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»Ich habe ständig das Bedürfnis, nach dem Mond zu sehen.« Als Meikel seinen Freund Eddi auf dessen bizarre Jagd nach Meteoriten im Berliner Umland begleitet, hat er eine böse Vorahnung: Es wäre nicht das erste Mal, dass Eddi mit seinem Geschwätz Meikels Leben aus den Angeln hebt. Dass dies erst der Anfang einer Kette von unvorhersehbaren Ereignissen ist, die die Grenzen zwischen ganzen Welten neu ausloten, hätte Meikel aber auch nicht gedacht. Auf seiner Reise kann er sich nie sicher sein, von wo die größte Gefahr ausgeht: seiner Drogensucht, den Gespenstern im ehemaligen Szene-Club oder doch von den profitgierigen Mitgliedern der Zahnärztekammer. Sven Pfizenmaiers Humor und seine genauen Beobachtungen schlagen so spektakulär und überraschend ein wie Meteoriten auf der Erde. Zusehends fragt man sich: Wer erzählt hier die Geschichte? Und wer ist tatsächlich der Schwätzer?
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Seitenzahl: 311
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Sven Pfizenmaier wurde 1991 geboren. Sein Roman Draußen feiern die Leute wurde mit dem aspekte-Literaturpreis für das beste Debüt des Jahres, dem Kranichsteiner Literaturförderpreis des Deutschen Literaturfonds und dem Literaturpreis der Landeshauptstadt Hannover ausgezeichnet. Sven Pfizenmaier lebt in Berlin.
Als Meikel seinen Freund Eddi auf dessen bizarre Jagd nach Meteoriten im Berliner Umland begleitet, hat er eine böse Vorahnung: Es wäre nicht das erste Mal, dass Eddi mit seinem Geschwätz Meikels Leben aus den Angeln hebt. Dass dies erst der Anfang einer Kette von unvorhersehbaren Ereignissen ist, die die Grenzen zwischen ganzen Welten neu ausloten, hätte Meikel aber auch nicht gedacht. Auf seiner Reise kann er sich nie sicher sein, von wo die größte Gefahr ausgeht: seiner Drogensucht, den Gespenstern im ehemaligen Szene-Club oder doch von den profitgierigen Mitgliedern der Zahnärztekammer.
Sven Pfizenmaiers Humor und seine genauen Beobachtungen schlagen so spektakulär und überraschend ein wie Meteoriten auf der Erde. Zusehends fragt man sich: Wer erzählt hier die Geschichte? Und wer ist tatsächlich der Schwätzer?
Berichte deiner Reise haben Fehler provoziert
Warum schreibst du den Hasen nicht mit H?
Am Himmel über Neukölln sind die Sterne unsichtbar. Eine Kuppel aus Milch verschleiert den Glanz der Meteore, die auf dem Weg zu ihrem Ende hier vorübersegeln. Für die Straßen spielt der Weltraum keine Rolle, das Auge Galileo Galileis schiebt sich durch den Flaschenhals in den Schaum des Bieres. Jemand nimmt einen Schluck daraus, schaut zum Wettbüro. Dort steht ein Mann im Hemd und wischt sich die Tränen von der Wange. Hoch über ihm, im Dachgeschoss der Mall, werden Gespräche an der Hantelbank geführt. Ein Ratschlag für die Muskeln, vier Silben für das Herz. Der Zapfhahn spuckt Magnesium.
come on Baby, leg was zwischen die Tür
damit ich später noch zu dir kann
damit du
damit du nicht
damit du nicht weinst und dein Kissen schon ganz nass ist
weil du es nicht schaffst
zu sagen, du magst es nicht
wenn du abends ganz allein bist
Sie wollen zärtlich sein und halten sich die Hände, verängstigt von der Dunkelheit, die sich ihnen aus den Seitenstraßen entgegendrückt und in deren Schutz man hier Hakenkreuze an Schawarmaläden geschmiert und Scheiben von Baklavabäckereien eingeworfen hat, wo man Israelflaggen in Brand gesetzt und schwule Pärchen angespuckt hat, wo sich jetzt aktuell aber nichts befindet außer dem Konsum, zwei Süchtige fragen nach Kleingeld, ein paar andere stoßen ihre Weinschorlefläschchen aneinander, jemand raucht, jemand steigt ins Kokstaxi.
Die Bar an der Ecke wird von einem Mistkäfer betreten, seine Panzerung schimmert grünlich, als er an den Kickertischen vorbeigeht und sich auf den einzigen freien Hocker am Tresen setzt. Die Bedienung fragt nicht mehr nach, stellt ihm schweigend einen Dark’n Stormy vor die Fühler. Er schämt sich, weil er sich wieder einmal eingeredet hat, nur diesen einen Drink zu nehmen, und da musste er natürlich an The Lost Weekend denken, wo Ray Milland auch nur diesen einen Drink haben will und gesagt bekommt: »Won’t you ever learn, it’s like stepping off a roof and expecting to fall just one floor.«Und so fiel er, wortlos dem Durst ergeben, von einem Glas ins andere, bis er von der letzten Erkenntnis für diesen Abend in die Bewusstlosigkeit verabschiedet wird, der Erkenntnis, alles falsch gemacht zu haben. Auch für diese tropische Nacht hat man Unwetter angekündigt, und auch in dieser Nacht kommen sie nicht.
Glitch im Gesicht
doch fühlen tun wir einfach nichts
gib mir den Kick, und ich sage
das reicht noch nicht
Am Morgen die Hitze. Die Sonne, der Thron. Prahlerei. Am Straßenrand stehen runde, mit Wasser befüllte Boxen, in denen sich mal ein halbes Kilo Haribo befand. Jetzt entwachsen dem Plastik Eidechsen, sie tippeln über den Asphalt und verschwinden in Smogwolken. Der Mann, der am U-Bahn-Eingang Flyer verteilt, bekommt nicht mal ein »Nein danke« zu hören, wortlos gehen die Menschen an ihm vorbei, und wortlos hält er sie hin, die Ausrufungen von Schlussverkäufen, die Megadeals, die einmaligen Probierwochen und Limited Editions.
und die Sonne strahlt mich an
nicht rund, nicht gelb
und die Menschen weinen schnell
nicht in echt, und nur für Geld
und ich hab geträumt
in vier zu drei
Jemand brät sich ein Spiegelei auf der Motorhaube seines 5er BMWs, »Vorteil schwarzes Auto«, sagt er und schnipst seine Zigarette gegen einen pinkfarbenen Schwimmring mit Einhornkopf, der sich daraufhin in Abermillionen Teile zerstäubt und in der Kanalisation versickert. Ratten, Maden, Tauben. Flötenspieler drängen sich auf dem Bürgersteig, ihre schiefen Melodien brechen über Balkone in Schlafzimmer ein, hier hat es viel zu lange keinen Sex gegeben, lieblos liegen die Körper auf dem Boden, ihr Brusthaar entstellt in einer Flut von Sojasoße. Sektkorken, Ventilator, wabernder Asphalt. Niemand nass rasiert, stoppelige Gesichter und Rauschebart, Dönergeruch, niemand isst. Kippen, Bier, Schatten. Oben im Parkhaus bröckeln Schwäne aus dem Putz, rissige Narben, und fliegen dem Bordstein entgegen, wo es sich gut sitzen lässt, einfach nur das, sitzen. Augenringe. Jemand sagt: »Ich brauche Geld«, und jemand anderes hat keines. Als sie sich von ihren Träumen erzählen, riechen sie den Schweiß der anderen. Mitten im blauen wolkenlosen Himmel steckt der Vollmond wie ein Loch im Karton, durch das die Küken atmen können.
Meikel hatte noch nie ein gutes Verhältnis zu schönen Dingen gehabt. Wenn sie in sein Leben getreten waren, wollte er sie nicht mehr gehen lassen, unter keinen Umständen, er wollte mehr von ihnen, jeden Tag mehr, bis sie kaputtgingen oder ihn verließen oder seinen sicheren Tod bedeuteten, wenn er sie behielte. Er hatte auf diese Art Freundschaften geführt und Beziehungen, verschlingend, unstillbar hungrig nach gemeinsamer Zeit und Aufmerksamkeit, sensibel für jede Verletzung, die er zu erleiden glaubte, unsensibel für alles, was ihn nicht betraf. Die meisten empfanden ihn nach kurzer Zeit als lästig. »Du musst ein gesundes Mittelmaß finden«, sagte jemand, als Meikel wieder einmal schwor, von exakt diesem Moment an nie wieder Alkohol anzurühren und Drogen schon gar nicht, das sei vorbei, für immer. Der Ratschlag war nicht schlecht. Bloß verstand die Person nicht, dass das gesunde Mittelmaß in Meikels Welt ein irreales Konzept war. Es gab keinen Pfad in seinem Hirn, an dessen Ende Mäßigung stand. Er hat es ja probiert, sehr wohl wissend, dass dieses gesunde Mittelmaß, von dem alle sprachen, einige seiner übelsten Probleme hätte lösen können. Doch es ging nicht. Es gab nur alles oder nichts. Wenn Meikel etwas Tolles sah, dann wollte er daran verrecken. Als er sich dem jedoch ganz real näherte, dem Verrecken, wollte er es nicht mehr. Seitdem, so sagt er, ist er ein anderer Mensch geworden, und als dieser andere Mensch stand er eines Abends im August vor dem Kühlregal eines Supermarkts, wog zwei Becher in den Händen, links einen Schokopudding mit Vanilleflecken, rechts einen Vanillepudding mit Schokoflecken, und sagte: »Du verdammtes Stück Scheiße, entscheide dich.«
Er wiederholte diesen Satz minutenlang. Einige Menschen in Hörweite stellten ihre Einkäufe zurück, als hätten sie Angst, durch den Verzehr eines Fruchtjoghurts könnte seine Perversion zu ihrer werden. Andere, wenige, näherten sich ihm und berichteten, diesen oder jenen Pudding selbst einmal gegessen zu haben, und sprachen eine Empfehlung aus oder eine Warnung. Meikel ignorierte sie. Er vertiefte sich in die Produkte. Am Ende nahm er beide und hasste sich.
Es war nicht immer so schwer. An diesem Abend war es das, weil Meikel auf dem Weg zum Supermarkt im metallicblauen Lack eines halb auf dem Bürgersteig geparkten AMGs seine Reflexion gesehen hatte und erschrocken war. Er hatte nichts Schönes an dem Bild gefunden, das sich ihm bot, und noch weniger an dem, was nicht zu sehen war, aber von dessen Existenz er wusste, der blassen Haut, den hängenden Fettlappen. Rötungen, Krümmungen, aufgekratzte Pickel. Als er mir später von diesem Selbstbild erzählte, sagte ich ihm, dass ich ihn schön finde, aber davon wollte er nichts wissen, er war von seiner Hässlichkeit überzeugt und wollte nicht an sie erinnert werden, denn wenn er erinnert wurde, dann wollte er sich bestrafen. Mit einem Messer ins eigene Fleisch schneiden zum Beispiel oder sich Gift zuführen oder wenigstens eine Mahlzeit auskotzen, aber weil er das nicht mehr durfte, weil er leben wollte, gab er sich mit milden Strafen zufrieden, wie eben: Heute kaufst du dir nur ein einziges Dessert. Dass er selbst daran scheiterte, brachte ihn in Rage. Auf dem Weg zur Kasse murmelte er wüste Beschimpfungen vor sich hin. Als er dort ankam, hatte er bereits die Erfolge der vergangenen Jahre, die Entgiftung, die Therapien, die wiederaufgebauten Freundschaften, für entwertet erklärt. Es brauchte ein warmes, auf fast schon unheimliche Art verständnisvolles Lächeln des Kassierers, um ihn zu beruhigen. Ruiniert war der Abend trotzdem, und so hatte Meikel eigentlich geplant, ihn daheim im Ventilatorwind zu verbringen und die Angebote aller marktführenden Streaminganbieter miteinander zu vergleichen, während sich Erdnussflips in seinem Mund so lange mit Speichel vollsogen, bis sie sich am Gaumen zerdrücken und, ohne zu kauen, runterschlucken ließen, doch dann klingelte es an der Tür.
Er nahm den Hörer der Gegensprechanlage ab und fragte, wer da sei. »Ich bins«, hörte er Eddi sagen, ganz locker, als würde es sich bei seinem Erscheinen nicht um eine Anomalie im Weltengefüge handeln. Durch den Hörer prasselte das Blubbern einer Wasserpfeife auf Meikel ein. Er gab sich dem hin, sekundenlang, Massenhinrichtung und Artensterben, Knallfrösche auf einsamem Asphalt, ein Sturz aus der Jugend, Pfefferminztabak statt Zähneputzen, es waren leichtere Zeiten. »Lässt du mich rein?«, sagte Eddi irgendwann. Meikel drückte auf den Buzzer, vielleicht auch in der Hoffnung, sich verhört zu haben, öffnete die Tür und starrte ins Treppenhaus. Er hatte sich nicht verhört. In dieser ihm eigenen Mischung aus Müdigkeit und Enthusiasmus kam Eddi die Stufen raufgeschlendert, auf den ersten Blick unverändert, mit dem gewohnten drahtig-adrigem Körper und den kurz geschorenen Haaren. Genau wie früher trug er ein spruchbedrucktes T-Shirt. Dieses kannte Meikel nicht, es war ein schwarz-weiß gebatiktes Exemplar mit der Aufschrift:
never
bad
vibes
Eddi grinste breit. Als er etwas näher an ihn herantrat, bemerkte Meikel dann die vielen kleinen, wunderschönen Veränderungen an seinem Körper: Seine Zähne waren vollständig und weniger gelb, seine Haut hatte an Farbe gewonnen, die einst radioaktiv pulsierenden Augenringe hatten sich auf faltige Narben runtergeheilt. Meikel musste lächeln.
»Du siehst gesund aus«, sagte er.
»Du auch«, sagte Eddi, weiterhin grinsend und damit offensichtlich auf Meikels neue Rundungen anspielend, auf die Straffungen des T-Shirts um seinen Bauch und die kleinen Schatten unter der neu gewachsenen Fettbrust. Da war nichts Spöttisches in seinem Grinsen, er freute sich ganz aufrichtig darüber, dass ihm Nahrung wieder zu schmecken schien. Trotzdem wusste Meikel nicht, was er jetzt sagen, auch nicht, ob er ihn reinbitten sollte. Er wusste nur, dass er ihm in die Arme fallen wollte, und er wusste, dass er das nicht tun sollte, weil es gefährlich war, und dann tat er es, er umarmte ihn und schnaufte ihm in seine Schulter, er hörte ihn »Ich habe dich vermisst, Meikel« sagen und wie das Patsch, Patsch, Patsch ihrer Rückenschläge durch den Hausflur hallte.
Sie saßen sich im Wohnzimmer gegenüber. Eddi auf der Couch, Meikel auf einem Stuhl, den er aus der Küche holte. Auf dem Beistelltisch neben der Couch lagen, von Eddi ignoriert, die Erdnussflips. Es stand die Getränkefrage im Raum, doch keiner traute sich, sie zu formulieren. Sie wollten niemals zu Menschen werden, die Tee anbieten. Meikel nahm allen Mut zusammen und tat es, und Eddi nahm dankend an, als sei es normal. Weil klar war, dass sie nun Kette rauchen würden – Eddi fummelte bereits nach seinem Tabak –, öffnete Meikel das Fenster. Eigentlich hielt er Zigarettenqualm in seiner Wohnung nicht mehr aus und rauchte nur noch auf dem Balkon. Dies jedoch konnte er Eddi natürlich nicht sagen, der bereits nach einem Aschenbecher suchte und dann, als er einen Schluck aus der Tasse nahm, den zum Teetrinken obligatorischen Witz über den Tiefpunkt ihres Lebens machte.
»Das ist der Tiefpunkt unseres Lebens«, sagte er.
Meikel stimmte zu, holte den Aschenbecher vom Balkon und steckte sich eine Kippe an. Er hatte das Gefühl, dass mit diesem Satz alles gesagt war. Von draußen, aus der Nacht, drangen die Gespräche des Shishacafés im Erdgeschoss zu ihnen, das Autorauschen der Hermannstraße, die Krankenwagensirenen und fiependen Wegfahrsperren der erfolglos geklauten E-Scooter. Sonst, so schien es, kam nichts herein, kein laues Lüftchen brachte die Nacht zustande, es war dieselbe Schwüle wie am Tag, nur dass die Sonne nicht brannte. Eddi saß aufrecht auf der Couch und fuhr mit dem Zeigefinger über den Rand seiner Teetasse, in Viertelkreisen hin und zurück. Früher hätten sie jetzt über Konsum geredet. Dass sie stattdessen gar nichts sagten, tat Meikel weh. Er prüfte, ob er weinen wollte. Es spielte keine Rolle, er konnte nicht. Er bereute nur, Eddi umarmt zu haben. Plötzlich beschämte die Nähe ihn nachträglich.
Eddi, das muss man wissen, ist ein Schwätzer. Menschen, die es gut mit ihm meinen, attestieren ihm eine blühende Fantasie, die anderen halten ihn einfach für einen notorischen Lügner und liegen damit vollkommen richtig. Meikel war völlig klar, dass eher früher als später alle Süchtigen zu Lügnern werden, er ja auch, das gehörte dazu, Eddi aber kannte gar kein Maß, er log ohne jeden Grund, den ganzen Tag, oft um persönliche Fehlschläge zu kaschieren, meistens aber aus Langeweile oder schlicht aus Gewohnheit. Im Grunde hatte Meikel keine gesicherten Informationen über ihn. Im Laufe der Jahre hatte er ihn bestimmt fünfzehn verschiedene, absolut nicht miteinander zu vereinbarende Familiengeschichten erzählen hören, mal waren seine Eltern bosnische Kriegsflüchtlinge, mal verstoßene FARC-Guerillas. Einmal, als Meikel sich weigerte, mit ihm ins Planetarium einzubrechen, gab Eddi sich als Nachkomme von Juri Gagarin aus und warf Meikel vor, die Ausführung seiner genetischen Verpflichtungen dem Weltall gegenüber zu sabotieren. Du konntest Eddi nach der Uhrzeit fragen, und er würde dich anlügen. Er log sein Tagebuch an. Manchmal hatte er behauptet, genug Geld für den Dealer zusammengeschnorrt zu haben, dann gingen er und Meikel hin und bekamen aufs Maul.
»Wenn mir jemand ein Bild dieser Wohnung zeigen und mich fragen würde, wer hier wohnt, würde ich niemals auf dich kommen«, sagte Eddi.
»Ich gebe mir Mühe.«
»Du hast einen Beistelltisch.«
»Wie gesagt.«
Eddi lehnte sich zurück und wippte mit seinem rechten Bein, wodurch der Schlüsselbund in seiner Hosentasche zu klimpern begann. Gerade als Meikel ihm sagen wollte, dass ihm das Geräusch schrecklich auf die Nerven gehe, so, wie er es ihm schon früher etliche Male gesagt hatte, presste Eddi von außen seine Hand an den Schlüssel und hielt ihn fest. »Ist das eine Maßnahme, um nicht ans Ballern zu denken?«, sagte er.
»Was?«
»Deine Wohnung. Dieser aufgeräumte Möbeldiscounterstil sieht mir gar nicht nach dir aus. Ist das dein Geschmack, und ich wusste es nicht, oder ist es genau nicht dein Geschmack, und du hast dich so eingerichtet, um nicht an früher erinnert und rückfällig zu werden?«
»Wäre das nicht ein bisschen albern?«
»Finde ich nicht. Ich komme ja nur darauf, weil ich das genauso mache, bloß mit Sprechen. Ich fluche nicht mehr.«
»Du fluchst nicht mehr.«
»Ja. Diese ganzen Wörter –«
»Scheiße, ficken, Bastard …«
»Genau. Sag ich alles nicht mehr. Ist mir halt irgendwann aufgefallen, dass, wenn ich so rede, wie ich früher geredet habe, dann schaltet sich mein Hirn so zusammen, dass ich was ballern will. Also rede ich einfach, als ob ich ein anderer Mensch wäre. Der echte Eddi hat seine Chance gehabt und es nicht auf die Reihe bekommen, keiner braucht den, keiner liebt den, also muss er eingegraben werden, verstehst du, was ich meine?«
»Ist das mit einem Therapeuten abgesprochen? Kommt mir ungesund vor.«
»Ich halt mir auch die Augen zu, wenn ich auf die Tür von ’nem Restaurant oder so zugehe, weil ich Angst hab, dass wenn ich das Wort Ziehen lese, ich mir sofort ein Gramm Koks hole.«
»Aber wenn du dir aus Angst vor dem Wort die Augen zuhältst, steht dann nicht in deinem Kopf erst recht dick und fett ZIEHEN?«
»Offensichtlich nicht. Ich bin seit drei Jahren clean.«
»Okay.«
Meikel stand auf und schloss das Fenster. Dass Eddi ihm weiterhin nicht sagte, warum er hier war, machte ihn wütend, gerade auch weil er sich in dieser Hinsicht nicht verändert hatte. Aus Angst vor negativen Reaktionen tat Eddi schon immer einfach so, als wäre an seinem Verhalten nichts ungewöhnlich, erwähnte dann irgendwann beiläufig, dass man sich gern was zu trinken holen könne, man müsse nur noch ganz kurz »einen schnellen Euro machen«, in dieses Geschäft für Arbeitsbekleidung, um Warnwesten, Sicherheitsschuhe und Bauhelme zu klauen, damit verkleidet nach Lichtenrade fahren und einem fernen Bekannten beim Verladen von drei unbewachten Dixi-Klos helfen. Wenn man ihn dann fragte, was das solle, guckte er einen an, als wäre man selbst der Wahnsinnige. Genau so saß er an diesem Abend auf Meikels Couch, unschuldig in der Luft rumguckend.
»Warum bist du hier?«, sagte Meikel.
»Ich hätte nicht kommen sollen, wa?« Eddi sah ihn nicht an, hielt den Kopf gesenkt und knetete seine Hand. Sofort tat er Meikel leid. Er spürte das Bedürfnis, ihm die Last zu nehmen und zu sagen, dass es schon okay ist, dass sie nicht darüber sprechen brauchen. Die Worte kamen schon beinahe aus seinem Mund, als er sich daran erinnerte, dass er so was nicht mehr machen darf. Er schwieg und wartete.
»Ich habe Probleme«, sagte Eddi.
Meikels Herz schlug schneller, er schluckte. In seiner Brust wuchs ein Ballon. Er rief sich seine Therapeutin ins Gedächtnis und atmete ein, atmete aus, lenkte seine Wut in die rechte Hand, die sich fest an den Stuhlboden krallte.
»Du hast Probleme? Und kommst damit zu mir? Was soll das, Eddi?«
»Ich weiß. Ich weiß. Es ist mir auch nicht leichtgefallen. Ich weiß das doch alles. Aber irgendwie … irgendwie ist es doch jetzt anders, oder nicht? Guck dir deine Wohnung an. Du bist clean. Ich bin clean.«
»Ja. Genau wie beim letzten Mal.«
»Das passiert nicht noch mal. Ich verspreche es dir.«
»Wir haben uns voneinander verabschiedet.«
»Aber jetzt ist doch alles anders.«
»Was ist denn anders?«
»Ich schwöre dir bei Gott«, sagte er, »dieses Mal ist es anders. Ich würde nicht zu dir kommen, wenn ich mir nicht zu einhundert Prozent sicher wäre. Ich brauche dich.«
Die Sätze, tausendfach gehört, dröhnten in Meikels Kopf. Am liebsten hätte er Eddi angeschrien und aus der Wohnung gejagt, doch es dämmerte ihm bereits, dass er dazu nicht in der Lage war. Er hatte Eddi zu sehr vermisst. Es erinnerte ihn an das Spätstadium seiner Sucht, in dem er innerlich von der Scheiße loskommen wollte und jedes Zusammenrollen einer Fahrkarte und jedes Erhitzen von Alufolie von nichts mehr begleitet war als Sätzen wie Ich würde jetzt gerne damit aufhören, oder Hör auf, oder Hör sofort auf, während Hände und Mund und Nase das genaue Gegenteil taten und er ihnen nur noch zusehen konnte, und genauso hörte er sich, zum Mond schauend, Eddi fragen, was er denn jetzt für ein scheiß Problem habe.
Im Zuge einer Reihe von Verzweiflungstaten zur Erhaltung des Römischen Reichs beschloss Kaiser Valerian im August 258 n. Chr., den Bischof von Rom, Sixtus II., enthaupten zu lassen. Einer der Gründe dafür waren die Kostbarkeiten, die die noch junge christliche Kirche in ihren Kammern aufbewahrte – zumindest ließ sich Valerian bald nach der Ermordung des Bischofs dessen Schatzmeister Laurentius bringen, um diesen zuerst zu foltern und ihm dann zu befehlen, die Schätze der Kirche zusammenzutragen und auszuhändigen. Laurentius willigte ein und ging los. Er holte das Gold und Silber und den Schmuck aus den Kammern, schenkte es den bedürftigen Mitgliedern seiner Gemeinde und schlug beim Kaiser mit einer Gruppe von Armen und Behinderten auf sowie der Meldung, diese Menschen hier seien der wahre Schatz der Kirche. Laurentius wurde augenblicklich hingerichtet. Seitdem weint der Himmel jedes Jahr Laurentiustränen, im August fallen sie leuchtend durch die Nacht. In Berlin sind sie eigentlich nicht zu sehen, nur ganz selten schaut jemand in die Luft und sagt: »Oh mein Gott, eine Sternschnuppe.«
Auch Farina hätte sie beinahe nicht bemerkt. Der glühende Schweif zog sich so unmittelbar nach dem Anzünden der Zigarette durch das Schwarz, dass sie dachte, ein Funke ihres Feuerzeugs sei zum Mond hinausgesegelt. Sie hat sich nichts gewünscht.
Farina hatte den Abend im Kino verbracht, saß nun im Vorhof einer Gokart-Bahn, der ein mit privat bewirtschafteten, urbanen Gärten dekoriertes Brachland zwischen zwei Baustellen war, und trank Bier. Warme Luft umschmiegte ihren Körper. Sie war davon ausgegangen, dass sich hier einige Leute tummeln würden, aufgrund seines Abstands zu den Wohnhäusern und den angenehm schlecht beleuchteten Palettenbänken war dieser Platz ein beliebter Treffpunkt, doch nach ihrer Ankunft fiel ihr auf, dass es Dienstagnacht war, und Dienstagnächte waren nicht mehr wie früher. Der Platz war leer. Farina überlegte, ob sie jemanden nach Gesellschaft hätte fragen sollen und ob sie sich einsam fühlte. Beide Fragen ließen sich nicht eindeutig beantworten. Sie spürte eine Abwesenheit von etwas, das hätte da sein sollen, aber sie war nicht sicher, ob es sich bei diesem Etwas um einen Menschen handelte. In der Dunkelheit tippelten die Ratten. Sie kratzten am Holz und trugen Nahrung von einem Loch ins andere. Ab und zu quiekten sie, und manchmal klang es so, als würden zwei von ihnen übereinander stolpern.
Es waren jetzt vier Monate vergangen, seitdem Alva ihren Kopf in den voll aufgedrehten Gasherd ihrer WG-Küche gelegt hatte und erstickt war. Farina hatte mit ihr zwar über Suizid gesprochen, das war aber bestimmt zehn Jahre her gewesen, als sie Anfang zwanzig waren und einen Hang zum Pathetischen hatten. In diesen Gesprächen ging es viel um die emanzipative Komponente der Selbsttötung, die Würde, die in einem selbstbestimmten Abtreten lag, gerade im Angesicht einer Krankheit. Dieser Teil stellte für Farina lange Zeit den Kern der Gespräche dar, weswegen sie sich nie ernsthafte Sorgen machte. Selbstmord war für sie etwas, das man im Alter tat, wenn es nicht mehr viel zu holen gab, und sie hatte geglaubt, dass Alva das genauso sah. Erst nach ihrem Tod, als die Schuldfrage sie quälte, erinnerte Farina sich, dass es für Alva auch um den Leistungsdruck gegangen war, den ihr Vater auf sie ausübte, um das zwangsläufige Absterben jeder Liebe, um die allgemeine Perspektivlosigkeit der Menschheit und um den kaum zu ertragenden Selbstekel, der sie regelmäßig überfallen hatte.
Alva war zu einer Zeit gestorben, in der es Farina ohnehin nicht gut ging. Zwei Monate zuvor hatte sie ihren Club verloren, das April. Farina war gerade dabei gewesen, langsam wieder auf die Beine zu kommen. Sie ging zum Friseur, sie ging einkaufen. Sie stellte sich einen Wecker, obwohl sie nichts vorhatte. Manchmal setzte sie sich für einen Cappuccino in ein Café, hörte aber bald auf damit, weil ihr auffiel, wie sehr sie diese Cafés verachtete, wo man die Tagesangebote mit Herzchen verzierte, um zweistellige Beträge für ein belegtes Brot irgendwie lieb aussehen zu lassen. Eigentlich hatte sie die Missgunst und die Arroganz vieler der älteren in Berlin Geborenen gegenüber Zugezogenen nie geteilt, sie hatte das als stumpfsinnig empfunden. Das änderte sich allmählich. Farina fühlte einen Hass in sich wachsen, erkannte ihn allerdings auch als ein Anzeichen schwelender Verbitterung, da sie ja wusste, dass es so einfach nicht war, nicht jeder Zugezogene trägt automatisch zu einem Anstieg der Mieten bei, auch dann nicht, wenn er ein Burgerrestaurant mit lustigem Namen eröffnet. Und trotzdem ertappte sie sich immer wieder bei der Lust, einen großen Stein zu werfen.
»Wow«, sagte Leif, »ganz schön drastisch. Du brauchst mal was Witziges. Wann hast du das letzte Mal gelacht?«
»Mir ist grad nicht so nach lachen, Leif.«
Kaum hatte Farina sich bei ihm gemeldet, hatte Leif vorgeschlagen, gemeinsam was trinken zu gehen. Er hatte es sich schon seit geraumer Zeit zur Aufgabe gemacht, Farina aufzumuntern. Sie wusste das zu schätzen, vor allem, weil Leif, einer der fröhlichsten Menschen, den sie je getroffen hatte, selbst eigentlich gar nicht so viel zu lachen hatte. Sein Leben war von groteskem Unglück gezeichnet. Zumindest im Alltag hatte er sich schon lange damit abgefunden, er wunderte sich nicht mehr darüber, dass er jedes verdammte Mal, wenn er vergaß, sich ein Ticket für die U-Bahn zu ziehen, sofort kontrolliert wurde, er wunderte sich nicht über die Steine in den entkernten Oliven auf seiner Pizza und dass er immer, wenn ihm etwas runterfiel, über einem Abflussgitter stand. Er hörte irgendwann auf, sich darüber zu beschweren, er konnte nichts daran ändern: Es war genetisch bedingt. Leif entsprang väterlicherseits einer Familie von Pechvögeln, schon sein Urgroßvater hatte in den 1920ern die Schulausbildung abgebrochen, um sich dem professionellen Kommentieren von Stummfilmen zu verschreiben. Dessen Sohn entwickelte eine Sportwettensucht, die Verluste verursachte, um deren Höhe sich Mythen ranken. So erzählte es zumindest Leifs Mutter, die keinen Hehl daraus machte, dass der letzte Satz, den sie je von seinem Vater gehört hatte, »Ich hasse mein Leben« war, nachdem er das geplatzte Kondom aus ihr gezogen hatte und wenige Minuten später für immer verschwand.
»Ich habe richtig gute Laune heute«, sagte Leif. »Noch einen Aperol?«
»Warum nicht.«
»Exactly.«
Leif und Farina saßen in einer Bar in der Donaustraße, die einmal einem Schwaben oder Bayer gehört hatte. Sie hatte auch einen schwäbisch oder bayerisch klingenden Namen, den Farina sich weigerte auszusprechen. Der frühere Besitzer war nicht müde geworden zu erzählen, dass hier eines Silvesterabends Quentin Tarantino höchstpersönlich aufgeschlagen war, und bei jeder Erzählung wurde die Zeit, die die beiden zusammen am Tresen gesessen hatten, länger. Im zweiten Jahr der Covid-Pandemie hatte er sich jedoch dazu entschlossen, die Bar zu verkaufen, und seitdem wurde sie von US-amerikanischen Expats betrieben, die nichts änderten, außer dass es keine Weißwurst und Brezeln mehr gab und dass zweimal wöchentlich im Hinterraum eine englischsprachige Stand-up-Comedy-Night stattfand. Ab und zu sagte jemand das Wort »Anmeldung«, und dann lachten alle.
»Du willst wahrscheinlich nicht nach hinten gehen«, sagte Leif.
»Nein«, sagte Farina. Sie war ein bisschen sauer, dass Leif für das Treffen diese Bar vorgeschlagen hatte, obwohl er gewusst hatte, dass heute Comedy-Night war, und Farina nicht. Sie fragte sich, ob Leif ihr, ganz grundsätzlich, überhaupt zuhörte, oder ob er einfach überzeugt davon war zu wissen, was ihr guttat. Immerhin wurden hier an Comedy-Nights traditionell auch Radio-Hits der Nuller Jahre gespielt. Deswegen konnte Farina auch nicht wirklich sauer auf Leif sein. Er stellte mit dem Aperol in der Hand Augenkontakt zu ihr her und sang Feel von Robbie Williams, und das war natürlich einfach nur schön. So schön, dass Farina ein schlechtes Gewissen bekam und Leif zuliebe ein Mal lachte. Außerdem hätte sie ein schlechtes Gewissen, ihm gegenüber grob zu sein, weil er, es war ein Dauerzustand, im Liebeskummer steckte. Seine Freundin Rebecca hatte ihn verlassen.
»Sie hat mir mal ein kleines Büchlein geschenkt«, sagte Leif, »wo eine Liste mit allen Vögeln Mitteleuropas drin war, zum Abhaken und Notizen machen. Immer wenn wir an einen anderen Ort kamen, sind wir los und haben uns in den Wald gesetzt oder an den Strand und einfach nur dagesessen und uns mit großen Augen angeschaut, wenn irgendwo ein Specht am Klopfen war oder ein Fasan gerufen hat. Dann sind wir losgeschlichen und haben gesucht. Wenn wir ihn gefunden haben, habe ich eine Notiz mit Datum und Uhrzeit aufgeschrieben und ihr vorgelesen, sie machte Ergänzungen, wir freuten uns und malten uns aus, wie es mal sein wird, wenn das Buch voll ist, wie wir unser ganzes gemeinsames Leben an den Vögeln, die wir beobachtet haben, werden ablesen können. Stunden haben wir so verbracht. Ich weiß nicht, ob ich jemals einen Vogel werde singen hören, ohne an sie zu denken. Das tut mir so weh. Ich will nicht, dass es so wehtut, aber ehrlich gesagt habe ich noch größere Angst davor, dass diese Erinnerungen verdrängt werden, weißt du, dass ich irgendwann einen Vogel sehe und nicht an sie denke, weil sich neue Erinnerungen darübergeschrieben haben. Das wird passieren, aber ich will das nicht. Ich will sie nicht vergessen. Jahrelang war sie mein Zuhause, ich habe nie einen Menschen gekannt, bei dem ich mich so wohlgefühlt habe. Der Gedanke daran, dass ich eines Tages auf einen Vogel zeige und sage: Das ist eine Blaumeise, und dabei nicht an Rebecca denke, das … Ich halte das nicht aus. Sorry, ich werd schon wieder so pathetisch. Fuck my life. Ich vermisse sie so sehr.«
Farina drückte seine Hand und lächelte. Leif sah hinab zum Tresen. Dann winkte er ab und sagte: »Na ja. Whatever«, was Farina als eine seiner schlechteren Angewohnheiten empfand. Immer wieder setzte er ihr einen Gefühlsausbruch vor, nur um ihn sofort zu relativieren und beiseitezuwischen. Auf diese Weise blockierte er ein ernsthaftes Gespräch über das, was eben noch enorm wichtig gewesen war, sodass es einfach in der Luft hing und auf die Stimmung drückte. Wenn Farina sich, wie an diesem Abend, schwach fühlte, konnte sie damit schwer umgehen. Sie entschuldigte sich auf die Toilette, um einen Moment durchzuatmen.
Auf der Toilette verlor Farina sich in den Stickern, die die gesamten Fliesen- und Klokabinenwände bedeckten. Ganz Berlin sprach hier gleichzeitig zu ihr. Da waren Bands mit ironischen Namen, Partykollektive, die durch verschroben neonfarbene Designs auf eine vergangene Epoche des Raves verwiesen, Filmproduktionsstudios und Content Creators, die die kreativen Energien ebenjener Zeit professionell zu Kundenfreundlichkeit zurechtzähmten, politische Aufrufe zum feministischen Kampftag oder Veganismus, zu Enteignungen und Sabotagen von Großkonzernen sowie diverse Sticker mit obskurer, augenscheinlich aussageloser Symbolik. Farina sah einen Fahrrad fahrenden Esel, die Silhouette eines Mannes auf einem Boot, der einen Stab oder ein Ruder hielt, ein Möbelstück, dem Zähne gewachsen waren, eine sich LSD einwerfende Wolke. Es war zu viel Welt auf einmal. Farina rieb sich kaltes Wasser ins Gesicht, bevor sie zurück an den Tresen ging. Sie hatte Leif etwas zu beichten.
»Zwei Tage bevor es passiert ist, war ich mit Alva im Club«, sagte sie.
»In welchem Club?«
»Na, in meinem.«
Leif machte ein Geräusch, das Verständnis signalisierte, und nahm einen Schluck vom Aperol. Er musste sich jetzt sehr zusammenreißen, sensibel zu bleiben. Fast zwei Jahre waren vergangen, seitdem Farina vom Eigentümer der Räumlichkeiten den Bescheid bekommen hatte, dass das Mietverhältnis für das April nicht verlängert werde. Vor über einem halben Jahr, nach ein paar letzten, geisteskranken Raves, musste Farina endgültig schließen. Dass sie daraufhin in ein tiefes Loch der Trauer gefallen war, hatte man in ihrem Freundeskreis zunächst noch nachvollziehen können. Nach ein paar Monaten jedoch war man zunehmend der Meinung gewesen, dass es vielleicht an der Zeit war loszulassen. Farina jedoch dachte nicht daran. Weil sie ahnte, dass der Grund für die Kündigung irgendwas mit undurchsichtigen Finanzströmen und Immobilienspekulation zu tun haben musste, die Räume also mit Sicherheit eine ganze Weile leer stehen würden, ließ sie sich vor Abgabe des Schlüssels eine Kopie anfertigen, damit sie ab und zu rein und in Erinnerungen schwelgen konnte. All ihre Freundinnen und Freunde und besonders Leif hielten diese Idee für kontraproduktiv. Das April wurde zum Reizthema. Leif wollte jetzt allerdings keinen Streit riskieren, also fragte er nur, warum sie ausgerechnet mit Alva dort gewesen war.
»Keine Ahnung, war spontan. Wir haben rumgehangen und uns Geschichten von früher erzählt. Irgendwann dachten wir, dass es doch cool wäre, noch mal durch den Club zu gehen, also sind wir hin.«
»Das war das letzte Mal, dass du sie gesehen hast?«
»Ja.« Farina schwenkte ihren Aperol im Kerzenlicht, ein orangefarbenes Aquarium. »Sie war sehr nostalgisch.«
»Nostalgisch?«
»Oder irgendwas anderes, keine Ahnung. Sie hat sich vor das DJ-Pult gestellt und die Augen geschlossen und dann quasi zu tanzen angefangen, so hin und her geschaukelt. Ich hab sie erst mal gelassen, weil ich es süß fand, aber sie hat nicht mehr aufgehört, und irgendwann hab ich halt gelacht und gemeint: Na, fühlst du es?, und da hat sie mich ganz erschrocken angeguckt und gesagt: Hörst du das nicht? Ich hab gedacht, sie verarscht mich. Und sie hat das auch gemerkt, dass ich das denke, und dann so komisch verlegen gelacht, als hätte ich sie bei was Peinlichem erwischt. Ich hab gegrinst oder so, und dann hat sie richtig zu lachen angefangen, als ob es einfach ein Spaß von ihr wäre und sie mir einen Streich gespielt hat. Aber sie ist dann ganz schnell raus, und wir haben nicht noch mal drüber geredet.«
»Sie hat uns vieles nicht erzählt.«
»Irgendwie habe ich das Gefühl, dass sie noch leben würde, wenn ich sie nicht in den Club gebracht hätte. Das ist Schwachsinn, oder?«
»Ja, das ist auf jeden Fall Schwachsinn, hör auf damit. Alva ist an ihrer Depression gestorben. Wir konnten ihr nicht helfen. Niemand hat Schuld daran und du schon gar nicht. Sie hat dich geliebt.«
Farina presste ihre Lippen zusammen und nickte. Das Kerzenlicht brach sich durch den Aperol auf ihre Haut, die Farbe des Himmels über einem brennenden Wald. Im Hinterraum erzählte immer noch jemand von seiner gescheiterten Anmeldung. Das Publikum bekam sich gar nicht mehr ein vor Lachen.
Später, allein zu Hause, so stelle ich es mir vor, fiel Farina ein, dass sie sich beim Anblick der Sternschnuppe etwas hätte wünschen können. Seitdem sich in ihrem Freundes- und Bekanntenkreis immer mehr Menschen zuerst ironisch, dann extrem unironisch für Horoskope interessierten, hat sie einen Antagonismus zum Weltraum entwickelt. Sie weigerte sich, ihm eine Autorität in Zukunftsfragen zuzugestehen. Als sie jedoch hustend über dem Waschbecken lehnte, weil sie schon wieder, es passierte ihr ständig in letzter Zeit, zu viel Zahncreme auf die Bürste geschmiert hatte und sich folglich derart viel Schaum in ihrem Mund bildete, dass sie einen Teil davon versehentlich schluckte, fragte sie sich, ob sie dem All gegenüber nicht doch zu sehr verpanzert war. Einen Wunsch an eine Sternschnuppe zu richten ist harmlos, das hätte sie ruhig tun können. Sie schaute in die geröteten Augen ihres Spiegelbildes und sagte: »Du hättest dir was wünschen können.«
Es hatte Jahre gedauert, bis Eddi die Übergänge zwischen den Jahreszeiten wieder mitbekam. Als Konsument wurde er in sie hineingeworfen, nichts kündigte sich ihm an. Die Verfärbungen der vollen Bäume waren unsichtbar, es war Herbst, sobald er Laubberge nach Kleingeld durchwühlte. Es gab keine ersten Blüten der Krokusse im Park, kein vorsichtiges Ausprobieren, ohne Jacke aus dem Haus zu gehen, es gab bunte Blumenwiesen und Schweißausbrüche. Es gab keine Freunde, die sich nicht mehr unaufgefordert meldeten und von Mal zu Mal länger brauchten, um auf Nachrichten zu reagieren, die, wenn man sich dann doch traf, immer weniger von sich erzählten, die nicht mehr noch ein zweites Bier trinken wollten und die beim Abschied nicht mehr »Bis bald«, sondern »Machs gut« sagten. Es gab auch keine Phasen von lustlosem Sex, während dem die Hände einfach auf der Matratze lagen, es gab kein heimliches Schluchzen im Badezimmer und keine ersten Lügen darüber, wo das Geld hin war oder wo man sich die Nacht vertrieben hatte. Es gab Freundschaften und Nichtfreundschaften, Liebe und Getrenntsein, mehr nicht, davon war Eddi so lange überzeugt, bis ihm dann doch Erinnerungen an diese nebligen Zwischenzeiten kamen, die folglich nicht nur stattgefunden haben, sondern auch von Eddi registriert worden sein müssen, und dass sein Hirn ihm das antut, registrieren, aber nicht warnen: Pass auf, dieser Mensch entfernt sich gerade von dir, oder: Du stößt diesen Menschen von dir weg – dass dieses Hirn tatsächlich so handelt, darüber ist Eddi nochmals Jahre nicht hinweggekommen.
Mit dieser Erfahrung hätte er auf das Schreiben vorbereitet gewesen sein können, das plötzlich in seinem Briefkasten lag und ihn zwar nicht explizit aus der Wohnung schmiss, ihn aber dazu ermutigte, über das Weiterwohnen sehr genau nachzudenken, immerhin werde es eine Mieterhöhung um eine so und so hohe, im Prinzip unbezahlbare Summe geben. In den vorangegangenen Monaten hatte Eddi mehrmals den Eindruck, im Haus geisterhaften Verschiebungen beizuwohnen, so wunderte er sich über die frische Außenfassade und über Asphalt und Fahrradständer im Innenhof, über das saubere Treppenhaus und die energieeffizienten Fenster bei den Nachbarn, erklärte sich das aber mit den Wahrnehmungsschwierigkeiten eines Ex-Süchtigen und redete sich ein, dass das alles schon immer so gewesen und er einfach wie immer unaufmerksam war. So richtig suspekt wurden ihm die Vorkommnisse erst, als er abends von seiner Tischlerlehre heimkam und sich plötzlich in einem Fahrstuhl wiederfand, obwohl er hätte schwören können, am Morgen noch die Treppen hinabgestiegen zu sein, weil es keine andere Möglichkeit gegeben hatte. Auch in diesem Fall vertraute er sich zu wenig, um aus der Beobachtung Schlüsse zu ziehen, also beließ er es bei einem müden Kopfschütteln über die Zerstörungen seines Suchtgehirns und dachte nicht weiter darüber nach, bis er schließlich diesen Brief in den Händen hielt und ihm ein Licht aufging.
»Das Einzige, was Sie jetzt noch tun können«, sagte die sichtlich unausgeschlafene Mieterberaterin, »ist, an die Menschlichkeit der Investoren zu appellieren.« Sie lachte nicht, als sie das sagte, presste die Lippen nur zu einem hoffnungslosen Strich zusammen und sah an Eddi vorbei zu der Schlange, die sich vor ihrem Büro gebildet hatte.
Dafür musste Eddi erst mal rausfinden, wer die Investoren waren. Auf dem Briefkopf befand sich lediglich der Name der Firma, charon investment ag, schrie einem ein martialischer Font entgegen. Eine E-Mail mit dem Hilfegesuch von Eddi wurde schnell beantwortet: Da das Unternehmen solche Modernisierungen und Mietpreisanpassungen wie im Falle von Eddis Haus nicht mit eigenem Kapital, sondern mit dem der Geldgebenden tätige, sei man an deren Interessen gebunden und habe folglich in derartigen Einzelfällen keine Entscheidungsgewalt. Nein, diese Geldgebenden seien nicht im Detail darüber informiert, was genau mit ihrem Geld passiere, sie seien ergebnisorientiert und würden die Verantwortung für die genauen Handelsschritte an die charon investment ag weiterdelegieren. Nein, man könne mit Eddis Anliegen nicht an die Geldgebenden herantreten, dies überschreite die Kompetenz des Unternehmens. Nein, man könne die Kontaktdaten der Geldgebenden aus Datenschutzgründen nicht herausgeben.