dieser trug einen langen Mantel mit einer Kapuze, der nicht nur seinen Körper, sondern auch den größten Teil seines Gesichts verdeckte.
»Ich möchte zu Mannigfaltige Freude.«
»Wenn Sie mir bitte folgen wollen, verehrter Herr, werde ich nachsehen, ob Mannigfaltige Freude Sie empfangen kann.«
Der Diener führte Stanton Ware in einen erlesen eingerichteten Raum mit niedrigen Tischen, Kissen auf dem Boden und alten, kostbaren Gemälden an den Wänden.
Eines dieser Gemälde liebte Stanton Ware besonders; es stammte aus dem siebzehnten Jahrhundert und zeigte eine im Nebel liegende, mit Tinte und zarten Pastellfarben gemalte Berglandschaft.
Er wußte, daß jeder Pinselstrich eine besondere Bedeutung hatte und die unterschiedlichsten Reaktionen bei den Betrachtern des Bildes hervorrief.
Vor langer Zeit einmal hatte man ihn gelehrt, daß kleine Objekte in einem Bild wie ein Vogel, eine Blume oder ein Fisch nur gemalt waren, um ihr Wachsen und Gedeihen und die enge Verknüpfung allen irdischen Lebens zu betonen.
Stanton Ware versuchte gerade herauszufinden, welche Wirkung das Bild von Hung Hsien auf ihn ausübte, als der Diener zurückkehrte.
»Mannigfaltige Freude will Sie empfangen, verehrter Herr«, sagte er und verbeugte sich.
Durch ein Labyrinth von Gängen und Wegen, vorbei an Pavillons von Frauen mit verwirrenden Namen, folgte er dem Diener.
Dieser führte ihn beinahe durch das ganze Haus, ehe er Stanton Ware in einen sparsam möblierten, sehr edel wirkenden Raum geleitete.
Vor den Fenstern hingen Vorhänge aus kostbarer Seide, bestickt mit Adlern und Drachen, auf dem Boden standen Bonsaibäumchen in Porzellantöpfen.
Doch Stanton Ware hatte nur Augen für die Frau, die soeben eintrat. Ein forschender Zug lag auf ihrem geschminkten Gesicht, der jedoch sofort einem erfreuten Lächeln wich.
Sie verbeugte sich tief und sagte lächelnd: »Ich hoffte, daß Sie es sein würden, ehrenwerter Herr, doch nach der Beschreibung des Dieners konnte ich nicht ganz sicher sein. Sie, den ich so lange vermißt habe.«
Stanton Ware warf die Kapuze zurück und löste den Verschluß am Hals.
Der Diener, der ihm den Mantel abnahm, bewegte sich so geräuschlos, daß Stanton Ware das Gefühl hatte, von Geisterhänden berührt zu werden.
Dann setzte er sich auf eines der flachen Sitzkissen, vor dem ein Glas Samshu stand.
»Sie waren lange fort«, begann Mannigfaltige Freude.
In ihrer Stimme lag kein Vorwurf, nur Bedauern.
»Ich bin gekommen, weil ich spüre, daß es Schwierigkeiten geben wird.«
»Ich ahnte, daß Sie deswegen zu mir kommen.«
»Ich wäre ohnehin gekommen«, entgegnete er wahrheitsgemäß, »doch jetzt brauche ich Ihre Hilfe.«
»Was möchten Sie wissen?«
»Müssen Sie das fragen? Was geht in China vor? Was bedeuten all diese Unruhen, die von Monat zu Monat bedrohlicher werden?«
»Sie haben recht. Sie sind tatsächlich bedrohlich. Ich hätte wissen sollen, daß Sie früher oder später kommen würden, um etwas zu unternehmen.«
»Und was kann ich tun?«
»Wir alle wissen, daß das Jahr 1900 unter unglücklichen Vorzeichen stand«, erwiderte Mannigfaltige Freude leise.
»Genau darüber wollte ich von Ihnen Auskunft.«
»Die Astrologen sehen sehr böse Vorzeichen«, erwiderte sie, »und die Hellseher weissagen nicht nur viel Blut, sondern eine Katastrophe für China.«
»Was für eine Katastrophe?« fragte Stanton Ware.
Er wirkte entspannt, als er von dem Samshu trank, der ihm ausgezeichnet schmeckte.
Doch zugleich war sein Kopf hellwach, und er war sich bewußt, daß Mannigfaltige Freude ihm mehr Informationen als jeder andere geben konnte.
Das »Haus der tausend Freuden« war das exklusivste, teuerste und wichtigste Bordell in ganz China.
Bevor ihn seine Tante im Ying T’ai oder Meerespalast gefangensetzen ließ, soll der Kaiser selbst angeblich häufig inkognito Gast im »Haus der tausend Freuden« gewesen sein.
Auch die meisten Angehörigen des Kaiserhofs und die Mandarine gehörten mit Sicherheit zu seinen Stammgästen.
Es kursierten blühende Geschichten über die Freuden, die diejenigen erwartete, die die Gastfreundschaft von Mannigfaltige Freude in Anspruch nahmen.
Nach reichlichem Alkoholgenuß war mancher Mann geneigt, den unvergleichlich liebenswürdigen und verständnisvollen Mädchen sogar Staatsgeheimnisse anzuvertrauen.
Stanton Ware war oft gefragt worden, warum nahezu jeder Mandarin und jeder Angehörige des Kaiserlichen Hofes an Frauen, wie sie im »Haus der tausend Freuden« anzutreffen waren, interessiert war.
»Sie haben doch ohnehin alle ihre Konkubinen«, war ein unvermeidliches Argument.
Doch weder die Konkubinen in der Verbotenen Stadt noch die der reichen Mandarine und Kaufleute hatten Kontakt zur Außenwelt.
Ihr ganzes Leben, ihr ganzes Interesse drehte sich um ihren Herrn, und - abgesehen von der Schönheit ihrer Körper - hatten sie nicht viel zu bieten und waren häufig ausgesprochen dumm.
Die Mädchen im »Haus der tausend Freuden« jedoch waren nicht nur ihrer Schönheit, sondern auch ihrer Intelligenz wegen ausgewählt worden.
So kam es, daß Mannigfaltige Freude eine der bestinformierten Frauen in ganz Nordchina war.
»Bitte, sagen Sie mir, wie die Dinge stehen«, bat Stanton Ware.
Der Klang seiner Stimme und das Lächeln, das auf seinen Lippen lag, mußten auf jede Frau unwiderstehlich wirken.
»Sie sind unverbesserlich, edler Herr«, antwortete Mannigfaltige Freude lachend. »Sie kommen und gehen, wann und wie es Ihnen gefällt, und ich habe keine Ahnung, ob Sie noch am Leben sind oder nicht. Dann kommen Sie wieder und quetschen mich aus wie einen Granatapfel.«
Stanton Ware ergriff ihre Hand und zog sie an seine Lippen.
»Sie haben mich nie enttäuscht in all den Jahren, seit wir uns kennen«, entgegnete er, »und ich kann nicht glauben, daß Sie es jetzt tun werden.«
Sie stieß einen leisen Seufzer aus.
»Ich fürchte, es ist unmöglich, Ihnen etwas abzuschlagen, selbst wenn ich es wollte. Was wollen Sie wissen?«
»Alles«, antwortete er. »Wie Sie wissen, war ich über zwei Jahre fort von China, und manches hat sich geändert.«
»Das stimmt allerdings, und zwar zum Schlechten.«
»Ich hörte davon, bevor ich England verließ.«
»Sie wissen, daß der Fortschritt in China zum Stillstand gekommen ist? Die Witwe des Kaisers hat die Westmächte davon in Kenntnis gesetzt, daß keine weiteren Eisenbahnstrecken mehr gebaut werden dürfen, und es wäre daher sinnlos für ausländische Repräsentanten, entsprechende Vorschläge zu unterbreiten.«
»Ich habe davon gehört«, murmelte Stanton Ware.
»Keine Eisenbahnstrecken - kein Fortschritt.«
»So ist es.«
»Ihre Majestät war lediglich zu Verhandlungen über Waffen und Kriegsgeräte mit den Westmächten bereit.«
Wieder nickte Stanton Ware.
»Sie hat die Generäle angewiesen, westliche Techniken zu übernehmen und westliche Waffen zu kaufen. Wissen Sie, warum?« fragte Mannigfaltige Freude.
»Sie werden es mir sagen«, erwiderte er.
»Um die Fremden aus China zu vertreiben!«
»Ich bezweifle, daß China die Kraft dazu besitzt«, sagte Stanton Ware langsam.
»Aber Sie verfügen hier nicht über genügend Waffen und Truppen, um die Flut aufzuhalten, wenn sie losbricht«, entgegnete Mannigfaltige Freude.
Das war auch Stanton Ware klar, doch es überraschte ihn, daß Mannigfaltige Freude so genaue Kenntnis der Lage besaß.
»Die Kaiserin streut den Fremden Sand in die Augen«, fuhr sie mit leiser Stimme fort, »doch die Boxer hetzen die Massen auf, sich ihnen anzuschließen, und schreien ständig: ,Brennt alles nieder! Tötet sie, tötet!'«
»Wie stark sind sie?« wollte Stanton Ware wissen.
»Männer können kämpfen, wenn sie Vertrauen haben«, antwortete Mannigfaltige Freude, »und mit ihren angeblichen Zauberkräften gelingt es den Boxern, die Leichtgläubigen zu überzeugen, mit Musketen und Pfeilen, die einen in Trance Befindlichen zwar durchbohren, aber nicht verletzen.«
Als Stanton Ware nichts erwiderte, fuhr sie fort: »Und sie verbreiten Gerüchte, die die Chinesen nur allzu gerne glauben.«
»Was für Gerüchte?«
»Daß die Gleise und die Eisenbahnen ihre Götter, Geister und Dämonen verärgern und die Fruchtbarkeit der Erde zerstören würden.«
Stanton Ware lächelte, wußte er doch, daß das primitive Volk stets Angst vor Eisenbahnen hat, wenn es sie zum ersten Mal sieht.
»Sie, sagen, daß die rote Flüssigkeit, die von den ,Eisenschlangen' tropft und die in Wirklichkeit nichts anderes als rostiges Wasser von den oxydierten Telegrafenkabeln ist, das Blut der zornigen Fluggeister sei.«
»Kann denn wirklich irgendjemand diesen Unsinn glauben?« fragte Stanton Ware.
»Sie verbreiten, daß die Missionare Augen, Knochenmark und Herzen der Toten verwenden, um Medikamente herzustellen. Und wer immer in einem Pfarrhaus ein Glas Tee trinke, würde auf der Stelle tot umfallen, sein Gehirn würde aus dem Kopf platzen.«
Sie sah ihn nicht an, als sie leise weitersprach: »Die Boxer sagen auch, daß Kinder, die in einem Waisenhaus landen, getötet und ihre Eingeweide verwendet werden, um wertvolle Arzneien herzustellen und Blei in Silber zu verwandeln.«
»Wer solch einen Unsinn glaubt, muß sehr dumm sein«, meinte Stanton Ware.
Doch er hatte den Ärger, den die Missionare in der Vergangenheit verursacht hatten, nicht vergessen.
»Sie sagen, die Boxer werden immer stärker«, sagte er nach einer Weile. »Die Kaiserin unterstützt dieses Gesindel doch wohl nicht?«
»Offiziell erklärt sie, sie müßten auseinandergetrieben werden und dürften sich nicht weiter ausdehnen.«
»Und inoffiziell?« fragte Stanton Ware.