Drachenfeuer und Meeresglut - Lilian Dexter - E-Book

Drachenfeuer und Meeresglut E-Book

Lilian Dexter

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Beschreibung

Soledad, die sich in einen Drachen verwandeln kann, lebt auf der Burg ihres Vaters in der Tiefebene. Wie ihre Schwestern auch soll die junge Goldschmiedin einen der anderen Drachen heiraten und ein einsames und langweiliges Leben führen. Sie sehnt sich jedoch nach der Gemeinschaft mit normalen Menschen und nach Abenteuern. Daher fliegt sie in die ferne Stadt am Meer. Dort lernt sie Abtas, einen jungen Meermann kennen. Doch das Leben an der Küste ist ganz anders, als sie es sich vorgestellt hat. Schnell ist sie in die blutigen Kämpfe gegen den tyrannischen Bürgermeister verwickelt. Als dann ihre Beziehung zu Abtas an den alten Sagen zu scheitern droht, muss sie sich entscheiden: Soll sie ihre mächtige Drachenmagie einsetzen, um ihr Leben und ihre Freunde zu schützen oder doch besser reumütig nach Hause zurückkehren? Spannende Flintlockfantasy!

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Seitenzahl: 271

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Drachenfeuer und Meeresglut

Eine Novelle von Lilian Dexter

Für meine rothaarige Schwester,

die das Feuer des Wissens beherrscht.

Drachenfeuer

und

Meeresglut

Eine Novelle von Lilian Dexter

Impressum

Texte: © 2024 Susan Beer

Cover: © 2024 Daniela Szegedi https://www.senestrey.de/

Druck: Bookpress

Verantwortlich für den Inhalt:

Susan Beer

Heinrich-Böll-Str. 6

81829 München

[email protected]

I

Soledad hielt das Schmuckstück über das Feuer. Vorsichtig ließ sie die kleine Stelle glühen, die das Gold an der billigen Broschennadel festhielt. Ein Ruck, und die beiden Teile lösten sich voneinander.

»Das ist gut abgegangen, aber ich muss die Unterseite Ihres Anhängers noch ein wenig glätten, dann wird man den Frevel nicht mehr bemerken.«

Die Dame, eine reiche Kauffrau, sah sie untertänig an. »Zu gütigst, dass Sie sich meines billigen Schmucks annehmen.«

»Das gehört zum Geschäft.« Soledad rieb den Staub, den der Schleifstein hinterlassen hatte, mit einem weichen Tuch ab und reichte es der Frau.

»Wollen Sie die Nadel mitnehmen? Sie ist ziemlich instabil, ich würde nichts mehr daran befestigen wollen. Für eine Stoffschleife könnte es noch reichen.«

Die Bürgerin nahm ihr die Nadel ehrfürchtig ab und steckte alles in ihre reich verzierte Handtasche. Dann sah sie sich die Schmuckkollektion an, die Soledad in einer Vitrine ausstellte. »Ich suche ein hübsches Stück für meine Schwester zum Geburtstag. Sie hat einen runden, es darf ruhig etwas Edles sein.«

»Hm, im Moment habe ich nichts Ausgefallenes da, weil der Edelsteinhändler schon länger nicht mehr hier war. Vermutlich kommt er beim nächsten Markttag, dann könnten wir ja gemeinsam schauen, ob wir etwas finden.«

»Ich weiß nicht, ob das angebracht ist. Ich bin ja nur eine einfache Bürgerin.«

Soledad machte sich nicht die Mühe, darüber zu diskutieren. Die Leute in Ceumbatore, der Stadt unterhalb der Burg, hielten sich von der Drachenfamilie fern. Außer ihrer flammend roten Haare unterschied das Mädchen nichts von den normalen Menschen, es sei denn, sie nahm ihre Drachengestalt an.

Sie antwortete: »Ich suche ein paar hübsche Steine heraus und entwerfe ein oder zwei Ringe. Und Sie entscheiden dann, was ich für Ihre Schwester anfertige.«

Die Dame verließ unter ständigem Bedanken und Verbeugungen die Werkstatt.

Soledad war wieder allein.

Einige Tage später feierte ihr Vater seinen Geburtstag, aber Soledad war sich im Klaren darüber, dass er nur deshalb so unbedingt auf ihrer Anwesenheit bestanden hatte, weil er sie mit einem entfernten Verwandten verkuppeln wollte.

Soledad freute sich dennoch auf die Party. Es gab so wenige Anlässe, bei denen sie all ihre Cousinen treffen und ausgelassen feiern konnte. Sie hatte sich ein traumhaftes grünes Kleid schneidern lassen, und ihre Schwestern zauberten ein Kunstwerk aus Soledads rotem Haar.

»Petulan wird sprachlos sein, wenn er dich sieht.« Modestia, ihre jüngste Schwester, begann zu kichern.

Aurora, die älteste, sagte: »An dem Tag, an dem Petulan nicht wie ein Gebirgsbach plappert, fliege ich über die Berge.«

Soledad zuckte die Schultern. Sie wollte sich von diesem Verehrer fernhalten und den Abend lieber mit den anderen Mädchen verbringen.

Die Schwestern sahen sich ein letztes Mal prüfend an, dann wurde hier etwas geradegezupft und dort eine lockere Strähne wieder festgesteckt. Schließlich machten sie sich auf den Weg durch die Burg.

Soledad warf einen Blick aus dem Fenster, die Sonne ging hinter trüben Wolken unter. Ein böiger Wind trieb den Sand durch den Burghof. Es war das perfekte Wetter für eine schöne Feier mit viel Feuer und gutem Essen.

Die mächtige Burg war über die Jahre mit den Geschenken der Untertanen geschmückt worden. Überall hingen prächtige Gobelins an den Wänden, die Fenster waren mit edlen Stoffen umrahmt. Die Vitrinen mit ihren Schätzen hätten einem Museum Ehre gemacht. Wenn nicht von Zeit zu Zeit ein unbeherrschter Drache einen Teil der Einrichtung vernichtet hätte, könnte man sich vermutlich kaum noch durch die weiten Gänge bewegen.

Trotzdem hatten es die Bediensteten ihres Vaters geschafft, noch mehr Prunk für den großen Tag zu verbreiten. Edelsteine blitzen von Schnüren, die an den Kronleuchtern hingen, und die Tische bogen sich unter feinstem Porzellan und goldenem Besteck.

Im Saal trat für einen Moment Ruhe ein, als die Schwestern oben an der Treppe erschienen. Aurora ging erhobenen Hauptes hinunter. Sie war bereits verlobt, da es jedoch Unstimmigkeiten zwischen den beteiligten Familien gab, zögerte sich die Hochzeit immer weiter hinaus.

Soledad hoffte, dass sie dadurch ebenfalls noch Zeit haben würde. Sie wollte einfach keinen der anderen Drachen heiraten. Die Frau eines Wachdrachen zu sein, erschien ihr unfassbar öde. Es war undenkbar, dass sie ihrem Handwerk weiter nachging. Petulans Tributdorf war weit draußen in der Tiefebene. Dorthin kamen nur selten Händler und sicher keine, die ihr Bücher mitbringen würden. Das Einzige, was sie unterhalten würde, waren eine reiche Kinderschar und Petulans endloses Geplapper. Sie schauderte.

Die Gäste tuschelten, doch als die drei Mädchen unten waren und begannen, ihre Freundinnen zu begrüßen, ging das Treiben munter weiter. Schließlich ertönte der große Gong und ließ alles vibrieren.

Soledads Vater winkte seine Töchter zu sich heran und sprach: »Liebe Gäste, vielen Dank, dass ihr zu meinem Ehrentag gekommen seid. Wir haben so wenig Gelegenheit, uns zu sehen, weil wir die Menschen vor jeglichem Unheil beschützen müssen. Wir als magische Geschöpfe stehen in der Pflicht, unsere besonderen Fähigkeiten zum Wohl aller einzusetzen. Doch das heißt auch, dass wir diese Gaben nicht durch leichtsinnige Tändelei mit den Menschen in den Dörfern gefährden dürfen. Darum werden wir jetzt eine Quadrille aufspielen, und alle unverheirateten Drachentöchter und Söhne sind aufgefordert, sich von ihrer besten Seite zu zeigen und neue Kontakte zu knüpfen. Für alle anderen ist das Büfett eröffnet.«

Soledad hörte einige der jungen Männer maulen. Sie musste grinsen. Das war ein geschickter Schachzug, weil Drachen am Büfett sehr ruppig sein konnten, vor allem hungrige Jungs.

Sie stellte sich in die Reihe und schritt im Takt der Musik die komplizierten Figuren ab, die der Tanz verlangte. Die Männer, mit denen sie sich im Kreis drehte, wechselten sich stetig ab. Doch keiner von ihnen ließ ihr Herz höherschlagen.

Wie alles bei den Drachen unterlag auch das Tanzen strengen Regeln. Niemand wollte, dass ein paar übermütige Jugendliche ihre Gefühle nicht mehr im Griff hatten und versehentlich den Saal abfackelten.

Modestia lächelte ihr jedes Mal zu, sobald sich ihre Wege kreuzten. Petulan hielt nicht einmal dann seinen Mund, als er sich zum fünften Mal in die falsche Richtung gedreht und die Quadrille in Unordnung gebracht hatte. Doch Soledad ignorierte es. Sie genoss das Treibenlassen durch die Menge und war fast traurig, als die Musik aufhörte.

Zusammen mit ihren Schwestern machte sie sich auf den Weg zum Büfett. Es dauerte eine Weile, bis sie sich durch die Gäste geplaudert hatten. Auf den weißen Tischdecken waren immer noch alle Platten und Schüsseln reichlich gefüllt. Die Bediensteten ihres Vaters achteten darauf, dass alle das nehmen konnten, worauf sie gerade Appetit hatten. Ihr Vater bezahlte sein Personal großzügig, und deren Familien waren von den Tributen entlastet. Dennoch hielten es die wenigsten lange auf der Burg auf. Stets auf der Hut vor einem plötzlich auftretenden Feuer zu sein, war offenbar anstrengend.

Mit einem vollgeladenen Teller ließ sich Soledad bei der Familie ihrer Tante nieder. Die jüngste Schwester ihrer Mutter hatte weit weggeheiratet, und Soledad sah sie nur selten. Und so dauerte es, bis alle Neuigkeiten ausgetauscht waren.

»Ich höre, der junge Felsenflügel hat ein Auge auf dich geworfen. Wann ist es denn so weit, oder wartet ihr noch ab, bis Aurora unter der Haube ist?«

»Eigentlich kenne ich ihn kaum. Wir haben uns nur ein paarmal getroffen, und ehrlich gesagt, finde ich ihn langweilig.«

Modestia kicherte.

»Was ist?« Soledad sah sie aufgebracht an.

Doch Modestia ließ sich nicht einschüchtern. »Ach, komm, du findest doch alle Drachen langweilig. Du möchtest einen der Abenteurer aus deinen komischen Büchern heiraten.«

Die Tante sah sie fragend an, und auch die restlichen Anwesenden unterbrachen ihr Gespräch und wandten sich um.

Modestia erklärte triumphierend: »Soledad kann lesen. Der Buchhändler hat es ihr beigebracht.«

Die Tante verzog angewidert ihr Gesicht. »Also das ist doch keine Tätigkeit für eine junge Drachentochter. Ich finde ja schon deine Schmiede unangemessen. Jetzt auch noch lesen! Das ist Menschenkram, das gehört sich nicht.«

Der ganze Tisch ließ bekräftigendes Raunen ertönen.

»Es ist schon schwer genug, die jungen Drachen zu erziehen. Da muss man sie doch nicht noch auf dumme Gedanken bringen.« Ihre Cousine war nur wenige Jahre älter als Soledad. Doch sie hatte oft auf ihre kleinen Geschwister aufgepasst.

Die Tante sah ihre Tochter wohlwollend an. »Genau. Ein ruhiges und geordnetes Leben ist das Wichtigste für uns Drachen. Nichts, was unsere Magie auf Abwege bringen kann.« Wieder bekam sie zustimmendes Nicken der anderen.

Soledad seufzte innerlich. Was wussten die schon, was ihnen da entging.

Aurora rettete die Situation, indem sie sagte: »Wir hören doch alle gerne eine gute Geschichte von unseren Barden. Soledad liest uns ihre auch gelegentlich vor, doch noch nie haben wir Funken geschlagen, selbst wenn es spannend war.«

Alle nickten und wandten sich wieder ihren Gesprächen zu. Wie befürchtet, wurde Soledad von Petulan aufgefordert. »Meine wunderschöne Flammenblume, darf ich dich zu einem Walzer entführen?«

Soledad folgte ihm auf die Tanzfläche, und wie bei der Quadrille gab es ständig Zusammenstöße mit anderen Paaren, weil er einfach nicht den Mund halten konnte. Wenn er wenigstens irgendetwas Interessantes erzählt hätte. Aber im Grunde kommentierte er unablässig, was er gerade sah und hörte.

»Und dieser blaue Anzug von Parol. Ich glaube, so eine Farbe will ich nächstes Mal auch tragen. Ich frage mich, woher er den Stoff hat. Also bei uns kommt ja selten ein Tuchhändler vorbei. Meinst du, du kannst mir so etwas besorgen?«

Soledad wollte gerade antworten, als sie in die Tanzpartnerin ihres Vaters stolperte. Bevor sie sich entschuldigen konnte, sagte ihr Vater: »Ich sehe, ihr habt euch viel zu erzählen. Wir Alten würden das bei einem Glas Wein machen, aber bei euch glüht die Leidenschaft ja noch, da will man sich natürlich bewegen.«

Er klopfte Petulan gönnerhaft auf die Schulter und ignorierte seine Partnerin, die sich ihre verletzte Ferse rieb. Soledad sah sie entschuldigend an.

Der Tanz ging chaotisch weiter, und auch die nächsten Tänze musste sie mit Petulan absolvieren, weil sich offenbar kein anderer Mann in ihre Nähe traute. Irgendwann schaffte sie es, mit einer Ausrede aus dem Saal zu flüchten. Sie setzte sich in eine Fensternische in einem der Gänge zu den Privatgemächern und rieb sich die Füße. Die Vorstellung, ihr restliches Leben mit dieser Person zu verbringen, machte ihr Angst.

Nach einer Weile ging sie zurück und setzte sich an einen Tisch weit weg von der Tanzfläche zu einer älteren Verwandten. Die Frau lächelte sie an. »Na, schon fertig mit Tanzen?«

»Nein, ich würde schon noch gerne weitermachen. Aber es traut sich keiner, mich aufzufordern, und mit Petulan zu tanzen, ist einfach schrecklich.«

»Urteile nicht zu streng über den jungen Petulan. Er ist unsicher und leidenschaftlich. Mit den Jahren werden die Drachensöhne ruhiger und besonnener. Dein Vater war ganz ähnlich, als er jung war.«

Soledad war überrascht. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass der Drachenfürst jemals so ein Chaot gewesen sein sollte.

Sie beobachtete die anderen Jungs und musste zugeben, dass an der Theorie etwas dran sein konnte. Manche waren geschickt im Tanz, und die wenigsten redeten die ganze Zeit. Aber sie konnte an der einen oder anderen geschlitzten Pupille sehen, dass sie ihre Gefühle nicht im Griff hatten. Immerhin fingen keine Haare oder Einrichtungsgegenstände das Brennen an. Sie hatte schon Feiern erlebt, die abgebrochen werden mussten, weil selbst die erfahrenen Drachen das Feuer, das bei einem Streit ausgebrochen war, nicht mehr in den Griff bekommen hatten.

Die beiden Frauen tauschten Neuigkeiten über die Familien und Dörfer aus. Soledad erzählte wenig von sich, lediglich aus ihrer Schmiede, und behielt ihre Bücherleidenschaft für sich. Sie wollte nicht, wie bei ihrer Tante, als eine unbeherrschte und seltsame Person erscheinen. Es schien, als wäre ihr menschlicher Anteil viel größer als jener der anderen.

Sie fühlte sich allein in all der Gesellschaft.

Einige Tage nach dem Fest ging Soledad in die Stadt hinunter. Ihre roten Haare hatte sie unter einem Tuch verborgen, um die Menschen nicht zu erschrecken. Sie verstand die Angst, die die Menschen vor dem Feuer hatten. Und nicht immer war der Besuch eines Drachen glimpflich ausgegangen.

Sie brachte einige Auftragsarbeiten zu den jeweiligen Kundinnen und ging dann zur Buchhandlung.

Calvatio eilte um die Theke herum. »Schön, dich zu sehen, Soledad.«

Sie schmunzelte. Jeder Händler freute sich über seine beste Kundschaft. »Was hast du heute, wofür ich mein hart verdientes Geld ausgeben kann?«

Es war das übliche Geplänkel zwischen ihnen. Soledad hatte ein gutes Verhältnis zur gesamten Familie des Buchhändlers. Sie hatte den Kindern manchmal kleine Feuertricks gezeigt, wenn sie quengelig gewesen waren, und einer der Söhne bedrängte sie seit Jahren, ob er mitfliegen könne. Doch weil sie einmal ihre Schwester getragen hatte und dabei fast abgestürzt war, kam das nicht infrage.

Der Laden war klein und roch nach Papier und dem Klebstoff, mit dem Calvatio die beschädigten Bücher neu band. Sie liebte diesen Geruch, aber er erinnerte sie stets deutlich daran, dass sie hier nicht den geringsten Funken losschlagen durfte.

»Ich habe ein paar nette Romane und ein Lehrbuch über Obstbäume für dich.«

Soledad besah sich das bebilderte Buch und verliebte sich sofort in die Zeichnungen. Da sie die Dinge selbst kaufte und sie nicht als Drachentribut einforderte, musste sie stets auf den Preis achten. Dennoch sagte sie: »Das nehme ich auf jeden Fall.«

Dann ließ sie sich eine kurze Inhaltsangabe der Romane geben. Da der Händler wusste, was sie gerne mochte, waren auch das alles Treffer.

Während er ihr die Bücher in Packpapier einschlug und eine Schnur darum wickelte, fragte er: »Und, wie war die große Feier?«

»Eigentlich ganz nett. Es ist halt immer das Gleiche. Wer hat wen geheiratet, wo gab es Nachwuchs, wessen Tributdorf ist gewachsen, wer hat finanzielle Schwierigkeiten, weil seine Schützlinge nicht zahlen.«

»Und deine Verlobung?«

»Zum Glück hängt die von meiner großen Schwester immer noch in der Luft. Daher hatte mein Vater nur wenig Zeit für mich. Außerdem habe ich brav mit meinem Auserwählten getanzt.«

Der Händler sah ihren angewiderten Ausdruck und lachte. »So schlimm?«

»Er plappert die ganze Zeit belangloses Zeug und kann sich keine zehn Sekunden auf den Tanz oder sonst was konzentrieren. Wir haben so ziemlich jeden einmal über den Haufen getanzt.«

Calvatio beugte sich über den Knoten und zog dann an der Schnur, um Soledad eine Schlaufe zum Tragen zu machen. »Na ja, vielleicht wird er noch ruhiger. Immerhin hat er nichts abgefackelt.«

»Das meinten meine Verwandten auch. Ich glaube, mir sind Drachen einfach zu dumm. Niemand kann lesen, sie interessieren sich für nichts, außer es glänzt, oder man kann es essen. Aber lass uns von dir reden, das ist nicht so frustrierend.«

Der Händler erzählte von seinem Sohn, der jetzt eine höhere Schule besuchte. Sein Gesicht strahlte. »Er ist Klassenbester. Ich bin wahnsinnig stolz auf ihn, aber so viel klüger zu sein als sein Umfeld, hat auch einen Haufen Nachteile.«

Soledad nickte. Im Grunde war es ein Fluch, wenn man besondere Gaben hatte.

Sie schwiegen einen Moment, und Soledad war klar, dass der Händler dasselbe dachte. Schließlich bezahlte sie großzügig und verließ mit ihrem Paket das Geschäft.

Auf dem Heimweg sann sie über den Sohn des Händlers nach. Er war immer schon viel weiter als seine Freunde gewesen. Manchmal hatte sie tiefgründige Gespräche mit ihm geführt, die sie mit keinem aus ihrer eigenen Familie hätte führen können.

Sie war so dankbar für die Freundschaft zu Calvatio. Er hatte es ihr nie vergessen, dass sie seine Frau wiedergefunden hatte, als diese sich in den Bergen verlaufen hatte. Damals war sie froh um ihre Flugfähigkeit gewesen. Vielleicht war nicht alles schlecht an besonderen Gaben.

Zu Hause angekommen, nahm sie sich einen der Romane vor. Sie baute sich eine bequeme Leseecke aus Kissen in ihrem Bett und ließ die Lampe heller aufleuchten. Bereits nach der dritten Seite hatte sie vergessen, wo sie war. Sie verschwand in der abenteuerlichen Geschichte einer jungen Frau, die auf einem Schiff anheuerte und die Welt bereiste. Als Soledad das nächste Mal aufsah, schimmerte bereits der erste Schein der Morgendämmerung durch das Fenster. Sie ging in die Burgküche, um nach etwas zu essen zu suchen.

Die Köchin war bereits mit den morgendlichen Arbeiten beschäftigt. Ohne aufzusehen, sagte sie: »Guten Morgen.«

Soledad spürte auf einmal, wie müde sie war. »Guten Morgen. Wie spät ist es?«

»Halb fünf. Ich mache gerade das Feuer an. Soll ich dir einen Tee kochen?«

»Lass mich das Feuer machen. Und ja, ein Tee und etwas zu essen wären großartig.«

Die Frau zuckte mit den Schultern und widmete sich dem Geschirrberg vom Vortag. Soledad hoffte, dass die Köchin noch lange hier arbeiten würde. Sie kochte fantastisch, und bis jetzt hatte sie sich nie über das Leben unter den Drachen geklagt. Eine ihre Vorgängerinnen war nach nur zwei Monaten schreiend zurück ins Dorf gerannt, weil Modestia versehentlich einen Tisch entzündet hatte, an dem sie sich gestoßen hatte.

Soledad schichtete das Holz im Ofen auf und setzte es mit einer kurzen Berührung in Brand. Sie hatte als Kind schneller als ihre Schwestern gelernt, Funken zu erzeugen. Überhaupt hatte sie das Feuer so sehr unter Kontrolle, dass sie beim Schmieden oft nur die Hitze erschuf, ohne dass Rauch entstand.

Die Köchin stellte den Wassertopf auf den Herd, und Soledad schnitt das Brot in gleichmäßige Scheiben, strich sich eine dicke Schicht Butter auf ein Brot und nahm sich von der Marmelade, die ihr die Köchin auf den Tisch gestellt hatte.

Während sie aß, goss die Köchin den Tee auf und schüttete den Rest des Wassers in ihre Spülschüssel. Da die Frau mit dem Rücken zu ihr über dem Geschirr gebeugt dastand und laut klapperte, war an ein Gespräch nicht zu denken. Also beeilte Soledad sich mit ihrem Brot. Sie war mittlerweile so müde, dass sie Angst hatte, darüber im Sitzen einzuschlafen. Als sie fertig war, goss sie sich noch eine Tasse Tee auf und ging damit zurück in ihr Zimmer.

Das Buch ließ sie den ganzen Tag nicht los. Noch nie hatte sie eine so faszinierende Geschichte wie diese gelesen. Sie versuchte, sich vorzustellen, wie die Schiffe über das Meer hereinkamen und all die Schätze ausluden, die so selten den Weg zu ihr in die Tiefebene fanden.

Ihr ganzer Körper kribbelte vor Aufregung. Das hatte sie nicht mehr gespürt seit dem Tag, an dem sie ihre eigene Schmiede eröffnet hatte.

Tausend Fragen gingen durch ihren Kopf. Würde es dort ständig regnen? Dann könnte sie kaum in ihre Drachengestalt wechseln. Was war mit den anderen magischen Wesen? Dort gab es Wassermenschen. Waren sie böse wie die Nixe aus ihren Märchen?

Der Erzähler hatte sie wie ganz normale Bürger beschrieben. Bedeutete das, dass man dort als magisches Wesen inmitten der Menschen leben konnte?

Der Edelstein fiel das dritte Mal aus seiner Fassung, weil sie nicht bei der Sache war. Sie legte das Schmuckstück zur Seite und rannte zu Calvatio. Doch der Buchhändler konnte ihre Fragen nicht beantworten, da er noch nie jenseits der Berge gewesen war und nichts über die Städte am Ufer wusste.

Die Tage gingen ins Land. Soledads Schwestern sprachen nur noch über die geplante Hochzeit und die immer neuen Probleme, die diese zu verhindern schienen. Soledad verbrachte die meiste Zeit in ihrer Werkstatt, aber die Arbeit machte ihr nicht mehr so viel Spaß wie früher. Immer wieder las sie in dem Buch und träumte sich in die fremde Stadt. Sie sah die Schiffe vor sich, wie sie mit reicher Ladung in den Hafen einliefen und Menschen aus fernen Ländern mit sich brachten.

Als ein Händler über die Berge auf den Markt kam, fragte sie ihn: »Wie sieht das Meer aus? Leben dort Menschen? Wer beherrscht das Meer? Ist es weit weg?« Ihre Neugier kannte kein Ende.

»Es leben Menschen am Ufer. Doch die See selbst ist frei. Man sagt, das Meervolk herrscht dort, doch mir ist noch nie einer von ihnen begegnet.«

Er sah sie ein wenig genervt an, da sie die anderen Kunden von seinem Stand fernhielt. Doch Soledad konnte sich nicht zurückhalten. Sie musste einfach alles wissen. »Sind die Wassermänner nicht die Schutzwesen der Stadt? Wie kann es dann sein, dass du nie einen gesehen hast?«

»Nein, das ist nicht wie hier. Die Leute bezahlen nicht für fremden Schutz. Aber manchmal kommt das Meervolk an Land und lebt wie die Menschen. Ich bin zwei Wochen von Orovoda, der nächstgelegenen Stadt am Meer, hierhergereist. Vielleicht schaffst du es auch in einer, wenn du ein schnelles Pferd hast.«

Oder fliegen kannst, dachte Soledad.

Sie bedankte sich und ging.

Ob sie ans Meer reisen sollte? Vielleicht konnte sie dort wie ein normaler Mensch leben? Ihr Herz klopfte vor Aufregung über diese Vorstellung. Doch dann fiel ihr ein, dass sie keine Ahnung hatte, wie sie dort hinkommen sollte. Hastig rannte sie zurück zu dem Händler und ließ sich den Weg beschreiben.

»Das ist einfach. Folge immer dem Fluss.«

Sie grübelte den ganzen Tag über das, was sie erfahren hatte. Zu Hause zog sie das Buch heraus, und als sie eine Weile darin gelesen hatte, stand ihr Entschluss fest. Sie würde sich das Meer mit eigenen Augen ansehen.

Ratlos stand sie vor ihrem Schrank. Was sollte sie mitnehmen? Was würde sie benötigen? Welche Kleidung wäre angemessen in dieser Stadt? Ihr wurde bewusst, dass sie keine Ahnung hatte, was die Menschen dort trugen. Sie hätte den Händler fragen sollen. Doch dann überlegte sie. Falls die Handwerker dort anderes gekleidet wären, dann hätte einer der Händler sicher schon einmal ein solches Kleidungsstück auf dem Markt angepriesen. Daher legte sie sich eine Reihe ihrer Arbeitshosen und Hemden zurecht. Zusammen mit Unterwäsche, einem Mantel und ein paar Tüchern kam bald ein ordentlicher Stapel zusammen. Mit dem Proviant und etwas Schmuck und Gold, um bezahlen zu können, würde das ziemlich viel Gewicht geben.

Gerne hätte sie noch das eine oder andere Erinnerungsstück miteingepackt. Aber ihr Sack ging auch so schon kaum zu, und er würde an den Riemen einschneiden, wenn er zu schwer war. Es musste so gehen. Vielleicht konnte sie sich auch Dinge nachschicken lassen.

Wollte sie das wirklich wagen? Über die Berge zu fliegen und all das zurückzulassen? Ihr Zimmer erschien ihr mit einem Male eng, selbst ihre Bücherwand machte ihr keine Freude mehr. Die Sehnsucht nach der Ferne wurde so viel stärker als alles, was sie hier zurückließ. Doch eine Sache fiel ihr noch ein. Vielleicht konnte sie dort Spaß haben, also stopfte sie noch ein hübsches Kleid in ihr Gepäck. Sie wollte noch einmal gut schlafen und dann in aller Früh aufbrechen. Es würde ein schöner Tag werden. Bei Regen konnte sie nicht fliegen, da ihr Wasser in ihrer Drachengestalt Schmerzen zufügte.

Sie ging zu Modestia, um ihr von der Reise zu erzählen.

»Soledad, du bist komplett verrückt? Warum sollten wir Drachenkinder freiwillig ans Meer gehen? Alles Böse kommt aus dem Wasser, das weißt du doch.« Die Haare ihrer Schwester blitzten.

Soledad versuchte, beruhigend zu klingen. Sie nickte. »Ich kenne die Geschichte der hinterhältigen Nixe. Aber ich will es unbedingt sehen. Außerdem bleibe ich ja an Land.«

Modestia ließ sich auf ihr Bett plumpsen. Ihr Zimmer sah so ganz anders aus als das der Schmiedin. Überall waren Teppiche und Vorhänge, Regale voller Nippes drängten sich mit bemalten Tapeten um den wenigen Platz an den Wänden. Obwohl der Raum riesig war, schnürte er Soledad jedes Mal die Luft ab.

Ihre kleine Schwester hatte sich mittlerweile ein Kuscheltier genommen, das sie eng umklammerte. Tapfer sprach sie weiter. »Ich weiß, wir haben nicht viel gemeinsam, doch du bist meine Schwester, und ich will dich nicht verlieren. Warum willst du unbedingt das große Wasser sehen?«

Soledad räumte einen Stapel Kissen von einem Stuhl und setzte sich Modestia gegenüber. »Es ist eher so, dass ich die Menschen kennenlernen will, die an seinem Ufer wohnen. Also ja, auch das Meer möchte ich sehen, aber vor allem muss ich wissen, ob es einen Ort gibt, an dem ich als Drachentochter wie eine ganz normale Frau leben kann.«

Modestia legte ihr Stofftier zur Seite und beugte sich vor. »Warum willst du das denn? Ist es nicht gut so, wie es ist? Wir beschützen die Menschen, und dafür kümmern sie sich um unser Wohlergehen. So war es seit Anbeginn der Zeiten, und so ist es gut.«

Soledad wusste nicht, was sie sagen sollte. Modestia kannte nichts anderes als die Burg. Sie ging selten in die Stadt hinunter und machte höchstens mal eine Reise zu einer Cousine – ein paar Stunden Flug, ohne jemals mit der Welt dort draußen in Kontakt zu kommen.

Schließlich sagte sie: »Ich will es mir nur ansehen. Möglicherweise ist ja alles ganz anders, als es in den Büchern steht. Aber dort kennt mich niemand, und vielleicht kann ich so tun, als wäre ich eine normale Frau. Modestia, ich muss es einfach wissen. Sonst werde ich immer neidisch auf die Menschen in der Stadt schauen. Auf ihre Freiheit.«

Modestia blickte sie lange an. Ihre Augen wechselten zu der geschlitzten Drachenpupille. »Bei jeder von uns brennt das Drachenfeuer anders. Bei dir scheint es die Neugier zu sein, die dich antreibt. Was machst du mit deiner Bibliothek?«

»Das ist auch eine Sache, um die ich dich bitten wollte. Kannst du dafür sorgen, dass sie und meine Schmiede in Ordnung bleiben und niemand sie zerstört?«

»Dann musst du aber bald wiederkommen. Sobald die Jungs merken, dass du nicht da bist, wird es schwierig werden, sie in ihre Schranken zu weisen. Außerdem darfst du auf keinen Fall Auroras Hochzeit verpassen.«

Soledad war sich sicher, dass sich das noch ewig hinziehen würde, und versprach, rechtzeitig wieder da zu sein. Dann ging sie schlafen.

In der Nacht lag sie lange wach. Obwohl sie sich vorgenommen hatte, ausgeschlafen zu starten, ließen ihre Gedanken sie nicht zur Ruhe kommen.

War sie wirklich so neugierig? War das die Quelle ihres Feuers? Genau genommen wusste niemand, woher sich die Magie ihrer Art speiste. Es gab etliche Mythen, wie die ersten Drachen entstanden waren. Einige behaupteten, es seien normale Menschen gewesen, die von der Weltenschöpferin verzaubert worden waren, um für die Sicherheit der anderen zu sorgen.

Andere Geschichten erzählten davon, dass früher alles beseelt gewesen sei, auch die Elemente. Erst als die Menschen so mächtig geworden waren, dass sie sich die ganze Welt untertan gemacht hatten, verleibten sie sich auch die fünf Elemente ein.

Es gab kaum noch Steinbeißer, die Erde verwandeln konnten. Die Luftwandler schienen ebenfalls verschwunden zu sein. Vielleicht hatten sie sich aber auch wie die Etherwesen abgelegene Orte gesucht, zu denen man gehen konnte, um Rat von ihnen einzuholen.

Soledads Großmutter hatte ihr und ihren Schwestern, als sie noch Kinder gewesen waren, von dem Turm im Wald erzählt, in dem ein Etherwesen lebte. Soledad hatte gefragt, woher die Oma wusste, dass es ein Etherwesen und kein Luftwandler war, wo doch beide unsichtbar waren.

»Sie hat sich so genannt, und wer streitet herum, wenn man einen guten Rat bekommen kann?«

Der Wind strich an Soledads Fenster entlang und erinnerte sie an ihre morgige Reise. Er trieb Blätter über den Hof, und Soledad kam es vor, als ob er sie über die Berge wehen wollte. Sie sollte ein bisschen schlafen. Vielleicht hätte auch sie den Rat des Etherwesens einholen sollen, doch ihre Großmutter war tot und hatte niemandem erzählt, wo der Turm stand. Außer Soledad hatte es keinen interessiert.

Sie gähnte und schlief endlich ein.

Am nächsten Morgen wachte sie mit dem ersten Schimmer der Dämmerung auf. Wie ein Dieb schleichst du dich davon! Eine strenge Stimme in ihrem Kopf ließ sie aufschrecken. Doch dann schüttelte sie sich. Ja, sie stahl sich im Morgengrauen aus dem Haus, um sich nicht vor ihrer großen Schwester und ihrem Vater rechtfertigen zu müssen. Keiner der beiden würde begreifen, was in ihr vorging. Schaudernd erinnerte sie sich an den Streit mit ihrem Vater. Wochenlang waren die beiden aneinandergeraten, bis sie endlich eine Lehre machen durfte. Das wollte sie sich diesmal nicht antun. Und ihre kleine Schwester war eine gute Botin schlechter Nachrichten. Niemand war jemals böse auf das Nesthäkchen.

Sie flocht ihre Haare zu einem straffen Dutt auf ihrem Oberkopf, damit diese ihr nicht beim Fliegen in die Augen hingen. Ihre Haut überzog sich mit Schuppen. Mit jedem Atemzug spürte sie, wie ihr Oberkörper breiter wurde, bis die Schwingen zwischen ihren Schulterblättern durchbrachen. Sie fokussierte ihre Augen und starrte einen Moment ins Leere, bis sich ihr Gehirn an die Drachengestalt gewöhnt hatte. Ihre Finger kamen ihr beinahe gefühllos vor, dafür konnte sie jeden Luftzug an ihren Schwingen spüren, als wäre es ein Sandsturm.

Die Geräusche der Nacht waren für ihre Drachensinne lauter als alles, was auf dem belebten Marktplatz zu hören war.

Sie schloss die Augen und genoss die Kraft und Urwüchsigkeit, die die Magie ihrer Drachengestalt mit sich brachte.

Schließlich nahm sie ihre Tasche und hängte sie sich um ihren Hals. Sie schloss den Gurt hinter ihrem Rücken und prüfte, ob das Gewicht gut verteilt war, wenn sie sich nach vorne beugte.

Auf dem Fenstersims zögerte sie. Die Dunkelheit bereitete sich vor ihr aus, und das Ganze kam ihr wie ein Traum vor. Doch dann gab sie sich einen Ruck und ließ sich fallen. Ihre Schwingen trugen sie zügig nach oben. Sie drehte eine Runde über ihrem Zuhause. Ihre Werkstatt unten am Hof erschien ihr klein, und je höher sie kreiste, desto enger kam ihr die Burg vor. Dennoch mischte sich ein Schmerz in ihre Vorfreude. Das war ihr Zuhause, und sie würde es sicher vermissen.

Doch jetzt hieß es: Über die Berge! Sie glitt in eine passende Luftströmung und suchte dann den Flusslauf. Ihre Drachenaugen waren scharf wie die eines Adlers, und sie sah auch im Zwielicht klar und deutlich den Weg. Das Abenteuer konnte beginnen. Ihre Haare wurden kurz zu kleinen Freudenflammen. Mühelos glitt sie dahin.

Bald baute sich vor ihr die Bergkette auf. Der Fluss schnitt ein Tal hindurch, und sie folgte ihm. In seinen Schleifen lagen kleine Dörfer inmitten von grünen Wiesen und Feldern, auf denen das Korn gedieh. Sie sog die friedvolle Landschaft auf und lächelte. Es war eine gute Entscheidung gewesen, die Burg zu verlassen. Selbst für eine Drachentochter, der die Arbeit an der Esse quasi im Blut lag, war sie eine überaus begabte Goldschmiedin. Sie würde überall ein Auskommen haben.

Der Abend senkte sich herab, und sie suchte sich eine Berghöhle, um zu rasten. Sie entzündete ein kleines Lagerfeuer und sah dem Tanz der Flammen zu, während sie ihren Proviant aß. Wie gerne hätte sie jemanden bei sich gehabt, der ihr Abenteuer mit ihr teilte. Doch niemand, weder ihre Familie noch die Menschen aus der Umgebung, würde verstehen, warum sie sich auf den Weg gemacht hatte. Als das Feuer niedergebrannt war, schlief sie ein.

Am Morgen flog sie zeitig los, und als sie die letzte Bergkette überquert hatte, breitete sich das Ziel ihrer Träume vor ihr aus. Das Meer erstreckte sich von einer Seite zur andern und ging nahtlos in den bewölkten Himmel über. Sie landete auf einem Hügel und ließ ihren Blick schweifen, überwältigt von der weiten Sicht. Zu Hause war der Horizont in alle Richtungen von Bergen begrenzt. Selbst beim Fliegen hatte sie noch nie so weit gesehen.

Am Ufer lag eine kleine Stadt. Dies musste Orovoda sein. Auf den ersten Blick schien sich diese nur wenig von ihrer eigenen zu unterscheiden. Alles war um das Hafenbecken angeordnet und wirkte dadurch viel offener als Soledads Heimat. Dies könnte ein Ort sein, an dem auch eine Drachenschmiedin einen Platz finden konnte.

Sie lächelte und flog bis zu einer Lichtung in der Nähe der ersten Häuser, wo sie sich in ihre menschliche Gestalt verwandelte. Sie verbarg ihr flammend rotes Haar unter einem Tuch und zog die Reisekleidung einer Handwerkerin an. Dann machte sie sich erwartungsvoll auf den Weg. Ihr Proviant war schon eine Weile versiegt, und so suchte sie eine Herberge, in der sie etwas essen konnte.

Am zentralen Platz gab es ein Gasthaus, das gut geführt schien. Vor den Fenstern hingen Blumenkästen mit üppigen Geranien, der Platz vor dem Haus war ordentlich gefegt, und rechts und links neben dem Eingang standen zwei akkurat geschnittene Bäumchen Spalier.

Sie betrat den Schankraum, der einfach, jedoch gemütlich eingerichtet war. Die Tische und Stühle schienen von einem fähigen Schreiner zu kommen. Die Beine waren mit Schnitzereien verziert und die Platten massiv und gerade. Auch die Vorhänge und Lampen zeugten von Geschmack und guter Handwerkskunst. Alles war sauber, und es roch angenehm nach Essen. Die Wirtin, eine Frau in ihren Vierzigern, begrüßte sie.

»Ich brauche ein Zimmer und würde gerne zu Abend essen«, sagte Soledad. »Nimmst du Gold?«

Sie fühlte sich in der Herberge wohl und mochte die Besitzerin auf den ersten Blick.

Die ließ sich das Goldstück zeigen, lächelte und sagte: »Ich führe dich in dein Zimmer.«