Das Frühlingsfenster - Lilian Dexter - E-Book

Das Frühlingsfenster E-Book

Lilian Dexter

5,0

Beschreibung

Lizzy hat es trotz ihrer Panikattacken geschafft, die Geschäftsführerin des Bürgerzentrums zu werden. Doch geschehen bald schreckliche Dinge rund um das Zentrum: Vandalismus, ein brutaler Überfall und schließlich sogar ein Mord erschüttern die Mitarbeiter. Doch wer hätte ein Interesse daran, dem Zentrum zu schaden? Ist es Ophelia, die neue Jugendleiterin, die sich seltsam verhält und Lizzy regelmäßig eine Gänsehaut bereitet? Oder stecken andere Mächte hinter den skrupellosen Attacken? Lizzy weiß bald nicht mehr, wem sie trauen kann. Nicht einmal der Polizist, zu dem sie sich hingezogen fühlt, scheint an ihrer Seite zu stehen. Soll sie sich wirklich in Lebensgefahr begeben und um das Zentrum kämpfen, oder lieber ihre Karriere aufgeben und zu ihren Eltern flüchten?

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Seitenzahl: 373

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Das Frühlingsfenster

Lilian Dexter

Impressum

Texte: © 2021 Copyright by Susan Beer

Cover: © 2021 Copyright by Ronja Forleo

Verantwortlich für den Inhalt:

Susan Beer

Heinrich-Böll-Str. 6

81829 München

[email protected]

Druck: epubli – ein Service der Neopubli GmbH, Berlin

*

»Da musst du Name reinschreiben. Du verstehen? DEINE NAME!«

Lizzy sah von ihrem Computer auf. Das ungehaltene Gebrüll kam von Elfriede, die einem Antragsteller das Formular für das kostenlose Mittagessen erklärte. Wobei »erklärte« es wohl nicht ganz traf. Der arme Mann hatte gar keine Chance, ihr zu folgen.

Lizzy war die Geschäftsführerin des Bürger- zentrums. In der Jugendstilvilla wurde von der Büchergruppe für Senioren bis zur Still-Beratung jede Menge für die Bewohner des Viertels angeboten. Elfriede war Teil des fünfköpfigen Vereinsvorstands und damit Lizzys Arbeitgeberin. Das Zentrum hatte erst seit einer Stunde geöffnet und das war heute schon der dritte Besucher.

Sollte sie einschreiten? Der Mann tat ihr leid. Ginge sie hinüber, wäre das Problem in zwei Minuten gelöst, aber Elfriede eingeschnappt. Nachdenklich drehte Lizzy ihren französischen Zopf um den Finger. Ihr Büro war durch eine Tür von der Geschäftsstelle getrennt. Sie schloss diese Tür nur, wenn sie konzentriert arbeitete oder eine Besprechung hatte. Man hatte beim Umbau der Villa einen Durchbruch für die Tür geschaffen und Lizzy war entsetzt gewesen, dass deshalb der Stuck über dieser Stelle unterbrochen worden war. Abgesehen davon fühlte sie sich wie im Schloss, wenn sie die kunstvolle Decke ansah.

Sie kannte den Mann. Er war Paketbote und kam gerade so über die Runden. Das Mittagessen hier war oft die einzige Mahlzeit, die seine Kinder am Monatsende bekamen. Sie warf ihren Zopf wieder auf den Rücken.

Wenn die gute Frau nur nicht so unfähig wäre. Selbst die Praktikantin hatte in zwei Wochen mehr weg- gearbeitet, als Elfriede in einem ganzen Monat schaffte. Aber sie übernahm die morgendlichen Bürozeiten, was dem Verein viel Geld sparte.

Die Diskussion in der Geschäftsstelle wurde hitziger. Der Mann versuchte zu erklären, dass er das Formular schon ausgefüllt hatte und nur den Nachweis für diesen Monat brachte. Seine Stimme überschlug sich. Elfriede hörte gar nicht hin, sondern wiederholte stupide, was er eintragen müsse.

Lizzy hatte sogar mal mit ihrer Therapeutin über Elfriede gesprochen. »Erinnern Sie sich daran, dass Sie Ihr Studium bestanden haben. Sie haben Fachwissen und dürfen deshalb durchaus Kritik üben«, hatte diese ihr gesagt.

Es war ihre erste Stelle. Was, wenn sie es mit der Kritik zu weit trieb?

Sie versuchte, sich auf ihre Arbeit zu konzentrieren, doch es gelang ihr nicht.

Der Mann hatte offenbar nicht die Zeit, sich durch das ganze Formular zu kämpfen. Elfriede bestand darauf. Das Drama war nicht auszuhalten.

Ein Kribbeln schob sich ihren Rücken hinauf. Lizzy kannte dieses Zeichen: Ihre Panikattacken kündigten sich so an. Das Leiden des Mannes nahm sie doch mehr mit. Langsam atmete sie ein und aus. Sie schloss die Augen und versuchte, die Diskussion im Nebenzimmer auszublenden. Nach einigen Atemzügen verschwand die Unruhe in ihrem Körper, dafür spürte sie umso stärker die Verzweiflung des Mannes.

Sie sendete die Mail, an der sie geschrieben hatte, ab und stand auf. Bevor sie an der Tür war, rief Florian nach ihr. Er war der Jugendleiter und ebenfalls im Vorstand des Vereins.

»Lizzy, bist du da?«

Sie steckte ihren Kopf in die Geschäftsstelle und fragte: »Bekommen wir wieder eine Praktikantin?« Elfriedes beleidigte Miene ignorierte sie.

Florian erwiderte: »Das wird vermutlich nicht klappen. Der Gutachter für das Dach war da. Es sieht übel aus. Das zahlen wir nicht mehr aus der Portokasse. Wir besprechen das gleich im Vorstand, da muss schnell eine Lösung her.«

Er wurde von Elfriede unterbrochen. »Ich werde eine Einladung schicken. Für so eine entscheidende Bes- prechung muss man formal laden.«

Florian strich sich durch seinen Drei-Tage-Bart und bemühte sich, ruhig zu bleiben.

»Nein, meine liebe Elfriede, das müssen wir nicht. Hartmut und Achmed sind schon auf dem Weg hierher. Damit sind vier von fünf auch ohne offizielle Ladung da, das reicht für eine außerordentliche Besprechung zu nur einem Thema.«

Florian wirkte, als würde er in der Schule einem begriffsstutzigen Kind die Pausenregeln das dritte Mal erklären.

Elfriede setzte ihre rote Kunststoffbrille wieder auf. Zusammen mit einem praktischen Kurzhaarschnitt sollte das wohl sportlich wirken, aber ihre schlaffe Haltung und ihre hängenden Wangen verrieten deutlich, dass sie jegliche Anstrengung scheute.

»Ja, wenn Hartmut schon Bescheid weiß, dann ist das natürlich in Ordnung. Lizzy kümmert sich bestimmt um die Unterlagen, oder?«

Elfriede setzte sich zufrieden hinter ihren Computer. Ihr Schreibtisch war riesig und nahm fast das ganze Zimmer ein, dennoch waren auf jedem Regal und sogar auf den Stühlen Ordner und Papiere. Elfriede schien das nicht zu stören.

Der Paketbote hatte die Gelegenheit genutzt und war gegangen. Lizzy schnappte sich seine Unterlagen und lief zurück in ihr Büro. Sie würde die Anmeldung fertig machen und damit den Kindern auch im nächsten Monat das Mittagessen sichern.

Florian folgte ihr und sagte:

»Bis Hartmut und Achmed kommen, könnten wir noch schnell meine Abrechnungen durchgehen. Dann habe ich das schon mal weg.«

Lizzy nickte. Sie holte die Unterlagen und setzte sich mit Florian an den kleinen Besprechungstisch in ihrem Büro.

Nach einem Blick auf die einzelnen Belege stutzte sie: »Was ist das für eine Baumarktrechnung? Das sind ja fast fünfhundert Euro!«

»Ich habe mit der Freitagsgruppe die Fenster abge- schliffen und neu eingestellt. Die Scharniere mussten wir zum Teil austauschen, und ich habe uns eine Schleifmaschine gekauft. Du kannst das doch ab- rechnen, oder?«

»Ja, ich habe ein Hausmeisterbudget bei Hartmut durchgesetzt. Er will ja nicht, dass wir den Hausmeister- dienst anrufen. Also habe ich ihm gesagt, wenn wir schon alles selbst machen müssen, dann brauchen wir auch Material. Und da gehört dein Werkzeug dazu. Solange ich noch Geld auf dem Budget habe, ist das okay. Meine Fenster müssten auch mal wieder gemacht werden. Zumindest die Winterfenster sollten langsam runter.«

Florian nickte. »Ich sage Achmed, er soll dir helfen. Das schafft ihr schon, man muss die ja nur aushängen. Aber du hast recht, wir heizen den Garten, so verzogen wie die sind.«

»Kann das nicht deine Freitagsgruppe erledigen? Ich komme nicht dazu.«

»Ich muss mit den Jugendlichen auch mal was anderes machen als das Haus renovieren. Wir bieten sowieso viel zu wenig für die Kids an.«

»Dann ist es ja gut, dass wir noch eine Jugendleiterin bekommen.«

»Wenn wir das mit dem Dach geregelt kriegen. Es nimmt irgendwie kein Ende.«

Florian ließ die Schultern hängen und erinnerte Lizzy an ein Gemälde. Eine Bauersfamilie versucht, ihr Getreide vor dem drohenden Gewitter zu ernten. Der Mann auf seine Forke gestützt, zu erschöpft, um noch weiterzuarbeiten. Das Bild hatte Mitleid und Bewunderung bei ihr ausgelöst.

Sie legte ihre Hand auf Florians Arm und sagte: »Das bekommst du schon hin, glaub mir. Irgendwann scheint die Sonne wieder.«

Lizzy tat nur so zuversichtlich. Falls sie Florian nicht aufmunterte, wer sollte dann weiter um das Zentrum kämpfen? Der restliche Vorstand war hier keine Hilfe.

Er seufzte. »Mir graut schon, wenn ich an Hartmut denke. Der wird wieder rumtoben, wenn er das mit dem Dach hört.« Er stierte einen Moment geradeaus, dann gab er sich einen Ruck und sah Lizzy an.

»Wie gehts mit deinen Attacken? Die Sitzung später ist kein Problem für dich?«

Lizzy schüttelte den Kopf. »Hartmut macht mir ein bisschen Angst. Aber der ist ja deine Baustelle.«

Florian lachte trocken. »Du wirst sehen, wir werden dich schneller brauchen als dir lieb ist. Mit dem Jugendhaus wars ja genauso. Bevor du nicht mit der Baubehörde gesprochen hast, dachte ich, das wird nichts mehr.«

Lizzy wurde rot. »Du weißt ganz genau, dass ich da nicht viel gemacht habe. Ich habe halt zufällig die richtigen Worte bei der Bearbeiterin getroffen und der Rest war ja schon von euch vorbereitet. Lass uns lieber die Abrechnung machen.«

Sie stand auf, um das Fenster zu öffnen. Der äußere Flügel knarzte und ließ dann kühle Luft herein. Der Park erwachte langsam aus seiner Winterruhe. Die Bäume hatten diese hellgrünen Blattspitzen, die Lizzy so liebte. Lächelnd verfolgte sie ein Eichhörnchen auf seinem ersten Ausflug.

Auf der Wiese vor dem Haus wehte das restliche Laub vorbei. Sie sah in den Himmel. Es würde heute wohl noch ein Gewitter geben. Besser, sie schloss das Fenster wieder.

Sie wandte sich Florian zu, der sie angrinste.

»Du hast den Frühling gesehen, hm?«

Sie war froh, ihn so selbstsicher zu sehen. Ohne seine Unterstützung kam sie sich hilflos vor. Die Therapeutin hatte ihr geraten, sich an Florian zu wenden, und so hatte sie ihm von ihren Panikattacken erzählt. Der Sozialpädagoge war damit professionell umgegangen und hatte sie nicht vor die Tür gesetzt. Bei Hartmut war sie sich da nicht sicher. Er erinnerte sie an ihren strengen Vater. Bei jedem kleinen Fehler geriet sie in Panik. Würde er sie entlassen?

Sie hakten die restlichen Punkte ab.

Schließlich lehnte Florian sich nach hinten, sodass sein T-Shirt über seinen Armmuskeln spannte.

»Irgendwie finde ich das schon komisch, dass wir fast keine Rücklagen haben. Ich meine, du sagst ja selbst, dass wir viele Mitglieder haben. Etliche zahlen den höheren Förderbeitrag. Wo geht das Geld hin?«

»Das weiß ich nicht. Ich habe nur Zugriff auf die laufenden Kosten, ich könnte dir nicht mal sagen, was wir von den Mitgliedern bekommen. Das erledigen alles Elfriede und Hartmut.«

»Ich müsste mich da echt mal mehr mit befassen. Aber das wird schon passen.«

Die beiden saßen noch einen Moment ratlos da. Das war alles so kompliziert und bis jetzt hatten sie nie darüber nachgedacht. Lizzy zupfte an der Manschette ihrer Bluse. Was, wenn sie dafür haftbar gemacht würde? Man sagte, sie wäre eine tüchtige Verwalterin. Sogar Hartmut war beeindruckt, wie schnell sie sich in die verschiedenen Abrechnungen eingearbeitet hatte. Aber sie konnte ja schlecht Elfriede und Hartmut überwachen.

Florian brach das Schweigen: »Wenn ich nicht alles in meiner Freizeit machen müsste, dann könnte man sich auch mal um so was kümmern. Vielleicht mit der neuen Jugendleiterin.«

Lizzy nickte. Die Betreuerin würde einiges verbessern.

Florian sprang auf.

»Wenn es sonst jetzt nichts mehr gibt, hole ich noch schnell mein Laptop aus dem Jugendhaus. Wir sehen uns gleich.«

Lizzy ging nach unten in die Cafeteria, um den Platz für die Besprechung herzurichten. Sie liebte das Jugendstilhaus mit seiner bemalten Fassade, den bunten Fenstern und der knarzenden Holztreppe, die vom Foyer in den ersten Stock zu ihrem Büro führte. Im Erdgeschoß hatten sie einen Gruppenraum, der vor allem für die Mutter-und-Kindgruppen verwendet wurde. Ansonsten gab es eine Küche und die Cafeteria, die sich zu einer eleganten Terrasse öffnete. Es roch nach Blumen. Jemand hatte ein paar Töpfe mit Frühlingsblumen auf das Regal gestellt. Sie nahm die Stühle von den Tischen.

Hoffentlich fanden sie eine Lösung. Was, wenn sie entlassen wurde? Ihr Körper kribbelte.

»Das ist nichts für dich, so allein in der Stadt. Du wirst schon sehen.« Hatte ihr Vater recht gehabt? Gleich nach dem Studium eine Geschäftsführung, das war wirklich anmaßend. Noch mal würde sie keiner einstellen.

Die Gedanken tobten in ihr. Sie versuchte, gegen die Attacke zu atmen. Dann hörte sie Florians Stimme in ihrem Kopf. Er würde die Dinge in Ordnung bringen. Nach ein paar tiefen Atemzügen war sie wieder bei sich, gerade noch rechtzeitig, bevor die anderen kamen.

*

Hartmut eröffnete die Sitzung. Er war der Vorstandsvorsitzende und bildete sich viel auf diese Position ein.

»Liebe Vorstandskollegen, liebe Lizzy, hiermit eröffne ich unsere 17. außerordentliche Vorstands- sitzung. Das Protokoll führt Elfriede, die Leitung übernehme ich. Gibt es Gegenstimmen?«

Er sah so aus, als würde er für seine sensationelle Begrüßung Beifall erwarten.

Alle nickten nur zustimmend. Lizzy hatte sowieso nichts zu sagen, da sie nicht im Vorstand war.

»Anwesend sind: ich, Elfriede, Florian und Achmed. Weiß jemand was von Mechthild?«

Elfriede meldete sich: »Ich habe sie nicht erreicht, ich glaube, sie hält gerade einen Kurs bei der VHS. Wir haben ja nicht offiziell geladen.«

Hartmut bedachte sie mit einem vernichtenden Blick. Sie schien es nicht zu merken. Daher ergänzte er: »Ich kenne die rechtlichen Voraussetzungen, das musst du mir nicht jedes Mal sagen.«

Elfriede war eingeschnappt, sagte aber nichts. Sie begann umständlich ihre Brille zu putzen.

Achmed nahm sich wie immer aus der Sache heraus. Er hatte gelernt, dass er als Flüchtling besser unsichtbar blieb. Er war zum Zentrum gekommen, weil die IT zusammengebrochen war. In kürzester Zeit hatte er den Computer wieder zum Laufen gebracht und seitdem lief alles reibungslos. Florian hatte ihn gedrängt, sich zur Vorstandswahl zu stellen. Der junge Syrer hatte mehr Stimmen als Elfriede erhalten, war jedoch genauso bescheiden geblieben wie vorher.

Lizzy sprach selten mit ihm, weil sie nicht wusste, was sie sagen sollte. Er war stets höflich distanziert, was in seiner Kultur wohl üblich war.

Hartmut sagte:

»Gut, wir haben ja nur einen Punkt. Florian, würdest du bitte anfangen?«

»Laut dem Bausachverständigen, der heute Morgen bei uns war, ist die Dachkonstruktion morsch. Das heißt, das Dach muss komplett runter und mit einem neuen Dachstuhl wieder aufgebaut werden. Er schätzt, dass uns das ungefähr 180.000 € kosten wird.«

Alle schwiegen.

Lizzy sah den Wolken zu, die hinter den hohen Bäumen im Garten vorbeizogen. Die Äste bogen sich. Der Föhn schien sich durchzusetzen, kein Regen heute.

Hartmut riss sie aus ihren Gedanken. Er beugte sich nach vorn: »Komm, diese Bauleute übertreiben doch immer.«

Florian stützte sich auf: »Das ist ein amtlich bestellter Gutachter, der verdient nichts daran, dass er uns diese Summe nennt. Außerdem war ich mit ihm und einem Dachdecker oben und habe mir das selbst angeschaut. Du wirst mir schon glauben müssen, das Ding ist hinüber.«

Hartmut trug seine grauen Haare in einem akkuraten Seitenscheitel, den er regelmäßig mit einem Kamm nachzog. Sein Hemd drohte aus der Hose zu rutschen. Ein Bauch auf Stelzen, wie Lizzys Kommilitonin solche Männer immer genannt hatte. Florian hingegen, durchtrainiert und fit, war wie ein junger Wolf. Jeder sah, wie die beiden um ihr Revier kämpften.

Florian erläuterte den Bauplan des Hauses und den Fehler, der beim Umbau gemacht wurde. »Daher läuft seit einem halben Jahrhundert bei jedem Unwetter Wasser ins Haus. Es muss also das ganze Dachgeschoss saniert und die Mauern trockengelegt werden.«

Elfriede schnaufte tief ein. Lizzy und Achmed tauschten einen Blick aus: Das konnte dauern.

»Denken wir an den Willen der Stifterin. Wie ihr vermutlich nicht wisst«, sie sah Lizzy und Achmed an, die sehr wohl die Geschichte kannten, »wollte sie vermeiden, dass aus diesem gewachsenen Viertel alle wegziehen. Sie gab ihnen ein Zentrum und deswegen …«

»Jeder von uns kennt die Vorgänge hier. Die Frage ist, woher bekommen wir das Geld.« Hartmut sah Florian drohend an: »Und nein, wir übergeben es nicht an die Stadt. Dann wird das ein reines Zentrum für das Neubauviertel. Sie sehen ja nur noch dort ihre ›Bedarfe‹.«

Lizzy konnte die Anführungszeichen um Bedarfe regelrecht sehen. Sie hoffte, die ganze Diskussion war bald vorüber. Der Kampf zwischen Florian und Hartmut war nicht hilfreich und verursachte ihr Kopfweh.

Florian erwiderte: »Wenn wir das Dach nicht selbst reparieren können, bleibt uns gar nichts anderes übrig.«

Elfriede setzte sich aufrecht hin und dozierte: »Das wird unserer edlen Stifterin aber gar nicht gerecht.«

Ob die edle Stifterin wohl gerne so genannt worden wäre? Lizzy hatte gehört, dass sie eine pragmatische Frau ohne eigene Kinder gewesen war, die genau gesehen hatte, wie viele Menschen in Not um sie herum lebten.

»Wir können unsere Ausgaben kürzen und so einen Kredit aufbringen. Wenn Lizzy und Florian auf etwas Geld verzichten, sollte das doch machbar sein. Ich arbeite ja umsonst hier und Achmed bekommt nur eine Aufwandsentschädigung.«

Florian platzte der Kragen: »Meine liebe Elfriede, nicht jeder hier hat einen reichen Mann, der ihn aushält. Wir müssen unsere Miete mit echter Arbeit finanzieren, aber vielleicht kann ja dein Göttergatte einen hübschen Scheck ausstellen.«

Hartmut unterbrach ihn: »Dieser Ton war jetzt nicht nötig. Natürlich werden wir alle unseren Beitrag leisten, das erwarte ich gerade von den Vorstandsmitgliedern.

Dennoch möchte ich daran erinnern, dass wir auch die Möglichkeit haben, den Willen unserer Stifterin mit einem Kulturhaus umzusetzen. Ich bin da in Gesprächen mit einem Kunstsammler, der überlegt, seine Sammlung von Künstlern aus der letzten Jahrhundertwende zu vererben. Das würde wundervoll in unsere Jugendstilvilla passen und auch sonst der Umgebung viel mehr entsprechen.«

Florian stand auf. »Wenn jetzt wieder dieser Quatsch kommt, dann gehe ich. Willst du das Dach vielleicht mit Bildern abkleben? Wenn’s oben rein regnet, ist es doch völlig egal, was unten drin ist. Also entweder kümmern wir uns jetzt um das Dach oder wir beenden die Diskussion.«

Elfriede öffnete den Mund, um die Lage etwas zu befrieden.

Hartmut war schneller. »Dann bleiben wir mal bei den Kosten. Der Betrieb hier ist unglaublich teuer. Aber das interessiert dich ja nicht. Du willst ja nur immer das Geld mit beiden Händen rauswerfen.«

»Was soll das jetzt wieder heißen?«

»Na, ständig braucht ihr in eurem Jugendhaus was Neues. Mal ist es ein Drucker, dann irgendwelches Bastelzeug, und wozu das ganze Gartenzeug gut sein soll, ist mir auch nicht klar. Der Garten sieht jetzt auf jeden Fall nicht besser aus.«

»Kennst du überhaupt den Unterschied zwischen einem Baum und einem Busch, wenn du davorstehst?«, konterte Florian gereizt.

»Weil du hier der große Botaniker bist!«

Das saß. Florian hatte erst Schreiner gelernt und dann Kunstpädagogik studiert. Gartenbau war nicht sein Metier.

»Ist ja schön, wenn du einen Baum und einen Busch malen kannst. Aber hier geht es ums Geld«, setzte Hartmut noch einen nach.

»Lizzy, du machst uns jetzt eine Aufstellung aller Kosten und dann schauen wir, wo wir sparen können.«

Sie nickte. »Ja, gern. Aber wir können nicht einfach irgendwo kürzen, weil wir für die meisten Dinge zweckgebundene Zuschüsse bekommen.«

»Ich habe dich nicht um deine Meinung gefragt, ich will eine Aufstellung. Ob wir was kürzen, entscheidest nicht du.«

Lizzy senkte schuldbewusst den Kopf. Hätte sie doch ihre große Klappe gehalten. Es lief immer darauf hinaus, dass sie eins aufs Dach bekam, wenn die beiden aneinandergerieten. Sie war ja quasi im Team Florian.

Dieser stand mittlerweile. Er stützte die Arme auf den Tisch und beugte sich in Richtung Hartmut.

»Du brauchst Lizzy da gar nicht anbrüllen. Wenn sich jemand hier um unser Geld kümmert, dann ist sie es. Sie hat jede noch so seltsame Fördermethode im Blick. Ich habe heute Morgen schon wieder drei neue Programme kennengelernt, aus denen wir Mittel be- kommen. Aber wie ist es denn mit den Mitglieds- beiträgen? Wo bleiben die?«

Hartmut wich zurück. Er schien einen Moment zu überlegen, wie er den Angriff parieren sollte.

Da ertönte die sanfte Stimme von Achmed:

»Vielleicht können wir ja einen Aufruf machen und es gibt irgendwen, der uns unterstützt. Das ist ja ein reiches Viertel mit all den Villen. Da will doch bestimmt jemand was Gutes tun.«

Lizzy sah ihn dankbar an. Achmed war noch so jung, aber seine Augen waren die eines viel älteren Mannes. Lizzy vermutete, weil er schon so viel erlebt hatte. Seine ganze Art war weich. Sie hörte ihm gern zu, ihr gefiel der leichte Akzent, das gab seinen Äußerungen etwas Melodisches.

Hartmut war für diese Reize unempfänglich. Er erwiderte: »Du glaubst doch nicht, dass die Leute aus dem Viertel eure Jugendlichen unterstützen. Die wollen den Lärm und den Dreck nicht.«

Florian nahm sich sichtbar zusammen und antwortete ruhig: »Einen Versuch ist es auf jeden Fall wert. Wir haben so viele Leute hier, die das Zentrum wirklich brauchen. Auch aus der Villenkolonie.«

Hartmut lehnte sich gönnerhaft zurück und sagte: »Gut, dann beschließen wir, dass wir einen Aufruf zur Spende machen. Gegenstimmen? Nein, gut, dann ist die Sitzung hiermit beendet.«

Lizzy hatte den Eindruck, dass auch er keine bessere Lösung hatte.

Elfriede hob zaghaft die Hand: »Und was machen wir, wenn wir nicht genug Spenden bekommen?«

Hartmut sah sie drohend an. Florian griff die Frage auf: »Ja, was machen wir dann?«

»Das ist doch wohl klar. Das Zentrum wird eine Kunstvilla. Da kenne ich schon ein paar, die uns dann unterstützen.«

Alle starrten ihn ungläubig an. War das Kulturhaus bereits mehr als eine fixe Idee von ihm?

Hartmut stand auf und damit war die Sitzung endgültig beendet.

*

Am Nachmittag schnürte Lizzy ihre Joggingschuhe. Sie musste sich unbedingt ein bisschen Auslauf verschaffen, sonst fraß sie ihre Arbeit auf.

Die Wolken türmten sich auf, aber das Gewitter schien weiterzuziehen.

Sie wärmte sich auf und lief dann ihre übliche Strecke über die Straße am Industriegebiet vorbei zum Park. Die Luft war klar und roch nach Sommer. Lizzy hörte den Vögeln zu und dem gleichmäßigen Knirschen ihrer Füße auf dem Kies. Sie ließ all die Probleme im Zentrum Revue passieren. Das marode Dach, das fehlende Geld, Elfriede, das Kulturhaus.

Die Themen zogen durch ihren Geist und sie ließ sie auf dem Kies zurück. Irgendwann waren alle Gedanken gedacht und alle Sorgen gefühlt und sie kam in diesen angenehmen Leerlauf, der nur noch aus ihrem Atem und dem Taptap ihrer Schritte bestand.

Sie liebte diese Kraft, die im Moment des Laufens über sie kam. Das war wohl das, was man Runners High nannte.

Früher hatte sie dieses Gefühl öfter, aber es endete stets in einer Panikattacke.

Die Therapeutin meinte, dass ihr Körper vermutlich zu viel Adrenalin oder ein anderes Hormon nicht verarbeiten konnte.

Solange sie lief, wanderte das Prickeln einmal durch ihren Körper und dann war da nur noch Kraft und das Gefühl, dass ihr die Welt zu Diensten stand.

Auf der Bank unter der Trauerweide sah sie ein Liebespärchen. Das Mädchen hatte sich mit dem Kopf auf den Schoß des Jungen gelegt und sah ihn an. Er strich ihr die Haare aus dem Gesicht und beugte sich dann nach unten, um sie zu küssen.

Das versetzte Lizzy einen Stich im Herzen. Die Kraft und gute Laune waren weg. Sie fühlte sich einsam und Neid breitete sich in ihr aus. Alle Töpfe fanden einen Deckel, nur sie war offenbar eine Sondergröße.

*

Das Gewitter war in der Nacht doch noch gekommen und Lizzy hatte schlecht geschlafen. Daher war sie müde und unkonzentriert. Die Bewerbungsgespräche für die Jugendleitung würden sie hoffentlich aufwecken.

Lizzy drehte ihren Zopf in der Hand. Sie saß mit Florian an ihrem Besprechungstisch und wartete auf die erste Bewerberin für die Stelle der Jugendleiterin.

Er bemerkte ihre Anspannung, stellte seinen Frühstückskaffee weg und sagte:

»Ich stelle die Fragen und du siehst dir ihre Reaktionen darauf an und machst Notizen. Ich bin gespannt. Mit diesen internationalen Abschlüssen und den Referenzen könnte sie einen besseren Job bekommen als die Leitung unserer Mädchengruppe.«

Lizzy sagte nichts. Sie war selbst in diesen Job reingerutscht, weil sie es nicht fertiggebracht hatte, sich zu bewerben. Vielleicht hatte diese Frau ähnliche Probleme. Lizzy schaltete die Deckenlampe an, weil durch die dunklen Wolken kaum Licht in ihr Büro kam. Sie setzte sich wieder zu Florian an den Tisch und malte eine Girlande um den Namen auf ihrem Notizblock. Ophelia. Wie ausgefallen. Wie die Eltern da wohl drauf gekommen waren?

Es klopfte und die Bewerberin trat ein. Das vertraute Kribbeln wanderte Lizzys Rücken hinauf, hoffentlich bekam sie keine Panikattacke. Sie atmete tief ein und fokussierte sich auf Florian, wie er aufstand und die Frau begrüßte.

Als Lizzy an der Reihe war und sich ihre Hände berührten, kam ihre Panik wie ein Hammer. Sie blickte an der jungen Frau vorbei, nuschelte »Grüß Gott!« und riss ihr die Hand weg.

Dann verschanzte sie sich hinter ihrem Tisch und schrieb konzentriert das Datum auf den Block. Die Attacke war schlagartig vorüber.

Florian eröffnete das Gespräch.

»Guten Tag, Frau Reisenberger, schön, dass Sie zu uns gekommen sind. Erzählen Sie doch ein bisschen über sich.«

Ophelia referierte ihren Lebenslauf. Es klang auswendig gelernt.

Die schlanke Frau sah durchtrainiert aus. Sie trug ihre langen braunen Haare in einem akkuraten Knoten. Amerikanische Soldatinnen sahen so aus. Sicher nicht falsch, um sich Respekt bei den Jugendlichen zu ver- schaffen, dachte Lizzy.

Florian war das offenbar ebenfalls aufgefallen. Er fragte:

»Sie sehen so aus, als würden Sie viel Sport machen. Auch Karate?«

»Nicht Karate, nur Selbstverteidigung. Ich kann mich schon wehren, wenn Sie das meinen. Ansonsten keine besonderen Sportarten, nur Fitness.«

Sie sah unnatürlich gesund aus, wie ein Werbebild. Lizzy fiel es schwer, Ophelia zu betrachten. Sie hatte ständig dieses seltsame Gefühl, wie beim Beginn einer Panikattacke, aber sie hatte keine Angst. Wenn sie sich auf ihre Unterlagen konzentrierte, war das Gefühl sofort weg.

Sie stand auf, um das Fenster zu schließen. Ein heftiger Wind trieb dicke Tropfen durch den Garten und klatschte sie an die äußere Scheibe. Der linke Fensterflügel klapperte. Der Zustand des Hauses machte ihr Angst, das musste wirklich ein Fachmann beheben. Sie wandte sich wieder dem Bewerbungsgespräch zu.

Lizzy überlegte, ob sie den Faden verloren hatte. Florian lächelte selig, fast verliebt. Bis jetzt hatte Ophelia jedoch nichts erzählt, was nicht in der Bewerbung gestanden hatte.

Irgendetwas stimmte hier nicht. Sie konnte nicht sagen, was. Mechthild, das fünfte Vorstandsmitglied, hätte jetzt sicher irgendwas über Energieströme und Sternzeicheninkompatibilität gesagt. Sie war sehr esoterisch und sah in allem höhere Mächte walten.

Lizzy spürte immer wieder Ophelias durch- dringenden Blick auf sich, als würde sie sie prüfen. Und jedes Mal löste es ein Kribbeln in ihr aus. Doch es kroch nicht den Rücken hinauf, eher schien es über ihren Körper zu wandern wie ein Suchscheinwerfer. Sie notierte konzentriert einen Satz und das Prickeln ver- schwand.

War sie nicht in der Lage, ein Bewerbungsgespräch zu führen?

Der Vorstand tagte am selben Abend, nachdem die Vorstellungsgespräche vorbei waren. Bis auf Achmed saßen alle in der Cafeteria und nach einer kurzen Eröffnung durch Hartmut stellte Florian die Kandidatinnen vor.

»Wir hatten fünf Bewerbungen, zwei haben wir gleich wegen mangelnder Qualifikation aussortiert. Es bleibt also die Entscheidung zwischen der ehemaligen Lehrerin, der Erzieherin und der Bewerberin von heute Morgen.«

Lizzy meinte: »Also mir gefiel die Erzieherin am besten. Diese Ophelia fand ich unheimlich.«

Florian entgegnete: »Die Lehrerin war eigentlich gar nicht so falsch. Sie hat eine Umschulung als Erzieherin gemacht, damit passt sie ins Profil. Sie hat nur bis jetzt immer in Kindertagesstätten gearbeitet, die freie Jugendarbeit ist ihr halt neu.«

Elfriede meinte: »Ich fände auch eine ältere Person besser. Florian ist noch jung und die ganzen Prakti- kanten und so, die wir haben, die bräuchten wirklich eine erfahrene Leitung.«

Florian setzte zu einer Antwort an, aber Hartmut war schneller: »Nein, wir nehmen diese Ophelia. Ich habe sie letzte Woche schon kurz kennengelernt, als sie sich das Zentrum angesehen hat. Wir werden sie einstellen, auch wenn Lizzy sie unheimlich findet.«

Mechthild nahm ihre Hände vor den Körper, als wollte sie ein Kissen präsentieren. Ihre Armreife mit den vielen Anhängern klimperten.»Warum findet Lizzy diese Ophelia unheimlich? So einfach sollten wir uns die Entscheidung nicht machen.«

»Das war Lizzys erstes Einstellungsgespräch«, warf Florian schnell ein. »Ophelia ist sehr überzeugend, das hat sie vermutlich eingeschüchtert.«

Lizzy sah ihn überrascht an. Das war überhaupt nicht seine Art, über Anwesende in der dritten Person zu sprechen. Aber er hatte recht.

Mechthild war nicht so leicht zu beeindrucken. Sie nahm ihre Hände wieder herunter, als hätte sie empfangen, was sie brauchte. Dann sagte sie: »Als Jugendleiterin trägt sie die Verantwortung für das Wohl der Kinder und muss mit Geld umgehen. Ich möchte jetzt wirklich von Lizzy hören, was ihr Gefühl sagt.«

Hartmut schnaubte hörbar, hielt sich jedoch zurück.

Lizzy hatte schon verstanden. »Sie wird nichts mit Geld zu tun haben, das läuft alles über die Geschäftsstelle oder die Jugendbar.«

Lizzy war stolz auf sich, dass sie so geschickt das Thema umschifft hatte.

Mechthild runzelte nur die Stirn, sagte aber nichts mehr.

Hartmut nutzte den Moment und meinte: »Diese Erzieherin ist ja offenbar nicht mehr die fitteste. Und bei aller Liebe, eine Lehrerin will ich hier nicht haben.«

Elfriede schüttelte den Kopf, sagte jedoch nichts.

»Ich möchte diese Ophelia aber noch einmal sehen, bevor wir sie endgültig einstellen«, gab Mechthild sich nicht geschlagen.

»Ich habe ihr gesagt, dass sie heute Abend Bescheid bekommt. Und überhaupt, du hast ja nichts mit ihr zu tun«, erwiderte Florian mit einem Tonfall, der keinen weiteren Widerspruch mehr duldete.

Lizzy war erstaunt über Florians Verhalten. Warum war er so vehement für Ophelia? Normalerweise war es ihm wichtig, zumindest mit Mechtild im Konsens zu sein.

»Dann ist es abgemacht. Wann kann sie anfangen?«, fragte Hartmut.

»Sie sollte am nächsten Ersten, also in drei Wochen, beginnen, hat aber angeboten, sofort zu kommen, da sie noch Urlaub hat. Damit hätte ich endlich jemand für das Freitagsangebot«, antwortete Florian.

Mechthild meinte: »Müssen wir nicht offiziell darüber abstimmen? Und brauchen wir nicht Achmed dafür?« Sie stellte ihre Tasse mit dem Melissentee ab. Sie verschüttete ein wenig und Lizzy stieg das penetrante Aroma in die Nase. Sie hasste Melisse.

Hartmut entgegnete: »Wir sind drei Vorstands- mitglieder und damit vertragsfähig.«

Mechthild zuckte die Schultern.

Beim Hinausgehen hielt Elfriede Lizzy fest.

»Du wolltest doch auch die Erzieherin. Warum hast du nichts gesagt? Jetzt kommt wieder so ein junges, unerfahrenes Ding hier rein, das alles besser weiß.«

Lizzy zuckte die Schultern. »Du weißt doch, wie Hartmut ist. Wenn er was will, setzt er es auch durch. Vermutlich ist er schwer verliebt in Ophelia, er spricht ja ständig von ihr.«

Elfriede war nicht überzeugt, aber sie sah ein, dass sie gegen Hartmut nichts ausrichten konnte.

Lizzy überlegte, ob Elfriede und sie nicht das gleiche Problem hatten: Wenn diese Ophelia bei Hartmut so einen guten Stand hatte, wer weiß, wie sie dann mit ihnen umging.

War das der Kern des Problems? Oder warum erschien ihr die Jugendleiterin so unheimlich?

*

Als Lizzy am nächsten Tag in die Cafeteria kam, hüpfte ihr ein kleines Mädchen in die Arme. Hope war die Tochter der afrikanischen Putzfrau, die gerade die Tische putzte.

»Wie geht es eigentlich deiner Schwester? Hat sie jetzt nicht Prüfung?«, begann Lizzy ein Gespräch mit Grace und versuchte dabei, die Kleine wieder auf den Boden zu stellen, aber sie wollte auf dem Arm bleiben. Vierjährige sind sehr meinungsstabil, merkte Lizzy mal wieder.

»Ja, die Prüfung ist im Moment. Darum ist Hope auch hier.«

»Du bist sicher froh, wenn sie jetzt endlich Geld verdient, oder? Dann hast du wenigstens sie von der Tasche.«

Grace richtete sich auf und sortierte ihren Turban. Heute war sie komplett in Schwarz mit goldenen Ornamenten gekleidet. Lizzy war beeindruckt von Graces Nähkünsten und ihrem Geschmack.

»Mirko hat mir angeboten, ich könnte bei ihm eine Lehre zur Köchin machen. Meinen Bachelor in Hotelmanagement erkennen sie hier ja nicht an. Dann hätte ich endlich einen Abschluss, der auch hier gilt.«

Mirko betrieb die Cafeteria und bereitete nicht nur unter der Woche die Mittagessen für alle zu, sondern hatte auch einen Lieferservice. Lizzy hatte schon gehört, dass er sich vergrößern wollte, weil das so keinen Gewinn abwarf.

»Hoffentlich klappt das auch, wenn Hartmut seine Kulturvilla hier betreibt.«

Grace lächelte.

»Es gibt ja noch andere Mitglieder. Hartmut kann nicht alles machen, wie er will.«

»Ich weiß nicht. Er hat hier schon sehr gute Kontakte zu allen wichtigen Leuten.«

Grace seufzte. »Immer diese Männer. Denken nur an sich und nie an die Kinder.« Sie blickte auf ihre Tochter und Lizzy war klar, dass sie deren treulosen Vater meinte. »Weißt du, Hartmut ist wie Hopes Opa. Der wollte mich nie haben und hat Philipp von uns weg- getrieben.«

Sie sah sinnend auf den Tisch, den sie immer noch hingebungsvoll abwischte. Dann straffte sie die Schultern und sagte: »Philipp war auch so ein Wasch- dings. Der konnte gar nix.«

Lizzy musste lachen. »Ein Waschlappen. Eher ein Depp, wenn er zwei so tolle Frauen wie euch hat sitzen lassen.«

Hope, die doch mehr mitbekommen hatte, als Lizzy lieb war, gab ihr einen feuchten Schmatz auf die Backe und ließ sich an ihr runterrutschen.

Sie hüpfte herum und sang »Tolle Frau’n, tolle Frau’n.«

»Du wirst eine Lösung finden, du hast doch auch das Gartenhaus für die Jugendlichen durchgeboxt. Sei nicht immer so pessimistisch.«

*

Grace ging mit Hope nach draußen, um sie zu Florian zu bringen. Gleich war Essensausgabe, da durfte das Mädchen nicht in der Cafeteria sein. Lizzy legte die Listen für das Mittagessen in Mirkos kleines Büro und holte die Post aus dem Briefkasten. Dann stellte sie sich in die Schlange, um sich ihr Mittagessen zu holen. Wie immer stand schon die alte Frau Berger dort.

Die Dame wohnte in einer der Villen in der Nachbarschaft. Sie hatte eine gute Rente, dennoch aß sie regelmäßig hier.

»Ach, Frau Erdmann, schön, dass Sie auch hier sind. Zu zweit ist das Essen doch netter.«

»Ja, finde ich auch.«

Sie half der Frau an den Tisch.

»Sie essen meistens hier. Ist Ihnen das nicht zu einfach, so mit Tablett und ohne Tischdecke?«

»Ach, meine Liebe, wenn man so alt ist, dass alle Freunde schon tot sind, dann ist man nicht mehr anspruchsvoll. In einem richtigen Restaurant müsste ich allein essen. Hier setzt sich meistens jemand her, weil es so klein ist. Na ja, und so groß ist meine Rente auch nicht, dass ich jeden Tag essen gehen kann.«

Sie wurden von einer Gruppe Kinder unterbrochen, die hier das Mittagessen gebucht hatten. In den Schulen gab es zwar eine Mensa, aber nur für die diejenigen, die auch einen Platz in der Mittagsbetreuung ergattert hatten. Von manchen Kindern wusste Lizzy, dass sie das Essen gespendet bekamen. Mirko hatte erzählt, dass Einzelne etwas für die kleinen Geschwister mit nach Hause nahmen. Denen gab er größere Portionen und eine Box für den Transport.

»Ich gehe immer um diese Zeit«, fuhr Frau Berger fort. »Die drei sind jeden Tag da und sind so lustig. Für die bin ich wahrscheinlich eine alte Schachtel, aber ich mag es, wenn man noch mal so viel Leben sieht.«

Die Kinder machten eine Menge Blödsinn, doch sie bemühten sich, niemanden zu stören.

»Mirko und Grace haben die Rasselbande gut im Griff. Sonst könnten wir so einen freien Tisch für die Kinder gar nicht anbieten.«

Frau Berger lachte. »Oh ja, die können ganz schön durchgreifen. Grace muss ja nur schnauben, dann parieren die schon. Das ist überhaupt eine sehr bewundernswerte Dame. Sie kümmert sich irgendwie um alles und jeden und hat doch selbst so viel um die Ohren. Ich wundere mich immer, woher sie diese Energie nimmt.«

Lizzy nickte. »Sie ist so ein Sonnenschein.«

Es war vielleicht leichter, sich eine fröhliche Grundeinstellung zu bewahren, wenn man in einem warmen Land aufgewachsen war.

»Ich gehe nach dem Essen immer eine Runde durch den Garten und schaue nach dem Rechten. Wollen Sie mitkommen?«, fragte Lizzy die alte Dame.

»Oh ja, das wäre sehr nett. Ich bin aber ja nicht mehr so gut zu Fuß, ist das nicht zu langsam für Sie?«

»Nein, ich will ja kontrollieren, ob wir Ungeziefer haben oder irgendwas kaputt ist. Meistens sammle ich auch noch den Müll ein, der halt immer wieder durch den Garten weht.«

Lizzy räumte das Geschirr weg und sie gingen hinaus.

Frau Berger stieg vorsichtig von der Terrasse in den Garten hinunter. Sie war etwas steif, aber flink und sicher auf den Beinen. Lizzy führte sie an den Gemüsebeeten vorbei.

»Das haben Mirko und Florian mit einer Jugendgruppe angelegt. Vorher war da Gestrüpp, ich glaube Berberitze. Damit man nicht um das Haus laufen konnte. Jetzt gibt es ganz frisches Gemüse in der Cafeteria.«

»Ich hatte früher auch einen Gemüsegarten. Wenn man es mal raushat, kann man wirklich viel ernten. Aber man muss halt jeden Tag vorbeigehen, das haben Sie ja schon gesagt.«

»Die eigentlichen Arbeiten machen der Gärtner und die Jugendgruppe. Es gibt da diese Öko-AG. Florian hat einen Verein ins Boot geholt, der mit den Jugendlichen verschiedene Programme macht. Sie kochen auch gelegentlich und wollten jetzt Marmelade einkochen. Die verkaufen sie dann beim Tag der offenen Tür.«

»Da muss ich unbedingt vorbeischauen.«

Sie schlenderten weiter bis zum Rosenfreisitz am hinteren Ende.

»Das ist mein Lieblingsplatz. Wenn ich mal meine Ruhe brauche und nachdenken will, komme ich hier- her.«

Lizzy pflückte ein paar welke Blätter ab. Der Garten war nach dem Regen immer noch ein bisschen feucht, deshalb achteten sie darauf, auf den Wegen zu bleiben.

Frau Berger war beeindruckt.

»Jetzt komme ich jeden Tag ins Zentrum und war noch nie im Garten. Ich wusste gar nicht, dass der so groß ist.«

»Der ist verwinkelt, weil das Grundstück ur- sprünglich viel größer war. Das Haus rechts von uns ist irgendwie anders vererbt worden und die Besitzer haben ihren Anteil vom Garten eingezäunt. Darum sieht man das von der Straße aus nicht.«

»Ja, und vom Haus meint man, da steht nur noch das Gartenhaus.«

Lizzy lachte. »Dahinter geht es noch ein ganzes Stück weiter. Das ist im Wesentlichen nur Wiese und Hecke. Die Kids spielen da meistens Volleyball oder so Zeug. Fußball dürfen sie nicht, weil das die Scheiben des Gartenhauses nicht vertragen.«

Sie hatten die Runde fast beendet, da meinte Frau Berger: »Meine liebe Frau Erdmann, so etwas Schönes haben Sie hier.«

»Das ist ja nicht mein Garten. Da dürfen Sie als Mitglied genauso drin spazieren. Und wenn Sie am Gartenabend vorbeikommen, dann können Sie auch mitbestimmen, was hier wächst. Wir sind ja kein Privatunternehmen.«

»Ja, das mache ich. Auf jeden Fall werde ich jetzt immer nach dem Essen zu dem Brunnen gehen. Vielleicht kommt ja wieder ein Vogel zum Baden, das war ja allerliebst.«

»Lassen Sie sich doch einen Stuhl rausstellen. Dann können Sie den ganzen Nachmittag Vögel beobachten. Auf dieser Seite ist es ziemlich ruhig. Am meisten ist schon vor der Terrasse los und bei den Jugendlichen.«

»Ich finde die jungen Leute nicht so schlimm. Da rührt sich wenigstens was. Leider gibt es ein paar Nachbarn bei uns, denen das Jugendhaus ein Dorn im Auge ist. Die regen sich über jedes Lachen am Abend und über jedes Bonbonpapier auf. Das mit dem Stuhl wäre wirklich wundervoll.«

Lizzy hoffte nur, dass sie der Frau keine leeren Versprechungen machte, jetzt, wo das Problem mit dem Dach und Hartmuts Ansagen im Raum standen. Daher war sie erleichtert, als ihnen Mechthild begegnete. Die Meditationslehrerin war wie immer in wallende Kleider gewandet und hatte ihre graue Mähne mit einem Stirnband gebändigt.

Lizzy rief: »Gerade habe ich an dich gedacht. Florian hat mir gesagt, du hättest eventuell eine Spenderin?«

Mechthild begrüßte Frau Berger. Die beiden wohnten seit Jahren in der gleichen Straße. Dann sagte sie:

»Ja, und sie hat auch schon zugesagt. Sie ist gerade dabei, ihr Karma zu reinigen, und da ist so eine großzügige Spende natürlich hilfreich. Sie muss noch mit ihrem Steuerberater klären, wie sie das am besten macht. Grundsätzlich haben wir die Zusage.«

»Das ist ja super. Kann das Zentrum so weiterlaufen wie bisher? Hartmut hat angedeutet, dass sie auch eher ein Kulturhaus will.«

Mechthild schüttelte ungläubig den Kopf. Lizzy hatte den Eindruck, dass sie etwas gegen Hartmuts Gerüchte sagen wollte, ihr aber dann einfiel, dass ja eine Zuhörerin dabeistand. Also sagte sie recht knapp:

»Nein, solange das Zentrum funktioniert, ist alles gut.«

Frau Berger schaltete sich ein: »Ist etwas nicht in Ordnung?«

Lizzy erzählte ihr von dem kaputten Dach. Eigentlich wollte sie dieses Thema nicht ansprechen, um die alte Dame nicht unnötig zu beunruhigen. Aber jetzt war es nicht mehr zu vermeiden.

Lizzy seufzte. »Hoffentlich klappt das. Ich habe schon zu Grace gesagt, dass ich sonst wieder zu meinen Eltern zurückmuss. Und dann wird mich mein Vater mit irgendeinem braven Mann aus der Kirchengemeinde verheiraten.«

Mechthild sah sie an: »Du wirst deine große Liebe finden. Aber wohl nicht in diesem Haus, wir haben wirklich schlechte Energien hier.«

Frau Berger sah sie kritisch an und sagte:

»Ich weiß ja nicht, eigentlich ist es halt ein altes Haus an der Schnittstelle von zwei Welten. Da gibt es einen Haufen Konflikte. Bis jetzt haben Sie das immer noch irgendwie hinbekommen.«

»Glaubt mir, hier sind schlechte Kräfte am Werk, das sagen mir schon die Karten. Und das mit dem Dach, das ist ja quasi wie die Schrift an der Wand.«

»Meinst du nicht, dass du da etwas hinein- interpretierst?«, fragte Lizzy beschwichtigend.

»Lizzy, du bist ein guter Mensch, aber du kannst die Schwingungen nicht spüren. Glaub mir, da ist etwas Großes am Werk.«

Frau Berger rettete die Situation, indem sie Mechthild von den Vögeln im Garten erzählte und wie wichtig das hier doch sei. Und dass sie natürlich auch einen finanziellen Beitrag leisten würde, wenn das nötig wäre.

Mechthild nickte weise und verabschiedete sich mit einer indischen Verbeugung.

Als sie gegangen war, meinte Frau Berger: »Die ist ja eine Nummer für sich. Die war schon als Kind so verschroben. Gut in der Schule, aber immer ein bisschen seltsam. Genau wie ihre Mutter. Die war ein Hippie, bevor sie den Arzt geheiratet hat. Das hat sich wohl vererbt.«

Sie kicherte wie ein kleines Schulmädchen und Lizzy musste lächeln. Frau Berger war wirklich zum Gernhaben.

Doch dann wurde die alte Dame ernst:

»So ganz unrecht hat sie nicht. Es gibt tatsächlich hässliche Dinge hier. Das Zentrum zieht Ungeziefer an, sagte mir letztes Mal ein Nachbar. So einen Ausdruck habe ich das letzte Mal als Kind gehört. Ich hatte gehofft, diese Zeit sei endgültig vorbei.«

Sie seufzte und verabschiedete sich herzlich.

*

Lizzy stieg lächelnd nach oben. Im Jugendstilfenster des Treppenhauses war eine junge Frau mit wallenden Haaren dargestellt. Sie schien aus dem goldenen Fenster heraus zu schweben.

Lizzy nickte ihr zu und meinte: »Es wird wieder Frühling, meine Liebe.«

Vor ihrem Büro wurde sie von Ophelia und Hope überrascht.

»Was macht ihr denn hier?«

»Mami muss noch arbeiten und Michelle ist noch nicht da und Florian hat auch keine Zeit mehr und ich habe dich nicht gefunden, weil du nicht im Büro bist, und dann hat Ophelia zu Mami gesagt, sie passt auf mich auf, aber du kommst ja eh gleich und …«

Lizzy unterbrach den Wortschwall. »Ja, und jetzt bin ich da.«

Sie sperrte ihr Büro auf und ließ die beiden hinein. Hope nahm gleich ihren Lieblingsplatz an Lizzys Besprechungstisch ein und begann zu malen. Lizzy räumte das Malzeug nur noch weg, wenn sie tatsächlich eine Besprechung hatte.

»Sie ist ein sehr braves Kind, auch wenn sie eigensinnig ist.«

Ophelia hatte etwas Liebevolles in der Art, wie sie Hope ansah. Lizzy dachte an das Bewerbungsgespräch.

»Ja, ich mag sie auch super gern. Es ist recht einfach, auf sie aufzupassen. Das sagen die auch im Kindergarten.«

Lizzy sah zu Hope hinüber, aber die war so vertieft, dass sie nicht zuhörte.

»Und du, hast du dich hier schon eingelebt?«

Ophelia lächelte. »Hier sind offenbar alle pflegeleicht. Wie geht das jetzt mit dem Dach weiter?«

»Ich würde ja gern den Speicher ausbauen, weil wir mehr Platz brauchen. Aber das ist erst mal nur ein Traum.«

Ophelia sah sie prüfend an. »Ich habe gehört, du hast den Umbau des Jugendhauses geleitet. Also scheinst du dich doch auszukennen.«

Lizzy schüttelte den Kopf. »Ich habe mich nur um die ganzen Genehmigungen gekümmert. Das hier ist eine andere Hausnummer.«

Sie hatte den Eindruck, dass Ophelia das nur gesagt hatte, um eine angenehme Atmosphäre zu schaffen. Nun, das hatte nur bedingt geklappt.

»Wann wirst du mit der Mädchengruppe starten? Hast du dir da schon etwas überlegt? Ich kann die Stadt nicht mehr länger hinhalten, die steigen mir wegen des Zuschusses schon ständig aufs Dach.«

Ophelia nickte. »Ich weiß schon, deswegen bin ich ja eigentlich hier. Wir werden eine offene Gruppe am Dienstag eröffnen.

Morgen hospitiere ich bei der Freitagsgruppe. Da bin ich wirklich neugierig. Florian sagt, die seien eher schwierig.«