Dream High – Dive Deep - Marian Bruchholz - E-Book

Dream High – Dive Deep E-Book

Marian Bruchholz

4,7
4,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

***Das echte Leben kennt keinen Plan*** Bastian will tauchen. Und zwar in der Südsee. Als er sein zerrüttetes Elternhaus im linksrheinischen Köln verlässt, träumt er von einem Leben unter Palmen. Doch schafft er es nur auf die andere Rheinseite, wo er zwischen die Fronten von Punkern und militanten Neonazis gerät und sich mit gestohlenen Fernsehern, türkischen Kioskbesitzern und gescheiterten Lotto-Königen herumschlagen muss. Und dann ist da noch Penny, die in ihm die Hoffnung auf einen gemeinsamen Südseetraum weckt, dann aber spurlos verschwindet. Auf seiner Suche nach ihr muss Bastian bald feststellen, dass man immer auf der Reise zu sich selbst ist - egal an welchem Ort. Ein betörend echter und humorvoll schräger Coming of Age-Roman der ganz besonderen Art.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 710

Bewertungen
4,7 (18 Bewertungen)
14
3
1
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



.

.

Roman

Digitale Originalausgabe

.

digi:tales

Ein Imprint der Arena Verlag GmbH

Digitale Originalausgabe

© Arena Verlag GmbH, Würzburg 2017

Covergestaltung: Liana Designs

Alle Rechte vorbehalten

E-Book-Herstellung: KCS GmbH, Stelle | www.schriftsetzerei.de

ISBN: 978-3-401-84026-0

www.arena-verlag.de

www.arena-digitales.de

Folge uns!

www.facebook.com/digitalesarena

www.instagram.com/arena_verlag

www.twitter.com/arenaverlag

www.pinterest.com/arenaverlag

.

Viel zu spät begreifen viele

die versäumten Lebensziele:

Freude, Schönheit der Natur,

Gesundheit, Reisen und Kultur,

darum, Mensch, sei zeitig weise!

Höchste Zeit ist’s! Reise, reise!

Wilhelm Busch

Ich war noch niemals in Köln-Poll

und Flittard ist bestimmt ganz toll,

einmal Schäl Sick sein und aus allen Zwängen fliehen!

Köbes Underground

Hey ho, let’s go

The Ramones

Die rechte Rheinseite von Köln

1. Teil

Sonntag, 24. Juli

Manchmal geht es um alles. Manchmal geht es um die Wurst. Dann wird die Spannung unerträglich und es kommt zum großen Finale, zum Showdown, zur entscheidenden Schlacht. Dann zeigt sich, wer ein Mann ist. Wer Eier in der Hose hat. Der Moment, der harte Kerls von kleinen Mädchen unterscheidet. Andi Brehme, der 1990 im WM-Finale in der achtundachtzigsten Minute den entscheidenden Elfer gegen Argentinien links unten ins Netz setzt, Thor Heyerdahl, der mit einem winzigen Holzfloß den Pazifischen Ozean nach Polynesien überquert, Muhammad Ali, der sich beim Rumble in the Jungle acht Runden lang vom Monstrum George Foreman verdreschen lässt, nur um ihn dann mit einer krachenden Links-rechts-Kombination zu Boden zu schicken. Das sind Momente, in denen man Nerven wie Drahtseile braucht. In denen es drauf ankommt.

Für Bastian Soreh war dieser Moment gekommen, als er an einem warmen Sommernachmittag im Juli, einem Tag vor den großen Ferien, auf den Startblock im Kombibad Köln-Zollstock stieg, die Taucherbrille aufsetzte und tief Luft holte. Aus den Augenwinkeln sah er, wie Lukas Schuller und Henry Spätflöcker auf die Startblöcke links und rechts neben ihm stiegen und sich zum Absprung bereit machten. Am Beckenrand stand Rudi Sommer, die Stoppuhr und die Trillerpfeife einsatzbereit in den Händen. Neben ihm hatten sich einige kichernde Mädchen aus der Schule versammelt. Sie waren wegen Lukas und Henry da, so viel hatte Bastian schon verstanden. Er erkannte Jasmine Kreutz, die mit ihm die 10a des Irmgardis-Gymnasiums besuchte und die, so hatte es zumindest der Flurfunk vermeldet, fest mit Henry Spätflöcker ging und damit ihre Konkurrentin und Klassenkameradin Melanie Wagner ausgestochen hatte, die sich nun ihrerseits mit Lukas Schuller tröstete. Insgeheim beneidete Bastian Henry und Lukas. Sowohl Jasmine als auch Melanie waren hübsch. Sehr hübsch sogar, wenn man genauer darüber nachdachte. Früher, vor der teuflischen Metamorphose der Pubertät, hatte er die beiden nur als undeutliche Schemen in rosa Micky-Maus-Pullovern und Haarspangen wahrgenommen, die in der Pause auf dem Schulhof »Himmel und Hölle« spielten, durch Zahnspangen sabbernd Glitzersticker sammelten und vom Voltigieren träumten. Doch irgendwann, als Bastian gerade nicht hingeguckt hatte, mussten diese unerträglichen Gören in so etwas wie eine Mini-Playback-Show-Zauberkugel gefallen sein, aus der sie als strahlende Schönheiten mit kurzen Röcken und engen, unverkennbare Rundungen umspannenden Blusen herausgeklettert waren. Jasmine hatte lange blonde Haare und Bastian hatte beobachtet, dass sie oft minutenlang versuchte, die funkelnden Strähnen, die ihr immer wieder ins Gesicht fielen, wegzupusten, wobei sie die Unterlippe über die Oberlippe stülpte und dabei ausgesprochen edel aussah. Melanie hatte nicht ganz so schöne Haare wie Jasmine, dafür aber die wundervollsten Beine, die er je gesehen hatte.

Jetzt also standen sie beide da, Melanie und Jasmine, mit ihren Freundinnen, die er alle schon mal irgendwo auf dem Schulhof gesehen hatte, die jedoch allesamt im Abglanz der Schönheit von Melanie und Jasmine in der Unschärfe verschwanden. Abwechselnd lächelten sie Henry und Lukas zu. Bastian, in der Mitte, kam sich vor wie Klarsichtfolie. Er wusste, dass er neben Lukas und Henry nicht die allerbeste Figur machte. Obwohl sie alle fünfzehn Jahre alt waren, waren die beiden gut einen Kopf größer als er und wo man bei ihm jede einzelne Rippe sehen konnte, sah man bei ihnen jeden einzelnen Muskel und jede einzelne Sehne. Doch nun war seine große Stunde gekommen.

Der Moment der Entscheidung. Das große Finale.

Es war seine Chance, über Henry und Lukas zu triumphieren, und wenn er in wenigen Minuten aus dem Wasser auftauchen und Henry und Lukas erschöpft und gescheitert am Beckenrand liegen sehen würde, dann würde er Jasmine und Melanie zuzwinkern und in ihren ebenso überraschten wie bewundernden Blicken baden. Dann hatte er es geschafft. Dann konnte er, ausgestattet mit dem ersehnten Tauchsportabzeichen Apnoe mit einem Stern, das Schwimmbad verlassen und in die wohlverdienten Sommerferien starten, die für ihn einen zweiwöchigen Urlaub mit seinem Vater auf Ibiza, vier weitere Wochen bei seinem Vater in Bonn und einige weniger erfreuliche Nachhilfestunden in Mathematik, Physik, Chemie und vermutlich auch in Biologie bereithielten. Dann endlich konnte er sich von den Strapazen der vergangenen Wochen erholen.

Er hatte seit etwa einem Jahr auf diesen Tag hin trainiert und war jeden Dienstag und jeden Donnerstag nach dem Unterricht in die Tauchschule von Rudi Sommer geradelt. Das lange Training hatte sich gelohnt und es war ihm im Laufe des heutigen Tages gelungen, die schwierige Prüfung fast vollständig zu absolvieren. Das Fünfundzwanzig-Meter-Streckentauchen war für ihn kein Problem gewesen und er hatte es als einen persönlichen Triumph angesehen, dass er sogar noch etwas schneller als Lukas Schuller im Ziel gewesen war. Auch das Tieftauchen in acht Metern hatte er geschafft und nun stand er kurz vor dem Ziel. Aber eine Hürde hatte er noch vor sich. Und die hatte es in sich. Sie war seine Achillesferse.

Was für Superman das Kryptonit war, war für Bastian Soreh das Zeittauchen. Er schaffte es einfach nicht, lange ohne künstlichen Sauerstoff zu tauchen, und alle Atemübungen und jedes Konzentrationstraining hatten nicht geholfen. Es war ihm nie gelungen, länger als vierzig Sekunden unter Wasser zu bleiben. Für das Tauchsportabzeichen Apnoe in der Altersklasse zwischen vierzehn und sechzehn Jahren musste man es allerdings eine ganze Minute unter Wasser aushalten und so war diese Hürde für Bastian in etwa dasselbe wie eine Besteigung des Nanga Parbat. Er bekam schon eine Gänsehaut, wenn er nur daran dachte, dass der Weltrekord, von keinem Geringeren aufgestellt als von Paul Fereau, dem Gott unter den Apnoetauchern, bei elfeinhalb Minuten lag. Elfeinhalb Minuten! Was für eine Leistung! Was für eine Zeit! Nur mit der eigenen Atemluft! Bastian bewunderte Paul Fereau, wie er noch nie zuvor einen Menschen auf der Welt bewundert hatte. Zweifelsfrei war er der beste Apnoetaucher der Welt und Bastian hatte atemlos bei YouTube zugesehen, wie Fereau den Weltrekord im Tieftauchen geknackt hatte und ohne künstlichen Sauerstoff in eine Tiefe von zweihundertzwanzig Metern vorgestoßen war. Paul Fereau hatte eine eigene kleine Tauchschule auf der Südseeinsel Ko Tao und so wie jeder angehende Kicker von Doppelpässen und Hackentricks mit Ronaldo und Messi träumt, träumte Bastian heimlich davon, nur einmal, nur ein einziges Mal in seinem Leben zusammen mit Paul Fereau tauchen zu dürfen. Dafür trainierte er. Und dafür brauchte er dieses verfluchte Tauchsportabzeichen Apnoe, denn ein solches Abzeichen war die Voraussetzung, um irgendwann einmal einen Kurs in Fereaus Tauchschule belegen zu können. Und genau deshalb würde ihn jetzt kein Geld der Welt dazu bringen, unter dem Zeitlimit von sechzig Sekunden aus dem Wasser des Kombibads aufzutauchen. Lieber würde er ersaufen, als sich die Blöße zu geben, vor Rudi Sommer und den Mädchen nach fünfzig Sekunden aufzutauchen und die Prüfung bei der allerletzten Hürde noch zu verhauen. Nie und nimmer!

Er schloss die Augen und versuchte sich vorzustellen, das chlorhaltige Wasser vor ihm wäre die Südsee und er würde nicht mit Lukas Schuller und Henry Spätflöcker, sondern mit Paul Fereau um die Wette tauchen.

»Alle mal herhören!«, drang die Stimme von Rudi Sommer zu ihm vor. Sie hallte in dem blau getäfelten Hallenbad von den Wänden wider wie in einem Tunnel. »Ich habe hier drei wunderschöne Zettelchen liegen, die nur darauf warten, von euch mit nach Hause genommen zu werden. Und auf jedem einzelnen steht ›Deutsches Tauchsportabzeichen Apnoe mit einem Stern‹. Hinter dem Streckentauchen und dem Tieftauchen ist wie durch ein Wunder schon ein goldenes Häkchen erschienen. Jetzt müsst ihr denselben Zaubertrick noch einmal beim Zeittauchen vollbringen. Macht mir bloß keine Schande, Jungens! Also, Arschbacken zusammenkneifen und los! Wir starten ausnahmsweise mit einem ordentlichen Köpper. Kleines Showprogramm für die Mädels. Die Prüfung beginnt, sobald ihr im Wasser seid. Seid ihr fertig?«

»Fertig!«, hörte Bastian Lukas sagen und auch Henry rief: »Klar, Chef.«

Atmen.

Luft in die Lungen.

Einatmen.

Ausatmen.

Die Lungen weiten.

Ein und aus.

So wie es in den Lehrbüchern von Paul Fereau stand.

Apnoe bedeutet Atemstillstand.

»Bastian?«

»Fertig!«, rief Bastian, ohne die Augen zu öffnen. Ein letztes Mal sog er die schwüle Luft des Hallenbades ein. Dann blies Rudi Sommer in seine Pfeife und ein trillernder Pfiff schallte durch das Schwimmbad. Bastian sprang. Er hörte, wie Lukas und Henry links und rechts von ihm ins Wasser eintauchten und vernahm dabei Pfiffe, Schreie und Anfeuerungen vom Beckenrand. Dann war auch Bastian im Wasser.

Die Zeit läuft …

Das graue, nach Chlor stinkende Wasser verwandelte sich in klares, blaues Salzwasser. Die Fliesen am Beckenboden, den Bastian nach einigen Zügen ertastete, wurden zu weichem Sand, den er greifen konnte und der dann zwischen den Fingern seiner geschlossenen Faust hindurchrann. Er öffnete die Augen und sah vor sich Korallenriffe, die von Steinfischen und Kugelfischen umkreist wurden. Er blickte nach oben und sah durch die Wasseroberfläche nicht die Neonlampen an der Hallendecke, sondern die strahlende Sonne und den wolkenlosen blauen Himmel des Samui Archipels.

… 8 Sekunden …

Paul Fereau tauchte neben ihm, umschwamm das Korallenriff und lächelte ihm zu. Mit Zeigefinger und Mittelfinger formte er das Victory-Zeichen und Bastian erwiderte den Gruß mit ausgestrecktem Daumen.

… 12 Sekunden …

Nach dem Tauchgang würde er mit Paul Fereau über den weißen und glühenden Sandstrand gehen. In die Lehmhütte der Tauchschule, die zwischen den Palmen stand. Sie würden Milch aus zerbrochenen Kokosnüssen trinken und sich gegenseitig von ihren Erlebnissen berichten. Von den Kugelfischen, den Korallenriffen und von den Muscheln, die Bastian auf dem Grund des Pazifiks gefunden hatte.

… 20 Sekunden …

Zwei Mädchen im Bikini würden die Tauchschule betreten. Die eine mit langen blonden Haaren, deren funkelnde Strähnen ihr immer wieder ins Gesicht fielen und die sie dann wegpusten würde, wobei sie die Unterlippe über die Oberlippe stülpen und dabei ausgesprochen edel aussehen würde. Die andere in einem kurzen Rock, aus dem die schönsten Beine herausragen würden, die Bastian je gesehen hatte. Die Mädchen würden ihn anlächeln und …

… 27 Sekunden …

… ihn um Tauchunterricht bitten. Klar, Ladys, würde er sagen und Paul würde ihm zuzwinkern. Dann würde er die Mädchen über den langen Strand zum Wasser führen. Er würde ihnen zeigen, wie man mit der eigenen Atemluft taucht und trotzdem mehrere Minuten unter Wasser bleiben kann. Wie man …

… 35 Sekunden …

… auftaucht. Seine Lungen schrien nach Luft. Plötzlich waren da nur noch der kahle Fliesenboden des Hallenbads, nur noch das graue Wasser, die Neonlampen, nur noch Lukas und Henry, die neben ihm bewegungslos im Wasser trieben. Bastian versuchte sich zu konzentrieren. Er hatte …

… 41 Sekunden …

… schon weit mehr als die Hälfte geschafft. Er musste nur noch wenige Sekunden aushalten, dann wäre es vollbracht. Aber er bekam keine Luft mehr. Sein Kopf schwoll an. Verzweifelt schloss er die Augen, versuchte pazifische Traumbilder heraufzubeschwören. Wo war die Südsee? Wo war …

… 47 Sekunden …

… Paul Fereau? Wo waren die Bikini-Mädchen? Kokosnüsse mit Milch? Palmen? Korallenriffe? Er musste es schaffen, musste einfach, musste, musste …

… 49 Sekunden …

… musste. Zehn Sekunden noch, zehn Sekunden …

… 51 Sekunden …

… neun Sekunden, neun Sekunden. Er trieb nach oben. Nicht auftauchen!, schoss es ihm durch den Kopf. Nur nicht auftauchen! Durchhalten! Andy Brehme. Thor Heyerdahl. Muhammad Ali. Es ging einfach nicht. Musste gehen.

… 53 Sekunden …

Ihm wurde schwarz vor Augen. Kleine Sternchen tanzten vor ihm auf und ab.

… 55 Sekunden …

Es ging nicht. Musste gehen. Er musste es schaffen. Er musste, er musste, er …

… 57 Sekunden …

… tauchte auf.

Er keuchte wild und sog den rettenden Sauerstoff in die Luftröhre. Krampfartig bewegten sich seine Lungenflügel auf und ab. Vor seinen Augen drehte sich alles und panisch schlug er mit den Armen um sich. Wasser spritzte in alle Himmelsrichtungen, er zappelte wild mit den Füßen und bekam irgendwie den Beckenrand zu fassen. Sein Blick klarte sich langsam auf und auch seine Atmung normalisierte sich wieder. Sofort überkam ihn eine alles erfassende Welle der Enttäuschung. Er hatte versagt. Schmählich versagt. Kurz vor dem Ziel gescheitert. All die Bemühungen, all das Training, all das Hoffen und Bangen waren vergebens gewesen. Das Tauchsportabzeichen war in weite Ferne gerückt. Über ihm am Beckenrand stand Rudi Sommer und Bastian spürte den enttäuschten Blick des Tauchtrainers wie einen Axthieb.

»Drei Sekunden, Soreh. Drei Sekunden«, sagte Sommer und Bastian merkte, wie ihm Tränen in die Augen schossen. Schnell wandte er den Blick ab. Er hörte ein amüsiertes Kichern und sah, wie Melanie und Jasmine den anderen Mädchen etwas zuflüsterten. Dabei blickten sie immer wieder in seine Richtung und dann imitierte Jasmine auch noch seine verzweifelten Rettungsversuche, als er nahe dem Erstickungstod aus dem Wasser aufgetaucht war und nur mit Mühe und Not den Beckenrand erreicht hatte.

»Vielleicht solltest du es doch besser mit dem Gerätetauchen versuchen«, sagte Rudi Sommer. »Denk mal drüber nach, ist auch ’ne schöne Disziplin. Jetzt geh erst mal duschen und ärger dich nicht zu sehr. Kommt in den besten Familien vor.«

Mehr als ein erbärmliches Nicken brachte Bastian nicht zustande. Er war schon aus dem Schwimmbecken geklettert und auf dem Weg zur Dusche, als Henry und Lukas aus dem Wasser auftauchten und ihr Tauchsportabzeichen Apnoe mit einem Stern jubelnd und grölend unter dem tobenden Applaus der anderen in Empfang nahmen.

Bastian liebte Apnoe. Er liebte beinahe alles daran. Das Gefühl der Schwerelosigkeit, die dumpfe und hallende Stille, die einen unter Wasser umgab, das Gefühl, ganz alleine auf der Welt zu sein. Sauerstoffgeräte waren seiner Meinung nach Betrug, mit so etwas konnte jeder tauchen und die Magie des Tauchens ging völlig verloren, wenn man so ein Monstrum von Sauerstoffflasche auf den Rücken geschnallt hatte. Apnoe bedeutet Atemstillstand. Wenn er gekonnt hätte, hätte Bastian jede freie Minute unter Wasser verbracht. Wenn da nicht dieses verflixte Zeittauchen gewesen wäre, denn sosehr Bastian die Zeit unter Wasser mit der eigenen Atemluft genoss, förmlich darin badete und sich an der Erfüllung weidete, umso mehr verabscheute er es, mit der Luft zu ringen, mit seinen Grenzen zu kollidieren, sich zu quälen und zu scheitern.

Aber es gab noch eine Sache, die Bastian am Tauchen nicht liebte. Und das waren die Duschen. Er hasste es richtiggehend, sich nach dem Tauchunterricht zusammen mit den anderen Jungs zu duschen, genauso wie er es immer gehasst hatte, sich vor und nach dem Sportunterricht gemeinsam mit seinen Klassenkameraden in den Umkleidekabinen umziehen zu müssen. Er mochte es nicht, im Beisein anderer Leute nackt zu sein, und vor allem mochte er es nicht, dabei so zu tun, als wäre es völlig normal, splitterfasernackt vor seinen Mitschülern herumzulaufen und dabei aus allen Augenwinkeln angesehen und Opfer für ihn meist negativ ausfallender Vergleiche zu werden.

Nachdem er nun um drei Sekunden am Apnoe-Tauchsportabzeichen vorbeigetaucht war, hätte er nur zu gern auf die Demütigung verzichtet, im Adamskostüm in den dampfenden, nach Haarshampoo und Chlor riechenden Duschkabinen des Kombibads der Siegesfeier von Lukas und Henry beizuwohnen. Deswegen hatte er sich beeilt, sich nur schnell abgeduscht und war schon wieder in seine Badehose gestiegen, als Lukas und Henry in die Duschräume kamen. Sie strahlten triumphierend.

»Danke, Fans, danke, es reicht mit dem Jubel!«, rief Lukas laut und hielt sein Tauchsportabzeichen wie eine Trophäe in die Höhe. »Autogramme gibt es zu jeder vollen Stunde, bitte eine Reihe bilden, Frauen und Kinder zuerst!«

»Glückwunsch, Jungs!«, murmelte Bastian lahm, um Haltung bemüht.

»Mensch, Basti!«, rief Henry. »Was war das denn für ein Auftritt?« Er klopfte Bastian auf die Schulter, während er sich neben ihm unter den Duschkopf stellte und die Badehose auszog. »Hab gehört, bei dir ist es nicht so gut gelaufen. Drei Sekunden? Das ist ja echt scheiße!«

»Ich … ich hatte nur einen schlechten Tag!«, verteidigte sich Bastian hilflos. Neben den muskelbepackten Oberarmen von Henry kam er sich vor wie ein eingelaufenes Hemd aus der Waschmaschine.

»Vielleicht solltest du es mal lieber in der Badewanne probieren, da muss man nicht so weit runter!«, sagte Lukas und grinste überheblich.

»Sehr komisch!«, antwortete Bastian mürrisch, schnappte sich sein Handtuch und ging zur Tür.

»Hey, Soreh!«, rief Lukas und Bastian drehte sich noch einmal um. »Meine Fans veranstalten heute Abend eine kleine Siegesfeier für mich. Komm doch vorbei, ich mach dir zum Trost auch ein oder zwei von meinen Groupies klar! Dann wirst du auch endlich mal entjungfert!« Henry und Lukas brachen in brüllendes Gelächter aus. Bastian spürte, wie ihm das Blut ins Gesicht schoss. Gerne hätte er mit einem flotten Spruch gekontert, doch solche Sprüche fielen ihm immer erst viel zu spät ein. Nachher, auf dem Heimweg, würden ihm unzählige wundervolle Retourkutschen einfallen, die er Schuller um die Ohren hätte hauen können, doch in diesem Moment, halb nackt unter der Dusche, verschlug es ihm völlig die Sprache und deswegen rannte er einfach aus dem Duschraum und schlug die Tür hinter sich zu, während Lukas und Henry noch immer lachten.

Als ihn der zweite Nackenschlag traf, saß Bastian über der Stadt und dachte über das Scheitern nach. Es war Nacht geworden, der Himmel hatte sich verdunkelt und zwischen dem pechschwarzen Wolkenmassiv funkelten einzelne Sterne wie verlorene Leuchttürme des Universums. Den Mond konnte man nur erahnen, er verschwand hinter einer gewaltigen Kumuluswolke, ließ ihre Umrisse aber wie bei einer Sonnenkorona hell erleuchten. Bastian lauschte auf die Geräusche der Nacht, das Echo der Stille, das Wispern der Bäume im Wind und in weiter Ferne die Autobahn, deren monotones Rauschen leise und wie aus einer anderen Welt zu ihm vordrang. Er saß an den Schornstein gelehnt auf dem Dach seines Mutterhauses in der Pingsdorfer Straße in Köln-Raderthal. Über sein Hochbett konnte man durch ein Giebelfenster auf das Hausdach steigen und über den kompletten Volkspark bis zum Wolkenkratzer der Deutschen Welle sehen. Das war nicht ganz ungefährlich und Bastian hütete sich, seiner Mutter von den gelegentlichen Ausflügen auf das Hausdach zu erzählen, aber an guten Tagen, an denen keine Wolke am Horizont zu sehen war, konnte man über die ganze Stadt bis fast in die Eifel sehen. Wann immer er auf dem Hausdach saß, machte er sich einen Spaß daraus, aus den Wolkenformationen neue Figuren oder Formen herauszulesen.

Heute konzentrierte er sich auf eine Wolke, die er schon für die Umrisse der Insel Westerland, für eine elektrische Gitarre, ein entsichertes Maschinengewehr, eine Frau mit gespreizten Beinen oder einen ausgefahrenen Zeigefinger gehalten hatte. Doch je mehr er sich konzentrierte und die Wolke anstarrte, die langsam über ihn hinwegzog, umso sicherer war er, dass die Wolke die Form eines Tauch-Schnorchels hatte. Sofort waren die Erinnerungen wieder da, die Erinnerungen an das Scheitern, an den herablassenden Blick von Rudi Sommer, das Gekicher der Mädchen am Beckenrand, die Demütigungen unter der Dusche. Nachdenklich knabberte er an seiner Unterlippe herum. Wie sollte es jetzt weitergehen? Wie sollte er an den verdammten Tauchschein kommen? Sollte er den Kurs bei Rudi Sommer einfach noch mal buchen? Es ein weiteres Mal versuchen? Der Gedanke war unerträglich und die Vorstellung, wieder ganz von vorne anzufangen und erneut mit dem Anmeldeformular bei Rudi Sommer auf der Matte zu stehen, verursachte höllische Qualen in seiner Magengrube. Gedankenverloren zog er sein iPhone aus der Hosentasche und stellte fest, dass er es nach dem Supergau im Kombibad nicht wieder angeschaltet hatte. Er drückte den On-Schalter, gab seinen Pin ein und während das Gerät mit einer melodiösen Tonfolge startete, verfluchte er ein weiteres Mal sein Versagen und hasste sich für seine Unzulänglichkeit. In amerikanischen Filmen verteilte die Schicksalsgöttin das Glück, das Können, den Verstand und die Physis stets angemessen auf ihre Protagonisten. Die schlechten Schüler waren muskulöse Athleten, die Versager sensible Frauenhelden und die Sport-ist-Mord-Typen gewannen Nachwuchspreise bei Wissenschaftswettbewerben. In der traurigen und zutiefst ungerechten Realität tauchte er, Bastian Soreh, um drei Sekunden am Glück vorbei, himmelte die Mädchen an, die ihn auslachten, und musste einen Großteil der Sommerferien mit Nachhilfe in Mathematik, Physik, Chemie und vermutlich auch in Biologie verbringen.

»Scheiße!«, murmelte er in die dunkle Nacht hinein und fasste die Situation damit angemessen zusammen.

Er warf einen Blick auf das Display seines Handys und stellte fest, dass er einen Anruf seines Vaters verpasst hatte, der sich aber mit einer Sprachnachricht in Erinnerung rief. Ohne hinzugucken, aktivierte er die Mailbox und hielt sich das Handy ans Ohr. »Hallo, Bastian«, meldete sich sein Vater vom Autotelefon, während im Hintergrund der Verkehr rauschte, »ich habe schlechte Nachrichten. Ich muss den Ibiza-Urlaub canceln. Ich weiß, das kommt ein bisschen plötzlich, aber ich habe gerade die Nachricht bekommen, dass ich einen Kollegen vertreten und zwei Monate nach Tokio muss. Mit den vier Wochen bei mir wird es also leider auch nichts. Tut mir echt leid. Hab denen ganz schön die Hölle heißgemacht, das kannst du mir glauben. Mensch, ich hab ein ganz schlechtes Gewissen.« Sein Vater klang zerknirscht, fuhr aber unerbittlich fort, während Bastian enttäuscht aufstöhnte und noch weiter in sich zusammensackte. »Es geht nicht anders und ich bin echt sauer, dass es so gelaufen ist. Aber wir holen das auf jeden Fall nach, versprochen. Hey, vielleicht kannst du ja in den Herbstferien zu mir kommen, was meinst du?« Dann wechselte er die Tonlage und klang jetzt so, als würde er seinen Freunden vom Kegelclub hinter vorgehaltener Hand anzügliche Witzchen erzählen: »Na ja, wahrscheinlich bist du eh nicht besonders scharf darauf, mit deinem steinalten Vater im spießigen Ibiza rumzuhängen. In deinem Alter hat man ja sowieso ganz andere Interessen. Mach dir doch einfach schöne Sommerferien zu Hause, deine Mutter freut sich bestimmt auch! Und damit du es auch so richtig schön krachen lassen kannst, hab ich dir ein kleines Taschengeld auf dein Konto überwiesen. Mach doch einfach mal einen los, hast du dir verdient! Ich hätte dir gern persönlich Bescheid gegeben und mich verabschiedet, aber ich muss meinen Flieger kriegen. Wäre klasse, wenn du deine Mutter informieren könntest. Ach ja, herzlichen Glückwunsch zum Sporttauchabzeichen! War doch heute, oder? Hab dir alle Daumen gedrückt, aber wie ich dich kenne, hast du das mit links gemacht. Ich kenne doch meinen Bastian. Also nochmals herzlichen Glückwunsch und bis bald!«

Dann brach die Verbindung ab.

Bastian seufzte, ließ den Hörer sinken und vernichtete die Hiobsbotschaft mit einem Knopfdruck. Zum zweiten Mal an diesem Tag fühlte er sich hundeelend. Die sechs Wochen mit seinem Vater waren der einzige Lichtblick an diesem völlig missratenen Tag gewesen. Die Koffer standen schon gepackt neben seinem Bett und bis vor wenigen Sekunden hatte ihn nur die Aussicht aufrecht gehalten, morgen um diese Zeit bereits am Meer zu sein und nach den zwei Wochen im sonnigen Ibiza noch vier weitere Wochen mit seinem Vater in Bonn verbringen zu können. Genau wie das Tauchsportabzeichen Apnoe mit einem Stern löste sich dieser sicher geglaubte Hoffnungsschimmer in Wohlgefallen auf und Bastian stand vor einem Trümmerhaufen aus Hoffnungen, Wünschen und Träumen. Er verzweifelte und nachdem er das Handy wütend durch das offen stehende Giebelfenster auf sein Hochbett geschleudert hatte, wo es in mehrere Teile zersprang, vergrub er sein Gesicht in den Armen. Er vermisste seinen Vater. Reinhard Soreh war ein ganz hohes Tier in einer Firma für Motorenentwicklung. Und weil er so ein hohes Tier war, musste er ständig von Pontius nach Pilatus fliegen, Power-Point-Präsentationen halten, Bonus-Meilen sammeln, in dicken Hotels absteigen und Bastian Rolex-Imitate aus Shanghai und kleine Buddha-Statuen aus Bombay mitbringen. Viel freie Zeit hatte er noch nie gehabt, aber seit DEM GROSSEN KNALL bekam Bastian ihn kaum noch zu Gesicht. Er lebte jetzt in Bonn, in einer üppigen Wohnung vis-à-vis zu seinem Büro, und obwohl seine Eltern vereinbart hatten, dass Bastian jedes zweite Wochenende bei seinem Vater verbringen sollte, sahen sie sich maximal einmal im Monat, weil immer irgendein Motor oder eine Konferenz oder eine Geschäftsreise dazwischengekommen war. Deshalb hatte ihn die Aussicht, sechs ganze Wochen mit seinem Vater verbringen zu können, ihn ganz alleine für sich zu haben, in Freude versetzt, vor allem, weil Reinhard Soreh die Vater-Sohn-Sommerferien mit einem zweiwöchigen Urlaub auf Ibiza eröffnen wollte. In all den Wochen, in denen sich Bastian in der Tauchschule von Rudi Sommer gequält hatte, war diese Aussicht der Lichtblick gewesen, der ihm über die alltäglichen Frustrationen beim Zeittauchen hinweggeholfen hatte. Umso mehr schmerzte ihn jetzt die Aussicht, die Sommerferien entgegen aller Erwartungen alleine in Köln verbringen zu müssen.

Das Leben war eine Sau!

Er erhob sich schwerfällig, gebeutelt und niedergedrückt von der Last der Ungerechtigkeit, und kletterte durch das Giebelfenster in das alte Arbeitszimmer seines Vaters, das er nach DEM GROSSEN KNALL bezogen hatte, und kickte dort als Erstes seinen ihn höhnisch anlächelnden abreisefertigen Rucksack in die nächstbeste Ecke. Ein rabenschwarzer Tag ging zu Ende.

Montag, 25. Juli

Es klopfte energisch an die Tür.

»Bastian, aufstehen, dein Vater kommt gleich!«

Den friedvollen Klauen eines Traumes entrissen, in dem es kein Scheitern und kein Versagen gegeben hatte, kam Bastian an die Oberfläche, tauchte wieder auf und reckte seinen Kopf aus dem Wasser. Seine Mutter klopfte erneut an die Zimmertür. »Bastian, beeil dich, ihr verpasst noch euren Flug!« Bastian schälte sich aus dem Bett und murmelte: »Bin wach!« Trippelnde Schritte in Richtung Küche und dann die unverwechselbare Kombination, die Bastian wohl bis ans Ende seines Lebens an das Frühstück im Haus seiner Mutter erinnern würde, das blubbernde Geräusch der Kaffeemaschine, der Geruch von frischen Brötchen und das Rauschen des Radios mit den Verkehrsnachrichten. Er fragte sich, was er geträumt hatte. Es war ein schöner Traum gewesen, an den er sich aber partout nicht mehr erinnern konnte. Ein Traum, der ihn betäubt und ihm jede Erinnerung an die Enttäuschungen vom Vortag entzogen hatte, die jetzt aber wieder über ihn hereinbrachen und schmerzten wie in dem Moment, als er drei Sekunden zu früh aufgetaucht war oder die Mailboxnachricht seines Vaters abgehört hatte. Als er den in die Ecke gepfefferten Reiserucksack und das zerdepperte iPhone sah, fiel ihm ein, dass seine Mutter noch gar nicht wusste, dass es Essig war mit den sechs Wochen sturmfreie Bude. Bastian hatte am Vorabend vergessen, ihr Bescheid zu sagen, und es war mehr als unwahrscheinlich, dass sein Vater sie höchstselbst über die veränderten Planungen informiert hatte.

Während sich seine Eltern in den letzten Monaten vor DEM GROSSEN KNALL bei jeder sich bietenden Gelegenheit angeschrien hatten, hatten sie danach offenbar im wahrsten Sinne des Wortes stillschweigenden Einvernehmen beschlossen, dass genug gesagt worden sei, und einfach gar nicht mehr miteinander gesprochen. Wenn es etwas zu klären gab – und das gab es nur äußerst selten -, lief das über ihn. Ausschließlich über ihn.

»Bastian, sag deiner Mutter, dass mein Anwalt sich bei ihrem Anwalt meldet!«,

»Bastian, sag deinem Vater, dass seine Schallplattensammlung noch immer bei mir im Keller steht! Wenn er die Scheiße nicht bald abholt, kommt alles auf den Müll!«,

»Bastian, sag deiner Mutter, dass Oma im Krankenhaus ist!«,

»Bastian, frag deinen Vater, ob du in den Osterferien zu ihm kannst, da bin ich auf Kur!«,

oder eben: »Bastian, sag deiner Mutter, dass ich doch nicht zwei Wochen mit dir nach Ibiza fliegen kann! Und dass ich zwei Monate in Tokio bin und du deshalb in den Sommerferien doch nicht zu mir kannst!«

Bastian zog sich langsam an. DER GROSSE KNALL war wohl unvermeidlich gewesen und Bastian hatte schon früh verstanden, dass letzten Endes er daran schuld war. Solange er denken konnte, hatten seine Eltern gestritten, und wenn sie gestritten hatten, war es eigentlich immer um ihn gegangen. Sie hatten sich gestritten, weil er so schlechte Noten in der Schule hatte; sie hatten sich angeschrien, weil er so wenige Freunde hatte; sie hatten sich gezofft, weil sie sich nicht einigen konnten, wer Bastian zum Tauchtraining fahren sollte; sie hatten sich in die Haare gekriegt, weil es im Sommerurlaub in Dänemark nichts gab, was einem Jungen in Bastians Alter Freude bereitet hätte; sie hatten sich angemeckert, weil Bastian bei den Messdienern aufgehört hatte, und sie waren sich an den Hals gegangen, weil sie nicht wussten, wie viel Taschengeld Bastian bekommen sollte und ob man ihm einen eigenen Fernseher ins Zimmer stellen sollte. Schon mit elf Jahren war ihm der Verdacht gekommen, dass seine Eltern ohne ihn vermutlich glücklicher sein würden. Das war ein äußerst deprimierender Gedanke gewesen und dazu hatte gepasst, dass sein Vater gar nicht erst versucht hatte, das Sorgerecht zu bekommen. Stattdessen schien er beinahe dankbar gewesen zu sein, dass ihm seine Ex-Frau dieses Bündel abgenommen hatte. Die Ex-Frau, die nun ihrerseits »ein neues Leben« begonnen hatte, wie sie es nannte, was sich vor allem dadurch zeigte, dass sie nur noch lange Kleider sowie selbst gebastelte Holzschmuckketten trug und sich abstrakter Kunst widmete, die angeblich »ihr Innerstes nach außen« kehrte.

Einmal war Bastian nach Hause gekommen und hatte seine Mutter dabei ertappt, wie sie sich nackt und eingeschmiert mit bunter Farbe über eine Leinwand wälzte, die er voller Schrecken zwei Tage später als Geschenk erhalten hatte und mit der Betitelung »Sonnenuntergang« in seinem Zimmer aufhängen musste.

Obwohl seine Mutter immer da war, vermisste er sie genauso, wie er seinen Vater vermisste. Ihm kam der Gedanke, ob seine Eltern sich wieder verstehen, wieder glücklich sein würden, wenn er sich einfach in Luft auflösen würde. Skurrilerweise würde es weder seiner Mutter noch seinem Vater auffallen, wenn er jetzt sofort und auf der Stelle verschwand. Zumindest in den kommenden sechs Wochen würde sich seine Mutter dem Glauben hingeben, Bastian liege zusammen mit ihrem Ex-Mann in Ibiza am Strand, gehe mit ihm in Bonn ins Kino oder ins Museum, während sein Vater davon ausgehen würde, er sei bei seiner Mutter. Deprimiert ließ er sich auf seinen Schreibtischstuhl fallen und starrte die Wand an. Wieder klopfte es an der Zimmertür.

»Bastian, wo bleibst du denn?«

Er wandte den Kopf zur Tür, verdrehte genervt die Augen und wollte gerade so etwas wie »Ich fahr doch gar nicht nach Ibiza, Papa hat mich versetzt, mach nicht so einen Stress!« brüllen, schluckte den Wortschwall aber herunter und rief stattdessen: »Sekunde noch, bin gleich da!« Eine Erklärung durch die geschlossene Zimmertür war ihm zu umständlich und er wollte seiner Mutter lieber schonend beibringen, dass er ihr in den nächsten sechs Wochen weiter auf der Tasche liegen würde. Irgendwie zweifelte er daran, dass sie vor Begeisterung Purzelbäume schlagen würde. Sie hatte mehrfach bekundet, dass ihr sechs Wochen Ruhe »ganz guttun« würden, und Bastian hatte den vagen Verdacht, dass dieses »ganz guttun« in Verbindung stand mit ihrem »Mentor«, einem Yogalehrer, den sie kurz nach DEM GROSSEN KNALL kennengelernt hatte und der ihr beigebracht hatte, Bäume zu umarmen und Abend für Abend, umringt von brennenden Kerzen, im Schneidersitz im Wohnzimmer zu sitzen und alle paar Sekunden laut »Ommmm« zu rufen. Was er ihr sonst noch so beibrachte und wie er ihr sonst noch »ganz guttat«, wollte sich Bastian lieber nicht ausmalen. Dass er bei einem der zahlreichen Besuche des Yogameisters hatte hören müssen, wie seine Mutter des Nachts aus dem benachbarten Schlafzimmer wollüstig »Du bist der Tantra-König, du bist der Tantra-König!« geschrien hatte, hatte ihm schon gereicht.

Er starrte weiter auf die Wand. Sie war neben dem Giebelfenster zum Dach das absolute Highlight im alten Arbeitszimmer seines Vater und einer der Hauptgründe, warum er sein altes Zimmer aufgegeben hatte und hier eingezogen war, nachdem sein Vater seine Sachen gepackt hatte. Immerhin ein positiver Nebeneffekt des ganzen Dramas. Die Wand hatte er vollflächig mit einem Poster eines Südseestrandes beklebt. Wenn er am Schreibtisch saß, war die wunderschöne Aussicht auf den Pazifischen Ozean, den wolkenlosen blauen Himmel und den endlosen Horizont täuschend echt. Wenn man ganz dicht vor der Wand saß und nicht zu sehr nach links oder rechts schielte, konnte man tatsächlich den Eindruck haben, am Strand von Ko Samui oder Ko Tao oder so zu sitzen, die Beine ins Wasser baumeln zu lassen und aufs Meer hinauszublicken. Manchmal glaubte er sogar, das Rauschen der Wellen zu hören und den lauen Wind zu spüren, der um seine Haare herumtänzelte. Doch an diesem Morgen deprimierte ihn die Aussicht eher. Selbst wenn er ganz nahe an die Wand heranrückte, hatte er das Gefühl, von der Südsee weiter entfernt zu sein als je zuvor. Es war eben nur ein Bild, nur eine Illusion. Und er hatte genug von Illusionen. Er wollte all das nicht mehr. Und als er darüber nachdachte, während er verzweifelt auf die Südseewand starrte, hatte er auf einmal eine Idee. Diese Idee war so klar, so rein, so perfekt, so überwältigend, dass sie das ganze Wirrwarr in seinem Kopf auflöste und ins Nichts verflüchtigte. Die Idee traf ihn wie ein Blitz und er fragte sich, warum er nicht früher auf diesen Gedanken gekommen war. Es war so logisch, so konsequent! Aber vielleicht war all das nötig gewesen?

Vielleicht war es nötig gewesen, bei der Tauchprüfung zu scheitern, unter der Dusche ausgelacht zu werden und von seinem Vater per Mailbox über das Ende seiner Urlaubsträume informiert zu werden. Vielleicht war das nötig gewesen, um zu erkennen, dass ihm ein Blick auf ein aufgeklebtes Südseeposter nicht mehr reichte. Natürlich! Es war so klar. Jetzt, wo sich sein ganzes Leben in einen überdimensionalen Scherbenhaufen, in einen Schutthaufen aus Tauchscheinen, Zeugnissen und Scheidungsformularen verwandelt hatte, hielt ihn doch nichts mehr in dieser beschissenen Stadt. Seit Jahren träumte er von der Südsee! Von Ko Tao und der Tauchschule von Paul Fereau! Aber jetzt wollte er nicht mehr träumen. Er wollte nicht mehr auf Poster starren und sich Illusionen hingeben. Vielleicht war all das Elend der vergangenen Tage nötig gewesen, um zu erkennen, dass es an der Zeit war, seine Zelte abzubrechen und auf Reisen zu gehen. Dass es an der Zeit war, sein Leben nicht nur zu träumen, sondern seine Träume zu leben, wie man so schön sagte. Indiana Jones blieb auch nicht Trübsal blasend im Elend sitzen. Der packte seine Peitsche, seinen Hut und machte sich auf den Weg ins Abenteuer. Und genau das würde Bastian auch tun! Er würde seine Sachen packen und sich auf den Weg in die Südsee machen! Er hatte nicht die geringste Ahnung, wie er dorthin kommen sollte, aber schließlich hatte auch Frodo nicht gewusst, wie er zum Schicksalsberg kommen sollte, als er aus dem Auenland aufbrach, um den Meisterring zu vernichten. Richtige Helden wagten nun einmal den Sprung ins Dunkle! Die nahmen Entbehrungen auf sich und schlugen sich durch. Er würde sein Mutterhaus verlassen, nach Thailand reisen und in Ko Tao die Tauchschule von Paul Fereau besuchen! Jetzt! Sofort! Komme, was wolle! Der Reiserucksack war sowieso schon gepackt. Reisepass und Personalausweis steckte er ins Portemonnaie und ließ es in seiner Hosentasche verschwinden. Er schulterte den Rucksack und verließ entschlossen sein Zimmer. Zum letzten Mal, so viel stand fest.

Aus der Küche linste seine Mutter, die Kaffeetasse in der einen, den Panorama-Teil des Kölner Stadt-Anzeigers in der anderen Hand: »Magst du nicht mehr frühstücken?«

»Keine Zeit, Papa wartet!« Bastian verlieh seiner Stimme einen beiläufigen, aber auch etwas gehetzten Tonfall, so wie man eben klingt, wenn man auf dem Weg in den Urlaub ist und der Zeit ein kleines bisschen hinterherrennt. Seine Mutter erhob sich vom Küchentisch, eilte mit wehendem Kleid in den Flur und drückte ihn an sich. »Einen schönen Urlaub wünsche ich dir, mein Junge!« Sie löste sich von ihm, sah ihn an, wischte sich eine Träne aus dem Auge und umarmte ihn erneut. »Mach dir eine schöne Zeit mit deinem Vater!«

Bastian nickte, und während er in den Armen seiner Mutter hing, spürte er, wie seine Knie plötzlich weich wurden. Gleichzeitig wurde ihm der ganze Irrsinn seines Vorhabens bewusst. Der vernünftige Teil seines Verstandes rebellierte und forderte panisch eine Rückkehr auf den Boden der Tatsachen und des Rationalen.

»Eine Reise in die Südsee«, schrie die Vernunft voller Angst, »nach Thailand? Einfach so, aus der Hüfte geschossen? Die Schule schmeißen, die Freunde und die Familie zurücklassen und ohne Vorbereitung und ohne ausgetüftelten Plan auf eine Reise um die Welt gehen? Geht’s noch?«

Bastian war schon drauf und dran, alles hinzuschmeißen, sich umzudrehen und in seinem Zimmer zu verschwinden, doch dann drang ihm plötzlich der unverwechselbare Geruch nach dem Yogalehrer in die Nase, der Geruch nach Räucherstäbchen, Tofu und ätherischen Ölen, der an seiner Mutter haftete und ihm vor Ekel eine Gänsehaut über den Körper trieb.

»Verdammt«, rief die fremde Stimme in ihm, die ihm vorhin schon die Idee eingeflüstert hatte, alles hinter sich zu lassen und in die Südsee zu reisen. Die Stimme des Mutes, der den verbotenen, den schönen Dingen zugeneigte Teil seiner Seele versetzte der Vernunft eine ordentliche Backpfeife: »Das ist doch seine Chance, etwas aus seinem Leben zu machen«, rief der Mut, »sich herauszukatapultieren aus der Mittelmäßigkeit, der Yogalehrerartigkeit, und was zum Teufel lässt er denn zurück? Niemanden, der ihn vermisst, so viel steht fest. Selbst seine Eltern werden nicht merken, dass er überhaupt weg ist, zumindest sechs Wochen lang. Sein Vater ist in Tokio und seine Mutter erfindet sich gerade neu. Ganze sechs Wochen checken die Alten nicht, dass der Sprössling auf und davon ist. Also, was soll’s? Und Freunde? Kann doch nicht dein Ernst sein! Welche Freunde denn? Die Luftpumpen aus der Schule? Schuller und Spätflöcker? Niemand, der ihn vermissen wird; und noch wichtiger: niemand, den er vermisst!«

Die Vernunft wand sich und schrie vor Angst und Schmerz: »Nein, nein, nein!«, aber der Mut fuhr unerbittlich fort: »Und nach der Schule kräht doch sowieso kein Hahn. Wer braucht in Ko Tao schon ein Abitur? Und außerdem sind zehn abgesessene Schuljahre mehr als genug verschwendete Zeit. Die Sommerferien haben gerade erst begonnen, also vermisst ihn da in den nächsten sechs Wochen auch keiner. Natürlich ist es gefährlich und natürlich ist es riskant, aber wer nicht wagt, der nicht gewinnt, so sagt man doch, oder?«

Die Vernunft wusste nicht mehr weiter, stotterte nur noch hilflos vor sich hin und so triumphierte der Mut: »Na also, dann tu uns allen einen Gefallen und mach dich endlich vom Acker!«

Schließlich gab die Vernunft auf, zog von dannen und Bastian löste sich von seiner Mutter. »Mach’s gut!«, sagte er und lächelte ihr zum Abschied noch einmal zu. Dann wandte er sich um und ging durch den Flur zur Haustür. Durch den Flur, durch den er schon als Zweijähriger gekrabbelt war, durch den er als Vierjähriger mit seinem Bobbycar gefahren war, den er als Sechsjähriger stolz mit einer grünen Schultüte verlassen hatte, den er mit zehn Jahren mit seinen regennassen Fußballschuhen vollgesaut hatte und durch den er mit fünfzehn Jahren geschlichen war, als er die Tauchprüfung bei Rudi Sommer vergeigt hatte. Und von dem er sich nun verabschieden musste! Dann verließ er sein Elternhaus, das streng genommen inzwischen nur noch sein Mutterhaus war, und machte sich auf den Weg ans andere Ende der Welt.

Er fuhr mit der Bahn zum Rudolfplatz und von dort weiter zum Heumarkt. Dabei kam ihm der Gedanke, dass es doch irgendwie zu profan und beinahe unwürdig war, seine große Reise mit der Straßenbahn zu beginnen, und deswegen entschied er sich, stattdessen mit einem symbolischen Akt zu starten und für ihn völlig neues und fremdes Terrain zu betreten. Sein ganzes Leben – sein ganzes altes Leben, korrigierte er sich in Gedanken – hatte sich auf der Seite Kölns abgespielt, die links vom Rhein lag. Die rechte Seite vom Rhein war für ihn so fremd wie Honolulu oder Kirgisien. Aus diesem Grund erschien ihm die Entscheidung, seine Reise ans Ende der Welt mit einer kleinen Reise, einer Überquerung des Rheins, zu beginnen, als sehr angemessen. Also stieg er am Heumarkt aus der Bahn, überquerte die Gleise und marschierte am Reiterdenkmal für den preußischen König Friedrich Wilhelm III. vorbei auf die Deutzer Brücke. Nach einigen Metern blickte er noch einmal zurück und sah den Fischmarkt, die Landungsstege der Köln-Düsseldorfer, Groß St. Martin und dahinter die zwei Türme des Kölner Doms. Vor ihm lag unbekanntes Terrain und alles, was er zuordnen konnte, war der Rundbogen der KölnArena. Er atmete tief durch und spürte den Duft der Freiheit in seinen Lungen. Das ganze Elend, das Tauchsportabzeichen, die Schule, seine Eltern, das alles hatte er hinter sich gelassen und als er nun über die Deutzer Brücke ging, die Sonne im Osten, hinter ihm sein altes Leben und vor ihm das unbekannte Abenteuer, da war es ihm, als zerschnitt er das letzte Band, das noch zwischen ihm und seinem alten Leben hing. Am Scheitelpunkt der Brücke hielt er an, holte den Atlas aus dem Rucksack und suchte in dem kleinen Büchlein nach einer passenden Karte.

Bisher hatte er sich keine Gedanken gemacht, wie er von Köln nach Thailand kommen wollte, und die Tatsache, dass der Inhalt seines Sparschweins nicht mal ansatzweise für ein Flugticket reichte, störte ihn in keinster Weise. Im Gegenteil. Er sehnte sich nach Abenteuern und gerade das Unbekannte reizte ihn. Ein profaner Flug war etwas für Touristen oder Geschäftsleute, für Menschen wie seinen Vater, aber der gehörte wie alles andere auch zu seinem alten Leben und das lag hinter ihm wie abgeworfener Ballast. Er brauchte eine ungefähre Reiseroute und vertiefte sich deshalb in den Atlas. Zunächst erschien es ihm logisch, sich irgendwie über Polen bis in die Ukraine und von dort nach Russland, Kasachstan und China durchzuschlagen und dann weiter nach Thailand zu reisen. Er verwarf diese Möglichkeit jedoch recht schnell, da es ihm nicht besonders reizvoll erschien, per Anhalter durch Kasachstan oder Russland zu trampen. Jobben konnte man dort wahrscheinlich auch nicht besonders gut und überhaupt entsprach diese Route gar nicht seinen Vorstellungen einer exotischen Südseereise.

Ebenfalls nicht infrage kam die Tour quer durch Europa und Asien, bei der er erst nach Österreich, dann nach Rumänien und von dort in die Türkei gemusst hätte. Dieser Teil der Reise hätte durchaus seinen Reiz gehabt, doch danach hätte er zwangsläufig durch den Iran, Afghanistan und Pakistan gemusst, um irgendwann wieder in Thailand herauszukommen, was ihm alles andere als attraktiv erschien. Zwar war Bastian durchaus auf Abenteuer aus, aber auf Auseinandersetzungen mit dschihadistischen Al-Qaida-Terroristen konnte er genauso gut verzichten wie auf Atombombentests. So entschied er sich für die längste Strecke, die ihn von Frankreich und Spanien direkt um die afrikanische Küste herum in den Pazifischen Ozean bringen würde. Vor ihm auf der Karte erschienen Namen wie Marokko, Tasmanien, Angola, Kap Horn, Madagaskar, Kenia, Sri Lanka und Bangladesch – Namen, die einem auf der Zunge zergingen, die wie pures Abenteuer klangen, zuckrig süß, fremd und aufregend, exotisch und fern. Um gewisse, ebenfalls nicht ganz ungefährliche und menschenunfreundliche Passagen seiner Reise zu umgehen, konnte er einen Großteil der Strecke mit einem Schiff zurücklegen und vielleicht bestand ja die Möglichkeit, irgendwo als Matrose anzuheuern, um sich so die Überfahrt zu verdienen. Während er noch darüber nachdachte, wie er am besten auf ein Schiff kommen konnte, das ihn nach Afrika und Asien bringen würde, schob sich gut einhundert Meter unter ihm ein riesiges Containerschiff aus der Unterführung der Brücke hervor. Es stieß ein dröhnendes Hupen hervor und Bastian erschrak so, dass ihm beinahe der Atlas aus den Händen gerutscht und in die Tiefe gestürzt wäre. Das Schiff war lang und flach und auf seinem Rücken standen zahlreiche Container in den verschiedensten Farben mit der Aufschrift »Hapag Llyod«. Auf dem Heck konnte Bastian den Herkunftshafen lesen und war nicht verwundert, dass das Schiff aus Rotterdam kam. Er wusste, dass der Hafen in Rotterdam einer der größten Seehäfen der Welt war und dass dort jeden Tag zahlreiche Schiffe zu Reisen um die ganze Welt aufbrachen. Das war seine Chance! Er konnte auf einem der Binnen-Containerschiffe anheuern, die tagtäglich zwischen Köln und Rotterdam den Rhein herunterfahren, und dort versuchen, sich als Matrose oder Schiffsjunge eine Passage auf einem der großen Dampfer zu verdienen, die die afrikanische Küste entlangfuhren.

Die Entscheidung war gefällt!

Bastian packte seine Sachen wieder in den Rucksack, ging über die Deutzer Brücke und betrat nur wenige Minuten später auf der Suche nach einem Schiff, das ihn nach Rotterdam bringen konnte, den Boden des rechtsrheinischen Köln! Inzwischen war es Mittag geworden. Die Sonne strahlte vom blauen und wolkenlosen Himmel herab und es wurde mit jeder Minute wärmer. Bastian genoss das schöne Wetter in vollen Zügen. Am Deutzer Bahnhof lief ihm eine Gruppe junger Mädchen über den Weg und Bastian versuchte Blickkontakt herzustellen. Er war nicht einmal besonders enttäuscht, als es nicht gelang, und strahlte trotzdem. Die Vorfreude auf seinen Reiseantritt hatte von ihm Besitz ergriffen.

Auf einem Stadtplan von Köln, der in einem Schaukasten neben dem Haupteingang hing, entdeckte er ganz in der Nähe den Deutz-Mülheimer Hafen und nachdem er sich den Weg eingeprägt hatte, brach er auf und ließ das Bahnhofsgelände hinter sich. Nach einem kurzen Fußmarsch am Messegelände entlang lief er unter der Zoobrücke und an der Claudius Therme vorbei auf das Hafengelände zu und passierte das etwas verlottert aussehende Tor am Auenweg. Zahlreiche Schilder wiesen auf Werften, Büros und Schiffswerkstätten hin, aber von einem Pier und einer Anlegestelle war weit und breit nichts zu sehen. Stattdessen gab es eine Diskothek namens »Bootshaus«, einige Wohnhäuser, ein Künstleratelier und einige baufällige Baracken.

Das abenteuerliche Gelände war ziemlich groß und Bastian musste eine ganze Weile hin und her laufen, bis er endlich vor einem vergitterten Tor stand, an dem ein großes Schild befestigt war, auf dem »Betreten des Piers für Unbefugte unter Strafe verboten!« stand. Natürlich war das Tor verschlossen, aber Bastian hielt sich keineswegs für unbefugt, also kletterte er über das Tor und folgte dem rissigen Steinweg. Hinter einer Biegung befand sich das Hafenbecken und am Pier lag tatsächlich ein riesiges Containerschiff. Es war in einer grässlichen gelben Farbe gestrichen und am Heck stand der Schiffsname: »Eenhorn«. Das klang holländisch, wie Bastian frohlockend feststellte. Zielstrebig ging er auf den Kran zu, der direkt neben dem Schiff auf dem Pier stand und Container der Firma Maersk auf das Schiff hob. Ein Mann mit Drei-Tage-Bart und Walkie-Talkie in der Hand dirigierte den Kranführer, während sich der metallene Arm mit dem Seil und dem Haken langsam in Richtung der Container senkte.

»… passt …, noch ’n bisschen, links …, jawoll!«, rief er ins Walkie-Talkie und wedelte dabei mit den Händen in der Luft herum, »… immer schön runter …, rechts …, Stücksken nach links …, passt!«

Bastian räusperte sich und als sich der Werftarbeiter umdrehte, nickte er ihm freundlich zu. »Tach, Kollege!«, sagte er und versuchte seine Stimme fest klingen zu lassen.

Der Mann musterte ihn überrascht: »Wat willst du denn hier? Haste dich verlaufen?«

»Nee«, sagte Bastian, »ich will anheuern!«

»Wat willst du?« Der Mann guckte ihn an wie ein Auto.

»Ich muss nach Rotterdam. Können Sie noch einen Schiffsjungen brauchen?«

»Einen Schiffsjungen?« Der Werftarbeiter starrte Bastian mit offenem Mund an.

»Ich kann als Matrose arbeiten!«, erklärte Bastian. »Und wenn es sein muss, schäle ich auch Kartoffeln in der Kombüse. Können Sie mir sagen, bei wem ich mich da melden muss?«

Der Mann sah ihn einen Moment lang fassungslos an, dann warf er den Kopf in den Nacken und begann zu lachen wie eine Ziege mit Schluckauf. »Hohoho-chrchrch«, meckerte er, während sich über ihm die Tür des Kranhäuschens öffnete und ein älterer Mann nach unten sah.

»Was ist denn los? Warum geht’s nicht weiter?«

Der Werftarbeiter wandte sich ihm zu und rief lachend: »Das musste dir anhören, hohoho-chrchrchr, der Spaßvogel hier will anheuern und Kartoffeln schälen!« Das fand er offenbar so lustig, dass er noch lauter lachte und sich dabei mit den Fäusten auf die Oberschenkel trommelte. Der Mann oben im Kran grinste breit und fragte: »Was will der?«

»Karto-o-o-ffeln sch-schälen, chrchrchr-hohoho-chrchrchr!«, grölte der Werftarbeiter und jetzt meckerte auch der Kranführer los, als wäre der Witz des Jahrhunderts gerissen worden.

Bastian, der nicht genau verstand, was so lustig war, kam sich verschaukelt vor. Vorsichtig schlug er vor: »Na ja, wenn es sein muss, würde ich auch das Deck schrubben.«

Aber das schien vollkommen falsch zu sein, denn jetzt brüllten die Männer vor Lachen und bogen sich richtiggehend.

Bastian war rot angelaufen, und obwohl er immer noch nicht wusste, was er falsch gemacht hatte, ärgerte er sich über sich selbst, weil er offenbar etwas Dummes gesagt hatte.

Als sich die Männer endlich wieder beruhigt und sich die letzten Lachtränen aus den Augen gewischt hatten, wandte sich der Werftarbeiter an Bastian und sagte kichernd: »Pass mal auf, Jüngelchen: Erstens gibt es auf diesen Pötten weder Schiffsjungen noch Matrosen und schon gar keine Kartoffeln! Und das Deck muss erst recht nicht geschrubbt werden, hohoho-chrchrchr. Das ist ein Containerschiff! Und zweitens ist das hier immer noch Werftgelände und da ist Betreten streng verboten! Steht ja nicht zum Spaß vorne dran. Also mach dich besser dünne, bevor der Chef dich sieht und die Polente holt. Wenn du hier arbeiten willst, schick ʼne Bewerbung per Post!« Damit wandte er sich wieder seinem Kollegen zu und kichernd begannen die beiden damit, den nächsten Container auf das Schiff zu bugsieren.

Bastian stand etwas verloren daneben und wusste nicht, was er machen sollte. Die Abfuhr hatte gesessen! So hatte er sich seine Abreise nicht vorgestellt. Er drehte sich um und ging den Steinweg zurück zum Tor, kletterte wieder auf die andere Seite und verließ dann das Hafengelände. Sein erster Versuch, aus Köln abzureisen, war kläglich gescheitert.

Er nahm die erste Straßenbahn, die ihm über den Weg fuhr, doch als er feststellte, dass die Bahn in Richtung Neumarkt fuhr, stieg er gerade noch rechtzeitig an der Deutzer Freiheit aus. Das hätte gerade noch gefehlt! Nicht nach vielen Jahren, nach einer langen Reise, bepackt mit einem Rucksack voller Abenteuer, braun gebrannt und gezeichnet von Erlebnissen aus einer anderen Welt auf die linke Rheinseite zurückzukehren, sondern nach einer halben Stunde, nachdem man von ein paar Hafenarbeitern ausgelacht und weggeschickt worden war, war so ungefähr das Schlimmste, was Bastian sich vorstellen konnte.

Er überquerte die Gleise und stieg blindlings in eine der einfahrenden Bahnen in die entgegengesetzte Richtung. Und während Haltestellen mit Namen wie Stegerwaldsiedlung oder Grünstraße an ihm vorbeizogen, dachte er darüber nach, wie es weitergehen sollte.

Sein Plan, mit einem der Rheinschiffe nach Rotterdam zu kommen, hatte sich als grandioser Fehlschlag erwiesen. Es blieb die Alternative, sich per Anhalter nach Rotterdam durchzuschlagen. Die Möglichkeit, sich in einem ICE auf dem Klo zu verstecken, bis der Zug in Holland hielt, verwarf Bastian relativ schnell: Die Gefahr, erwischt zu werden, war einfach zu groß.

Am Wiener Platz in Mülheim stieg er aus und kaufte sich an einer Würstchenbude ein Hotdog. Damit setzte er sich auf die Steinstufen, die von der U-Bahn-Station zur Einkaufspassage führten, und dachte über seine Reise nach. Auf dem Stadtplan hatte er gesehen, dass irgendwo zwischen Deutz und Mülheim eine Autobahn verlief. Wenn er sich mit erhobenem Daumen an den Zubringer stellte, bestand vielleicht die Möglichkeit, dass jemand anhielt und ihn mitnahm. Er holte den Atlas aus dem Rucksack und suchte die Karte, die die Verbindungsautobahnen zwischen Deutschland und Holland zeigte. Mit dem Finger zog er die dicke, gelbe Linie nach, die den Verlauf der A4 in Richtung Aachen und von dort zur holländischen Grenzen darstellte, als ihn plötzlich eine Stimme aus seinen Gedanken riss: »Gibst du mir was ab?«

Er blickte sich um und sah neben sich ein Mädchen mit langen schwarzen Haaren.

»Wie bitte?«, fragte er völlig verdattert.

»Kann ich was ab?«, fragte das Mädchen und deutete auf Bastians Hotdog. Sie trug ein knallrotes Che-Guevara-T-Shirt und eine schwarze Cordhose. Sie war sehr dünn und ihre Kleidung, das T-Shirt und die Cordhose waren schmutzig und abgerissen. Sie gehörte offenbar zu einer Gruppe Jugendlicher, die sich unbemerkt von Bastian hinter ihm auf der Steintreppe niedergelassen hatte; halbstarke Punker mit gefärbten und in alle Himmelsrichtungen abstehenden Haaren, bewaffnet mit Bierdosen und Zigaretten, allesamt schwarz gekleidet, mit schweren Lederstiefeln und Jacken voller Aufnäher und Sticker.

»Äh … klar!«, sagte Bastian und reichte dem Mädchen den angebissenen Hotdog.

»Danke! Ich hab voll Hunger. Den ganzen Tag noch nichts gegessen!«, sagte sie und stürzte sich auf den Hotdog. Dabei setzte sie sich neben Bastian auf die Treppe und sofort versank er in einem Meer aus Blumen. Er, der keinerlei Ahnung von Parfüm hatte, konnte nur mutmaßen, aber der intensiv-süßliche und blumige Geruch, der das Mädchen umgab, hatte etwas Exklusives, etwas Anziehend-Exotisches und verzauberte ihn sofort. Während sie gierig aß, beobachtete er sie verstohlen von der Seite. Sie hatte ein blasses, schmales Gesicht mit feinen Zügen, winzigen Sommersprossen und Grübchen am Kinn.

Und überall Blumen.

Hinter ihm grölten die Halbstarken etwas, doch ihre Worte flogen an ihm vorbei wie Blätter im Wind. Als sie den Hotdog in Rekordzeit verspeist hatte, lächelte sie ihn an und sagte noch mal: »Danke!« Und dann, als wäre es das Natürlichste der Welt, fügte sie hinzu: »Ich bin Penny und wer bist du?«

»Bastian!«, sagte Bastian und wollte noch etwas Einfallsreicheres hinzufügen, aber da ihm nichts einfiel, schwieg er lieber.

»Bist du neu hier?«, fragte Penny. »Ich habe dich hier noch nie gesehen.«

Bastian verstand nicht, was sie ihm damit sagen wollte, und sah vermutlich auch so aus, denn bevor er etwas erwidern konnte, fuhr sie fort: »Ich bin öfter hier. Und jemand wie du wäre mir aufgefallen!«

»Wie? Jemand wie ich?«

»Na ja, halt jemand, der einen vollgepackten Rucksack hat, ’nen Hotdog isst und dabei in einem Atlas nach einer Autobahnverbindung zwischen Köln und Holland sucht!«

Bastian starrte das Mädchen verblüfft an, sie musste ihn tatsächlich schon länger beobachtet haben. »Das sind Hausaufgaben«, log er und wusste, noch bevor er es ausgesprochen hatte, dass es eine miserable Lüge war, die er aber einfach nicht mehr aufhalten konnte.

»Klar!«, sagte das Mädchen aus den Blumen grinsend. »Und ich bin die Sonnenkönigin! Du bist von zu Hause ausgerissen, stimmt’s?«

Bastian wollte widersprechen, wollte rufen: Nein, so einfach ist das alles nicht! Ich bin auf dem Weg in den Süden. Doch noch während er die richtigen Worte suchte, nickte er lahm, ohne so recht zu wissen, wieso. Sie schmunzelte und er dachte, dass sie tatsächlich so aussah, wie er sich eine Sonnenkönigin vorstellte.

Penny, die Sonnenkönigin!

In diesem Moment erhoben sich die Punker und gesellten sich zu ihnen.

»Nicht stören lassen!«, grölte einer von ihnen, ein bulliger Riese mit Irokesen-Haarschnitt und einem zerrissenen T-Shirt. »Wir wollten nur mal Hallo sagen.« Er knuffte Penny freundschaftlich in die Seite und ließ sich, dicht gefolgt von den anderen, einem großen, dürren Jungen und einem Mädchen, die einen schweren Ring in der Nase und zahlreiche weitere Ringe, allerdings deutlich kleiner, in beiden Ohren und in den Augenbrauen trug, neben sie auf die Steinstufen sinken.

»Die gehören zu mir, die sind in Ordnung«, sagte Penny ruhig und ignorierte den bulligen Punker völlig, der ihr nach wie vor penetrant den Ellbogen in die Seite stieß.

»Völlig in Ordnung, das sieht man doch!«, sagte der Bulle lautstark und nahm einen kräftigen Schluck aus der Pulle. Er rülpste und sah Bastian fragend an. »Und was bist du für einer?«

»Ja, genau!«, sagte Penny. »Was bist du denn eigentlich genau für einer?«

Alle Blicke waren jetzt auf ihn gerichtet und Bastian spürte, wie er sofort wieder rot anlief. Er hasste sich dafür. »Ich will … bin …«, fing er an, merkte aber sofort, wie er sich verhaspelte. Doch keiner von den Punkern lachte. Sie sahen ihn nur weiter fragend an. Also fing er noch einmal von vorne an und erzählte seine ganze Geschichte. Anfangs zögerlich, doch als er merkte, dass ihn niemand unterbrach, berichtete er von seinen unerfreulichen Erlebnissen beim Tauchen und mit seinen Eltern, von seinen Reiseplänen und dem missglückten Auftakt im Deutzer Hafen. Dass sein Vater glaubte, er sei sechs Wochen bei seiner Mutter, während seine Mutter glaubte, er sei sechs Wochen bei seinem Vater. Und er erzählte, dass er in die Südsee wollte, weil ihn sein altes Leben einfach nur noch angekotzt hatte. Dass er dort tauchen wollte. Nicht viel mehr. Einfach nur tauchen! Er hatte erwartet, spätestens jetzt ausgelacht zu werden, doch zu seiner völligen Verblüffung lachten die Punker nicht. Im Gegenteil, sie fanden seinen Plan, das Leben in die eigene Hand zu nehmen, toll.

»Geil, Alter!«, sagte der Bulle und klopfte Bastian anerkennend auf die Schulter und das Mädchen mit den Ringen im Gesicht sagte nickend: »Finde ich auch! Genau das ist es doch, worum es im Leben geht! Einfach auf alles scheißen und nur das machen, wozu man Bock hat!«

Bastian schaute sie hoffnungsvoll an. »Findet ihr echt?«, fragte er und Penny, die bisher noch gar nichts gesagt hatte, lächelte wieder, dieses geheimnisvolle, wissende Lächeln und sagte: »Klar. Das ist Punk. Ob du es willst oder nicht: Du bist jetzt einer von uns. Und irgendwie kriegen wir dich schon in die Südsee!«

Bastian hätte in diesem Lächeln versinken können, doch der schlaksige Punker, der bisher noch gar nichts gesagt hatte, meldete sich zu Wort und erklärte: »Weißt du was? Ein Kumpel von mir fährt einmal die Woche mit einem Lastwagen Kabelrollen durch die Gegend. Ich glaube, der hat morgen ’ne Tour nach Holland auf dem Plan. Vielleicht nimmt der dich ja mit und lässt dich in Rotterdam raus!«

»Das wäre super!«, platzte es aus Bastian heraus.

»Klar!«, sagte der Schlaks. »Ich treffe ihn heute Abend und frage ihn. Das klappt schon!«

»Geil, danke!«, sagte Bastian und strahlte. So schnell kann es gehen!, dachte er. Noch vor einer halben Stunde sah es so aus, als wäre seine Reise schon auf den ersten Metern gescheitert, und nun eröffneten sich ihm völlig neue Perspektiven. Das Leben konnte so schön sein.

Sie saßen noch eine ganze Weile auf den Steinstufen und unterhielten sich. Irgendwann holte der Schlaks ein paar Flaschen Kölsch aus seinem verranzten Rucksack, reichte sie herum und bot auch Bastian eine Flasche an. Bastian lehnte jedoch ab und reichte das Kölsch weiter an Penny. Natürlich lächelte sie wieder. Als die Sonne hinter der Mülheimer Brücke unterging, zogen die Punker weiter. Und da Bastian nicht wusste, wo er die Nacht verbringen sollte und er sich sowieso an den Schlaks halten wollte, schloss er sich ihnen an. So zog er gemeinsam mit den drei Punkern und dem schönsten Mädchen der Welt, der Sonnenkönigin, in die Nacht hinein.

Sie lebten alle auf der Straße, so viel hatte Bastian schnell verstanden. Der Schlaks wollte auf dem alten katholischen Friedhof in Mülheim übernachten, wurde aber von Penny, dem Bullen und dem Ring-Mädchen überredet, ihr Glück lieber im Böcking-Park zu versuchen. Bastian atmete innerlich auf, denn bei dem Gedanken, auf einem Friedhof zu schlafen, war ihm nicht besonders wohl zumute gewesen.

»Wo übernachtet ihr denn sonst?«, fragte er schüchtern, während sie über die Buchheimer Straße liefen.

»Mal hier, mal da«, antwortete Penny. »Wenn’s zu kalt wird, kann man auch in die Notschlafstelle in Porz gehen, aber da wird man die ganze Zeit von den Sozialarbeitern zugelabert.«

»Wenn es irgendwie geht«, mischte sich der Schlaks ein, »pennen wir draußen.«

Penny nickte bestätigend und ergänzte: »Auf der Baustelle an der Hafenstraße kann man ganz gut ratzen, da werden grad zwei Hochhäuser gebaut und in den halb fertigen Dingern oder in einem der Kräne findet man immer einen Platz. Man muss nur aufpassen, dass man morgens nicht von den Bauarbeitern erwischt wird, die mögen uns nicht besonders. Ansonsten treiben wir uns mal in Buchheim, Flittard oder Stammheim rum, irgendwo findet man immer was zum Pennen!«

»Genau! Und du hast ja auch noch deinen ganz persönlichen Schlafplatz!«, rief der Bulle von der Seite und grinste bösartig.

»Halt die Fresse!«, sagte Penny scharf und schenkte ihm einen eisigen Blick.

Bastian sah sie verständnislos an. Was hatte der Bulle damit gemeint? Sie reagierte jedoch nicht auf seinen Blick, sondern marschierte stur weiter geradeaus. Er überlegte gerade, ob er sie darauf ansprechen sollte, als das Ring-Mädchen plötzlich wie erstarrt stehen blieb und rief: »Jetzt schau sich einer das an!«

Sie waren an der Mülheimer Brücke angekommen und das Ring-Mädchen deutete wortlos auf die steinerne Wand des Brückenpfeilers.

»Diese Schweine!«, sagte der Schlaks mit zornbebender Stimme.

»Rechter Wichser!«, zischte auch der Bulle durch zusammengekniffene Zähne. Pennys schmales Gesicht war vor Zorn rot angelaufen und das Ring-Mädchen fixierte die zahllosen Plakate, die an die Brückenwand geklebt waren, mit einem hasserfüllten Blick. Es waren Wahlplakate, die die Mülheimer Bürger motivieren sollten, bei der anstehenden Kommunalwahl für die Lokalpartei KölnFraktion zu votieren. Bastian schätzte, dass es mindestens dreißig Plakate waren, die die Brückenwand fast vollflächig füllten. Auf jedem einzelnen Plakat war das schmierige Grinsen eines glatzköpfigen Mannes mit riesigem Schnurrbart zu sehen, der den Daumen in die Höhe reckte. Darunter stand in markigen Ziffern: »Ernst Stroebel sagt ›Nein‹ zur Kölner Groß-Moschee«.