Drachenband - Larissa Birkel - E-Book

Drachenband E-Book

Larissa Birkel

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Beschreibung

Seit Sharas Heimatdorf zerstört wurde, lebt sie in der Soldatenstadt Brant, wo sie seit zwei Jahren auf eine Ausbildung zur Kämpferin hofft. Als ihr aber bewusst wird, dass sie dort niemand trainieren will, geht Shara aufgebracht fort und beschließt, sich einer neuen Aufgabe zu widmen: Sie will die Verantwortlichen ausfindig machen, die sie damals so gewaltsam aus ihrem friedlichen Leben gerissen hatten. Auf ihrer Reise durch den Wald stellt ihr das Schicksal Gefährten an die Seite. Aber kann Shara Ihnen wirklich trauen?

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Seitenzahl: 399

Veröffentlichungsjahr: 2015

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Inhalt

Kapitel 1 -Brant-

Kapitel 2 -Neuankömmlinge-

Kapitel 3 -Die Entscheidung-

Kapitel 4 -Schicksalhafte Begegnung-

Kapitel 5 -Wissen-

Kapitel 6 -Ein Haufen Schutt und Asche-

Kapitel 7 -Eine neue Bekanntschaft-

Kapitel 8 -Kräuselnder Flügelschlag-

Kapitel 9 -Kalter Zorn-

Kapitel 10 -Phänomene-

Kapitel 11 -Einöde-

Kapitel 12 -Wagemut-

Kapitel 13 -Überwindungskraft-

Kapitel 14 -Beschützen-

Kapitel 15 -Entschlossenheit-

Kapitel 16 -Eine neue Welt-

Kapitel 17 -Bänder für die Ewigkeit-

Kapitel 18 -Der Zwischenfall-

Kapitel 19 -In den Wipfeln-

Kapitel 20 -Energie-

Kapitel 21 -Dunkle Schatten-

Kapitel 22 -Reichlich Ideen-

Kapitel 23 -Theorie und Praxis-

Kapitel 24 -Die Sache mit dem Stein-

Kapitel 25 -Folgerungen-

Kapitel 26 -Langsames Erwachen-

Kapitel 27 -Funkelnde Schuppen-

Kapitel 28 -Vertrieben-

Kapitel 29 -Ziele-

Kapitel 30 -Retter in der Not-

Kapitel 31 -Gespalten-

Kapitel 32 -Überzeugung-

Kapitel 33 -Finsterer Plan-

Kapitel 34 -Dämonenblässe-

Epilog -Schicksalswege-

Kapitel 1 -Brant-

Es war dunkel. Kalter Wind pfiff durch die Ritzen der gewaltigen Steinmauer. Die Lichter der Wehrtürme waren nur entfernt zu erkennen. Shara saß auf einem der großen Steinblöcke, die gleichmäßig am Rand des Wehrgangs verteilt waren. Ihre Arme um die Knie geschlungen saß sie da, spürte kaum den Wind, der an ihrem schulterlangen, braunen Haar und ihrem leichten, hellblauen Kleid zerrte.

Immer, wenn Tan Dienst hatte, kam sie her. Er war als einer vieler Wächter für diese Seite der Befestigung verantwortlich und ließ sie im Schutze der Dunkelheit mitkommen, obwohl es eigentlich verboten war, Fremde auf den Wehrgang zu lassen. Aber auch wenn andere Wächter sie sahen, so ließen sie sie in Ruhe, wohlwissend, dass sie mit ihrer Anwesenheit wohl kaum jemandem schaden würde. Außerdem war eh kaum je etwas los, nur äußerst selten wollte ein Umherziehender in die Trainingsanlage für die Soldaten des Königreichs eingelassen werden. So verbrachte Shara viele Abende und Nächte hier und starrte in die Ferne. Dort leuchteten schwache Lichter eines kleinen Dorfes. Und noch weiter weg musste der Ort sein, von dem sie kam. Ein noch kleineres Dorf, das jetzt aber nicht mehr existierte.

Schauderhaft lebhaft flackerten die Bilder durch ihren Kopf. Dunkle Gestalten. Erst draußen, dann plötzlich drinnen. Schreie. Rauch. Der Geruch nach Feuer. Blut. Die Leichen ihrer Mutter, ihres Vaters, ihres großen Bruders und ihrer kleinen Schwester. Unheimliche Wesen mit lächelnden Gesichtern als sie Shara in der Ecke entdeckten. Tränen in ihren Augen trübten ihr die Sicht. Die schwarzen Wesen waren fort. Flammen rissen die Wände nieder. Beißender Gestank nach verbrennendem Fleisch brachte sie zur Flucht. Ihre Kleidung fing Feuer, als sie durch das brennende Dorf lief. Alles zerstört. Alle tot. Bald kamen Bäume in Sicht. Beim Fluss brach sie vor Erschöpfung zusammen. Ein Mann tauchte auf und nahm sie mit. In Sicherheit.

Bei Tan hatte sie es immer gut gehabt, war stets gut behandelt worden. Seit er sie vor knapp zwei Jahren aufgelesen und vom Fluss mit in diese Stadt genommen hatte, hatte sie kaum geredet. Dennoch wurde es Tan nie müde, bei ihr zu sitzen und wenigstens zu versuchen, eine Unterhaltung zu beginnen. Trotzdem wurde sie das Verlangen nach ihrem alten Leben nicht los und sehnte sich danach, wohlwissend, dass ein Rückgängigmachen unmöglich war.

Diese Stadt hier kam ihr noch immer fremd und unheimlich vor. Die dicken Mauern aus kaltem, grauen Stein, der dünne Häuserring an der Innenseite der Mauer, in denen manche der Soldaten lebten, und schließlich die Zelte und Trainingsplätze im Herzen von Brant. Tan besaß ein Haus nahe dem Stadttor, wie nur wenige andere, die es sich leisten konnten. Der Großteil dieser Häuser war verlassen und so erinnerte es sie manchmal an ruhigen Tagen an eine Geisterstadt.

Freunde hatte sie hier nicht, außer Tan, denn es gab hier keine Kinder in ihrem Alter. Nur junge Männer in der Ausbildung zu treuen Dienern des Reiches, als Soldaten, Wächter und auch Ritter. Wie das Dorf in der Ferne hieß, wusste Shara nicht, glaubte sich aber zu erinnern, dass Tan einmal etwas von F gesagt hatte.

Hoch über ihr thronte der fast volle Mond, umgeben von einem Meer aus Sternen. Es gab nur ein Sternbild, das sie sich merken konnte. Es war der Drache und wie in jeder Nacht vergewisserte sie sich seinen Standpunkt. Nahe beim Mond funkelte er heute und war die einzige Sternkonstellation, die ihre Form und ihren Standpunkt das gesamte Jahr über beibehielt. Anders verhielten sich all die anderen Sterne, die jeden Mondwechsel woanders strahlten. Wahrscheinlich ist das der Grund, warum ich mir andere Sterne nicht merken kann, vermutete Shara.

Eine besonders heftige Windböe erfasste sie von hinten. Ihr Herz klopfte bedenklich, als sie sich der Distanz zum Boden entgegensah. Als sie sich wieder gefangen und etwas weiter zurückgelehnt hatte, ließ sie ihre Beine hinabbaumeln. Die Kante des Steinblocks zerkratzte ihre Haut in der Kniekehle, so hielt sie sie lieber ruhig. Es würde noch ein Weilchen dauern, bis der Stein seine tagsüber gesammelte Wärme verlieren würde, und so lange wollte sie diese noch auskosten.

Ein Schatten näherte sich von hinten und sie erschreckte sich kurz, als sich eine warme Hand auf ihre ausgekühlte Schulter legte. „Ich bin fertig für heute. Lass uns gehen.“

Tan half ihr vom Stein herunter und auf dem Weg zum Wehrturm, dessen Treppe hinunter in die Stadt führte, legte er ihr seinen Umhang um. Sie war froh über die Wärme, denn der Wind hatte sie fast vollständig, zumindest obenrum, ausgekühlt. Eine Hand Tans ruhte noch immer auf ihrer Schulter und gab ihr ein Gefühl der Geborgenheit.

Im Wehrturm leuchteten die Nachtschicht-Laternen. An dem Sichtfenster saßen zwei Wächter, die schweigend und angestrengt hinaus ins Dunkle starrten. Als die Holztür knarrend aufging und Tan und Shara eintraten, reagierten sie durch stummes Kopfnicken, sowohl gemeint als Begrüßung als auch als Verabschiedung.

Shara fragte sich wie so oft, wozu diese Nachtschicht diente. Ihrer Meinung nach war es vollkommen überflüssig, diese armen Menschen die Nacht durchmachen zu lassen. Denn es herrschte Frieden, die Gefahr auf Angreifer stand also auf null und Gäste würden wohl kaum um diese Uhrzeit eintreffen. Außerdem war die Landschaft sowieso zu dunkel und uneinheitlich, sodass draußen nicht zu erkennen war, ob sich denn nun wirklich jemand näherte. Bei Vollmond würde eine Wacht ja Sinn ergeben, aber sonst sollte der, wer auch immer den Dienstplan organisiert hatte, seine Leute lieber schlafen lassen, damit sie am nächsten Tag dann ordentlich trainieren konnten. Tans Einstellung zu den Nachtschichten verstand sie nicht. Er meinte, es sei wichtig für den Ausnahmefall, und dass das Training am darauffolgenden Tag auch müde zu absolvieren sein sollte.

Vom Wehrturm aus folgten sie der Straße geradeaus, bogen die erste schmale Gasse nach rechts ein und folgten dieser. Baracken zerfielen auf beiden Seiten mit der Zeit zu Staub. Ab und zu gab es auch Häuser, die besser in Stand waren und in denen jemand wohnte. Um diese Uhrzeit war aber alles dunkel und still. Nur die eine oder andere Ratte sah man von Baracke zu Baracke huschen, in denen sich bestimmt schon so manche Rattenvölker gebildet hatten. Dass sie und Tan den Weg zum Haus im Dunkeln schon so gut wie auswendig wussten, war ein gewaltiger Vorteil. Denn die Häuser wurden nur sehr schwach von Mond und Sternen beleuchtet und es waren gerade so grobe Umrisse zu erkennen.

Sie liefen so lange auf der gepflasterten Gasse weiter, bis sie vor einer Wand standen. Links von ihnen ging sie weiter, doch Tans Haus war eines von denen in der Ecke. Es klirrte leise, als er nach dem Schlüssel in seiner Wamsttasche suchte.

Ratten scharrten neben ihnen. Erschreckt riss Shara die Augen auf, als etwas zu Boden fiel. Auch Tan erstarrte. Mucks-mäuschenstill lauschten sie der Stille. Nichts außer dem leisen, hektischen Piepsen der Ratten war zu hören. Sie atmete auf. Bei Nacht zwischen den Häusern umherzugehen, machte ihr noch immer Angst. In solchen Momenten wiederrum war sie froh über die Wachen, die auf der Stadtmauer patrouillierten.

„So.“ Ein Schlüssel drehte sich im alten Schloss der Tür. „Jetzt können wir rein.“

Schnell wie der Blitz machte Shara einen Satz in Sicherheit. Aus Sicherheitsgründen, zum Beispiel, wenn sie das Haus einmal schnell verlassen musste, lies Tan den Schlüssel stecken und sperrte nicht zu. Trotzdem wäre es Shara lieber gewesen, eine sicher verschlossene Tür zwischen sich und den unheimlichen Gassen der halbverlassenen Stadt zu wissen.

Tan zündete eine Laterne an und zusammen stiegen sie die knarrende Treppe zum zweiten Stock hinauf. Dort befand sich ein großer Raum mit einem Fenster, einer Kommode und zwei Strohbetten. Eines stand an der rechten Wand, das andere an der linken. Das linke war Sharas und am unteren Bettende stand eine kleine Truhe, in der sie ihre Kleidung aufbewahrte, die sie von Tan geschenkt bekommen hatte. Erschöpft ließ sie sich auf ihr Bett fallen und zog sich die dünne Leinendecke über. Auch Tan machte es sich bequem. Die Laterne hatte er vorläufig auf den Boden in Reichweite gestellt, doch sobald er lag, löschte er das Licht.

„Gute Nacht!“, rief er zu ihr hinüber.

„Gute Nacht.“ Mittlerweile schaffte sie es bereits, ohne sich überwinden zu müssen, zu antworten. Sie erinnerte sich noch gut daran, wie es gewesen war, als sie hier neu angekommen war. Sie hatte so gut wie immer geschwiegen. Jetzt aber wollte sie das ändern. Und hatte sich vorgenommen, endlich mal ein richtiges Gespräch zu führen. Vielleicht schon morgen, überlegte sie.

Tans ruhiger Atem verriet ihr, dass er bereits eingeschlafen war. Wie immer musste sie erst noch einmal über den Tag nachdenken. Wann würde sie wohl auch mal kämpfen dürfen? Diese Frage hatte sich Shara am Morgen bei Tans Schwertkampfunterricht immer wieder gefragt. Morgen würden sie wieder früh aufstehen müssen. Daher beschloss sie, das Denken für heute sein zu lassen und endlich zur Ruhe zu kommen.

Sie wurde wach, als Tan sich umzog. Er lief hin und her im Raum und brauchte eine ganze Weile, bis er merkte, dass auch sie jetzt wach war. Angezogen kam er zu ihr, wünschte ihr einen guten Morgen und verschwand nach unten, um das Frühstück vorzubereiten. Shara gähnte, stand auf, streckte sich und wühlte in ihrer Truhe. Das hellblaue Kleid hatte sie jetzt schon drei Tagen lang an, es wurde Zeit, sich ein neues zu suchen.

Nachdem sie das türkise gefunden hatte, zog sie sich um und ging dann hinunter zu Tan. Der Tisch war bereits gedeckt. Tan holte ein Brot aus der Kiste, in der sie jede Woche zehn Brote zugeteilt bekamen. Etwas anderes außer dem Haus konnte sich Tan mit seinem bescheidenen Soldatenlohn kaum leisten, zumal ihm von Shara stets geraten wurde, zumindest einen kleinen Teil des Geldes zu sparen. Da aber beinahe monatlich ein Käsehändler in der Befestigung seine Waren anbot, gab es oft auch ein großes Laib zu essen. Auch heute hatten sie noch knapp die Hälfte des unförmigen Balls und Tan schnitt eine Scheibe mit einem alten Schwert ab. Dies hatte einst seinem Vater gehört, welcher es ihm zu Ausbildungsbeginn als Glücksbringer geschenkt hatte, so hatte ihr Tan einmal erzählt. Für die Übungskämpfe besaß Tan ein eigenes Schwert aus dem Waffenzelt, welches sie jedoch nur selten benutzten, weil häufiger mit einfachen Holzschwertern trainiert wurde. Shara aß zwei dicke Scheiben Brot mit Käse, bevor sie und Tan das Haus verließen.

Sie eilten durch die Straßen. Pünktlichkeit war eine sehr strenge Vorschrift und bei einer Verspätung würde Tan eine Strafübung absolvieren müssen. Das war schon einige Male vorgekommen, nicht nur bei ihm, weshalb die Strafen verschärft worden waren.

Im fahlen Morgenlicht kamen Zelte in Sicht und die Straße endete. Tan hechtete zwischen den Zelten hindurch. Shara folgte ihm bis zu dem breiten Übungsplatz, auf dem die anderen bereits warteten.

„Da bist du ja, Tan! Ich dachte, du würdest dich wieder verspäten!“, rief einer der Soldaten mit kurzem schwarzen Haar. Das war Zibo, der beste Freund Tans. Und auch der einzige, dessen Dienstplan mit seinem fast vollständig übereinstimmte.

Shara mochte ihn. Er war lustig und manchmal unternahmen sie etwas zu dritt. Den Aufseher für heute kannte sie auch schon. Es war Cao, einer der strengsten. Wie üblich wies man ihr die Bank am Rand des Platzes zu, von wo aus sie dem Geschehen beiwohnen konnte.

Tan und die anderen bauten unter Anweisungen Holzschilder auf einer Seite des Platzes auf. Gleich würde das Bogenschützen-Training beginnen.

Sie wechselten sich ab. Der Aufseher schrieb ihre Leistungen mit und verbesserte sie, wenn sie Fehler machten. Shara langweilte sich. Bogenschießen fand sie zu mühselig und ihre Chancen auf einen eigenen Bogen standen noch schlechter als die auf ein eigenes Schwert. Der Vormittag verging, ohne dass irgendwas Spannendes passierte. Dann endlich war Mittagspause und Tan und Zibo kamen zu ihr herüber.

„Langweilst du dich wieder?“, fragte Tan, als sie beide sich neben sie gesetzt hatten. Sie nickte. „Ich dachte mir schon, dass Bogenschießen nicht deine liebste Übung ist.“

Zibo lachte. „Da geht es dir so wie mir. Ich habe einfach nicht genug Geduld zum Zielen und Schießen!“

Zum Mittagessen holten sie sich aus dem Verpflegungszelt jeweils, bis auf Shara, zwei Sandwiches und aßen sie bei einem Spaziergang zwischen den Zelten.

„Wieso sind so viele Häuser in der Stadt verlassen?“, fragte Shara nach kurzem Zögern.

„Nun ja, die Soldaten, die hier ausgebildet werden, aber nicht genug Geld haben, können es sich nicht leisten“, antwortete Zibo zwischen zwei Bissen.

„Ja, aber wieso wird es nicht als Lager genutzt, oder so? Ich meine, das würde sich doch anbieten, oder nicht?“

Jetzt übernahm Tan das Antworten. „Wenn ich ehrlich bin, glaube ich, dass sie meisten einfach Angst haben.“

„Auch möglich“, stimmte ihm Zibo zu.

Auch Shara kam das logisch vor. Immerhin gruselte sie sich auch, und das nicht gerade sonderlich selten.

Nach der Mittagspause ging das Training weiter. Speerwerfen stand auf dem Nachmittagsprogramm und es war für Shara beinahe genau so langweilig wie zuvor. Danach, gegen Abend, war das Training für heute beendet. Tan sah völlig erschöpft aus, als er mit Zibo zu ihr kam.

„Alles in Ordnung?“ Er sah derart kaputt aus, dass er ihr richtig Leid tat.

Zibo, dem es einigermaßen besser zu gehen schien, klopfte seinem Freund auf die Schulter und übernahm das Antworten. „Geht schon, nicht wahr? Das war heute ganz schöne Folter! So hart war´s noch nie!“

„Kommst du mit zu mir?“, fragte Tan mit neuer Kraft. Zibo nickte und sie machten sich gemeinsam auf den Rückweg.

Abends waren die Gassen nicht so unheimlich wie nachts, denn ab und zu trafen sie auf andere, die auf dem Rückweg nach einem anstrengenden Tag Training zu ihren Häusern waren. Doch das orange Licht sorgte dafür, dass der Zustand der Stadt richtig zur Geltung kam. Kein Haus war wirklich in Stand, alle halb zerfallen. Wenn Shara an ihre Ankunft dachte, kam es ihr so vor, als habe sie sich kaum verändert. Auch damals war alles schon so heruntergekommen gewesen.

Tan und Zibo unterhielten sich über das Training. Shara schwieg und betrachtete dabei ihre Umgebung. Wäre Tan nicht hier, würde sie keinen Moment länger an diesem Ort verharren. Es war alles einfach zu deprimierend und ekelte sie an. Wenn sie könnte, würde sie schon jetzt in die Wälder fliehen. Aber sie wollte Tan nicht verletzen. Er war der einzige, der sich um sie kümmerte, und sie brauchte ihn. Und noch besaß sie Hoffnung auf eine eigene Ausbildung.

In Tans Haus angekommen, setzten sie sich an den Tisch und aßen gemeinsam von ihren Vorräten zu Abend. Ironischerweise bestand es aus demselben Essen wie das Frühstück, doch das störte keinen.

Tan und Zibo sprachen darüber, dass am nächsten Tag Nachschub an neuen Rekruten eintreffen würde. Das hatte Shara bereits einige Male erlebt, allerdings eher in kleinerem Maße als dem Schub, von dem diesmal die Rede war. „Ich freu mich schon! Dann gibt es wieder schlechtere als uns und auf uns wird dann nicht mehr herumgehackt!“

„Zibo, das ist nicht fair! Weißt du nicht mehr, wie es war, als wir hier ganz neu waren? Da wurden wir immerzu geärgert, und das hat nun wirklich niemand verdient!“, wies Tan seinen Freund zurecht.

„Ist ja gut!“, seufzte Zibo nachgiebig. Shara musste grinsen. Manchmal fragte sie sich, wer von beiden das größere Weichei war.

„Wann darf ich mit einem Schwert kämpfen?“ Auf ihre ersten Worte des Abends folgte Stille. Shara wusste, ihre Frage passte gerade nicht wirklich zum Thema, aber sie hatte sich einfach nicht mehr zurückhalten können.

Dann lachte Zibo plötzlich laut auf, doch ein strenger Blick Tans brachte ihn schnell zum Verstummen. Shara verstand Zibos Reaktion nicht. Fragend blickte sie Tan an. Dieser schien sich sichtlich unwohl zu fühlen, als er sagte: „Vielleicht irgendwann. Kommt auf den Trainer an.“

Er und Zibo wechselten noch einen Blick. Verwirrt beschloss Shara, das Thema sein zu lassen. Sie gähnte. Es war schon spät und morgen würden sie noch früher aufstehen müssen. Wenn die Neuen eintrafen, mussten alle anderen bereits wach und vorbereitet sein. Außerdem hatte Tan Frühdienst bei der Mauerwacht, weshalb sie das Eintreffen zuerst sehen und sofort melden würden.

Schnell verabschiedete sich Shara von den Freunden und ging leise nach oben in ihr Bett. Heute konnte sie schneller einschlafen, dennoch spürte sie deutlich, wie sich Tan und Zibo weiter über ihre Frage unterhielten.

Was ist daran nur so ungewöhnlich?

Kapitel 2 -Neuankömmlinge-

Tan und Shara patrouillierten auf dem Wehrgang. Die Sonne war noch nicht aufgegangen und es war fast so dunkel wie in der vergangenen Nacht. Sie hatte einen eigenen Umhang für diese Wacht geliehen bekommen. Es kam nur selten vor, dass sie offiziell mit Tan patrouillieren durfte. Heute aber waren nur wenige Wächter auf der Mauer, weil sich die meisten beim General melden und für die baldige Ankunft der neuen Rekruten bereit machen mussten. An solchen Tagen ließ man Shara mitkommen und Tan war froh darüber, nicht ganz allein sein zu müssen.

Auch Shara freute sich darüber. Der kalte Morgenwind erfrischte ihre Sinne und machte sie wach. Und so konnte sie der Stadt entkommen, um mit sehnsüchtigem Blick in die Ferne zu entschweifen.

„Sieh mal!“ Tan blieb stehen und zeigte auf einen schwarzen Punkt in der fast genauso dunklen Umgebung. Dann rannte er los.

Aus ihren Gedanken aufgeschreckt, versuchte Shara mit zusammengekniffenen Augen, den Punkt näher zu erkennen. Er bestand aus mehreren kleinen Punkten – So wie eine dicht gedrängte Menschenmenge! Da erkannte sie, warum Tan so aufgeregt gewesen war.

Klar, das müssen die Neuen sein! Und sie kommen näher!

Shara blickte Tan hinterher. Er hatte schon fast den nächsten Wehrturm erreicht. Eigentlich hatte sie keine Lust zu rennen. Alleine zurückbleiben wollte sie aber auch nicht. So hielt sie sich ran und holte Tan noch auf den Treppen hinunter ein. Ihm folgten die übrigen Wächter, ebenso aufgeregt wie er.

Die Gruppe eilte auf dem schnellsten Weg in das Lager. Der aufsichtführende General, der sozusagen das Oberhaupt in Brant war, blickte verwirrt von seinen Soldaten zurück auf den sich nähernden Haufen. Keuchend kam die Gruppe vor ihm zum Halt.

„Sie kommen!“, keuchte Tan erschöpft und wischte sich die Schweißperlen von der Stirn.

Hektisch versuchte der General, Ordnung in seine Truppe zu bringen und sie ordentlich formatiert aufzustellen. Wie üblich wurde Shara weggeschickt und durfte das Geschehen nur aus der Ferne mitverfolgen.

Von der Stadtmauer her ertönten Alarmglocken, welche das Eintreffen ankündigten. Sie wollte die Neuen zuerst sehen, aber abgeschottet zwischen den Zelten wäre ihr das kaum möglich. So schlich sie sich davon in Richtung Hauptstraße. Die Straße führte nämlich vom Stadttor aus direkt ins Zentrum der Stadt, welches nun einmal das Lager war.

Zelt da, Zelt da. Diese ganzen Zelte nervten sie allmählich. Wieso konnten sie nicht ordentlich aufgestellt sein, sodass es einen geraden Weg hinaus gab? Stattdessen herrschte hier ein heilloses Wirrwarr und man musste einen regelrechten Slalom absolvieren. Als sie dann schließlich den Rand erreichte, wo bereits die ersten Sonnenstrahlen ihr Licht hinabsenkten, sah sie die große Gruppe, die sich direkt auf sie zu bewegte.

Mehr als letztes Mal, schoss es ihr durch den Kopf. Alle trugen schwarze Kleidung und sie schienen von einem älteren Mann angeführt zu werden. Bei ihr angekommen blieb die Truppe stehen. Ihr Anführer musterte Shara überrascht. Einer der Soldaten räusperte sich. Mit einem vorsichtigen Blick auf den Anführer, ob seine Bitte erlaubt sei, fragte er sie: „Willst du und nicht zu General Hanschas bringen?“

Beschämt nickte Shara und führte sie zwischen den Zelten hindurch. Der junge Mann, der sie angesprochen hatte, war ihr vom ersten Moment an sympathisch gewesen. In Gedanken wünschte sie ihm viel Glück bei der Ausbildung.

Zwischen den nächsten zwei Zelten kam der Trainingsplatz in Sicht. Dort wartete bereits General Hanschas mit den älteren, zur Begrüßung ordentlich aufgestellten Soldaten. Shara trat als erstes auf den Platz und der General war sichtlich überrascht als er merkte, wen sie mitgebracht hatte. Die neue Truppe versammelte sich hinter ihrem Anführer, der nun dem General gegenüberstand.

Sobald der Neue zu sprechen begann, verneigte er sich ehrfürchtig vor dem höhergestellten. „General! Ich habe Ihnen diese jungen Soldaten für Ihr Training mitgebracht. Der König hat befohlen, diese von ihm ausgewählten ordentlich auszubilden. Enttäuschen Sie uns nicht! In ein paar Monaten werde ich wiederkehren, um ihren Stand zu prüfen und anschließend dem König Bericht erstatten. Geben Sie sich Mühe! Wir wollen nicht, dass die Talente dieser jungen Männer verschwendet werden!“

Mit einer letzten Verbeugung machte er kehrt und verschwand mit zweien aus seiner ehemaligen Truppe in Richtung Hauptstraße. Das waren wohl seine Wächter, dachte Shara. Weg ist er. Was jetzt?

Nach einiger Zeit voller Schweigen räusperte sich der General. „Willkommen, Soldaten! Hier in Brant werdet ihr von heute an trainieren! Für den Anfang darf sich jeder von euch einen älteren als Mentor aussuchen, von dem ihr dann euer neues Zuhause gezeigt bekommt. Außerdem hat er dafür zu sorgen, dass ihr euch hier schneller eingewöhnt, und er wird euch die Grundlagen der Ausbildung beibringen. Also fangt an! Für den Rest des Tages tut ihr dann das, was euer neuer Mentor euch befiehlt. Aber denkt daran: Das gilt nur für heute!“

Sofort begann ein lautes Gemurmel und Durcheinander. General Hanschas verließ das Feld und beobachtete die Soldaten wie Shara vom Rand aus. Ganz offensichtlich waren alle sehr aufgeregt und es dauerte nicht lange, bis sich erste Paare gebildet hatten. Überrascht stellte Shara fest, dass Tan und der nette Mann von vorhin zusammen übten. Ob es in Ordnung ist, wenn ich zu ihnen gehe? Kurz blickte sie sich um, dann machte sie sich auf den Weg.

Die beiden trugen gerade einen Schwertkampf aus, natürlich erst mit Holzschwertern, als Shara zu ihnen stieß. Obwohl Tan sicherlich schon länger den Umgang mit einem solchen Schwert trainierte, schien der andere ihm nicht sonderlich weit unterlegen. Sharas Auftauchen irritierte ihn für einen Moment und Tan gelang es, ihn zu entwaffnen. Daraufhin drehte sich Tan zu ihr um. „Ich habe mich schon gefragt, warum er die Aufmerksamkeit in diesem Kampf verloren hat. Tust du mir den Gefallen und schleichst dich nicht mehr unangemeldet von hinten an?“

„Ist gut.“ Shara setzte sich auf den Boden und wartete.

Der andere blickte sie noch immer an.

„Das ist Shara“, stellte Tan sie vor. „Und das Gyso.“

„Warum ist sie-“, setzte Gyso an.

Tan unterbrach ihn. „Später! Jetzt musst du erst einmal fit werden!“

Und der Kampf ging weiter. In den nächsten Stunden gelang es Gyso, Tan des Öfteren zu besiegen. Shara war erstaunt, wie schnell er lernte. Mit Sicherheit würde es nicht lange dauern, bis er viel besser geworden war als sein Mentor.

Das Mittagessen hatte Shara diesmal ausgelassen. Sie fühlte sich einfach nicht wohl dabei, wenn sie die Verpflegung der Soldaten aß, wo diese sie doch viel dringender brauchten.

Tan würde Gyso jetzt Bogenschießen beibringen, die zweitwichtigste Kampfart. Danach würden sie wahrscheinlich verteidigen und abwehren üben. Also nichts, was sie sonderlich interessierte.

Ihr Bauch war noch immer angenehm voll vom Frühstück, so genoss sie endlich mal wieder einen alleinigen Spaziergang. Der Tag heute war einfach perfekt. Die Sonne schien und es war warm, wobei ein kühler Wind für stetige Abkühlung sorgte. Nur an der Umgebung war zu meckern. Durch die Stadt wollte sie nicht gehen, dort war es zu unangenehm, ungemütlich und der Boden viel zu hart. Deshalb blieb ihr nur der Zeltplatz, mit seinen ewigen grauen Zelten. Hier war der Boden nämlich grasbedeckt und die Zelte dämpften zusätzlich das Geräusch aufeinanderklirrenden Metalls. Außerdem war hier der perfekte Ort, um mal eine Zeit lang unterzutauchen. In der verwirrenden Anordnung der planlos aufgestellten Zelte war es schier unmöglich, jemanden zu finden, der nicht gefunden werden wollte.

Zwischen all den Zelten kannte sie sich gut aus, denn die Standorte älterer Zelte änderten sich nie. Wenn neue Soldaten ankamen, die ebenfalls ein Zelt brauchten, wurden diese als weitere Schicht um das bereits bestehende Zeltlager aufgebaut. Eigentlich könnte ich doch mal nachsehen, ob die neuen Zelte schon aufgebaut werden, beschloss Shara und ging in Richtung Rand. Sie vermutete, dass entweder jeder sein eigenes Zelt bekam, oder sie eins zu zweit teilen mussten. Da hatte Tan mit seinem kleinen Haus doch ziemlich Glück. Und auch wieder nicht, fand sie. Sie konnte gut nach-vollziehen, warum ein Großteil der hier stationierten Soldaten Zelte den Häusern vorzog. Hätte sie selbst entscheiden können, würde sie auch lieber in einem Zelt wohnen.

Tatsächlich waren bereits Vorbereitungen für den Zeltaufbau getroffen. Allerdings lagen die zum Aufbau nötigen Materialien in Haufen da. Aus jedem dieser Haufen würde später noch ein Zelt entstehen. Ist ja fies! Ich hoffe, Tan und ich dürfen Gyso beim Aufbauen helfen!

Shara sah sich die Materialhaufen näher an und zählte. Das Ergebnis stimmte mit der Anzahl der Neuankömmlinge nicht überein. Wenn sie es richtig verstand, würden einige ihr Zelt teilen, andere würden es für sich alleine haben oder in der Stadt wohnen. Woran das festgemacht wurde, war ihr ein Rätsel. Irgendwann sollte sie mal Tan fragen, warum er in der Stadt wohnte, in einem Haus und nicht in einem Zelt.

Sie blickte über das leere Feld hinüber zu den Steinhäusern. Es bestand noch ziemlich viel Freiraum, noch einige Zelte mehr könnten hier aufgestellt werden. Hier war der Boden weich und braun, weil hier auch oft trainiert wurde und viele Soldaten drüber liefen. Des Weiteren machte sich niemand die Mühe, den Boden mit Gras zu bepflanzen. Anders als im Zeltlager. Der General bestand auf Gras unter seinen Füßen, bis auf das Trainingsfeld war also alles zwischen den inneren Zelten grasbewachsen.

Bis zum Ende des heutigen Trainings würde es noch lange dauern. Sie beschloss, in der Zwischenzeit ihren Lieblingsort in Brant aufzusuchen. Das Zelt des Generals war als einziges weiß. Außerdem hatte es als einziges einen einigermaßen großen Abstand zu den anderen Zelten ringsum. Fast wie eine Lichtung im Zeltmeer. Mit dem grünsten und saftigsten Gras in ganz Brant.

Die Weiche und Kühle genießend setzte sich Shara nieder und streckte sich aus. Weil Hanschas das Training überwachte, hatte sie diesen wundervollen Platz jetzt ganz für sich alleine. Die heiße Sonne stand fast senkrecht über ihr. Wenn sie weiter gen Westen ziehen würde, würden ihr die Zelte bald wieder angenehmen Schatten spenden. Aber so nahe am Boden hatte es Shara auch so schön kühl und gemütlich und sank schon kurze Zeit später in einen tiefen Mittagsschlaf.

Als sie aufwachte, fror sie. Die Zelte warfen lange Schatten. Anscheinend hatte sie lange geschlafen. Wach fühlte sie sich jedoch nicht, eher noch müder als zuvor. Schnell stand sie auf und machte sich auf den Rückweg zum Trainingsplatz. Tan und Gyso sollten bald fertig sein.

Beim Laufen wurde ihr wärmer. Seit heute Mittag war es nicht viel abgekühlt. Als sie beim Trainingsplatz ankam, roch es stark nach Schweiß. Sie war froh, selbst nicht so schwitzen zu müssen. Gyso und Tan kämpften wieder gegeneinander, offenbar waren sie beim letzten Teil von Tans Trainingsprogramm angekommen. Es war aber deutlich zu erkennen, wie sehr sie sich doch verausgabt hatten. Beide hatten stark an Schnelligkeit und Kraft nachgelassen, was nur selbstverständlich war. Fast war ihnen anzusehen, dass sie dem Ende regelrecht entgegenfieberten. Endlich ertönte der erlösende Ruf des Generals: „Schluss für heute! Bringt die Materialien weg! Morgen tretet ihr kurz nach Sonnenaufgang hier an! Und zwar pünktlich!“

Schlagartig wurde es lauter auf dem Platz. Die Soldaten unterhielten sich gerne nach einem anstrengenden Training. Auch Tan und Gyso redeten miteinander, während sie ihre Holzschwerter wegbrachten. Geduldig wartete Shara auf ihre Rückkehr.

Beide wirkten müde. Sie hatten sogar die Lust zum Reden verloren und setzten sich erschöpft zu ihr hinunter auf den harten, braunen Boden aus festgestampfter Erde.

„Gyso, wirst du in einem Zelt leben?“ Herzklopfen verriet ihr ihre eigene Aufregung. Es war das erste Mal, dass sie ein Gespräch mit einem Fremden begann.

„Ich weiß es nicht genau, aber ich nehme es mal stark an.“

Tan nickte Shara ermutigend zu.

„Ähm, also-“ Sie wurde rot. Vielleicht hätte sie doch nichts sagen sollen. Doch Tans Blick drängte sie zum Weitersprechen. „Wenn du willst, können Tan und ich dir beim Aufbauen helfen.“

„Ja, das würden wir wirklich sehr gerne!“, griff ihr Tan schließlich unter die Arme.

„Danke! Sehr nett von euch!“, bedankte sich Gyso mit einem freundlichen Lächeln.

Shara konnte Tans Stolz fast spüren. Es war ihr ein wenig unangenehm, aber auf der anderen Seite freute sie sich auch. Ihr erstes selbstangefangenes, längeres Gespräch! Und es hatte in keiner Katastrophe geendet, wie sie es sooft befürchtet gehabt hatte.

Wenn es nach ihr gegangen wäre, hätten sie sofort loslegen können, doch die zwei anderen waren noch zu erschöpft. Heute hatte sie ja sowieso nichts mehr vor, sie hatte also alle Zeit der Welt. Sie wusste aber, dass Tan heute wieder Nachtschicht hatte. Heute komme ich nicht mit. Wahrscheinlich begleitet ihn Gyso zur Nachtwache. Und irgendwie habe ich heute auch keine Lust, dort draußen herumzuhocken.

Der Platz leerte sich allmählich, als Gyso sich regte. „Wollen wir uns die Zelte ansehen?“

Sofort waren auch Tan und Shara auf den Beinen. „Klar! Ich zeig euch den Weg!“ Begeistert stürmte sie voraus, während ihr die anderen beiden etwas langsamer folgten.

Aus einigen Materialhaufen waren bereits neue Zelte geworden und es herrschte ein geschäftiges Treiben. An einigen Zelten in der Aufbauphase arbeiteten Soldaten, überwiegend neue, aber auch ältere, die Unterstützung leisteten. Gyso ging zu einem unaufgebauten Zelt, welches verlassen dalag. Offenbar war es von noch niemandem ausgesucht worden und war daher geradezu perfekt.

Zu dritt verschafften sie sich einen Überblick über die gestellten Materialien. Das Zusammenbauen entpuppte sich als komplizierter als gedacht. Denn weder Tan noch Gyso hatten jemals ein solches Zelt aufgestellt und Shara hatte von sowas grundsätzlich keine Ahnung.

„Einfach probieren?“, schlug sie mutig vor. Eine andere Möglichkeit sahen die anderen auch nicht, so improvisierten sie. Tatsächlich gelang es ihnen nach gar nicht so langer Zeit, ein einigermaßen stabil wirkendes Zelt zu Stande zu bringen.

Misstrauisch wurde es von außen beäugt. Tan meinte: „Es sollte eigentlich halten.“

„Und wenn nicht, ist es auch nicht schlimm. Dann fällt es eben über mir zusammen und ich habe die außerordentliche Freude, unter einem Laken begraben meine Zeit auszusitzen“, scherzte Gyso. „Aber ernsthaft: Sollte sich ein Problem ergeben, gibt es bestimmt jemanden, den ich um Hilfe bitten kann. Es werden wohl nicht alle so unwissend sein wie wir, immerhin haben es alle anderen auch geschafft, ihr Zelt aufzustellen.“

Sie sahen sich um. Überall standhafte Zelte, in denen der Großteil der Soldaten bereits verschwunden war.

„Gyso, möchtest du heute mit mir Nachtwache halten?“, fragte Tan, die Hände an die Seite gestemmt.

„Ja! Dann kannst du mir gleich alles zeigen! Und wenn ich dann zum ersten Mal offiziell Dienst habe, weiß ich schon, wie man alles am besten macht!“ Gyso war seine Begeisterung förmlich ins Gesicht geschrieben. Auch Tan wirkte glücklich. Die Sonne war bereits am Untergehen. Bald würde ihre Schicht beginnen.

Shara verabschiedete sich von den beiden, als sie sich Richtung Wehrturm aufmachten. Sie waren das kurze Stück durch die Stadt bis zur Abzweigung gemeinsam gegangen. Noch war es hell. Es würde also nicht allzu schlimm werden, alleine durch die Straßen zu wandern. Den gleichen Weg wie immer gehend strich sie an den Häusern vorbei. Jetzt mehr als jemals zuvor kam es ihr so vor, als würde die Stadt bereits schlafen. In der Stille jedoch lauerten Gefahren, das spürte sie.

Die Ratten wurden aktiv. Mit jedem Schritt wurde das Rascheln am Boden lauter. Bald rannte Shara. Sie wollte weg, möglichst schnell ins Haus. Mit schweißkaltem Rücken stand sie vor der Tür. Den Schlüssel hatte sie zuvor von Tan erhalten und mit ihm schloss sie die Tür auf. Hinter sich schloss sie sie schnell wieder.

Alles war ruhig im Haus. Ein Wunder, dass die Ratten noch keinen Weg hinein gefunden hatten. Aber so war es auch besser. In dieser entspannten Atmosphäre gelang es Shara, sich zu beruhigen. Wieso musste das Soldaten-Trainingslager bloß unbedingt in dieser Stadt liegen? Konnte es nicht auf irgendeinem Feld liegen, ohne Steinhäuser und Straßen? Wieso um alles in der Welt wollten die Soldaten nicht fort von hier?

Irgendwann gehe ich. Mit oder ohne Tan. Aber irgendwann gehe ich.

Kapitel 3 -Die Entscheidung-

Wieder ein schwüler Tag. Würde diese Hitze denn niemals aufhören? Shara saß wieder auf der Bank und sah den Soldaten beim Training zu. Heißer Wind streifte ihr Gesicht und es fühlte sich an, als brenne es. Heute trainieren zu müssen ist doch eine Qual! Wieso beendet der General es nicht? Mitfühlend blickte sie zu Tan. Er schwitzte und keuchte, sein Schwert führte er nicht mehr präzise, sondern ungenau und kraftlos. Welcher Idiot würde an einem solchen Tag bitteschön einen Kampf führen wollen? Niemand, der noch bei Sinnen ist!

Aber der General war gnädig. Als Austausch dafür, dass sie sich ausruhen durften bis die Hitze abklingen würde, forderte er lediglich, die nachzuholenden Stunden im Abendtraining auszugleichen.

„Ein guter Platz“, bemerkte Tan seufzend. Shara hatte ihn zu ihrer Wiese geführt. Trotz der Hitze war es auch heute hier angenehm kühl. „Nett von ihm, uns eine Mittagspause zu gönnen.“

„Aber ihr müsst dann doch heute Abend weitermachen!“

„Das ist aber um Meilen besser als jetzt. Du weißt doch selbst, wie heiß es gerade ist! Und ich werde dir ja wohl kaum erklären müssen, dass es mit Bewegung noch viel unerträglicher ist, oder?“

Die Hitze machte Tan reizbar. Sonst war er immer sehr geduldig mit ihr. Aber sie verstand ihn ja. Er brauchte jetzt erst einmal eine Pause. Im kühlen Gras zu liegen würde seine Kräfte regenerieren und ihn entspannen. So ein kleines Mittagsschläfchen hat noch niemandem geschadet, dachte sie und war noch vor Tan eingeschlafen.

„Hey!“ Jemand stupste sie an. Sie gab einen unwilligen Laut von sich und drehte sich weg auf die andere Seite.

„Hey, aufwachen!“ Die Stimme bekam einen belustigten Unterton. „Bist du gestern so spät eingeschlafen? Als ich nach Hause kam, hast du doch schon geschlafen!“

Egal wie sehr sie sich sträubte, Tan ließ einfach nicht locker. „Ist dir nicht heiß?“ Doch. Ihre Zunge war staubtrocken. „Na wenn du hier liegen bleiben willst, dann hole ich mir eben alleine kaltes Wasser zum Trinken!“

Schlagartig hatte sich Shara aufgerichtet und blinzelte gegen die Helligkeit.

Belustigter Triumph glänzte in Tans Augen. „Ha! Ich wusste, ich krieg dich!“

Sie interessierte etwas ganz anderes. „Wo ist denn jetzt das Wasser?“

„Vorhin, bevor er uns entlassen hat, hat der General gesagt, dass kurz nach Sonnenhöchststand kaltes Wasser im Verpflegungszelt für uns bereitsteht. Und wenn mich nicht alles täuscht, sollte es jetzt soweit sein“, berichtete er nun ernsthafter.

Shara sah nach der Sonne. Tan hatte Recht. Sie stand auf. „Na, dann holen wir mal Wasser! Komm schon, du hattest es doch eben so eilig!“

„Ist ja gut, werd´ jetzt bloß nicht hektisch!“

Sie passierten das Zeltlabyrinth. Schon von weitem waren Stimmen zu hören. Auch andere hatten sich bereits für ihre Portion kühles Wasser am Verpflegungszelt eingefunden und machten sich mit gefüllten Fellbeuteln wieder davon. Beide betraten das Zelt.

Innen war es kühl. Ein großes Fass stand in der Mitte, das schon halb leer war. An der Wand hingen Stoffbeutel, in die man das Wasser abfüllen konnte. Tan und Shara nahmen sich jeweils einen und überreichten sie den zweien, die für die Wasservergabe verantwortlich waren.

„Lagert das Wasser am besten im Schatten, sonst wird es gleich warm und ist keine Erfrischung mehr“, wurde ihnen geraten.

Draußen schlug ihnen die Hitze entgegen. Unerträglich, lautete Sharas Beschreibung. Bis zum Abendtraining war noch genug Zeit, so kehrten sie zum Generalzelt zurück.

Nur einen kleinen Schluck gönnte sie sich. Das kühle Nass wollte sie nicht zu schnell verbrauchen. Für den Fall, dass der General vorzeitig zu seinem Zelt zurückkehren würde, hatten sie sich sicherheitshalber an dessen Rückseite niedergelassen. Hier lag alles im Schatten, und dennoch war die Luft drückend heiß.

Einfach nur dazusitzen, war zu langweilig, und da Shara ihre Scheu mittlerweile fast gänzlich überwunden hatte, führten sie ein äußerst ausführliches Gespräch Waffen angehend.

„Gibt es viele Waffen?“

„Ja, sehr viele. Und alle für unterschiedliche Zwecke.“

„Zum Beispiel?“

„Ähm- Ja, ein Dolch. Der ist so ähnlich angefertigt wie ein langes Messer, nur mit einer etwas gebogeneren Klinge. Und man benutzt ihn hauptsächlich für den Nahkampf und Hinterhalte. Er ist von daher sehr praktisch, weil ein Dolch leicht in der Kleidung zu verstecken ist.“

„Schneidet man sich da nicht?“

„Nein, es gibt Dolchscheiden aus stabilem Stoff, zum Beispiel Leder, wie auch für Schwerter. Wir Soldaten benutzen eigentlich keine Dolche. Wir werden eher für den Fern- und Schwertkampf ausgebildet. Aber mit diesen Waffen müsstest du dich eigentlich auskennen, oder?“

„Ja, ein wenig.“ Sie blickte hinauf zum Himmel. Einige dunstige Wolken wanderten über das Blau. „Aber das ist doch egal. So viel wie du weiß ich sicherlich nicht. Und Zeit haben wir noch genug, bis es für dich weitergeht. Also erzähl!“

„Also gut.“

Tans ausführliche Beschreibungen von Schwert, Bogen und Speer hörte sich Shara begeistert an. Zwar hatte er Recht, sie kannte die Waffen, aber längst nicht so gut er, obwohl er immer so bescheiden tat. Kein Wunder. Er wird schließlich ausgebildet und braucht die Informationen. Es folgte ein detaillierter Bericht über den Unterschied zwischen Speer und Lanze und eine Idee seinerseits, wie man die verschiedenen Typen am besten in einer Schlacht einsetzen konnte.

Als Tan geendet hatte, war es an der Zeit, zum Trainingsfeld zurückzukehren. Viele andere hatten sich dort bereits eingefunden und übten sich weiter im Schwertkampf. Von der Bank aus sah Shara zu. Seit Mittag war es abgekühlt. Zwar war die Luft noch immer warm, aber längst nicht mehr heiß. Neben ihr lagen im Schatten der Bank ihre zwei Wasserbeutel.

Ihr Blick fiel auf Tan. Als einziger hatte er keinen Partner, gegen den er das Schwert führen konnte. Das ist meine Chance! Die erste Möglichkeit, um selbst mit ihm zu trainieren. Darauf hatte sie schon lange und sehnsüchtig gewartet. Kurzerhand sprang sie auf und lief aufgeregt zu ihm hinüber.

Mitten im Angriff gegen einen unsichtbaren Gegner hielt Tan inne. Verwirrt blickte er sie an.

„Brauchst du einen Partner?“, fragte Shara und konnte ihre Aufregung kaum zurückhalten.

Keine Antwort.

„Komm schon, du kannst gegen mich kämpfen!“

Noch immer Schweigen.

„Du brauchst mir nur die Grundtechniken zu erklären! Dann können wir loslegen! Tan?“ Ihre Begeisterung war abgeflaut.

Er sah ihr nicht in die Augen, sondern hielt den Blick gesenkt. „Du kannst nicht mitkämpfen.“

„Was?! Warum nicht?“

„Du bist kein Soldat.“

„Na, dann werde ich eben Soldat!“

„Das geht nicht.“

„Wieso?“

„Du bist kein Mann. Und außerdem bist du noch viel zu jung.“

Wut färbte ihr Gesicht rot. Sie musste sich bemühen, nicht zu schreien. „Das ist unfair!“ Leiser fügte sie hinzu: „Aber du kannst es mir doch heimlich beibringen!“

„Nein. Das ist nicht erlaubt.“

„Wäre ich ein Junge, würdest du ja sagen!“, schleuderte sie ihm verletzt entgegen. Sie hatte stets geglaubt, zumindest Tan würde sie wertschätzen. Wofür war sie dann eigentlich an diesem rattenverseuchten Ort geblieben? Die ganzen zwei Jahre hatte sie auf eine Ausbildung gehofft – vergeblich. Deshalb hatte Zibo gelacht! Jetzt wurde ihr einiges klar.

„Das heißt, ich war dir die ganze Zeit über eine Last! Du hattest nie vor, mir irgendwas beizubringen!“

„Du hast aber auch nie gefragt!“

„Das ist doch egal! Du hättest es mir sowieso verwehrt! Und warum? Nur weil du glaubst, ich könnte nicht gut kämpfen, nur weil ich ein Mädchen bin! Tut mir leid, dass ich existiere! Tut mir leid, dass du mich aufnehmen musstest!“

Kochend vor Wut drehte sie ihm den Rücken zu und rannte davon.

Sie sprang über die Bank, griff sich ihre Wasserflasche und lief zwischen die Zelte. Weg von hier! Hier will mich eh niemand! Kurz regte sich Freude in ihr. Weg von all dem Dreck! Dann wurde sie plötzlich traurig. Traurig und wütend zugleich.

Hinter sich hörte sie Schritte. Tan musste ihr folgen. Aber sie hatte keine Lust, mit ihm reden zu müssen. Sie war fertig mit ihm. Endgültig. Zwischen den Zelten kannte sie sich besser aus als er. Dennoch kamen die Schritte stetig näher. Um zu entkommen flüchtete sie sich in das nächste Zelt. Es ist bestimmt niemand hier.

So war es. Rasch zog sie das Bedecklaken wieder vor die Luke und wartete, bis sie sich sicher sein konnte, dass ihr Verfolger fort war. In der Zwischenzeit konnte sie sich genauso gut genauer im Zelt umsehen, eine seltene Gelegenheit für sie, die noch nie zuvor in einem bewohnten Zelt gewesen war. Shara wusste, dass es sich eigentlich nicht gehörte, in fremder Menschen Behausungen herumzuschnüffeln, aber da sie nun mal da war, war sowieso nichts zu ändern.

Ein merkwürdiges Gefühl durchzog sie, vermischte sich mit ihrer Wut. Etwas schien sie anzuziehen. Sie folgte dem Sog. An der Zeltwand lag angelehnt eine Ledertasche. Ehe sie sich versah, hatte sie sich die Tasche umgehängt und flüchtete aus dem Zelt.

In der Abenddämmerung leuchteten die grauen Zelte rötlich auf. Es war ganz leise. Ohne das leiseste Geräusch von sich zu geben, schlich sie voran. Es war durchaus anzunehmen, dass Tan ganz in der Nähe auf sie wartete.

Noch immer war sie wütend, wütender als jemals zuvor in ihrem Leben. Auf ihn, der bis jetzt immer ihr bester Freund gewesen war. Die Wasserflasche in ihrer neuen Tasche verstaut, durchquerte sie die wirre Anordnung der Zelte, bis sich das Meer schließlich lichtete. Vor ihr lag die Hauptstraße. Der direkteste Weg in die Freiheit.

Aber was ist, wenn Tan dort auf mich wartet? Auf der Straße bin ich vollkommen ungeschützt. Außerdem wird es bestimmt auch den anderen merkwürdig vorkommen, wenn ich einfach so die Stadt verlassen will. Erst recht ohne Tan. Immerhin war ich nie mehr draußen, seit ich hier ankam.

Shara entschied sich für einen Schlängelweg durch die schmalen Gassen. Irgendwo an der Mauer, etwas entfernt vom Eingangstor im Norden, sollte sich ein Geheimgang befinden. Tan hatte ihr einmal von ihm erzählt. Er sei eine Art Fluchtweg im Falle einer Belagerung und führe auf westlicher Seite hinaus aus Brant. Doch auch jetzt mahnte sie sich zur Vorsicht. Immerhin wusste Tan ebenfalls von dieser Fluchtmöglichkeit.

Dieser Teil der Stadt bestand so gut wie ausschließlich aus Ruinen. Hier und da lagen verwesende Kadaver von Ratten auf dem zerbröckelten Pflaster, bei denen sich entweder keiner die Mühe gemacht hatte, sie fortzuschaffen, oder sie einfach von niemandem bemerkt wurden, den es störte. Einige waren angefressen, wahrscheinlich von den eigenen Artgenossen. Angeekelt zwang sich Shara zum Durchhalten. Ihre Wut und das Verlangen, die Stadt endgültig zu verlassen, halfen ihr dabei.

Nach der nächsten Verzweigung kam am Ende der Gasse endlich die Mauer in Sicht. Bis jetzt war sie keinem anderen Menschen begegnet. Auch die Stille deutete auf ihr Alleinsein hin. Hoffentlich entdecken mich die Wachen nicht! Diese würden jedoch eher die Mauer nach außen hin bewachen. An der Westseite wurde abends sowieso eigentlich selten kontrolliert, was sich so tat. Erst nachts gab es zwei Wächter für die Seite der Mauer, soviel wusste sie nach ihren zweijährigen, eher zufällig geschehenen Beobachtungen. Das heißt, mit etwas Glück kann ich unentdeckt entkommen!

Bei der letzten Ruine blieb sie stehen. Vorsichtig lugte Shara um die Ecke, um sicher zu gehen, dass dort auch wirklich niemand war, der sie bei ihrer Flucht hätte beobachten können. Alles leer. Gut. Auf zum Geheimgang!

Sie hatte sich immer gefragt, ob es nicht gefährlich war, einen solchen Fluchtweg in eine Stadt einzubauen. Wo sie sich jetzt aber so umsah, wurde es ihr allmählich klarer. Wer würde schon darauf kommen, dass an einer so heruntergekommenen Stelle ein entscheidender Fluchtweg versteckt lag? Freiwillig traut sich bestimmt kein Soldat her, vermutete Shara.

Wie Tan an die Information gelangt war, war ihr ein Rätsel. Wie er so dumm sein konnte, nicht hier auf sie zu warten, verstand sie auch nicht. Wahrscheinlich wartet er in seinem hässlichen Haus darauf, dass ich zurückkomme. Da hat er sich aber geschnitten! Beleidigt verengte sie die Augen zu schmalen, wütenden Schlitzen. Mich wird er mit Sicherheit nie wieder sehen!

Kapitel 4 -Schicksalhafte Begegnung-

Stickig und abgestanden war die Luft. Sie musste husten, als sie von Staub in der Lunge gekitzelt wurde. Im Geheimgang war es eng. Kaum zu glauben, dass im Falle einer Belagerung die gesamte Stadtbevölkerung hierdurch nach draußen gerettet werden soll. Hier passe ich ja kaum durch. Aber wahrscheinlich wurde der Gang jetzt nicht mehr genutzt, ja, war in Vergessenheit geraten. Ihr war das bloß recht. So würde wenigstens niemand darauf kommen, auf welche Weise sie verschwunden war. Schadenfreude regte sich in ihr. Und Tan kann sich schön wundern. Hoffentlich ärgert er sich. Soll er doch in diesem Drecksloch versauern.

Harte Treppenstufen führten ein Stück hinab. Fast wäre sie gefallen, denn hier war es stockfinster. Vermutlich gab es Fackeln zum Anzünden, die sie aber nicht nutzen konnte. Was alles für Tiere hier lebten, malte sie sich lieber gar nicht erst aus. Der Boden wurde wieder flach. Mit den Händen tastete sie sich an der Wand entlang, vorsichtig einen Fuß vor den anderen setzend. Der Gang beschrieb eine sanfte Kurve nach links. Anscheinend führte der Weg nicht direkt unter der Mauer entlang, sondern suchte sich eine kürzere Strecke zum Westrand. Stufen aufwärts markierten den letzten Teil. Vor sich sah Shara ein schwaches Leuchten. Der Ausgang!

Am Ende der Treppe angelangt stand sie nun vor einer Steinmauer, durch deren Spalten mattes Licht hindurchdrang. Reichlich Putz war abgebröckelt und legte die Steinschichten frei, mit denen einst die Mauer errichtet worden war. Sie drückte dagegen. Obwohl die Wand offensichtlich nicht mehr in bester Verfassung zu sein schien, war sie doch stabil genug, ihr standhalten zu können. Nein! Ich muss durch! Ich kann nicht zurück! Stärker drückte sie. Noch immer nichts. Dann trat sie ein paar Schritte zurück. Sie tastete nach ihrer Tasche. Behutsam hielt sie sie auf ihrer rechten Seite an die Hüfte gedrückt fest, als sie mit Anlauf mit ihrer linken Schulter die Wand rammte. Durch die Wucht ihres Aufpralls waren einige Steine herausgebröckelt. Doch nachgeben wollte die Wand noch immer nicht. Daher wiederholte sie den Vorgang ein weiteres Mal. Schmerz durchzuckte ihre Schulter beim Zusammenstoß. Aber der Schmerz lohnte sich. Vor ihr stürzte die Wand ein und ein sauberes Rechteck blieb zurück, welches ihr den Weg in die Freiheit wies. Noch ein paar Schritte musste sie unter der Steindecke gehen, bis sie endlich im Freien stand.

Sie drehte sich zurück zur Mauer. Mitten in der Steinwand klaffte nun ein Loch. Zwar war Brant nicht Sharas Lieblingsort, dennoch konnte sie ihn nicht so verwundbar zurücklassen. Im letzten verbliebenden Tageslicht suchte sie die einigermaßen quadratischen Steine der ehemaligen Abdeckung zusammen. So gut es eben ging schichtete sie sie aufeinander, bis die Lücke verschwunden war. Zufrieden trat sie ein paar Schritte zurück und begutachtete ihr Werk. Fast sah die Mauer einheitlich aus. Es würde bestimmt niemand darauf kommen, dass sich ausgerechnet dort ein Geheimgang befand. Und wenn doch, ist das jetzt nicht mehr mein Problem.

Entschlossen kehrte sie Brant den Rücken und machte sich auf den Weg. Bald würden die Wachen ihre Posten beziehen. Wenn sie sich nicht beeilte, würde man sie dann zweifelsohne entdecken.