Dracula - Bram Stoker - E-Book + Hörbuch

Dracula E-Book und Hörbuch

Bram Stoker

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Beschreibung

Er ist der »Meister«, das vielkopierte und unerreichte Original: Mit seinem Dracula hat Bram Stoker den Mythos des Vampirs dem kollektiven Gedächtnis eingeprägt. Der Roman wurde in 45 Sprachen übersetzt, zahlreiche Filme, Serien und Comics entstanden nach seiner Vorlage. Der Graf ist der Antiheld der Populärkultur. Bram Stokers Dracula ist aber viel mehr als eine Vam- pirgeschichte, in der ein guter Dr. Van Helsing gegen den bösen Fürsten der Finsternis antritt. In diesem frühen Montageroman geben sich die großen Oppositionen des 19. Jahrhunderts ein Stelldichein. Da ringt die Wissenschaft mit dem Glauben, die Empirie mit der Intuition, der Protestantismus mit dem Katholizismus, der Westen mit dem Osten, das Sichtbare mit dem Unsichtbaren. Selbst auf die kommende Frauenemanzipation weist dieser Roman hin, der seine Protagonistinnen nicht auf die Opferrolle beschränkt. Die Neuübersetzung des Weltklassikers verbindet literarische Qualität mit höchster Spannung und erzählt unerhört viel über den Aufbruch der Moderne und die Ängste und Abgründe einer Gesellschaft im Wandel.

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Seitenzahl: 817

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Zeit:6 Std. 35 min

Sprecher:Jacob Weigert

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BRAM STOKER

DRACULA

ROMAN/STEIDL

HERAUSGEGEBEN UND ÜBERSETZT VON ANDREAS NOHL

Inhalt

DRACULA

ANHANG

Nachwort

Anmerkungen

Dracula

Für meinen lieben Freund Hommy-Beg

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1Jonathan Harkers Reisetagebuch

Kapitel 2Jonathan Harkers Reisetagebuch

Kapitel 3Jonathan Harkers Reisetagebuch

Kapitel 4Jonathan Harkers Reisetagebuch

Kapitel 5Briefe – Lucy und Mina

Kapitel 6Mina Murrays Tagebuch

Kapitel 7Ausschnitt aus dem Dailygraph vom 8.August

Kapitel 8Mina Murrays Tagebuch

Kapitel 9Brief von Mina Harker an Lucy Westenra

Kapitel 10Brief von Dr. Seward an Arthur Holmwood

Kapitel 11Lucy Westenras Tagebuch

Kapitel 12Dr. Sewards Tagebuch

Kapitel 13Dr. Sewards Tagebuch

Kapitel 14Mina Harkers Tagebuch

Kapitel 15Dr. Sewards Tagebuch

Kapitel 16Dr. Sewards Tagebuch

Kapitel 17Dr. Sewards Tagebuch

Kapitel 18Dr. Sewards Tagebuch

Kapitel 19Jonathan Harkers Tagebuch

Kapitel 20Jonathan Harkers Tagebuch

Kapitel 21Dr. Sewards Tagebuch

Kapitel 22Jonathan Harkers Tagebuch

Kapitel 23Dr. Sewards Tagebuch

Kapitel 24Auf Dr. Sewards Phonographen gesprochen von Van Helsing

Kapitel 25Dr. Sewards Tagebuch

Kapitel 26Dr. Sewards Tagebuch

Kapitel 27Mina Harkers Tagebuch

Wie die Reihenfolge dieser Schriftstücke zustande kam, erschließt sich bei der Lektüre. Alles Unnötige wurde fortgelassen, damit die Geschichte – selbst wenn sie nachfolgenden Generationen unglaubwürdig erscheinen mag – so schlicht wie ein Tatsachenbericht vor uns steht. Eine Verzerrung vergangener Ereignisse aufgrund von Gedächtnisirrtümern kann ausgeschlossen werden, denn alle ausgewählten Berichte entstammen dem unmittelbaren Erleben, sie beruhen auf der Sichtweise und dem Kenntnisstand derer, die sie abgefasst haben.

Kapitel 1

JONATHAN HARKERS REISETAGEBUCH

(In Kurzschrift)

Bistritz, 3. Mai. — München am 1. Mai abends um 8.35 verlassen, früh am nächsten Morgen in Wien angekommen. Hätte eigentlich um 6.46 ankommen sollen, aber der Zug hatte eine Stunde Verspätung. Budapest scheint eine großartige Stadt zu sein, nach dem wenigen, was ich vom Zug aus und auf einem kurzen Gang durch die Straßen sehen konnte. Ich traute mich vom Bahnhof nicht sehr weit weg, da wir mit Verspätung angekommen waren und die vorgesehene Abfahrtszeit möglichst eingehalten werden sollte. Nach meinem Eindruck verließen wir hier den Westen und überschritten die Grenze zum Osten; die westlichste der prachtvollen Brücken über die Donau, die hier von imposanter Breite und Tiefe ist, führte uns in türkisch beeinflusstes Gebiet.

Wir fuhren zeitig ab und kamen nach Einbruch der Dunkelheit in Klausenburg an. Dort verbrachte ich die Nacht im Hotel Royal. Zum Abendessen oder besser Nachtmahl servierte man mir ein mit rotem Paprika gewürztes Hühnchen, das sehr gut war, aber durstig machte. (N.B.: Rezept für Mina besorgen.) Der Ober erklärte auf mein Befragen, es heiße »Paprika-Hendl« und sei ein Nationalgericht, ich würde es überall in den Karpaten bekommen. Meine paar Brocken Deutsch sind mir hier sehr nützlich; ich weiß wirklich nicht, wie ich sonst zurechtkommen sollte.

In London hatte ich noch Zeit für einen Besuch im Britischen Museum, wo ich in der Bibliothek Bücher und Karten zu Transsilvanien heraussuchte. Mir war plötzlich klar geworden, dass gewisse Vorkenntnisse über das Land mir im Verkehr mit einem dortigen Adeligen kaum schaden könnten. Die Gegend, die er mir genannt hatte, befindet sich im äußersten Osten des Landes, gleich an der Grenze dreier Staaten – Transsilvanien, Moldavien und Bukowina – mitten im Karpatengebirge, einer der wildesten und unbekanntesten Regionen Europas. Auf keiner Karte und in keinem Werk fand ich die genaue Lage von Burg Dracula verzeichnet, weil es von diesem Land keine Karten gibt, die mit unseren topographischen Militärkarten vergleichbar wären. Aber Bistritz, die Poststation, die Graf Dracula genannt hat, stellte sich als recht bekannter Ort heraus. Ich füge hier ein paar meiner Notizen ein, als Erinnerungsstütze, wenn ich Mina später von meiner Reise erzähle.

Die Bevölkerung von Transsilvanien setzt sich aus vier Nationalitäten zusammen: Im Süden leben Sachsen gemeinsam mit den Walachen, die von den Dakern abstammen; im Westen die Magyaren und im Osten und Norden die Szekler. Ich reise zu den Letzteren, die sich selbst als Nachkommen Attilas und der Hunnen sehen. Das kann durchaus sein, denn als die Magyaren im 11. Jahrhundert das Land eroberten, war es von Hunnen besiedelt. Ich habe gelesen, dass in dem Hufeisen der Karpaten jede nur denkbare Art von Aberglauben vorkommen soll, als sei es das Zentrum wirbelnder Phantastereien. Wenn das zutrifft, verspricht mein Aufenthalt spannend zu werden. (N.B.: Ich muss unbedingt den Grafen danach fragen.)

Ich schlief nicht gut, obgleich das Bett recht bequem war, aber mich plagten alle möglichen sonderbaren Träume. Unter meinem Fenster heulte die ganze Nacht ein Hund, das hat sicher dazu beigetragen; oder es war das Paprikagewürz, denn ich hatte zwar meine ganze Wasserkaraffe leer getrunken, war aber trotzdem noch durstig. Gegen Morgen schlief ich dann ein und wurde erst von einem hartnäckigen Klopfen an meiner Tür geweckt, also nehme ich an, dass ich doch tief geschlafen haben muss. Zum Frühstück gab es noch mehr Paprika und eine Art Maisbrei, der »Mamaliga« heißt, und Aubergine mit Hackfleisch gefüllt, ein vorzügliches Gericht, das sie »Impletata« nennen. (N.B.: Ebenfalls Rezept besorgen.) Ich musste mich mit dem Frühstück beeilen, denn der Zug fuhr kurz vor acht, zumindest sollte er das, doch nachdem ich um 7.30 zum Bahnhof gehetzt war, saß ich über eine Stunde im Waggon, bis wir endlich abfuhren. Mir scheint, je weiter man nach Osten kommt, desto unpünktlicher sind die Züge. Wie mag es da erst in China zugehen?

Den ganzen Tag bummelte der Zug durch eine Landschaft, die in jeder Hinsicht von überwältigender Schönheit war. Manchmal sah man kleine Städtchen oder Burgen auf steilen Felsen, so wie man sie aus alten Messbüchern kennt. Manchmal fuhren wir an Bächen und Flüssen entlang, deren breite Kiesufer auf gelegentliche Hochwasser hindeuteten. Es bedarf großer Wassermassen und einer heftigen Strömung, um die Ränder eines Flusses derart auszuwaschen. An jedem Bahnhof standen mal kleinere, mal dicht gedrängte Menschengruppen in allen möglichen Trachten. Manche sahen genauso aus wie unsere Bauern zu Hause oder diejenigen, die ich auf der Durchfahrt in Frankreich und Deutschland gesehen habe, mit kurzen Jacken, runden Hüten und selbst geschneiderten Hosen. Andere hingegen waren sehr pittoresk. Die Frauen sahen hübsch aus, solange man sie nicht aus der Nähe betrachtete – um die Taille waren sie doch sehr füllig. Alle hatten sie Blusen mit weißen Puffärmeln an, und die meisten trugen breite Gürtel, von denen vielerlei Schnüre und Bänder herabhingen, die wie Ballettröckchen flatterten, natürlich mit Unterröcken darunter. Die fremdartigsten Gestalten waren die Slowaken. Mit ihren großen Hirtenhüten, schmutzigweißen Pluderhosen, weißen Leinenhemden und riesigen Ledergürteln, die wohl über eine Spanne breit und mit Messingnägeln beschlagen waren, wirkten sie wilder als der Rest. Ihre Hosenbeine steckten in Schaftstiefeln, sie hatten langes schwarzes Haar und buschige schwarze Schnurrbärte. Sie sehen sehr malerisch aus, aber wenig einnehmend. Auf der Bühne würden sie sofort als altorientalische Räuberbande durchgehen. Gleichwohl tun sie, wie man mir versicherte, keiner Fliege etwas zuleide und sind eher schüchtern.

Es war schon fast dunkel, als wir Bistritz erreichten, eine sehr interessante alte Stadt. Sie liegt praktisch an der Grenze – denn der Borgopass führt von hier in die Bukowina – und hat eine stürmische Geschichte, deren Spuren noch deutlich zu sehen sind. Vor fünfzig Jahren richteten sage und schreibe fünf Brände fürchterliche Verwüstungen an. Anfang des 17. Jahrhunderts widerstand die Stadt drei Wochen lang einer Belagerung, bei der 13 000 Einwohner umkamen; neben dem Krieg forderten auch Hunger und Epidemien ihre Opfer.

Graf Dracula hatte mir das Hotel Goldene Krone empfohlen, das zu meiner Freude ganz altmodisch war; natürlich will ich so viel wie möglich von der ursprünglichen Lebensweise des Landes kennenlernen. Ich wurde offensichtlich erwartet, denn als ich mich dem Eingang näherte, kam mir eine fröhlich aussehende ältere Frau in der üblichen Landestracht entgegen – ein weißes Unterkleid mit einem langen, beidseitig geschlitzten Rock aus buntem Stoff, der fast zu eng saß, um schicklich zu wirken. Sie verbeugte sich und fragte: »Der Herr Engländer?« »Ja«, antwortete ich, »Jonathan Harker.« Sie lächelte und sagte etwas zu einem betagten Mann in weißen Hemdsärmeln, der ihr zur Tür gefolgt war. Er entfernte sich, kehrte aber sogleich mit einem Brief zurück:

Lieber Freund, – willkommen in den Karpaten! Ich erwarte Sie sehnsüchtig. Schlafen Sie gut heute Nacht. Morgen um drei Uhr geht die Postkutsche in die Bukowina ab, darin ist ein Platz für Sie reserviert. Am Borgopass wartet meine Kalesche auf Sie, die Sie zu mir bringen wird. Ich hoffe, dass Sie eine gute Reise von London hierher hatten und dass Sie Ihren Aufenthalt in meinem schönen Land genießen werden.

Ihr Freund

Dracula

4. Mai. — Mein Wirt war in einem Brief vom Grafen angewiesen worden, mir den besten Platz in der Postkutsche zu sichern. Doch als ich Genaueres erfahren wollte, hielt er sich bedeckt und gab vor, mein Deutsch nicht zu verstehen. Das konnte aber nicht stimmen, denn bis dahin hatte er meine Fragen immer so beantwortet, als verstünde er sie genau. Er und seine Gattin, die alte Frau, die mich zuerst begrüßt hatte, blickten sich ängstlich an. Er murmelte so etwas wie, das Geld sei in einem Brief geschickt worden, mehr wisse er nicht. Als ich ihn fragte, ob er Graf Dracula kenne und mir etwas über seine Burg erzählen könne, bekreuzigten sich beide, sagten, sie wüssten von nichts, und verweigerten jede weitere Auskunft. So kurz vor der Abfahrt konnte ich niemand anderen mehr fragen, aber es war doch alles recht geheimnisvoll und wenig Vertrauen erweckend.

Ich wollte gerade aufbrechen, da kam die alte Dame in mein Zimmer herauf und sagte in schon hysterischem Tonfall: »Müssen Sie gehen? Ach, junger Herr, müssen Sie denn gehen?« Sie war so aufgeregt, dass sie ihr bisschen Deutsch durcheinanderbrachte und mit irgendeiner anderen Sprache vermischte, die ich beim besten Willen nicht verstand. Ich konnte ihr gerade soeben folgen, indem ich ständig dazwischenfragte. Als ich ihr sagte, ich müsse sofort aufbrechen, ich hätte Geschäftliches zu erledigen, fragte sie wieder:

»Wissen Sie, was für ein Tag heute ist?« Ich erwiderte, es sei der vierte Mai. Sie schüttelte den Kopf:

»Ja, natürlich! Das weiß ich, das weiß ich selber. Aber wissen Sie, was das für ein Tag ist?« Auf meine Antwort, dass ich sie nicht verstünde, fuhr sie fort:

»Es ist der Vorabend von Sankt Georg. Wissen Sie denn nicht, dass heute um Mitternacht, wenn die Glocke schlägt, alles Böse in der Welt die Macht übernimmt? Wissen Sie, wohin Sie fahren und was Sie erwartet?« Sie war so verstört, dass ich sie zu beruhigen suchte, aber vergebens. Schließlich fiel sie auf die Knie und flehte mich an, nicht zu fahren oder wenigstens noch ein oder zwei Tage mit dem Aufbruch zu warten. Es war überaus lächerlich, aber mir wurde nicht wohl dabei. Andererseits hatte ich geschäftliche Angelegenheiten zu erledigen, und nichts durfte mich daran hindern. Ich versuchte daher, sie wieder aufzurichten, und sagte so ernst ich konnte, dass ich ihr herzlich danke, dass aber mein Auftrag keinen Verzug dulde und ich abfahren müsse. Da erhob sie sich und wischte sich die Augen. Sie löste die Kette mit dem Kruzifix von ihrem Hals und reichte sie mir. Ich wusste nicht, was tun, denn als Anglikaner bin ich dazu erzogen worden, solche Dinge für Götzendienst zu halten, doch kam es mir sehr unfreundlich vor, eine alte Dame zurückzuweisen, die es nur gut meinte und noch dazu in einem solchen Zustand war. Sie sah vermutlich den Zweifel in meinem Gesicht, denn sie legte mir den Rosenkranz um mit den Worten: »Ihrer Mutter zuliebe« und ging hinaus. Ich schreibe diesen Teil des Tagebuchs, während ich auf die Kutsche warte, die natürlich Verspätung hat, und das Kruzifix trage ich immer noch um den Hals. Ob es an der Angst der alten Frau liegt oder an den vielen Geistergeschichten in diesem Land oder am Kruzifix selbst, weiß ich nicht, aber ich fühle mich nicht annähernd so unbeschwert wie sonst. Sollte dieses Buch Mina je vor mir erreichen, so bringe es ihr meinen letzten Gruß. Da kommt die Kutsche!

5. Mai. Die Burg. — Die Morgendämmerung ist gewichen, und die Sonne steht hoch über dem fernen Horizont, der gezackt erscheint, ob durch Baumwipfel oder Berggipfel, weiß ich nicht, denn er ist so weit weg, dass große und kleine Dinge fast ununterscheidbar ineinander übergehen. Ich bin nicht schläfrig, und da ich morgen nicht geweckt werde, schreibe ich noch ein bisschen, bis der Schlaf mich übermannt. Eine Menge seltsamer Dinge sind zu berichten, und damit niemand, der dies hier liest, glaubt, ich hätte vor meiner Abfahrt in Bistritz zu gut gegessen, folgt hier die genaue Speisefolge meines Mittagessens. Ich aß einen so genannten »Räuberspieß« – Speck, Zwiebeln und Rindfleisch, mit Paprika gewürzt und auf Spießen über dem Feuer geröstet, wie das Londoner Katzenfutter. Der Wein war ein Goldener Mediasch, der auf der Zunge merkwürdig beißt, was aber keineswegs unangenehm ist. Ich trank nur ein paar Gläser davon und sonst nichts.

Als ich in die Kutsche stieg, saß der Fahrer noch nicht auf dem Kutschbock, er unterhielt sich mit der Wirtin. Sie sprachen offenbar über mich, denn hin und wieder sahen sie zu mir herüber, und ein paar Leute, die vor der Tür auf der Bank saßen – die hier in der Landessprache so etwas wie »Nachrichtenbote« heißt –, gesellten sich zu ihnen, hörten zu und beäugten mich dann ebenfalls, die meisten mit mitleidigen Blicken. Einige Worte fielen öfter als andere, eigentümliche Worte, denn mehrere Nationalitäten nahmen an dem Gespräch teil. So holte ich unauffällig mein mehrsprachiges Wörterbuch aus der Reisetasche und schlug nach. Ich muss gestehen, dass das Ergebnis meine Laune nicht gerade hob, denn ich fand »Ordog«: Satan – »Pokol«: Hölle – »Stregoica«: Hexe – »Vrolok« und »Vlkoslak«, was beides das Gleiche bedeutet, das eine ist Slowakisch, das andere Serbisch für Werwolf oder Vampir. (N.B.: Ich muss den Grafen über diese abergläubischen Dinge befragen.)

Als wir losfuhren, bekreuzigten sich die Leute vor dem Wirtshaus, deren Zahl mittlerweile beträchtlich angewachsen war, und zeigten mit zwei Fingern auf mich. Nach einiger Mühe brachte ich einen Mitreisenden dazu, mir zu sagen, was das zu bedeuten hatte. Er wollte zunächst nicht antworten, doch als er erfuhr, dass ich Engländer bin, erklärte er, es handle sich um einen magischen Schutz gegen den bösen Blick. Das war nicht sonderlich erheiternd für jemanden, der gerade zu einem unbekannten Ort aufbrach, um einen unbekannten Mann zu treffen. Aber alle wirkten so freundlich und bekümmert und mitfühlend, dass ich mich einer gewissen Rührung nicht erwehren konnte. Ich werde nie das entschwindende Bild des Gasthofs und die malerische Menschengruppe vergessen. Alle bekreuzigten sich und drängten in den breiten Torbogen, im Hintergrund die reich belaubten Oleanderbüsche und Orangenbäume, die in grünen Kübeln in der Mitte des Hofs standen. Dann ließ unser Kutscher, dessen weite Leinenhose den ganzen Kutschbock bedeckte – »Gotza« wird sie genannt –, die Peitsche über den vier kleinen, nebeneinander angeschirrten Pferden knallen, und unsere Reise ging los.

Auf der Fahrt durch die eindrucksvoll schöne Landschaft löste sich die Erinnerung an abergläubische Ängste bald in nichts auf. Hätte ich allerdings die Sprache – oder vielmehr die Sprachen – verstanden, in denen sich meine Mitreisenden unterhielten, dann hätte ich sie vielleicht nicht so leicht abgeschüttelt. Vor uns lag ein grünes, sanft gewelltes Land voller Wälder, hier und da eine jähe Kuppe, von einer Baumgruppe oder einem Bauernhaus bekrönt, das seine kahle Giebelwand der Landstraße zukehrte. Überall standen die Obstbäume in verschwenderischer Blüte – Apfel, Pflaume, Birne, Kirsche. Und im Vorbeifahren sah ich das Gras unter den Bäumen von Blütenblättern übersät. Durch diese grüne Hügelwelt, die man hier das »Mittelland« nennt, führte die Landstraße, verlor sich mal hinter einer grasbewachsenen Kurve oder wurde von Ausläufern der Kiefernwälder verdeckt, die stellenweise wie Flammenzungen von den Berghängen herunterleckten. Die Straße war holprig, aber dennoch flogen wir wie in fiebriger Hast darüber hin. Ich konnte nicht ahnen, was diese Eile bedeutete, aber der Kutscher war offenbar wild entschlossen, bis Borgóprund keine Zeit zu verlieren. Mir wurde gesagt, diese Landstraße sei im Sommer in hervorragendem Zustand, aber nach dem letzten Winter noch nicht wieder hergerichtet. In dieser Hinsicht unterscheidet sie sich vom Gros der anderen Landstraßen in den Karpaten, denn traditionsgemäß werden sie gar nicht in Schuss gehalten. Die Hospodaren setzten sie seit jeher nicht in Stand, um den Türken nicht das Gefühl zu geben, sie wollten fremde Truppen in ihr Land holen und so das Pulverfass zum Explodieren bringen, auf dem sie sowieso immer saßen.

Hinter den grünen welligen Hügeln des Mittellandes stiegen mächtige bewaldete Hänge zu den steilen Höhen der Karpaten an. Rechts und links von uns ragten sie im Licht der Nachmittagssonne empor, das all die prächtigen Farben dieses majestätischen Gebirgszugs zum Vorschein brachte – das tiefe Blau und Violett im Schatten der Gipfel, das Grün und Braun, wo Gras und Fels abwechselten – und einen schier endlosen Ausblick auf schroffe Felsen und spitze Klippen, bis diese sich in der Ferne verloren, wo die verschneiten Gipfel riesenhaft am Horizont standen. Hier und da zeigten sich mächtige Risse in den Bergen, aus denen wir, als die Sonne zu sinken begann, immer wieder Wasserfälle weißschäumend hervorblinken sahen. Einer meiner Reisegefährten tippte mich an, als wir um den Fuß eines Berges herumfuhren und sich vor uns der Blick auf einen hohen, schneebedeckten Gipfel öffnete, der, während wir uns die Serpentinen hinaufwanden, unmittelbar vor uns aufragte:

»Sehen Sie! Isten szek!« – »Gottes Stuhl!« Er bekreuzigte sich fromm. Während wir unserem endlos gewundenen Weg folgten und die Sonne hinter uns immer tiefer sank, krochen ringsherum die Abendschatten hervor. Dieser Eindruck wurde noch dadurch verstärkt, dass die mit Firn bedeckte Bergspitze von den letzten Sonnenstrahlen in einem zarten Blassrosa erglühte. Hin und wieder kamen wir an Tschechen und Slowaken vorbei, alle in malerischer Tracht, aber mir fiel auf, dass erschreckend viele an Kröpfen litten. Der Wegesrand war von zahlreichen Kruzifixen gesäumt, und wenn wir daran vorbeifuhren, bekreuzigten sich meine Mitreisenden alle. Auch sah man manchmal einen Bauern oder eine Bäuerin vor einem Bildstock knien; sie drehten sich nicht um, wenn wir näher kamen, sondern schienen so in ihre fromme Andacht versunken, dass sie für die Außenwelt weder Augen noch Ohren hatten. Vieles war neu für mich: zum Beispiel Heumieten in den Bäumen und hier und da Haine von wunderschönen Trauerbirken, deren weiße Stämme silbrig durch das zartgrüne Laub schimmerten. Dann und wann passierten wir einen Leiterwagen – das übliche Bauerngefährt mit seiner langen, wirbelartigen Vorrichtung, die zum Ausgleich von Unebenheiten auf der Landstraße dient. Auf ihnen hockten regelmäßig große Gruppen heimkehrender Bauern, die Tschechen in ihren weißen und die Slowaken in ihren gefärbten Schafspelzen, wobei Letztere ihre langstieligen Äxte wie Lanzen hielten. Als sich der Abend herabsenkte, wurde es empfindlich kalt, und die zunehmende Dämmerung schien die Schatten der Bäume – Eichen, Birken und Kiefern – zu einem dunklen Gespinst zu verweben. Die vereinzelten schwarzen Fichten in den tief eingeschnittenen Tälern hoben sich hingegen scharf vor dem Hintergrund der letzten Schneereste ab. Manchmal führte der Weg durch Kiefernwälder, die in der Dunkelheit über uns zusammenzuschlagen schienen. Stellenweise schwebten große graue Dunstschleier über den Bäumen, die der Landschaft einen unheimlichen, feierlichen Charakter gaben und die Gedanken und düsteren Bilder vom früheren Abend wachriefen, als die letzten Strahlen der untergehenden Sonne den geisterhaften Wolken, die sich offenbar unaufhörlich durch die Täler der Karpaten schieben, eine seltsam reliefartige Tiefe verliehen hatten. Manchmal waren die Berge so steil, dass die Pferde trotz der Ungeduld unseres Kutschers nur Schritt gehen konnten. Ich wäre gern ausgestiegen und neben ihnen hergegangen, wie wir das zu Hause machen, aber der Fahrer wollte nichts davon hören. »Nein, nein«, sagte er, »Sie dürfen hier nicht zu Fuß gehen. Die Hunde sind zu wild.« Dann versuchte er offensichtlich, einen grimmigen Scherz zu machen, denn er sah sich nach dem beifälligen Grinsen der anderen um: »Und von solchen Dingen werden Sie vielleicht noch genug erleben, bevor Sie schlafen gehen.« Nur einmal hielt er kurz, um seine Lampen anzuzünden.

Als es dunkel wurde, machte sich unter den Reisenden eine gewisse Aufregung breit, und sie drängten den Kutscher abwechselnd, doch schneller zu fahren. Unbarmherzig drosch er mit seiner langen Peitsche auf die Pferde ein und feuerte sie mit wilden Schreien an. Da entdeckte ich vor uns in der Dunkelheit einen grauen Lichtschein, als klaffte zwischen den Bergen ein Spalt. Die Erregung der Passagiere nahm zu. Die Kutsche hüpfte wie verrückt auf ihrer ledernen Federung und schwankte wie ein Schiff auf stürmischer See. Ich musste mich festhalten. Die Straße wurde ebener, und wir flogen geradezu voran. Dann schienen die Felswände von beiden Seiten näher zu kommen und finster auf uns hinabzuschauen. Wir hatten den Borgopass erreicht. Einer nach dem anderen boten mir die Mitreisenden nun Geschenke an, die sie mir mit solchem Ernst aufdrängten, dass ich sie schlecht ablehnen konnte. Es war ein komisches Sammelsurium, doch jeder Gegenstand wurde mir in gutherziger Absicht, mit einem freundlichen Wort und Segenswunsch und mit jener seltsamen Mischung angstvoller Gebärden überreicht, die mir schon vor dem Hotel in Bistritz aufgefallen waren – dem Kreuzeszeichen und der Abwehr des bösen Blicks. Und wie wir so dahinrasten, beugte sich der Kutscher vor, und die Mitreisenden lehnten sich seitlich zu den Fenstern hinaus und starrten gebannt in die Dunkelheit. Es war klar, dass hier etwas höchst Faszinierendes vor sich ging oder erwartet wurde, aber ich konnte fragen, wen ich wollte, keiner war bereit, mir auch nur die geringste Erklärung zu geben. Die allgemeine Spannung hielt noch eine Weile an, bis sich der Pass schließlich gen Osten öffnete. Dunkel aufgetürmte Wolken zogen über den Himmel, und die Luft war schwül und drückend wie vor einem Gewitter. Es schien, als wäre der Gebirgszug die Scheide zwischen zwei Wetterzonen, und wir gerieten nun mitten hinein in die Unwetterfront. Ich hielt nach der Kalesche Ausschau, die mich zu dem Grafen bringen sollte. Jeden Augenblick erwartete ich, Laternen in der Schwärze aufblitzen zu sehen, doch blieb alles dunkel. Das einzige Licht kam von unseren Kutschlampen, und in deren flackerndem Schein stieg der Dampf von unseren verschwitzten Pferden in weißen Schwaden auf. Die sandige Landstraße lag hell schimmernd vor uns, aber von einer Kalesche keine Spur. Die Mitreisenden lehnten sich mit einem Seufzer der Erleichterung zurück, der meiner eigenen Enttäuschung Hohn sprach. Ich überlegte bereits, was ich nun tun sollte, als der Kutscher auf seine Uhr sah und zu den anderen etwas sagte, was ich kaum hören konnte, so leise war es gesprochen. Mir schien, er hätte gesagt: »Eine Stunde vor der Zeit.« Dann wandte er sich an mich und meinte in einem Deutsch, das noch schlechter war als meins:

»Hier ist keine Kutsche. Der Herr werden doch nicht erwartet. Er kommen mit nach Bukowina und kehren morgen zurück oder am nächsten Tag. Besser am nächsten Tag.« Während er sprach, begannen die Pferde zu wiehern und zu schnauben und wild auszuschlagen, so dass er sie zügeln musste. Da näherte sich von hinten eine vierspännige Kalesche, setzte zum Überholen an und machte, unter dem Geschrei und allgemeinen Bekreuzigungen der Einheimischen, neben uns Halt. Im Schein unserer Lampen war zu erkennen, dass die Pferde pechschwarze edle Tiere waren. Sie wurden von einem hochgewachsenen Mann mit langem, braunem Bart gelenkt, dessen Gesicht sich unter einem großen, schwarzen Hut verbarg. Als er sich uns zuwandte, konnte ich nur das Funkeln zweier stechender Augen sehen, die im Lampenlicht rot erschienen. Er sagte zum Kutscher:

»Du bist früh dran heute Abend, mein Freund.« Der Mann stammelte:

»Der englische Herr hatte es sehr eilig.« Worauf der Fremde erwiderte:

»Deshalb wolltest du ihn wohl mit in die Bukowina nehmen! Mir kannst du nichts vormachen, Freundchen. Ich weiß zu viel, und meine Pferde sind schnell.« Er lächelte, doch im Licht wirkte sein Mund mit den auffallend roten Lippen und scharfen, elfenbeinweißen Zähnen hart. Einer meiner Reisegefährten flüsterte einem anderen die Zeile aus Bürgers »Lenore« zu:

»Denn die Toten reiten schnell…«

Der Fremde hatte die Worte offenbar gehört, denn er sah mit blitzendem Grinsen auf. Der Reisende wandte sein Gesicht ab, streckte gleichzeitig zwei Finger vor und bekreuzigte sich. »Gib mir das Gepäck des Herrn«, sagte der Fremde, und eilfertig wurden meine Taschen hinausgereicht und in der Kalesche verstaut. Dann stieg ich aus der Kutsche, und da die Kalesche gleich neben uns stand, kam mir der Fahrer mit einer Hand zu Hilfe. Mit stählernem Griff hielt er meinen Arm; seine Kraft musste gewaltig sein. Ohne ein Wort nahm er die Zügel auf, die Pferde machten kehrt und jagten auf den dunklen Pass zu. Als ich mich umdrehte, sah ich im Lampenlicht den Dampf der Kutschpferde und die Silhouetten meiner Reisegefährten, die sich bekreuzigten. Dann knallte der Kutscher mit seiner Peitsche, rief seinen Pferden etwas zu, und schon waren sie auf dem Weg in die Bukowina.

Als sie sich im Dunkel verloren, spürte ich ein seltsames Frösteln und fühlte mich sehr allein. Doch da wurde mir ein Mantel übergeworfen und eine Decke über die Knie gelegt, und mein Fahrer sagte in tadellosem Deutsch:

»Die Nacht ist kalt, mein Herr, und mein Gebieter, der Graf, hat mir aufgetragen, in jeder Weise für Ihr Wohl zu sorgen. Dort unter dem Sitz ist eine Flasche Slivovitz (der Pflaumenschnaps des Landes), falls Sie welchen brauchen.« Ich nahm nichts davon, aber es war jedenfalls beruhigend zu wissen, dass es welchen gab. Ich hatte ein sonderbares und recht banges Gefühl. Hätte es irgendeine Alternative zu dieser Nachtfahrt ins Ungewisse gegeben, ich hätte mich gewiss dafür entschieden. Der Wagen fuhr mit rasantem Tempo geradeaus, dann machte er eine Kehrtwendung, und wir bogen in eine andere gerade Straße ein. Ich hatte den Eindruck, dass wir wieder und wieder die gleiche Strecke fuhren, daher merkte ich mir eine bestimmte Stelle und erkannte bald, dass es sich tatsächlich so verhielt. Ich hätte den Kutscher gerne gefragt, was das alles zu bedeuten hatte, aber ich scheute mich, denn wenn die Absicht bestand, Zeit zu schinden, dann hätte ein Einspruch in meiner Lage nichts gefruchtet. Auf die Dauer wollte ich allerdings doch wissen, wie viel Zeit vergangen war; ich zündete also ein Streichholz an und sah im Flammenschein auf die Uhr. Es war wenige Minuten vor Mitternacht. Das jagte mir einen regelrechten Schrecken ein, denn ich war durch meine jüngsten Erlebnisse nicht eben unempfänglich für den Aberglauben geworden, der sich gemeinhin mit Mitternacht verbindet. Eine unbehagliche Spannung bemächtigte sich meiner.

Irgendwo auf einem Bauernhof weiter unten an der Landstraße begann plötzlich ein Hund zu heulen – ein langgezogenes, gequältes Jaulen, als hätte er Angst. Ein anderer Hund fiel ein, und dann folgte ein weiterer und noch einer, bis der Wind, der sich nun sanft erhoben hatte, ein wildes Geheul durch den Pass trug, das aus allen Winkeln des Landes zu kommen schien, so weit wie es sich die Phantasie im Dunkel der Nacht nur vorstellen mochte. Beim ersten Heulen scheuten die Pferde, doch der Kutscher sprach besänftigend auf sie ein, worauf sie sich zwar beruhigten, aber dennoch zitterten und schwitzten wie nach einer panischen Flucht. Dann erscholl aus größerer Ferne und von den Berghängen rechts und links von uns ein lauteres und durchdringenderes Geheul – das von Wölfen. Es hatte auf die Pferde die gleiche Wirkung wie auf mich – ich verspürte den Drang, sofort aus der Kalesche zu springen und das Weite zu suchen, während sie wie verrückt ausschlugen und sich aufbäumten, so dass der Kutscher seine ganze Kraft aufwenden musste, damit sie nicht durchgingen. Doch nach ein paar Minuten hatte ich mich an das Geheul gewöhnt, und die Pferde wurden so weit ruhig, dass der Kutscher absteigen und sich vor sie stellen konnte. Er tätschelte und beschwichtigte sie und flüsterte ihnen ins Ohr, wie Pferdebändiger es angeblich tun, was erstaunlichen Erfolg zeitigte, denn unter seiner Zuwendung wurden sie recht fügsam, auch wenn sie immer noch zitterten. Der Kutscher nahm wieder seinen Platz ein und hob die Zügel, und los ging’s in rascher Fahrt. Diesmal bog er jenseits des Passes unvermittelt scharf rechts in einen engen Hohlweg ab.

Bald waren wir von Bäumen umschlossen, die den Weg überwölbten, so dass wir durch eine Art Tunnel fuhren. Erneut bewachten uns auf beiden Seiten hohe finstere Felsen. Obwohl wir geschützt waren, konnten wir hören, dass der Wind zunahm, denn er pfiff und jammerte in den Felsklüften, und die Äste der Bäume schlugen über uns zusammen. Es wurde immer kälter, und feiner Pulverschnee begann zu fallen. Bald waren wir und alles um uns herum von einer dünnen weißen Schicht bedeckt. Der scharfe Wind trug noch immer das Jaulen der Hunde zu uns, auch wenn es allmählich leiser wurde. Das Heulen der Wölfe dagegen klang näher und näher, als würden sie uns einkreisen. Ich bekam entsetzliche Furcht, und den Pferden ging es ebenso. Doch der Kutscher zeigte sich nicht im Mindesten beeindruckt. Er wendete seinen Kopf nach links und nach rechts, während ich im Dunkeln nichts erkennen konnte.

Auf einmal sah ich linker Hand eine schwache blaue Flamme flackern. Der Kutscher entdeckte sie im gleichen Moment. Er hielt sofort die Pferde an, sprang ab und verschwand in der Dunkelheit. Ich war völlig ratlos, was nun zu tun sei, zumal das Heulen der Wölfe immer näher kam. Aber während ich noch überlegte, kehrte der Kutscher plötzlich zurück, setzte sich wortlos auf seinen Bock, und die Fahrt ging weiter. Dann bin ich wohl eingeschlafen und habe von dem Vorfall geträumt, denn er wiederholte sich scheinbar unendlich oft, und noch jetzt im Rückblick kommt mir das Ganze wie ein bedrückender Albtraum vor. Einmal tauchte die Flamme so nah am Wegesrand auf, dass ich trotz der Dunkelheit beobachten konnte, was der Kutscher tat. Er ging schnurstracks zu der Stelle, wo die blaue Flamme aufgeflackert war – sie muss sehr schwach gewesen sein, denn nichts in ihrem Umkreis wurde von ihr erleuchtet –, und sammelte dort ein paar Steine und legte sie zu einer Art Zeichen zusammen. Ein anderes Mal beobachtete ich ein seltsames Phänomen: Als er zwischen mir und der Flamme stand, verdeckte er sie nicht, denn ich konnte ihre Spukgestalt durch ihn hindurch sehen. Das erschreckte mich, aber da der Eindruck nur flüchtig war, kam ich zu dem Schluss, dass mich meine Augen infolge der Anstrengung, die Dunkelheit zu durchdringen, getäuscht hatten. Dann waren eine Weile keine blauen Flammen mehr zu sehen, und wir sausten durch die Finsternis, begleitet vom Geheul der Wölfe, die uns in kreisender Bewegung zu folgen schienen.

Einmal entfernte sich der Kutscher weiter als zuvor, und in seiner Abwesenheit begannen die Pferde noch schlimmer zu zittern und vor Furcht zu schnauben und zu wiehern. Ich konnte keinen Grund dafür erkennen, denn die Wölfe waren verstummt. Aber eben da erschien inmitten schwarz vorbeiziehender Wolken der Mond hinter dem gezackten Kamm eines kiefernbestandenen Felsvorsprungs, und in seinem Licht sah ich um uns einen Ring von Wölfen mit gebleckten Zähnen und hechelnden Zungen, mit langen sehnigen Gliedern und struppigem Fell. In ihrer grimmigen Lautlosigkeit waren sie noch hundertmal grässlicher als mit ihrem Geheul. Ich selbst war vor Angst wie gelähmt. Erst im Angesicht solcher Schrecken versteht ein Mensch ihre wahre Tragweite.

Auf einmal begannen die Wölfe wieder zu heulen, als hätte das Mondlicht eine besondere Wirkung auf sie. Die Pferde bäumten sich auf und blickten mit so hilflos rollenden Augen umher, dass es einem in der Seele wehtat. Doch der lebendige Ring des Grauens umgab sie auf allen Seiten, und notgedrungen mussten sie an Ort und Stelle bleiben. Ich rief nach dem Kutscher, denn unsere einzige Chance schien mir, durch den Ring auszubrechen. Ich schrie und trommelte gegen die Wand der Kalesche, um mit dem Lärm die Wölfe auf dieser Seite einzuschüchtern und ihm einen Vorstoß zum Wagen zu ermöglichen. Plötzlich hörte ich den gebieterischen Befehlston seiner Stimme, und da stand er mitten auf dem Fahrweg – wie er dorthin gekommen war, weiß ich nicht. Er ruderte mit seinen langen Armen, als räumte er irgendwelche unsichtbaren Hindernisse beiseite, und die Wölfe zogen sich immer weiter zurück. Genau in diesem Augenblick schob sich eine schwarze Wolke vor den Mond, und wir waren wieder von Dunkelheit umgeben.

Als ich wieder etwas erkennen konnte, kletterte der Kutscher auf seinen Platz. Die Wölfe waren verschwunden. Das alles war so seltsam und unheimlich, dass ich, vor Furcht gelähmt, weder sprechen noch mich rühren konnte. Dann schienen wir eine Ewigkeit unterwegs zu sein, fast in vollkommener Finsternis, denn die vorüberziehenden Wolken verdeckten den Mond. Wir fuhren weiter bergan, zwar mit kurzen abschüssigen Wegstrecken, doch in der Hauptsache ging es immer aufwärts. Auf einmal kam mir zu Bewusstsein, dass der Kutscher die Pferde im Hof einer riesigen Burgruine zum Stehen brachte, aus deren großen schwarzen Fensterhöhlen kein Lichtschein drang und deren verfallene Zinnen sich in einer gezackten Linie gegen den mondhellen Himmel abhoben.

Kapitel 2

JONATHAN HARKERS REISETAGEBUCH

(Fortsetzung)

5. Mai. — Ich musste eingenickt sein, denn in vollständig wachem Zustand wäre mir die Anfahrt zu einem so ungewöhnlichen Ort sicher nicht entgangen. Im Dunkeln erweckte der Burghof den Eindruck beträchtlicher Größe, und da mehrere Gänge unter gewaltigen Rundbögen von ihm abführten, wirkte er vielleicht größer, als er in Wirklichkeit ist. Ich hatte bisher keine Gelegenheit, ihn bei Tageslicht zu besichtigen.

Als die Kalesche hielt, sprang der Kutscher ab und reichte mir die Hand, um mir beim Aussteigen zu helfen. Wiederum fiel mir seine enorme Kraft auf. Seine Hand war in der Tat wie ein stählerner Schraubstock, der die meine leicht hätte zerquetschen können, wenn er es gewollt hätte. Dann holte er mein Gepäck und stellte es neben mir auf dem Boden ab. Ich stand an einer mächtigen, mit großen Eisennägeln beschlagenen alten Tür, die in einen vorspringenden klobigen Türrahmen aus Stein eingelassen war. Trotz des trüben Lichts waren grobe Steinmetzarbeiten daran zu erkennen, die allerdings durch Zeit und Witterung stark gelitten hatten. Sodann sprang der Kutscher wieder auf seinen Bock und nahm die Zügel; die Pferde ruckten an, und die Kalesche mit allem drum und dran verschwand in einem der dunklen Rundbögen.

Ich blieb still stehen, denn ich hatte keine Ahnung, was ich tun sollte. Weder gab es eine Glocke noch einen Türklopfer. Und es war unwahrscheinlich, dass meine Stimme durch diese abweisenden Mauern und dunklen Fensterhöhlen dringen konnte. Die Zeit des Wartens schien endlos, und mich beschlichen Zweifel und Ängste. An welchen Ort war ich hier geraten und unter was für Menschen? Auf was für ein grausiges Abenteuer hatte ich mich eingelassen? Gehörte das zu den üblichen Obliegenheiten im Leben eines Kanzleiangestellten, der gesandt worden war, einem Ausländer die Kaufbedingungen für ein Londoner Anwesen zu erklären? Kanzleiangestellter? Mina wäre empört. Anwalt! – denn kurz vor meiner Abreise aus London erhielt ich die Nachricht, dass ich meine Prüfung bestanden habe. Jetzt bin ich vollgültiger Anwalt. Ich begann mir die Augen zu reiben und mich zu kneifen, um festzustellen, ob ich wirklich wach war. Mir kam alles wie ein grässlicher Albtraum vor, und ich erwartete, jeden Moment zu Hause aufzuwachen, mit dem anbrechenden Tageslicht im Fenster, so wie ich es manchmal am Morgen nach einem Tag mit zu vielen Überstunden erlebt habe. Doch meine Haut reagierte auf die Kneifprobe, und meine Augen ließen sich nicht täuschen. Ich war tatsächlich wach und mitten in den Karpaten. Ich konnte also nichts anderes tun, als geduldig darauf zu warten, dass es hell wurde.

Kaum hatte ich diesen Entschluss gefasst, da näherten sich hinter der großen Tür schwere Schritte und durch die Ritzen schimmerte Licht. Dann hörte ich das Rasseln von Ketten und das Klacken massiver Riegel. Ein Schlüssel drehte sich knirschend im Schloss, das offenbar lange nicht benutzt worden war, und schließlich schwang die große Tür auf.

Dahinter stand ein hochgewachsener alter Mann, glatt rasiert (mit Ausnahme eines langen weißen Schnurrbarts) und von Kopf bis Fuß schwarz gekleidet – keine Spur von Farbe an ihm. In der Hand hielt er einen antiken Silberleuchter, dessen Flamme ohne den Schutz von Zylinder oder Glaskugel brannte. Im Luftzug der offenen Tür flackerte sie und warf lange zitternde Schatten. Der alte Mann winkte mich höflich herein und sagte in exzellentem, aber seltsam betontem Englisch:

»Willkommen in meinem Haus! Treten Sie ein, ungehindert und aus freien Stücken!« Er kam mir keinen Schritt entgegen, sondern stand dort wie eine Statue, als hätte seine Willkommensgeste ihn in Stein verwandelt. Doch in dem Augenblick, als ich die Schwelle überschritten hatte, kam er geradezu überschwänglich auf mich zu, reichte mir die Hand und drückte meine dabei so fest, dass ich vor Schmerz zusammenfuhr – eine Empfindung, die keineswegs dadurch gemildert wurde, dass sich die Hand eiskalt anfühlte – wie die Hand eines Toten. Er sagte noch einmal:

»Willkommen in meinem Haus! Treten Sie ungehindert ein. Scheiden Sie gesund und munter und lassen Sie etwas von dem Glück da, das Sie mit sich bringen!« Der schmerzhafte Händedruck glich so sehr dem Griff des Kutschers, dessen Gesicht ich nicht hatte erkennen können, dass ich einen Augenblick zweifelte, ob ich nicht mit derselben Person sprach. Um sicherzugehen, sagte ich zögernd:

»Graf Dracula?« Er verbeugte sich höflich und antwortete:

»Ich bin Dracula, und ich heiße Sie, Mr. Harker, in meinem Haus willkommen. Treten Sie ein. Die Nachtluft ist kalt, und Sie müssen etwas essen und sich ausruhen.« Damit stellte er den Leuchter auf einer Konsole an der Wand ab, ging hinaus, nahm mein Gepäck und hatte es hereingetragen, ehe ich ihm zuvorkommen konnte. Ich protestierte, aber er ließ sich nicht beirren:

»Nein, Sir, Sie sind mein Gast. Es ist spät, und meine Leute sind nicht verfügbar. Erlauben Sie, dass ich selbst für Ihre Bequemlichkeit sorge.« Er ließ es sich nicht nehmen, mein Gepäck durch den Flur und dann eine breite Wendeltreppe hinauf zu tragen und danach durch einen weiteren langen Flur, von dessen Steinboden unsere Schritte laut widerhallten. Am Ende desselben stieß er eine wuchtige Tür auf, hinter der zu meiner Freude ein hell erleuchteter Raum mit einer zum Nachtmahl gedeckten Tafel lag. In dem großen Kamin prasselte ein Holzfeuer.

Der Graf setzte meine Koffer ab und schloss die Tür. Dann durchquerte er das Zimmer, öffnete eine weitere Tür zu einer kleinen achteckigen Kammer, die nur von einer einzigen Lampe erleuchtet wurde und, soweit ich sah, keinerlei Fenster aufwies. Am Ende dieser Kammer öffnete er noch eine Tür und bat mich mit einem Wink, näher zu treten. Es war ein erfreulicher Anblick: ein großes Schlafzimmer, ebenfalls erhellt und erwärmt von einem Holzfeuer, das röhrend in den weiten Rauchfang hinaufloderte. Der Graf stellte mein Gepäck im Zimmer ab und sagte, bevor er sich zurückzog:

»Nach der Reise bedürfen Sie sicherlich einer Erfrischung. Sie werden alles Nötige für Ihre Toilette finden. Wenn Sie fertig sind, kommen Sie ins vordere Zimmer, wo ein Nachtmahl für Sie bereitsteht.«

Das Licht, die Wärme und die zuvorkommende Begrüßung durch den Grafen hatten all meine Zweifel und Befürchtungen zerstreut. Ich fühlte mich innerlich wieder im Gleichgewicht und merkte jetzt, dass ich halb verhungert war. Also machte ich mich frisch und ging ins Speisezimmer.

Das Essen war bereits aufgetragen. Mein Gastgeber, der seitlich vom großen Kamin am Mauerwerk lehnte, lud mich mit eleganter Geste zu Tisch und sagte:

»Ich bitte Sie, Platz nehmen zu wollen und nach Belieben zu schmausen. Sie werden es mir sicher nachsehen, dass ich das Essen nicht mit Ihnen teile, aber ich habe schon diniert, und nachts esse ich nichts mehr.«

Ich reichte ihm den versiegelten Brief, den Mr. Hawkins mir für ihn mitgegeben hatte. Er öffnete ihn und las ihn konzentriert. Dann gab er ihn mir mit einem gewinnenden Lächeln zurück, so dass auch ich ihn lesen konnte. Zumindest eine Passage darin erfüllte mich mit Genugtuung:

»Ich bedaure sehr, dass ein Gichtanfall – mein chronisches Leiden – mir für die nächste Zeit das Reisen absolut unmöglich macht. Aber ich bin froh, Ihnen einen würdigen Stellvertreter schicken zu können, der mein volles Vertrauen genießt. Es ist ein tatkräftiger junger Mann mit besonderer Begabung und von großem Pflichtbewusstsein. Er ist diskret und verschwiegen und in der Zeit seiner Anstellung bei mir zum Manne gereift. Er wird Sie während seines Besuchs, wann immer Sie es wünschen, gern beraten und Ihre Anweisungen in allen Angelegenheiten entgegennehmen.«

Der Graf trat an den Tisch und hob persönlich die Haube von einer Schüssel; ich fiel sofort über ein exzellentes Brathühnchen her. Dies mit etwas Käse und Salat und einer Flasche altem Tokajer, von dem ich zwei Gläser trank, war mein Nachtmahl. Währenddessen stellte mir der Graf viele Fragen über meine Reise, und ich berichtete ihm nach und nach, was ich erlebt hatte.

Anschließend rückte ich auf Wunsch meines Gastgebers einen Stuhl ans Feuer und rauchte eine Zigarre, die er mir anbot – mit der Bitte um Nachsicht, dass er selbst nicht rauche. Ich hatte nun Gelegenheit, ihn näher zu betrachten, und muss zugeben, dass er sehr ausgeprägte Gesichtszüge hatte.

Mit der schmalen Adlernase und den eigentümlich gebogenen Nasenflügeln, der hochgewölbten Stirn und dem an den Schläfen spärlichen, sonst recht üppigen Haar hatte er etwas von einem Raubvogel. Seine mächtigen, buschig gekräuselten Augenbrauen stießen über der Nasenwurzel fast zusammen. Der Mund, soweit ich ihn unter dem Schnurrbart sehen konnte, wirkte ziemlich hart und grausam. Die ungewöhnlich scharfen, weißen Zähne standen über die Lippen vor, deren bemerkenswerte Röte eine erstaunliche Vitalität für einen Mann in seinem Alter verriet. Seine bleichen Ohren liefen auffallend spitz zu, das Kinn war breit und kräftig und die Wangen straff über die Knochen gespannt. Insgesamt erschien er außerordentlich blass.

Im Feuerschein betrachtete ich seine Hände, die auf seinen Knien ruhten. Bisher hatte ich sie eher für weiß und fein gehalten, doch jetzt aus der Nähe musste ich erkennen, dass sie doch recht klobig waren – breit mit kurzen Fingern. Sonderbarerweise wuchsen in der Mitte der Handflächen Haare. Die Fingernägel waren lang und gepflegt und spitz geschnitten. Als der Graf sich zu mir vorbeugte und mich mit seinen Händen berührte, empfand ich ein unwillkürliches Schaudern. Vielleicht lag es auch an seinem abstoßenden Mundgeruch, jedenfalls überkam mich eine Welle von Übelkeit, die ich beim besten Willen nicht unterdrücken konnte. Der Graf bemerkte es offenbar und wich zurück. Mit einer Art bitterem Lächeln, das seine vorstehenden Zähne noch deutlicher sehen ließ, lehnte er sich wieder auf seiner Seite des Kamins zurück. Wir schwiegen eine Weile. Ein Blick zum Fenster zeigte mir einen ersten matten Schimmer der Morgendämmerung. Eine sonderbare Stille schien auf allem zu lasten, doch als ich lauschte, hörte ich von weit unten aus dem Tal das Heulen vieler Wölfe. Mit funkelnden Augen bemerkte der Graf:

»Hören Sie nur – die Kinder der Nacht. Welch eine Musik sie machen!« Und da er wohl einen erstaunten Ausdruck auf meinem Gesicht sah, fügte er hinzu:

»Ach, Sir, ihr Stadtbewohner könnt euch doch nie in einen Jäger hineinversetzen.« Damit erhob er sich und sagte:

»Aber Sie müssen müde sein. Ihr Schlafgemach ist hergerichtet, und morgen können Sie ausschlafen so lange Sie wollen. Ich werde bis zum Nachmittag fort sein, also schlafen Sie gut und träumen Sie schön!« Mit einer höflichen Verbeugung öffnete er mir die Tür zu dem achteckigen Raum, und ich ging in mein Schlafzimmer

Ich bin in einem Zustand der Verwirrung. Ich zweifle, ängstige mich. Ich habe seltsame Gedanken, die ich nicht einmal mir selbst eingestehen mag. Gott beschütze mich, und wenn auch nur um derentwillen, die mir teuer sind!

7. Mai. — Es ist wieder früher Morgen, aber ich habe geruht und die letzten vierundzwanzig Stunden genossen. Ich schlief, bis ich spät am Tag von allein aufwachte. Nach dem Ankleiden ging ich ins Esszimmer und fand dort ein kaltes Frühstück aufgedeckt, nur der Kaffee wurde auf dem Kamingrill warm gehalten. Auf dem Tisch lag ein Kärtchen mit der Zeile:

»Ich muss für eine Weile fort, warten Sie nicht auf mich. – D.« Also nahm ich Platz und erfreute mich an einem herzhaften Mahl. Als ich fertig war, wollte ich nach den Bediensteten klingeln. Aber ich konnte keine Glocke finden. Es gibt wirklich merkwürdige Mängel in diesem Haus, wenn man den außerordentlichen Reichtum bedenkt, von dem man hier sonst umgeben ist. Das Tafelservice ist aus Gold und so elegant gearbeitet, dass es sehr viel wert sein muss. Die Vorhänge und die Bezüge der Sessel und Sofas sowie die Bettvorhänge sind aus den erlesensten und schönsten Stoffen und müssen ein Vermögen gekostet haben, als sie hergestellt wurden, denn sie sind zwar in bestem Zustand, doch jahrhundertealt. Etwas Vergleichbares habe ich nur in Hampton Court gesehen, aber dort waren sie verschlissen, ausgefranst und mottenzerfressen. Und dennoch gibt es in keinem der Zimmer einen Spiegel. Es steht noch nicht einmal ein Toilettenspiegel auf meinem Tisch, so dass ich meinen kleinen Handspiegel aus der Reisetasche holen musste, bevor ich mich rasieren oder kämmen konnte. Ich habe noch nirgendwo Dienstpersonal gesehen oder ein Geräusch aus dem Umkreis der Burg gehört, außer dem Heulen der Wölfe. Als ich mit dem Essen fertig war – ich weiß nicht, ob ich es Frühstück oder Abendessen nennen soll, denn es war zwischen fünf und sechs Uhr–, schaute ich mich nach etwas zum Lesen um. Ich wollte ohne Erlaubnis des Grafen nicht in der Burg herumstöbern. Aber im Zimmer fand sich absolut nichts, kein Buch, keine Zeitung, noch nicht einmal Schreibutensilien. Also öffnete ich eine andere Tür im Raum und stieß auf eine Art Bibliothek. Die Tür gegenüber meinem Schlafzimmer versuchte ich ebenfalls, sie war aber verschlossen.

In der Bibliothek entdeckte ich zu meiner freudigen Überraschung eine große Zahl englischer Bücher, ganze Regale voll, nebst gebundenen Jahrgängen von Illustrierten und Zeitungen. Auf einem Tisch in der Mitte lagen weitere englische Zeitschriften verstreut, allerdings keine neueren Datums. Die Bücher kamen aus allen möglichen Themenbereichen – Geschichte, Geographie, Politik, politische Ökonomie, Botanik, Geologie, Rechtswesen – alle mit einem Bezug zu England, englischem Leben, englischen Sitten und Gebräuchen. Es waren sogar Nachschlagewerke darunter wie das Londoner Adressbuch, das »Rote« und das »Blaue Buch«, Whitakers Almanach, die Ranglisten von Armee und Marine sowie – mein Herz wurde nachgerade erwärmt – das Anwaltsverzeichnis.

Während ich die Bücher begutachtete, ging die Tür auf, und der Graf trat ein. Er begrüßte mich herzlich und erkundigte sich, ob ich gut geschlafen hätte. Dann fuhr er fort:

»Ich freue mich, dass Sie hierher gefunden haben, denn ich bin sicher, es gibt hier gewisslich vieles, was Sie interessieren wird. Diese ›Freunde‹« – er legte seine Hand auf einen Stapel Bücher – »waren mir gute Begleiter und haben mir in den vergangenen Jahren, seit ich mit dem Gedanken spiele, nach London zu ziehen, viele, viele angenehme Stunden beschert. Durch sie habe ich Ihr großartiges Land kennengelernt, und es kennen heißt es lieben. Ich sehne mich danach, durch die bevölkerten Straßen Ihrer mächtigen Hauptstadt zu flanieren, mitten im Trubel und dem hektischen Treiben der Menschen, teilzuhaben an ihrem Leben, ihrem Wandel, ihrem Sterben und an allem, was diese Stadt zu dem macht, was sie ist. Aber zu meinem Leidwesen kenne ich Ihre Sprache nur aus Büchern. Auf Sie, mein Freund, hoffe ich, um sie sprechen zu lernen.«

»Aber Graf«, sagte ich, »Sie verstehen und sprechen hervorragend Englisch!« Er verbeugte sich würdevoll.

»Ich danke Ihnen, mein Freund, für Ihr allzu schmeichelhaftes Urteil, aber dennoch fürchte ich, dass ich erst ein kurzes Stück des Weges gegangen bin, der vor mir liegt. Wahrlich, ich kenne die Grammatik und die Wörter, aber ich weiß nicht, wie man sie ausspricht.«

»Wirklich«, sagte ich, »Sie sprechen ganz ausgezeichnet.«

»Nicht doch«, erwiderte er. »Ich weiß sehr wohl, dass man mir in London aufgrund meines Auftretens und meiner Aussprache sofort anmerken würde, dass ich ein Fremder bin. Das genügt mir nicht. Hier bin ich ein Adliger, ein Bojar. Das gemeine Volk kennt mich, und ich bin der Herr. Aber der Fremdling im fremden Land, er ist ein Niemand. Die Menschen kennen ihn nicht – und nicht kennen bedeutet nicht beachten. Ich bin zufrieden, wenn ich wie die anderen bin und niemand stehenbleibt, wenn er mich sieht; oder, wenn er mich reden hört, sagt: ›Haha, ein Fremder!‹ Ich bin schon so lange Herr, dass ich Herr bleiben will – wenigstens soll niemand Herr über mich sein. Sie kommen als Gesandter meines Freundes Peter Hawkins aus Exeter nicht nur zu mir, um mir alles über mein Anwesen in London zu berichten. Sie werden, so hoffe ich, eine Weile hier bei mir bleiben, so dass ich durch unsere Gespräche die englische Sprachmelodie erlerne. Und ich möchte, dass Sie es mir sagen, sollte ich einen Fehler machen, und sei er noch so gering. Es tut mit leid, dass ich heute so lange fort war. Aber ich weiß, dass Sie dem verzeihen, der sich um so viele wichtige Geschäfte kümmern muss.«

Natürlich sagte ich, er könne über mich verfügen, und fragte, ob ich die Bibliothek nach Belieben benutzen dürfe. Er antwortete: »Ja, selbstverständlich«, und fügte hinzu:

»Die ganze Burg steht Ihnen offen, bis auf die Räume, deren Türen abgeschlossen sind, aber dorthin werden Sie ohnehin nicht vordringen wollen. Es hat seinen Grund, dass alles so ist, wie es ist, und könnten Sie mit meinen Augen sehen und wüssten, was ich weiß, dann würden Sie vielleicht besser verstehen.« Ich sagte, davon sei ich überzeugt, und dann fuhr er fort:

»Wir sind in Transsilvanien, und Transsilvanien ist nicht England. Unsere Gepflogenheiten sind nicht die Ihren, und viel Sonderbares wird Ihnen begegnen. Jedoch nach allem, was Sie mir über Ihre Erlebnisse schon erzählt haben, wissen Sie ja einiges über die seltsamen Dinge, die sich hier zutragen können.«

Das führte zu einem ausführlichen Gespräch, und da es offenkundig war, dass er sich unterhalten wollte, rein um des Sprechens willen, stellte ich ihm viele Fragen über Dinge, die mir bereits zugestoßen oder aufgefallen waren. Bisweilen kam er vom Thema ab oder lenkte das Gespräch in eine andere Bahn, indem er so tat, als hätte er nicht richtig verstanden. Doch insgesamt beantwortete er alle meine Fragen überaus freimütig. Nach geraumer Zeit wurde ich kühner und wollte etwas über die sonderbaren Dinge der letzten Nacht erfahren, wie zum Beispiel, warum der Kutscher immer zu den Stellen lief, wo wir blaue Flammen gesehen hatten. Zeigten sie wirklich an, wo Gold versteckt war? Er erklärte dann, es sei ein weit verbreiteter Glaube, dass in einer bestimmten Nacht im Jahr – in der Tat die vergangene Nacht, in der vorgeblich alle bösen Geister ungehindert ihr Unwesen treiben können – überall dort, wo ein Schatz verborgen liegt, eine blaue Flamme tanze. »Dass in der Gegend, durch die Sie gestern Nacht gefahren sind«, fuhr er fort, »Schätze vergraben wurden, unterliegt kaum einem Zweifel. Denn um diesen Boden haben jahrhundertelang die Walachen, die Sachsen und die Türken gekämpft. Es gibt kaum einen Quadratzoll Erde in dieser Gegend, der nicht mit Menschenblut getränkt wurde – von Patrioten und von Eindringlingen. Es waren bewegte Zeiten früher, als die Österreicher und die Ungarn in Horden einfielen und die Patrioten ihnen entgegenzogen – Männer und Frauen, sogar Alte und Kinder – und oben auf den Felsen über den Pässen auf sie warteten, um mit künstlichem Steinschlag Tod und Verderben über sie zu bringen. Wenn der Eindringling triumphierte, machte er nur geringe Beute, denn alles, was es gab, war im trauten Erdreich verschwunden.«

»Aber wie«, fragte ich, »können die Schätze so lange unentdeckt geblieben sein, wenn es doch so klare Hinweise darauf gibt und die Männer nur die Augen aufsperren müssen.« Der Graf lächelte, und dabei kamen seine merkwürdig langen, scharfen Eckzähne zum Vorschein. Er antwortete:

»Weil der Bauer im Innersten ein Feigling und Dummkopf ist! Diese Flammen erscheinen nur in einer einzigen Nacht. Und in dieser einen Nacht wird sich kein Mann dieses Landes, wenn er es irgend vermeiden kann, vor die Tür begeben. Und selbst wenn er es täte, Sir, würde er nicht wissen, was tun. Selbst der Bauer, von dem Sie erzählt haben, der die Stelle der Flamme gekennzeichnet hat, wüsste bei Tageslicht nicht, wo er nach seiner eigenen Spur suchen soll. Ich könnte schwören, dass Sie selbst ebenso wenig in der Lage wären, diese Stellen wiederzufinden.«

»Da haben Sie recht«, sagte ich. »Ich weiß ebenso wenig wie die Toten, wo ich auch nur danach suchen sollte.« Dann wendeten wir uns anderen Themen zu.

»Kommen Sie«, sagte er schließlich, »erzählen Sie mir von London und von dem Haus, das Sie für mich erworben haben.« Ich entschuldigte mich für meine Saumseligkeit und ging in mein Zimmer, um die Papiere aus meiner Reisetasche zu holen. Während ich sie ordnete, hörte ich im Nebenraum das Klappern von Porzellan und Besteck, und als ich zurückkehrte, war der Tisch abgeräumt, und die Lampe brannte, denn es war mittlerweile stockdunkel geworden. Auch in der Bibliothek leuchteten die Lampen. Dort lag der Graf auf dem Sofa und las ausgerechnet in Bradshaws englischem Zugfahrplan. Als ich eintrat, räumte er seine Bücher und Papiere vom Tisch, und gemeinsam vertieften wir uns in Pläne, Grundbucheintragungen und Berechnungen aller Art. Er war sehr interessiert und stellte eine Unzahl von Fragen über das Haus und seine nähere Umgebung. Offensichtlich hatte er schon im Voraus alles studiert, was er an Informationen über die Gegend bekommen konnte, denn am Ende wusste er sehr viel mehr als ich. Ich machte darüber eine Bemerkung, und er meinte:

»Tja, mein lieber Freund, ist das denn nicht notwendig? Wenn ich dorthin gehe, werde ich ganz alleine sein, und mein Freund Harker Jonathan – ach, Verzeihung, ich verfalle in alte Gewohnheiten und nenne nach Landessitte Ihren Nachnamen zuerst –, mein Freund Jonathan Harker wird nicht an meiner Seite sein, um mich zu korrigieren oder zu unterstützen. Er wird in Exeter sein, meilenweit weg, und wahrscheinlich mit meinem anderen Freund Peter Hawkins über Gesetzesblättern sitzen. Also!«

Wir befassten uns eingehend mit dem Kauf des Anwesens in Purfleet. Ich erklärte ihm die Modalitäten, ließ ihn die notwendigen Urkunden unterzeichnen und machte dann alles mit einem Begleitbrief an Mr. Hawkins für die Post fertig. Danach wollte er wissen, wie ich auf dieses so passende Objekt gestoßen sei. Ich las ihm die Notizen vor, die ich mir damals gemacht hatte, und die ich hier einfüge:

»In Purfleet entdeckte ich in einer Nebenstraße ein Anwesen, das offenbar den Vorgaben exakt entspricht und das ausweislich eines verwitterten Schildes zum Verkauf steht. Es ist von hohen alten Mauern aus schweren Steinen umgeben und seit vielen Jahren verwahrlost. Das schwere Eichentor mit seinen rostigen Eisenbeschlägen war verschlossen.

Das Anwesen heißt Carfax, sicherlich eine Verballhornung des alten Quatre Face, denn das Gebäude hat vier Flügel, die nach den Himmelsrichtungen ausgerichtet sind. Insgesamt gut eineinhalb Hektar Landbesitz werden von der schon erwähnten mächtigen Mauer eingefasst. Viele Bäume stehen auf dem Grundstück, so dass es an manchen Stellen recht düster wirkt, und es gibt einen tiefen, dunklen Weiher oder kleinen See, der offenbar von Quellen gespeist wird, denn das Wasser ist klar und fließt in einem Bach von einiger Breite ab. Das Haus ist sehr weitläufig und weist Merkmale aller Baustile, ich würde sagen, bis zum Mittelalter auf. Ein Gebäudeteil ist aus dicken Steinquadern erbaut und hat nur wenige hochgelegene Fenster mit massiven Eisengittern davor. Er wirkt wie der Rest eines Wohnturms und steht dicht neben einer alten Kapelle oder Kirche. Ich kam nicht hinein, weil ich keinen Schlüssel zu der Verbindungstür hatte, aber ich habe mit meiner Kodak aus verschiedenen Blickwinkeln Bilder davon gemacht. Das Haus ist fast wuchernd mit Anbauten erweitert worden, und ich kann seine Grundfläche, die sehr groß sein muss, allenfalls schätzen. In der Nachbarschaft befinden sich nur wenige andere Herrenhäuser. Eines davon ist ein sehr imposantes Gebäude, das erst vor Kurzem vergrößert wurde und als Privatsanatorium für Geisteskranke dient. Es ist allerdings vom Grundstück aus nicht zu sehen.«

Als ich geendet hatte, sagte er:

»Ich bin froh, dass es alt und groß ist. Ich stamme ja aus einer Familie mit langer Geschichte und würde es nicht überleben, in einem neuen Haus zu wohnen. Ein Haus lässt sich nicht an einem Tag bewohnbar machen, und wie wenige Tage hat schließlich ein Jahrhundert? Es freut mich auch, dass dort eine alte Kapelle steht. Wir transsilvanischen Adeligen legen Wert darauf, nicht neben dem gemeinen Volk begraben zu werden. Ich kann auf Vergnügungen und Ausgelassenheit, auf üppigen Sonnenschein und glitzerndes Wasser verzichten, wie sie die Jugend und die Frohgesinnten so lieben. Ich bin nicht mehr jung, und mein Herz ist, nach langen Jahren der Trauer um die Toten, auf Frohsinn nicht eingestellt. Dazu kommt, dass die Mauern meiner Burg verfallen, überall kriechen Schatten heran, und der Wind bläst kalt durch die Zinnen und Fensterflügel. Ich liebe Schatten und Düsternis und bin gern mit meinen Gedanken allein, wenn ich kann.«

Irgendwie passten seine Worte und seine Miene nicht recht zusammen, aber vielleicht war es nur die Eigenart seines Gesichts, die seinem Lächeln etwas Boshaftes und Spöttisches verlieh.

Mit einer kurzen Entschuldigung und der Bitte, meine Unterlagen wieder wegzuräumen, verließ er mich. Er war eine Weile fort, und ich schaute mir so lange einige der herumliegenden Bände an. Einer war ein Atlas, der sich ganz von selbst bei der Karte von England öffnete, als wäre diese Seite oft benutzt worden. Bestimmte Orte waren darauf eingekringelt, und als ich sie mir näher ansah, stellte ich fest, dass einer in der Nähe des Londoner Ostens lag, also genau dort, wo sich sein neues Anwesen befand. Die beiden anderen waren Exeter sowie Whitby an der Küste von Yorkshire.

Es dauerte fast eine Stunde, bis der Graf zurückkehrte. »Aha«, sagte er, »immer noch über den Büchern? Schön! Aber Sie dürfen nicht fortwährend arbeiten. Kommen Sie, wie ich höre, ist Ihre Abendmahlzeit angerichtet.« Er nahm meinen Arm, und wir gingen ins Nebenzimmer, wo ein exzellentes Abendessen auf dem Tisch stand. Der Graf entschuldigte sich erneut, da er bereits außer Haus gespeist hatte. Aber er setzte sich wie am gestrigen Abend zu mir und unterhielt mich während des Essens. Danach rauchte ich, wie am Abend zuvor, und der Graf blieb bei mir, plauderte und stellte Fragen über alle möglichen Dinge, und so verging Stunde um Stunde. Ich merkte, dass es sehr spät wurde, sagte aber nichts, weil ich mich verpflichtet fühlte, den Wünschen meines Gastgebers in jeder Hinsicht zu entsprechen. Ich war nicht müde, da mich der ausgiebige Schlaf gestärkt hatte. Aber ich konnte das Frösteln nicht unterdrücken, das einen bei der Morgendämmerung, die in gewisser Weise dem Gezeitenwechsel gleicht, befällt. Man sagt, dass Menschen, die dem Tode nahe sind, in der Regel bei Tagesanbruch oder beim Gezeitenwechsel sterben. Jeder, der schon einmal übermüdet auf seinem Posten verharren musste und dabei diese Veränderung in der Luft erlebt hat, wird das gern glauben. Auf einmal hörten wir das Krähen eines Hahns, das geradezu übernatürlich schrill durch die klare Morgenluft drang. Der Graf sprang auf und sagte:

»Nanu, schon wieder Morgen! Wie rücksichtslos von mir, Sie so lange wach zu halten! Sie müssen Ihre Auskünfte über meine liebe neue Heimat England weniger interessant gestalten, damit ich darüber nicht die Zeit vergesse.« Und mit einer höflichen Verbeugung empfahl er sich.

Ich ging in mein Zimmer und zog die Vorhänge auf, aber es war nicht viel zu sehen. Mein Fenster ging auf den Hof hinaus, und ich sah nur das warme Grau des sich belebenden Himmels. So zog ich die Vorhänge wieder zu und schrieb über diesen Tag.

8. Mai. — Als ich mit den Aufzeichnungen in diesem Buch begann, hatte ich zunächst Bedenken, zu weitschweifig zu sein. Doch jetzt bin ich froh, dass ich von Anfang an jede Einzelheit festgehalten habe, denn dieses Gemäuer und alles darin ist so fremdartig, dass ich mich höchst unbehaglich fühle. Ich wünschte, ich hätte es bereits unbeschadet verlassen oder besser noch: wäre gar nicht erst hergekommen. Es kann sein, dass mich diese sonderbare Nachtexistenz aufreibt – ach, wäre es nur das! Könnte ich wenigstens mit irgendjemandem reden, ließe es sich aushalten! Aber hier ist niemand. Ich habe nur den Grafen, und er! – Ich fürchte, ich bin die einzige lebendige Seele hier. Ich will mich auf die nüchternsten Tatsachen beschränken. Das wird mir helfen, wieder Mut zu fassen. Die Phantasie darf nicht mit mir durchgehen, sonst bin ich verloren. Ich will gleich berichten, wie es um mich steht – oder zu stehen scheint.

Nach dem Zubettgehen fand ich nur wenige Stunden Ruhe. Da ich nicht mehr schlafen konnte, stand ich auf. Ich hatte meinen Reisespiegel neben dem Fenster aufgehängt und wollte mich gerade rasieren. Plötzlich spürte ich eine Hand auf meiner Schulter und hörte die Stimme des Grafen sagen: »Guten Morgen.« Ich fuhr zusammen, weil ich ihn nicht hatte kommen sehen, obgleich der Spiegel das ganze Zimmer hinter mir zeigte. Vor lauter Schreck hatte ich mir eine kleine Schnittwunde zugezogen, was ich aber zunächst gar nicht bemerkte. Nachdem ich den Grafen ebenfalls begrüßt hatte, wandte ich mich noch einmal dem Spiegel zu, um herauszufinden, wie ich mich so hatte täuschen können.