Draußen feiern die Leute - Sven Pfizenmaier - E-Book
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Draußen feiern die Leute E-Book

Sven Pfizenmaier

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Beschreibung

Ein ganz normales Dorf in Deutschland: in der Mitte ein Kreisel, daneben die Volksbank und im September das alljährliche Zwiebelfest. Aber nicht alle hier können sich dem Dorfgefüge anpassen – Timo, Valerie und Richard sind seit ihrer Geburt Außenseiter. Als allmählich immer mehr junge Leute im ganzen Land spurlos verschwinden und in den Familien große Lücken hinterlassen, machen sie sich auf die Suche nach den Vermissten. Das Leben der drei ist schon immer besonders gewesen, doch sie haben keine Vorstellung davon, was sie mit ihrer Suche lostreten. Ein überbordender, mutiger und schriller Roman über die deutsche Provinz und das Anderssein in einem Umfeld, in dem Anderssein nicht vorgesehen ist.

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Seitenzahl: 372

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INHALT

» Über den Autor

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ÜBER DEN AUTOR

Sven Pfizenmaier, geboren 1991 in Celle, studierte Deutsche und Englische Philologie in Berlin. Er war Kandidat beim open mike 2018 und Stipendiat der Literaturwerkstatt Graz 2020. Draußen feiern die Leute ist sein Debütroman. Er wohnt in Berlin.

ÜBER DAS BUCH

Ein ganz normales Dorf in Deutschland: in der Mitte ein Kreisel, daneben die Volksbank und im September das alljährliche Zwiebelfest. Aber nicht alle hier können sich dem Dorfgefüge anpassen –Timo, Valerie und Richard sind schon seit ihrer Geburt Außenseiter. Als allmählich immer mehr junge Leute im ganzen Land verschwinden, merken die drei: Sie sind womöglich nicht allein mit ihrem Wunsch, auszubrechen, und sie machen sich auf die Suche nach den Vermissten. Sie haben in ihrem Leben schon viel Merkwürdiges erlebt, doch was sie nun entdecken, hätten selbst sie nicht erwartet.

EINS

DAS ZWIEBELFEST

 

Aus dem Kreisel im Zentrum fließt eine Straße in jede Himmelsrichtung. Wenn man von oben draufschaut und sich die Verästelungen wegdenkt, die kleineren Straßen und Wege, die wie Kapillaren von den vier Hauptverkehrsarterien abführen und zwischen denen sich die Wohnhäuser, Restaurants und Geschäftchen eingenistet haben, den Bereich also, in dem Ball gespielt wird, in dem Geheimnisse ausgetauscht und weitererzählt werden, in den volle Flaschen rein- und leere rausgetragen werden, in dem sich die Russen mit den Albanern zum Schlagen verabreden, die Albaner mit den Türken, die Türken mit den Kurden, die Kurden mit den Deutschen, die Deutschen mit den Russen, wenn man sich all das wegdenkt, dann guckt man auf ein Fadenkreuz. In diesem Fadenkreuz schieben sich die Körper hin und her: Gruppen von Kindern, die zur Schule wollen, Eltern, die ihre Einkäufe erledigen, Traktoren mit oder ohne Anhänger, Durchreisende auf dem Weg nach Hamburg, Braunschweig, Hildesheim, Hannover. Seitdem die Umgehungsstraße gebaut wurde, sind es weniger Autos geworden. Wenige sind es trotzdem nicht. Ein übersehener Rentner mit Brötchentüte steht am Zebrastreifen und flucht einer sich auflösenden Abgaswolke hinterher. Eine Frau macht eine Vollbremsung auf ihrem Fahrrad, weil ein Auto ihr im Kreisel die Vorfahrt genommen hat. Ein Schüler muss die Straßen so vorsichtig überqueren, dass er eine glaubhafte Ausrede für seine Verspätung haben wird.

In dem Winkel zwischen der Nord- und Weststraße am Kreisel liegt ein asphaltierter Platz, benannt nach dem Mann, der Adolf Hitler zum Reichskanzler ernannt hat. Die landesweite Umbenennungswelle der Hindenburg-Schulen, -Straßen und -Plätze ist hier unbemerkt vorübergezogen, und so recht kann sich auch keiner vorstellen, sich plötzlich nicht mehr zum Shisharauchen und Handymusikhören auf dem Hindenburg verabreden zu können. Zwischen den Laternen, die den Rand des Platzes säumen, hat man schon letzte Woche bunte Fahnenketten gespannt. Ihre Vielfarbigkeit könnte ein Statement sein, ist sie aber nicht. Sie ist das Ergebnis einer sehr zähen Gemeindesitzung von vor ein paar Jahren, in der keine nennenswerten Ideen zur Farbkonzeption zutage gebracht wurden und die Versammelten sich folglich auf Willkür einigten. Die grün-weißen Fähnchen in den Schränken der Vereinsräume gehörten jedenfalls dem Schützenfest, sie seien identitätsstiftend und könnten daher für keinen anderen Anlass verwendet werden. Der Sitzungsleiter schlug mit flacher Hand auf den Tisch, sagte: »Mach einfach bunt und gut is«, und gab somit den Startschuss für das jährliche Aufbauen der Fressbuden, der Bier- und Souvenirstände, des Kinderkarussells und der Landschaft aus Bierzeltgarnituren mit Blick auf eine gigantische, von Lautsprechertürmen flankierte Bühne. Dort werden sich die kommenden drei Abende Coverbands und längst oder sehr bald erloschene Schlagersternchen die Klinke in die Hand drücken und Stimmung machen, bis die Kraniche vom Himmel fallen. Es ist der Morgen des ersten Freitags im September. Es ist Zwiebelfest.

Wenn vor zwanzig oder dreißig Jahren eine achtundzwanzigjährige Frau aus dem Dorf spurlos verschwunden wäre, dann wären Konsequenzen denkbar gewesen. Vielleicht hätte der Bürgermeister eine öffentliche Rede gehalten. Vielleicht wären sogar Veranstaltungen abgesagt worden. Heute ist das nicht mehr so, dafür ist es zu städtisch geworden. Zwar kennen die meisten jemanden, der Flora kennt oder kannte, wenn man nicht selbst mit ihr befreundet ist oder war – man ist sich nicht sicher, ob die Vergangenheitsform schon angebracht ist –, dass ihretwegen aber das Zwiebelfest auch nur verschoben würde, stand zu keinem Zeitpunkt zur Debatte. Dabei ist es keine zwei Monate her, dass sie nicht am Frühstückstisch erschienen war und ihre Eltern den Ermittlern Handybildschirme entgegenhielten, die einseitige Chatverläufe mit immer weniger werdenden Emojis zeigten.

Zwei Freunde sahen Flora noch am Abend zuvor auf ihrem Roller durchs Dorf fahren und winkten. Seitdem ist sie nicht mehr aufzufinden, obwohl Scharen von Freiwilligen sämtliche Äcker und Wälder im Umkreis des Dorfes durchkämmten und die Polizei bei der Sammlung nach Hinweisen jeden noch so geltungssüchtigen Pubertierenden ausreden ließ. »Auf mich wirkte es, als ritt sie eine motorisierte Nebelwelle«, sagte der eine, »und später, in der Nacht, als ich, vereinsamt und traurig, in den Kosmos blickte, kam mir eine weitere Erinnerung: Flora hatte Pupillen so groß wie der Vollmond, ihre Luminanz stanzte daumendicke Löcher in den Sichtschutz des Motorradhelms.« Ein zweiter sagte: »Wir haben Flora nie geliebt«, und ein dritter behauptete, in Floras Rücken würden ganze Waldstücke verwelken. Er habe mit seinen eigenen Augen gesehen, dass sich die Blüten, an denen sie vorbeiging, zurück in ihre Knospen zogen und dass gesunde Eichenblätter plötzlich verschwanden, als hätten unsichtbare Käfer sie mit einem Bissen aufgefressen. Die Polizei alarmierte die Eltern dieser Zeugen und bat darum, ihre Kinder weniger Märchen erzählen zu lassen. Man habe hier Polizeiarbeit zu leisten.

Auf dem Zwiebelfest jedoch gibt es keinen Platz für Sorgen, also legen die Beamten für die nächsten vier Tage ihre Arbeit nieder. Das eigentliche Fest auf dem Hindenburgplatz findet zwar nur Freitag bis Sonntag von ein Uhr mittags bis ein Uhr nachts statt, doch wenn man den Frühschoppen, das nächtliche Weiterziehen in die legendäre Kneipe und Tanzbar Zum Strick sowie die zahllosen Krankmeldungen am Montag mitrechnet, handelt es sich um eine viertägige Dauerveranstaltung.

Ursprünglich wurde das Zwiebelfest zu Ehren der Zwiebelernte veranstaltet. Die Bewirtschaftung der Felder obliegt einer Handvoll Familienbetrieben, deren Nachnamen hier so traditionsreich sind, dass schon vor Jahrzehnten Straßen nach ihnen benannt wurden. Mittlerweile bringt man ihnen diesen Respekt nicht mehr entgegen. Die eigenen Söhne wandern ihnen ab, von den Äckern in die Großraumdiskotheken, und die überall aufgestellten Zwiebelkästen, aus denen man sich gegen Spende einen Sack Zwiebeln nehmen kann, werden regelmäßig geplündert und zerstört. Wenn eine Ernte mal weniger ergiebig ausfällt und die Bauern die Kilopreise anheben müssen, und sei es noch so geringfügig, dann greifen die eigenen Leute im Dorf zu den um Centbeträge günstigeren, von sonst woher importierten Zwiebeln im Rewe. Während des Zwiebelfests ist all das vergessen. Die Bauern fühlen sich stolz an diesem Wochenende, schließlich ist es ihre Arbeit, in der der Ursprung des Fests liegt. Ohne Zwiebeln kein Zwiebelfest, ganz einfach, und ohne Bauern keine Zwiebeln. Die allermeisten Besucher des Zwiebelfests hingegen sehen schon lange keinen semantischen Zusammenhang mehr zwischen den Wörtern »Zwiebel« und »Zwiebelfest«. Sie würden nicht einmal auf die Idee kommen, die Bauern darauf anzusprechen, geschweige denn sich bei ihnen zu bedanken. Und weil die Bauern das für stumme Dankbarkeit halten und niemand ernsthaft mit irgendwem über irgendwas redet, glaubt man, sich einig zu sein. Jeder mag das Zwiebelfest.

Timo ist wie immer der Erste im Klassenraum. Nicht, dass er besonders großen Wert auf Pünktlichkeit legen würde. Er kann es bloß nicht leiden, angeschaut zu werden, nicht von den Lehrern und schon gar nicht von den Gleichaltrigen, bei denen Anschauen jahrelang bedeutete, gleich auch etwas auszusprechen. Und weil es den meisten Kindern nicht möglich ist, Timo anzuschauen und etwas zu sagen, ohne mit dem Finger auf ihn zu zeigen und zu lachen, zeigten sie mit dem Finger auf ihn und lachten. Timo mag verletzt worden sein, gekränkt und gedemütigt, gescholten, geschlagen, ernsthaft verübeln konnte er es aber niemandem. Wenn er könnte, würde er beim Blick in den Spiegel selbst lachen: Timo hat die Gliedmaßen einer Pflanze, rankenartige Arme und Beine, blass grünliche Haut und orangegelbes Haar, das wie eine Blüte auf dem Kopf leuchtet. Sogar seine Bewegungen erinnern an die niedersächsische Vegetation, der schwankende Kopf fast schon ein Abbild des Gelben Frauenschuhs, stummelige Finger und Zehen wie frisch gewachsene Moschuskrautblätter.

Timo hat sich an diesen Körper nie gewöhnt, auch dann nicht, als er in die Oberstufe kam und die anderen langsam mit den Witzen aufhörten. Erst seit dem Vorfall mit Flora hat er das wohltuende Gefühl, dass sein Aussehen zumindest vorübergehend wirklich egal geworden ist. Es hat Platz gemacht für eine neue Attraktion.

Zu Timos Überraschung bleibt der Stuhl zu seiner Linken heute nicht frei. Zum ersten Mal in diesem Schuljahr erscheint Jenny zum Unterricht. Normalerweise kümmert sie sich nicht um die Blicke der anderen, heute jedoch kommt sie aus demselben Grund wie Timo volle fünfzehn Minuten zu früh. Er hat sie seit dem Verschwinden ihrer Schwester nicht mehr gesehen. Vor Schreck fängt er an, in seiner Tasche zu kramen, holt sinnloserweise seine Hausaufgaben raus, legt sie auf den Tisch und schaut erst dann Jenny an, als die ihren Rucksack bereits an den Tisch gelehnt und sich hingesetzt hat. Sie sagt:

»Ich will nicht drüber reden. Kein einziges Wort. Lass uns einfach so tun, als wäre nichts geschehen, ja?«

»Ja … äh … klar.«

»Danke.«

»Aber falls du doch mal –«

»Will ich nicht, danke. Irgendwann bestimmt.«

Timo hat geglaubt, auf diesen Moment vorbereitet gewesen zu sein. Als Floras Verschwinden sich im Dorf rumgesprochen hatte, versuchte er etliche Male, Jenny zu erreichen. Nach ein paar Tagen schrieb sie ihm eine kurze Nachricht, es gehe ihr gut, sie werde sich melden, sobald sie so weit sei. Seitdem legte er sich Sätze zurecht, die signalisierten, dass er ihr ein guter Freund sein würde, so wie sie ihm eine gute Freundin gewesen war, als er mit acht Jahren eine Nacht im Schultheater verbringen musste. Der Hausmeister hatte damals zwar gesehen, dass Timo auf dem Boden hockte und nach seinem Ohrstecker suchte, hatte ihn aber für dekoratives Gewächs der anstehenden Dschungelbuch-Aufführung gehalten und die Tür hinter sich abgeschlossen. Es war die schwierigste Zeit in Timos mobbinggeplagter Schullaufbahn gewesen. Nur wenige Woche zuvor war er auf dem Sommerfest vom Rektor der Grundschule, der heimlich Absinth bei sich trug, für eine übergroße Blume gehalten und angepinkelt worden. Timos Mitschüler nahmen diese Vorkommnisse schließlich zum Anlass für viele weitere gemeine Späße. Es war nicht leicht, der Pflanzenmensch zu sein, und genauso wenig leicht war es, mit dem Pflanzenmenschen befreundet zu sein, doch Jenny war stets an seiner Seite geblieben, bis heute, wo sie es fast zum Schulabschluss gebracht haben.

»Gehst du das Wochenende aufs Zwiebelfest?«, sagt Timo.

»Weiß ich noch nicht. Das ist mir glaube ich zu viel. Richard will auch nicht gehen. Vielleicht bleibe ich das Wochenende einfach bei ihm und mache mir nen Gemütlichen. Gehst du?«

»Weiß noch nicht genau. Denke schon. Schmauser und die Jungs wollen alle hin.«

»Ja, mach das mal. Wird bestimmt lustig. Valerie meinte auch, sie hätte Bock. Also falls sie wach ist.«

»Ist sie heute in der Schule?«

»Weiß ich nicht. Ich glaube nicht. Ich hab jetzt seit über einer Woche nichts mehr von ihr gehört.«

Den anderen Mitschülern und Mitschülerinnen muss Jenny nicht sagen, dass sie nicht über Flora sprechen möchte. Sie kommen ins Klassenzimmer getröpfelt, erschrecken kurz bei Jennys Anblick, nicken ihr zu und setzen sich auf ihren Platz. Auch der Lehrer schenkt ihr keine weitere Beachtung, eröffnet den Unterricht wie an jedem anderen Tag. Timo schaut alle paar Minuten zu Jenny rüber, weil er damit rechnet, dass sie zu weinen anfängt oder zumindest mal rausmuss. Jenny jedoch scheint konzentriert. Hebt den Arm genauso häufig wie in den Jahren zuvor. Gibt genauso häufig die richtigen Antworten.

In Richards Rücken strömen die Kinder über das Schulgelände. Es regnet, doch nicht stark genug, als dass sie im Gebäude bleiben dürften. Die Lehrkräfte haben sie nach draußen gescheucht und die Klassenzimmer abgeschlossen. Jetzt rennen die Jüngeren in ihrer wetterfesten Kleidung kreischend von einer Überdachung zur anderen, die Reißverschlüsse ihrer Regenjacken bis zum Kinn verschlossen. Sie sind so unaufmerksam, dass sie gelegentlich mit einer älteren Jungengruppe kollidieren, von dieser zu Boden geschubst werden und noch einen Spruch hinterhergedrückt bekommen. So liegen sie da, die Knie voller Schlamm, und versuchen sich im Angesicht der lachenden Freunde zu vergegenwärtigen, dass Heulen alles nur noch schlimmer machen wird.

Richard hat das Schulgelände illegalerweise verlassen. Er hat die Straße überquert und es sich auf einem Stromkasten gemütlich gemacht, obwohl die große Pause so gut wie vorbei ist und die dritte Stunde gleich beginnt. Im Regenschutz seines eigenen Körpers zieht er eine alte Matheklausur aus der Tasche, Note Fünf, faltet sie längs in der Mitte und ein weiteres Mal quer am Rand. In diese Papierschaufel reibt er den Tabak einer Marlboro Light, wirft die leere, zerrissene Hülse samt Filter weg und kramt einen wiederverschließbaren Plastikbeutel aus der Tasche, aus dem er wiederum eine Knolle Gras fischt und diese zwischen Daumen, Zeige- und Mittelfinger in den Tabak bröselt, bis von der Knolle nur noch der Stiel übrig ist. Den steckt er sich in den Mund, kaut darauf herum und riecht zur Einstimmung an den klebrigen Fingern. Dann pickt er die zu großen Grasbrocken aus der Mische und zermahlt sie. Er holt seine Zigarettenschachtel wieder raus, klappt den Deckel nach hinten und entreißt seinem Inneren einen scheinbar speziell für solche Zwecke angefertigten Pappstreifen, den er so lange und so fest zusammenrollt, bis die Mundseite des neu erschaffenen Filters ihn an das Labyrinth von Chartres erinnert. Er legt es auf den linken Rand des vom Sprühregen nicht gänzlich verschonten Blättchens, schiebt den Inhalt seiner Papierschaufel sorgfältig hinein, rollt alles einmal in sich zusammen, züngelt den Klebestreifen entlang, schmiegt diesen an den Kegel, steckt ihn sich in den Mund und gibt Feuer.

Es drückt.

Das Gras hat Richard von seinem Klassenkameraden Schmauser. Schmauser kifft gern, ist aber immer pleite, musste also ein System austüfteln, um über die Runden zu kommen: Jede Woche holt er sich bei einer Quelle in Hannover für zwanzig Euro Gras, raucht eine Hälfte auf, vermengt die verbliebene Hälfte mit Oregano und besprüht die gesamte Masse so lange mit Haarspray, bis es das Gewicht der ursprünglichen, ungestreckten Ware hat. Weil er auf dem Dorf konkurrenzlos ist, kann er diesen Müll dann für zwanzig Euro an Leute wie Richard verkaufen. Die zwanzig Euro investiert Schmauser umgehend in frisches Gras aus Hannover, raucht die Hälfte auf und so weiter. Schmauser hat sich auf diese Weise zu einem Perpetuum mobile des Marihuanakonsums entwickelt, und seine Kunden sind nicht einmal unzufrieden. Das Gras knallt ordentlich und knackt und knistert so schön beim Rauchen, wie im Film.

Richard kifft aus der Not heraus. Seinen ersten Joint hat er aus Neugier probiert, um herauszufinden, ob es die Dinge leichter macht. Bereits im Kindergarten hatte man bemerkt, dass er den Menschen in seiner Umgebung die Energie aussaugt. Seine Mutter hatte es schon vorher geahnt. An manchen Tagen hatte sie stundenlang dagesessen und tatenlos zugesehen, wie Richard an ungesicherte Steckdosen krabbelte oder an eine offene Treppe, wie er nach Messern griff oder sich etwas Verschimmeltes in den Mund steckte. Sie wollte ihn beschützen, doch sie konnte nicht, egal wie sehr sie sich Mühe gab. Alles, was Richard tat, langweilte sie so sehr, dass sie sich zu keiner Bewegung durchringen konnte, also nahm sie ihn nur auf den Arm und entschuldigte sich: »Du bist und bleibst mein Sohn, aber was soll ich machen. Mir fallen die Augen zu, wenn ich dich sehe.«

Das hat sich über die Jahre nicht geändert. Auch jetzt, mit siebzehn, werden alle vor Langeweile bewegungsunfähig, sobald Richard dazustößt. Manchmal verstummen sie einfach, manchmal lassen sie ihre Kippen fallen und legen sich auf den Boden. Richard sieht, wie die Lider seiner Gesprächspartner sinken, und hört, wie ihre Zungen erschlaffen. Das Kiffen betrachtet er entsprechend als Integrationsmaßnahme. Der Plan war, sich so weit runterzukiffen, bis er genauso gelangweilt war wie die anderen, und der Plan ging auf. Die desinteressierten Gesichter wurden weniger schmerzhaft.

»Ach. Wie schön. Herr Holder«, sagt Frau Komski, als Richard mitten in den Unterricht platzt. Sie ist die einzige Lehrerin, die darauf besteht, die Klasse ab ihrem Eintritt in die Sekundarstufe II zu siezen. Der Unterricht ist unterbrochen, die ganze Klasse schaut zur Tür. »Ich dachte schon, wir hätten Sie verloren. Sie hatten ja auch schon zwei Stunden heute, da wäre es nur verständlich, wenn Ihnen nach Feierabend wäre.«

»Entschuldigung.«

»Nein, nein, überhaupt kein Problem, entschuldigen Sie sich doch nicht. Wenn Sie wollen, fange ich einfach meine Unterrichtsstunde von vorn an, wir wollen ja nicht, dass Sie klausurrelevante Inhalte verpassen, nur, weil Sie Ihre große Pause um zwanzig Minuten verlängern. Ich bin sicher, Sie mussten das tun. Ihrer Gesundheit zuliebe, nicht wahr?«

»Kommt nicht wieder vor.«

»Nein, ich bitte Sie, Herr Holder, hören Sie auf. Ist doch selbstverständlich, dass ich, die gesamte Lehrerschaft sowie Ihre Mitschüler und Mitschülerinnen ihren Lehrplan vollständig und lückenlos nach Ihnen richten. Hauptsache, Ihnen geht es gut. Geht es Ihnen gut, Herr Holder?«

»Ja, geht.«

»Das freut mich sehr zu hören. Setzen Sie sich, Herr Holder. Ich möchte jetzt mit dem Unterricht fortfahren. Herr Schmauser ist sicher bereit, Ihnen das bisher Besprochene zusammenzufassen. Herr Schmauser? Bitte.«

»…«

»Herr Schmauser?«

»Mann, ich weiß es nicht.«

»Sie wissen es nicht? Was wissen Sie nicht?«

»Was wir besprochen haben.«

»Das ist nicht schlimm. Das Schuljahr hat ja gerade erst begonnen. Was ist denn unser Thema für dieses Halbjahr, Herr Schmauser?«

»…«

»Herr Schmauser, also das sollten Sie hinkriegen. Es geht um die …?«

»…«

»… Französische …?«

»… Revolution!«

»Richtig, Herr Schmauser! Sehr gut. Was verstehen wir denn unter einer Revolution? Frau Schmitz?«

»Unter einer Revolution verstehen wir einen grundlegenden und nachhaltigen strukturellen Wandel eines oder mehrerer Systeme, der meist abrupt oder in relativ kurzer Zeit erfolgt. Er kann friedlich oder gewaltsam –«

»Danke, das reicht. Frau Murr, würden Sie bitte fortfahren? Präzisieren Sie bitte den Begriff der Revolution.«

»Äh …«

»Frau Murr?«

»Mhmmm …«

»Was ist denn los, Frau Murr? Eben haben Sie doch noch wertvolle Beiträge geleistet. Sie müssen es im Grunde nur wiederholen. Für Herrn Holder.«

»Ich … habe ehrlich gesagt grade keine Lust.«

»Das wird ja immer besser hier. Wenn das so ist, möchte ich Sie natürlich zu nichts zwingen.«

In diesem Schuljahr hat es Larissa und Laurenz erwischt. Sie müssen neben Richard sitzen. In den letzten Jahren gehörten die beiden noch zu den Besten in der mündlichen Mitarbeit, in diesem Jahr wird das nicht mehr so sein. Sie sitzen links und rechts von Richard, auf der Vorderkante ihres Stuhls und so kraftlos nach hinten gelehnt, dass ihr Nacken von der Rückenlehne gehalten werden muss. Die Arme hängen schlaff hinunter. Laurenz sabbert ein bisschen. Es ist unvorstellbar, dass sie in Richards Anwesenheit jemals den Arm heben werden.

Manchmal denkt Richard, dass es fair von ihm gewesen wäre, die Leute über seine Wirkung aufzuklären. Dafür ist der Zug aber irgendwann in den letzten siebzehn Jahren abgefahren. Jetzt wundern sie sich nur, warum sie sich so komisch fühlen, wenn Richard in der Nähe ist, warum sie sich so unfassbar langweilen, suchen den Fehler aber bei sich selbst. »Es ist nicht eure Schuld«, würde er ihnen gern sagen, »es liegt an mir.«

Es klingelt zum Unterrichtsende. Die wichtigsten Fragen zum Wochenende werden beim Einpacken der Taschen schreiend verhandelt. Wer geht wann zum Zwiebelfest? Wer geht an beiden Tagen? Wer geht nur heute? Wer geht nur morgen? Wer kommt Montag nicht zur Schule? Wer geht wo vortrinken? Wer hat wen dabei, wer zieht was an? Wessen Eltern sind nicht zu Hause? Wer kann ein Auto zum Einkaufen klarmachen? Wer hat noch Reste von seiner Geburtstagsfeier übrig?

Richard schiebt seine Sachen zusammen, steckt sie in die Tasche. Er zieht sich seine Jacke an und setzt sich wieder hin. Jemand ruft:

»Wie siehts bei dir aus, Richard? Kommst du aufs Zwiebelfest? Wahrscheinlich nicht, wa?« Die Frage erreicht ihn vom anderen Ende des Klassenraums. Die Menschen in seiner direkten Umgebung stehen nur rum.

»Nee, hab da nicht so Bock drauf.«

»Ja, klar.«

»Aber nächste Woche.«

»Was ist denn nächste Woche?«

Jetzt hören auch die anderen zu. Richard hat seinen Rucksack geschultert und die Hände in den Jackentaschen vergraben.

»Da schmeiß ich ne Party«, sagt er.

»Du? Schmeißt ne Party?«

»Ja«, sagt er. »Und ihr seid alle eingeladen.«

Den Haustürschlüssel muss Richard zwei Mal um seine eigene Achse drehen, bevor die Tür aufgeht. Niemand ist zu Hause. Er zieht seine Schuhe aus und stellt sie zu den drei Paaren seiner Mutter.

Auf dem Küchentisch liegt ein Zettel. Die Handschrift seiner Mutter informiert Richard über ein Cordon bleu im Tiefkühlfach und ein Paket Kartoffelpüreepulver im Hängeschrank.

Die müsste auch mal wieder gewischt werden, denkt Richard beim Blick auf die Ceranfeldplatte. Sekunden später leuchtet einer ihrer Kreise in sattem Rot. Nicht viel länger braucht die mit Sonnenblumenöl benetzte Pfanne, bevor es in ihr zu brutzeln beginnt. Richard senkt die Hitze auf die mittlere Stufe, legt ein Cordon bleu ins Öl und verschließt die Pfanne mit einem gläsernen Deckel. Er stellt sich eine kleine Welt vor, die er in dieser Pfanne geschaffen hat und in der es gerade zu einer wilden Schießerei kommt. Währenddessen kocht er das Wasser für das Kartoffelpüree auf, nimmt es vom Herd, gibt Milch und Pulver dazu, rührt.

Auf dem Zettel steht nicht, wieso seine Mutter nicht zu Hause ist. Eigentlich hätte sie da sein müssen, es hieß, sie habe heute frei. Vielleicht ist sie deswegen nicht zu Hause. Wie es aussieht, hat sie nicht einmal gefrühstückt. Die Geschirrspülmaschine ist genauso leer, wie sie es gestern Abend war, und im Kühlschrank stehen nach wie vor die drei kleinen Becher des verdauungsfördernden Naturjoghurts. Der Laib Brot von vorgestern ist vollständig. Frische Brötchen wird sie nicht geholt haben, sonst wären Krümel da. Beim Tischabwischen ist sie nachlässig.

Richard wendet das Cordon bleu und geht ins Badezimmer. Die Zahnbürste seiner Mutter ist noch nass. Geduscht hat hier aber niemand, dafür ist das Becken zu trocken. Vielleicht hatte sie es eilig? Vielleicht ist etwas passiert? Ein kurzer Blick ins Schlafzimmer sagt: nein. Die Kissen sind aufgeschüttelt, das Bett ist gemacht und sogar mit einem Quilt bedeckt. Auf dem Stuhl in der Ecke zusammengelegte Kleidung. Richard kann nicht wissen, ob es die Klamotten von gestern sind.

Das Messer bricht sich durch die Panade wie durch morsches Holz. Zwischen Cordon bleu und Kartoffelpüree wartet ein Ketchupteich auf seinen Einsatz, er muss das radikal totfrittierte und allen Schabereien zum Trotz garantiert krebserregende Fleisch in Tomatenkonzentrat ertränken. Das Kartoffelpüree wird als zweiter Dip genutzt. Richard kaut.

Die erste Hälfte isst er am Küchentisch, lauscht dem Bersten des Fleisches in seinem Mund, dessen Hall sich bis in den Flur zieht. Weil er das nicht hören möchte, geht er runter in sein Zimmer. Setzt sich auf die Couch, schaltet den Fernseher ein.

Jenny schreibt:

Hey magst du heute abend bei mir vorbeikommen?

Hey ja eigentlich gerne aber ich bin heute schon verplant :(

Er legt das Handy beiseite und schaltet durch das Nachmittagsprogramm. Dann schreibt Jenny:

ehrlich gesagt ist es wichtig. komm mal bitte vorbei. es geht um flora

»Wenn mich noch ein Mal jemand fragt, ob ich mit aufs Zwiebelfest will, dann werde ich diesen Menschen erwürgen. Das schwöre ich, Emilia, ist mir egal, wer es ist. Ich werde ihn auf der Stelle umbringen. Ich verstehe nicht, was das soll. Wir sind seit dem einen Mal damals nicht auf diese blöden Straßenfeste gegangen. Wenn die Nachbarn uns zu sich eingeladen haben, haben wir immer Nein gesagt. Wir haben die niemals zu uns eingeladen. Ich lächle und grüße, wenn ich sie sehe. Kommen sie deswegen immer wieder? Wann verstehen die das endlich? Wir wollen nicht auf eure Feste. Wir verstehen eure Feste nicht. Rumstehen und Bier trinken. Wurst essen. Das ist doch kein Fest. Das ist eine riesengroße Scheiße.«

»Du hast heute aber wirklich schlechte Laune.«

»Sag mir nicht, dass ich schlechte Laune habe.«

»Ist irgendwas passiert?« Emilia will sich seit zwanzig Minuten erkundigen, warum ihr keine Süßigkeiten zum Tee serviert werden. Sie ahnt, dass es nicht der richtige Zeitpunkt ist. Seitdem sie hier am Tisch sitzt, hat Evgenija sie noch nicht angeguckt. Sie hält ihre Monologe und guckt dabei wie eine Scharfschützin aus dem Fenster zu den Nachbarn.

»Ich habe heute wieder mit diesen verdammten Ärzten telefoniert«, sagt Evgenija. »Wegen Valerie. Die sagen immer nur das Gleiche.« Sie verzieht ihr Gesicht und setzt mit tiefer, verklemmter Stimme, die sie als deutsch empfindet, an: »Vielleicht träumt sie einfach nur gerne.« Und weiter: »Machen Sie sich keine Sorgen, Frau Waldtmann, bestimmt träumt Ihre Tochter einfach nur gerne. Andere Menschen wären neidisch, so viel träumen zu können.« Sie nimmt einen Schluck von ihrem Tee. »Als wäre ich irgendeine Hinterwäldlerin.«

»…«

»Valerie hat sich letzte Woche Donnerstag schlafen gelegt. Letzte Woche Donnerstag. Heute ist der achte Tag. Und die sagen mir, ich soll mir keine Sorgen machen. Wie soll man sich da keine Sorgen machen?«

»…«

»Verdammt noch mal, Emilia, sag irgendwas. Ich hasse es, wenn du nichts sagst.«

»Was soll ich denn sagen.« Emilias Tee wird kalt. Sie mag aber keinen Tee trinken ohne einen Bonbon dazu.

»Letztens haben die ihr Medikamente gegeben. Prazosin steht da drauf. Ich hab das im Internet nachgeguckt. Das gibt man Leuten, die aus dem Krieg wiederkommen oder vergewaltigt wurden. Damit die keine Albträume haben. Kannst du dir das vorstellen?«

»…«

»Wenn du nicht sofort was sagst, schmeiß ich dich raus. Mir egal, ob du meine Schwester bist.«

»Ist ja gut. Haben die Medikamente geholfen?«

»Natürlich nicht. Weißt du, was sie Valerie gefragt haben?«

»Nein.«

»Haben Sie ein Trauma erlitten, Frau Waldtmann?« Evgenija macht wieder die deutsche Stimme und schwankt hin und her, als wäre sie ein sehr fettleibiger Mann.

»Und? Was hat sie gesagt?«

»Dass sie natürlich kein Trauma erlitten hat. Was ist das für eine blöde Frage?«

»Ich wollte bloß irgendwas sagen.«

Emilia weiß, dass Valerie schon mehrmals versucht hat, den Ärzten das Problem zu erläutern: Ihre Träume lassen sich nicht unterbrechen. Valeries Schlafintervalle werden von den Träumen diktiert, nicht andersrum. Sie wacht erst auf, wenn der Traum auserzählt ist. Vorher ist es nicht einmal möglich, sie gewaltsam aufzuwecken. Die Träume beharren darauf, ihre Geschichte bis zum Ende erzählen zu dürfen, und erst dann lassen sie Valerie gehen. Wenn sie nichts zu erzählen haben, schläft Valerie gar nicht, und wenn doch, dann sind es auch mal Wochen. Die Ärzte sagen: Aha. Emilia sagt:

»Dann müssen wir uns doch keine Sorgen machen. Ab Mitte dreißig hat sie eh keine Träume mehr.«

Evgenija findet das nicht lustig. Sie schiebt den Hahn des Samowars auf, schaut dem Schwarztee dabei zu, wie er die mit Blumen verzierte Glastasse vollständig kupferfarben werden lässt. Emilia sieht sich nach einer Keksdose um, findet keine, streicht also nur beiläufig über die Tischplatte, um zu zeigen, wie viel leerer Platz da ist.

»Welcher Mensch schläft acht Tage, Emilia?«

»Sie hat auch schon länger geschlafen. Du musst das Gute daran sehen: Wenn sie hier schläft, dann weißt du wenigstens, wo sie ist. Hast du das von diesem Mädchen gehört, das verschwunden ist? Das kann dir mit Valerie nicht passieren.«

»Hör auf. Die Lehrer werden das nicht für immer erlauben. Irgendwann ist Schluss. Dann fliegt sie von der Schule und wird Sekretärin.«

»Meine Tochter ist Sekretärin.«

»Deine Tochter ist keine Sekretärin.«

»Könnte sie aber sein.«

»Das ist was ganz anderes. Als wir hergekommen sind, war deine Tochter schon in der fünften Klasse und musste erst mal Deutsch lernen. Das kannst du doch nicht vergleichen.«

»Ich will einfach nicht, dass du dich verrückt machst. Du bist nicht mehr du selbst.« Emilia atmet tief ein. »Du lädst mich zum Tee ein und stellst keine Süßigkeiten auf den Tisch.«

Evgenija erschrickt. Sie steht auf und holt eine runde Blechdose mit der Aufschrift butterkekse aus dem Hängeschrank, stellt sie auf den Tisch, nimmt den Deckel ab. Aus der Dose leuchtet eine Farbwelt aus einzeln abgepackten Bonbons, die im Mix Markt nach Kilopreis berechnet werden und vom kyrillischen Alphabet überzogen sind, Gusnije Lapki, Limonejie, Ptitschje Moloko. Emilia packt einen Bonbon aus, legt ihn sich auf die Zunge, lutscht schmatzend. Evgenija sagt:

»Tut mir leid.«

»Nicht schlimm. Wie gehts denn Sascha?«

»Ach, wie solls dem schon gehen.«

»Na ja, keine Ahnung. Was sagen die Ärzte?«

»Was sollen die schon sagen. Sie wissen nicht, was das Problem ist. Nie wissen die, was das Problem ist.«

Die Schwestern sitzen sich gegenüber, die Köpfe gesenkt, und fummeln an den knittrigen Bonbonverpackungen in ihren Händen. Sie streichen sie auf dem Küchentisch glatt, falten sie ein Mal in der Mitte und dann noch mal und noch mal, bis sie nur noch einen schmalen Streifen halten, der von jeder Seite anders, aber immer bunt aussieht. Dann legen sie ihn weg, nehmen einen neuen Bonbon, packen ihn aus und streichen die Verpackung glatt. Falten sie, bis nur noch ein schmaler Streifen übrig ist. Legen ihn weg, warten kurz, bis der Bonbon in ihrem Mund verschwunden ist, nehmen einen neuen, packen ihn aus und streichen die Verpackung glatt.

»Weißt du, was das Schlimmste ist«, sagt Evgenija zum Bonbonpapier. »Das Schlimmste ist, sogar wenn Valerie wach ist, ist sie nicht richtig da. Du musst sie mal sehen, wie sie aussieht, wenn sie mit uns was isst. Wenn sie von irgendwo nach Hause kommt. Wie sie dieses Haus ansieht. Wie sie alles hier ansieht. Früher hat sie sich wenigstens beschwert, hat uns ausgeschimpft, wo es nur ging. Nichts hat ihr gepasst. Alles, was Sascha und ich gemacht haben, war falsch. Wie mich das verletzt hat. Ich weiß nicht, wie das passieren konnte. Wir haben doch immer unser Bestes getan. Wir haben uns immer Zeit für sie genommen. Aber alles war schlecht. Als wäre sie von ganz woanders gekommen. Sie ist doch mit all dem hier aufgewachsen, wie kann das falsch für sie sein? Woher hat sie das? Ich wünschte, sie würde wenigstens auf uns schimpfen. So wie sie mit uns am Tisch sitzt, wartet sie einfach nur, dass es vorbei ist. Mit uns. Ich sehe, dass sie vor mir steht, und ich sehe, dass sie mich anguckt. Aber weißt du, Emilia, so wie sie mich anguckt, da kommt es mir so vor, als ob sie in Wahrheit auch schon verschwunden ist.«

»…«

Heute Morgen wurde ich von irgendwas geweckt. Ich hielt es zunächst für viele Tausend Spinnen, die meine Fensterscheibe entlangtippelten. Aber dann, als es in meinem Kopf aufklarte und meine Augen sich nicht mehr so klebrig anfühlten, erkannte ich, dass es bloß viele Tausend Regentropfen waren. Ich nahm mir einen Stuhl und setzte mich vors Fenster, schaute raus zum Nachbargrundstück, bzw. zum Grundstück dahinter. Ich versuchte zu erkennen, ob es auch dort regnete, eine Angewohnheit, die ich vom Filmegucken habe, glaube ich. Wenn es in Filmen regnet, schaue ich mir auch nur den Hintergrund an. Manchmal, wenn es ein niedrig budgetierter Film ist, kann man sehen, dass es ganz hinten gar nicht regnet und das Liebespaar bloß unter einer Regenmaschine steht.

Dann hat mich mein Vater zum Frühstück gerufen. Ich habe ihn von unten brüllen gehört, Flora, Essen ist fertig, komm frühstücken. Ich habe nicht geantwortet, weil ich mit dem Regen beschäftigt war und gar keinen Hunger hatte. Es könnte ja genauso gut sein, dass ich noch schlafe, dachte ich und hoffte, dass er das auch denken und mich in Ruhe lassen würde. Für einen kurzen Augenblick sah es auch danach aus. Er brüllte nicht mehr. Stattdessen hörte ich, wie Mama den Tisch deckte. Auch sie interessierte sich nicht dafür, ob ich noch schlafe oder nicht. Sie knallte vier Teller auf den Tisch und dann noch acht Bestecke. Es würde also Rührei zu den Brötchen geben. Wenn es nur Brötchen gibt, liegen vier Messer auf dem Tisch. Bei Rührei braucht man noch vier Gabeln dazu. Ich wollte aber auch kein Rührei, also blieb ich einfach sitzen und schaute weiter nach draußen, bis ich meinen Vater wieder hörte, der noch einmal kurz rief und dann die Treppe hinaufstampfte, immer muss er stampfen, so dolle, dass es an meinen Fußsohlen kitzelt. Er riss meine Zimmertür auf und fragte, ob ich taub sei. Nein, sagte ich, und dann sagte ich noch, dass ich eine erwachsene Frau sei und mir selbst aussuchen könne, wann ich frühstücken wolle. Nur, weil ich wieder bei euch wohne, was eh nur übergangsweise ist, heißt das nicht, dass ich wieder siebzehn bin, sagte ich. Daraufhin sagte er, dass Mama Rührei gemacht habe und ich jetzt runterkommen solle. Er stampfte die Treppe wieder hinunter, ließ die Tür offen. Ich weiß nicht, warum, aber ich stand auf und ging runter und setzte mich an den Frühstückstisch. Jenny saß schon an ihrem Platz. Ich habe viele Filme gesehen, in denen Familien harmonisch miteinander am Tisch saßen, und dann war doch etwas vergiftet.

Wie sieht es denn mit deinen Bewerbungen aus, fragte mein Vater mit vollem Mund, ganz so, als hätte er das nicht schon gestern gefragt und als wäre heute nicht Sonntag. Mit Bewerbungen kann von Samstag auf Sonntag nicht so viel passieren, ich dachte, das wäre klar, und ich ging davon aus, dass das auch meinem Vater klar war, weil nicht einmal er so dumm sein konnte, also hielt ich es für einen Scherz, und weil ich den Scherz nicht lustig fand, sagte ich gar nichts. Daraufhin informierte er mich darüber, dass er etwas gefragt habe. Ich sagte ihm, es würde seinen Fragen guttun, wenn sie zur Abwechslung mal sinnhaft wären. Darauf sagte er zunächst nichts, fraß sein Rührei. Gerade, als er doch etwas sagen wollte, fing Jenny an zu reden. Sie fragte, ob wir nicht ihren Freund kennenlernen wollten, ob sie ihn mal zum Essen mitbringen könne. Ja, natürlich, sagte Mama, aber es war klar, dass sie das nicht wollte und Richard nicht mag, obwohl sie ihn gar nicht kennt. Ein paar Mal hat sie ihn auf Jennys Schulveranstaltungen gesehen und da sei er ihr direkt unsympathisch gewesen, so unsympathisch, dass sie sich in seiner Nähe richtig träge fühlte. Unser Vater war mit Jennys Vorschlag sofort einverstanden. Doch die Art, wie er das sagte, hol ihn mal ran, ich will mir den angucken, ließ Jenny den Kopf senken. Ich schaute sie an und sagte ihr, dass ich mich darauf freue, Richard kennenzulernen. Das stimmte zwar wirklich, ausgesprochen habe ich das aber nur, weil Jenny auch immer für mich da ist.

Nachdem wir den Tisch abgeräumt hatten und ich wieder auf mein Zimmer gehen wollte, stellte sich mein Vater mir in den Weg, schaute mich sehr, sehr ernst an und sagte: Wenn du bei uns leben willst, dann musst du dich anpassen. Ich ging an ihm vorbei. Meine Zimmertür habe ich abgeschlossen.

Als es zu dämmern begann, bekam ich Angst. Das passiert mir ständig. Dann blicke ich zum Himmel und frage das Dunkelwerden: Was willst du. Was soll das. Wie bei einem Überfall, bei dem mir jemand eine Waffe entgegenstreckt und sonst gar nichts macht, mir einfach nicht sagen will, warum er mich bedroht, bin ich gelähmt und weiß nicht, was ich machen soll, damit es weggeht, will irgendwohin, wo ich keine Angst mehr habe. Aber es gibt keinen Ort, an dem es nicht dämmert. Dunkel wird es überall. Sag mir doch einfach, was du willst, damit ich es dir geben kann und keine Angst mehr haben muss. Warum sagst du nichts. Mir kann nichts passieren. Warum habe ich Angst. Das macht keinen Sinn, ich verstehe es nicht.

»Ich weiß echt nicht, ob ich das alles lesen will.«

Der Schuhkarton zu Jennys Füßen sieht so aus, als wäre er aufgeplatzt. Zwei Kanten sind aufgerissen, der Deckel liegt daneben. Einige Notizen und Eintragungen, allesamt ohne Datum, haben sich um den Karton zerstreut. Der Rest quillt aus ihm heraus. Jenny sitzt auf dem Bett, die Zettel immer noch in der Hand.

»Ich habe das Gefühl, ich sollte das nicht lesen«, sagt sie.

Richard sitzt hinter ihr an die Wand gelehnt. Er hat sich die Kapuze seines schwarzen Hoodies auf den halben Schädel gezogen, weil das sonst so unangenehm ist, mit dem Hinterkopf an der rauverputzten Wand. Wenn es ein anderer Mensch in ihrer Nähe wäre, würde Jenny jetzt heulen.

»Willst du das deinen Eltern zeigen?«, sagt er.

»Auf gar keinen Fall. Niemals hätte Flora gewollt, dass unser Vater das sieht. Schlimm genug, dass ich das gelesen habe.«

»Vielleicht wollte sie auch, dass du das liest.«

»Wie kommst du darauf?«

Richard rutscht nach vorne, sitzt jetzt neben Jenny. »Ich finds komisch, dass das alles so ordentlich aussieht, überhaupt, dass sie das ausgedruckt hat. Sogar das Papier sieht frisch aus.«

Die Zettel in Jennys Hand, und auch alle anderen im Karton und auf dem Boden: Arial, anderthalb Zeilen Abstand, Schriftgröße zwölf, Blocksatz. Kein einziger Knick im Papier, kein Schmutz, nirgendwo. Jenny stellt sich vor, wie Flora den letzten Punkt des letzten Satzes setzt, ihre intimen Gedanken auf Rechtschreib- und Grammatikfehler überprüft, auf den drucken-Button klickt, sich neben den Drucker stellt und wartet, ihn vielleicht vorher noch anschalten oder die Netzwerkverbindung herstellen muss. Vielleicht hat sie dabei eine Banane gegessen. Die Seiten kommen raus, sie legt sie zusammen und in den Schuhkarton unterm Bett, macht den Deckel zu. Klopft sich die Hände ab und legt sich schlafen.

»Ja, aber …« Jenny wendet ein paar Seiten hin und her. »Warum sollte sie …«

»Ich finde auf jeden Fall, dass du es lesen solltest. Vielleicht steht da was Wichtiges drin.«

Unten wird die Haustür aufgeschlossen. Jennys Vater Manfred schnauft sich seinen Weg in die Küche, wuchtet die überladene Einkaufskiste auf den Tisch. »Jenny, bist du zu Hause?«, ruft er. Jenny antwortet. Ihre Mutter fängt an, die Einkäufe in die Schränke zu räumen, während Manfred sich auf den Weg nach oben macht. Es vibriert und knarzt. Jenny verstaut die Zettel im Karton, verschließt ihn, schiebt ihn unters Bett und lässt sich mit Richard zurückfallen.

»Ihr habt ja nicht mal angefangen«, sagt Manfred. Dreißig Jahre Polizeidienst haben seinem Sprachgefühl nicht gutgetan. Früher hätte er diesen Ton nicht als angemessen empfunden. Mittlerweile ist er genauso selbstverständlich geworden wie sein verwahrloster Körper. Fett und aufgedunsen steht er da, im Türrahmen, schnauft. Jeder Treppengang macht ihm zu schaffen.

»Ja, irgendwie haben wir uns dann doch so faul gefühlt.«

»Ist ja nichts Neues bei euch.«

»Wir fangen gleich an.«

»Heute Abend muss das Zimmer leer sein.«

»Ist gut.«

Die Schritte quälen sich ins Erdgeschoss. Jenny kramt den Schuhkarton wieder hervor, will ihn in ihrem Zimmer verstecken.

»Warum hat er es denn so eilig damit, das Zimmer auszuräumen?«, sagt Richard.

»Keine Ahnung«, sagt Jenny. »Ich glaub, er nimmt das persönlich. Dass sie weg ist. Hab da jetzt aber keine Lust drauf. Lass uns das später machen.«

Ganz still wird es in dem Zimmer nicht. Die zugeschlagene Tür peitscht eine Wolke Staubmilben durch den Raum, in dem ein Subwoofer seit Wochen vor sich hin surrt, ein tiefer, kriechender Bass, kaum hör-, aber geisterhändig spürbar. Die aufgewirbelten Milben lassen sich darauf nieder und zittern wie vor Schreck. Die Daunenkissen im Schlafzimmer, auf denen Jenny und Richard gelegen haben, richten sich auf, erstarren auf halbem Weg. Über ihnen applaudieren Flügelpaare, zwei Motten flattern durch die Gegend, sorgenfrei, als würde von den schwülstigen Spinnenweben, die um sie herumhängen, stündlich anwachsen und den Raum Millimeter für Millimeter kleiner werden lassen, keine Bedrohung ausgehen.

Erfurt (ots) – Am Mittwochnachmittag (02. 01.) meldete sich die Mutter der 22-jährigen Farina K. bei der Polizei und erstattete eine Vermisstenanzeige. Sie habe ihre Tochter am Morgen des vorangegangenen Tages zuletzt gesehen. Farina K. habe das Haus (Erfurt-Büßleben) gegen 07:30 Uhr verlassen, um zu Fuß zur Arbeit zu gehen und sei nicht mehr wiedergekommen. […] 174 cm groß, schulterlanges Haar (braun), schlank, vielfarbige Kleidung. […]

Kaarst (ots) – Die Polizei fahndet seit Sonntag (10. 02.) nach Marilena P. (26). Sie habe in der Nacht von Samstag auf Sonntag gegen 03:30 Uhr eine Geburtstagsfeier im Krokusweg verlassen. Zeugenaussagen zufolge soll sie im Zuge eines politischen Streitgesprächs sehr aufgebracht gewesen sein. Die Polizei bittet um […].

Heidelberg (ots) – […] Der Vermisste wurde zuletzt am Donnerstag (21. 03.) gegen 14:00 Uhr an der Haltestelle Heidelberg-Pfaffengrund/Wieblingen […].

Hannover (ots) – Die Polizei bittet um Mithilfe bei der Suche nach dem 34-jährigen Shahid A., der von seiner Freundin am Freitag (03. 05.) das letzte Mal gesehen wurde. Shahid A. ist von kräftiger Statur, etwa 190 cm groß, hat kurz geschorenes, dunkles Haar […].

Potsdam (ots) – […] Michael B. sei am Dienstag (11. 06.) nach der Mittagspause nicht mehr am Arbeitsplatz erschienen. Zuvor habe er mit seinen Kollegen zu Mittag gegessen. Die Stimmung sei ausgelassen gewesen. Anschließend habe er sich auf die Toilette entschuldigt und […]

Rostock (ots) – Sie wollte sich nur mal kurz das Wasser angucken – nie mehr aufgetaucht! Mit feuchten Augen wandte sich die Schwester von Gabrielle B. (29) am Mittwoch (31. 07.) an die hilfsbereiten Beamten von der Rostocker Polizeidirektion und schilderte schluchzend die womöglich letzten Augenblicke, die sie mit ihrer Schwester verbracht […]

Hannover (ots) – In Hannover-Linden ist es am vergangenen Samstag (17. 08.) gegen 22:30 Uhr zu Ausschreitungen zwischen zwei Gruppierungen gekommen, infolgedessen die Studierenden Johannes M. (21), Viktoria P. (21) und Francesca R. (20) verschwunden sind. Die Polizei fahndet nun mit Fotos […]

Berlin (ots) – […] Freunde des Vermissten berichten, er sei aufgrund seiner erfolglosen Wohnungssuche und seines auslaufenden Mietvertrags in einer psychisch labilen Lage gewesen. Ein Suizid kann nicht ausgeschlossen […]

»Wohin verschwinden diese Spinner?«, sagt Manfred zu sich selbst, während er mit der linken Hand irgendeinen Hardrock-Klassiker auf dem Lenkrad seines Streifenwagens trommelt und mit der rechten ein Stück Zwiebelbaguette im Zazikieimer auf dem Beifahrersitz versenkt. Er steckt sich das Brot in den Mund. Von den vier oder fünf Flecken auf seiner Uniform hat er noch nichts bemerkt. Gelegentlich schaut er in den Rückspiegel, um die Landstraße und speziell die Linkskurve im Blick zu behalten, die wenige Hundert Meter hinter ihm um ein Waldstück führt.

Genau genommen interessiert es Manfred nicht so sehr, wohin die Leute verschwinden. Es erscheint ihm überaus unwahrscheinlich, dass ein Kidnapping-Kartell seine Opfer von der Straße zerrt. Alles deutet darauf hin, dass die Menschen freiwillig verschwinden, und damit sind sie kein Verlust für das Land. Seine Tochter ist ebenso wenig »verschwunden«. Flora hat Manfred verlassen. Hat ihre Sachen gepackt und tschüss, ein gigantomanischer Mittelfinger am Ende einer Reihe vieler kleiner Mittelfinger, die sich über die Jahre angesammelt haben, einzig und allein aus dem Grund, ihre Eltern daran zu erinnern, wie viel Verachtung sie für sie aufbringen kann. Flora hat nie mit Manfred leben wollen und keine Gelegenheit ausgelassen, das zu zeigen, ungeachtet seiner Bemühungen. Wenn Manfred ankündigte, an seinem freien Tag für die Familie kochen zu wollen, vergaß Flora das zufällig und verabredete sich fürs Kino. Wenn er einen Ausflug plante, wurde sie zufällig krank. Wenn er ihr bei den Hausaufgaben helfen wollte, hatte sie die schon erledigt, und dann kamen trotzdem die blauen Briefe. Seine Berufsvorschläge fand sie scheiße. Über seine Lieblingsfilme machte sie sich lustig. Sie will keine familiäre Geborgenheit? Bitte schön, kriegt sie nicht.

Manfred hat aber noch eine zweite Tochter. Er schlussfolgert streng logisch: Hannover ist immer mehr vom Verschwinden betroffen. Hannover ist nicht weit. Jenny will, je älter sie wird, immer häufiger nach Hannover. Die Wahrscheinlichkeit steigt, dass sie in Hannover eines Tages verschwindet. Den Fall aufzuklären wird für Manfred damit zur Präventionsmaßnahme.

Er sieht in den Rückspiegel. Da sind sie. Ein tiefergelegter Golf 3 kommt keinen km/h zu schnell um die Kurve gebogen. Er ist in demselben Grün des Waldstücks hinter ihm lackiert, für einen weniger scharfsinnigen Beobachter wäre er perfekt getarnt. Doch Manfred würde diesen Golf auch farbenblind aus zwanzig Kilometern Entfernung erkennen. Er tritt die Kupplung, dreht den Schlüssel, schluckt runter, fährt auf die Fahrbahn. Dass Dima dieses Drecksding überhaupt noch fährt. Wird der irgendwann erwachsen?

halt.

Schämen diese Leute sich denn für gar nichts? Gucken die keine Nachrichten, keine Polizeisendungen im Nachmittagsprogramm? Sehen die nicht, dass es einfach scheiße ist, mit so einem Auto durch die Gegend zu fahren?

bitte folgen.

Rechts ran, Motor aus, aussteigen. Gemütlich rüberschlendern.

Als Manfred an der Fahrerseite angekommen ist, hat Dima das Fenster bereits runtergekurbelt. Er kramt nach seinen Papieren. »Was hab ich falsch gemacht?«

»Ach, die ganze Mannschaft beisammen«, sagt Manfred, während er sich lächelnd ins Auto lehnt, nach wie vor ohne Kenntnis der Zazikiflecken auf seiner Uniform. Als lächerlich empfindet er jedoch nur den Anblick, der sich ihm bietet: Hinten auf der Rückbank fläzt Danik, halb liegend hat er seinen massigen Körper zwischen die Sitze gepresst und reibt in üblicher Nervosität seine Wurstfinger aneinander. Auf dem Beifahrersitz hängt Doktor Dobrin, der bei Weitem kein Doktor ist, aber nicht anders genannt wird, eine spindeldürre, fast zwei Meter große Phantomgestalt mit eingefallenem Gesicht und kreisrunder, viel zu kleiner Brille. Dima ist der Einzige, der wirklich nach Gefängnis aussieht, mit seinem durchtrainierten Kreuz und adrigen Unterarmen, seinen sorgfältig geschorenen Haaren und kantigen Wangenknochen. Alle drei konzentrieren sich auf die Straße, als würden sie immer noch fahren.