Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Als die Risse den Himmel bedeckten, brachten sie Angst und Schrecken über die Menschheit. Ich bin Shae van Houten und stehe vor einer unmöglichen Wahl, denn meine Welt droht zu zerbrechen. In euren Träumen steckt mehr als nur die Wahrheit. Doch in einer Welt, die von ihnen regiert wird, welchen Wert hat da die Realität?
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 409
Veröffentlichungsjahr: 2025
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Copyright 2025 by
Dunkelstern Verlag GbR
Lindenhof 1
76698 Ubstadt-Weiher
http://www.dunkelstern-verlag.de
E-Mail: [email protected]
Dieses Werk darf weder im Gesamten noch in Auszügen zum Training künstlicher Intelligenzen, Programmen oder Systemen genutzt werden.
Lektorat: Dunkelstern Verlag GbR
Korrektorat: Michelle G.
Cover: Enrico Frehse
Satz: Bleeding Colours Coverdesign
ISBN: 978-3-98947-089-7
Alle Rechte vorbehalten
Ungekürzte Taschenbuchausgabe
Für alle, die bereits in ihren Träumen leben
oder noch einen Schritt entfernt sind.
Inhalt
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Epilog
Danksagung
CONTENT NOTES
Liebe Träumerinnen und Träumer,
wenn ihr Themen habt, die bei euch unangenehme Gefühle hervorrufen und ihr auf Nummer Sicher gehen wollt, dass das bei unserem Buch nicht der Fall ist, dann lest bitte die Content Notes am Ende des Buches.
Prolog
»Wem genug zu wenig ist, dem ist nichts genug.«
Epikur von Samos
Schwarze Stille.
Eiskalte Weite.
Wir waren viele und doch einer.
Unsere Existenz dehnte sich zwischen den Sternen aus. Berührte sie; tastend, suchend. Und in unendlich langsamer Schnelligkeit zogen wir uns wieder zusammen. Zeit bedeutete nichts. Ein Wimpernschlag war Ewigkeit.
Wir waren hier und überall. Wanderten zwischen den Sternen am Rande des Universums und gleichzeitig in tausend verschiedenen Galaxien. Raum bedeutete nichts. Ein Punkt war alles.
Wir waren Reisende, Getriebene. Tausend Stimmen fragten wie eine. Wo? Wo werden wir als nächstes das finden, wonach wir begehren?
Die Träume leiteten uns. Lang ausgestreckten Bändern gleich lockten sie. Grün reckte sich empor. Blau folgte, spielerisch umwunden von Gelb. Violett und Purpur sangen verheißungsvolle Lieder. Und dem ach so köstlichen Rot verfielen wir.
Und dann waren wir da, aber niemals angekommen. Nahmen, was wir brauchten, und zogen weiter. Planet um Planet. Wir besuchten Sonnensysteme und Galaxien. Sahen den Anbeginn und das Ende. Verweilten, solange es ging und hinterließen Ödnis, wo vorher Fülle herrschte. Wir aber gingen niemals leer; im Gepäck Abermillionen von Träumen. Sie wurden nicht mehr gebraucht. Es gab dort niemanden mehr, der träumen konnte.
Unser Volk zog weiter, doch es war uneins. Einige wollten Veränderung, Ruhe, mehr.
Und dann erklang eine Stimme, die nicht allen gehörte, der nur einige lauschten: Ist das Leben? Wann ist diese zerstörerische, alles verschlingende Reise zu Ende?
Jetzt!
Kapitel 1
»Das eben ist der Fluch der bösen Tat, dass sie fortzeugend immer Böses muss gebären.«
Friedrich von Schiller
Schwarze, ölige Flüssigkeit fließt meine Fingerkuppen hinab, über meine Hände, zu meinen Handgelenken. Adern treten dort hervor und saugen das schmierige Geflecht gierig auf. Fasziniert betrachte ich das Zusammenspiel der dunklen Materie, die zu meinem Blut wird und in mich eindringt. Ein kühler Luftzug streift meine Wange, und ich spüre, wie das Schwarz langsam jede Verästelung meiner Adern und Venen erreicht, bis es das Zentrum findet und ein erster, dunkler Herzschlag in mir pulsiert. Ich keuche auf und schnappe nach Luft.
Mein Blick streift umher. Ich stehe in einem dunklen Wald, alles ist schwarz, nur hier und da dringen diffuse Lichtstrahlen durch das Geäst. Tod. Alles hier ist tot.
»Shae, schön dich hier zu sehen.«
Mein Herz gerät aus dem Takt. Nein, nicht du, du bist tot.
Kaum habe ich diesen Gedanken losgelassen, liegt vor mir Dax‘ ausgemergelter Leichnam, faltig und ausgedörrt. Sein Schlund bewegt sich trotzdem, als seine Stimme erneut zu mir spricht und blicklose, vertrocknete Augen mich fixieren. Ich streiche über Aidricks Traummal an meiner Hand.
»Hast du wirklich gedacht, es endet mit mir?« Sein Mund verzieht sich zu einer höhnischen Fratze.
»Was willst du von mir?« Meine schweißnassen Hände wische ich an meinen Seiten ab.
»Alles und Nichts. Niemanden und Jemanden. Dein Sein und dein Chaos.«
»Sprich nicht in Rätseln, komm zum Punkt.« Langsam habe ich mich beruhigt, weiß, dass es nur ein Traum ist.
Der Mund des vertrockneten Leichnams überdehnt sich so weit, dass ich in das schwarze Nichts blicken kann, das einmal seine Kehle gewesen ist. Abartig, aber ich bin Schlimmes gewohnt und so warte ich ab, bis diese Figur weiterspricht, denn das wird sie. Das tut sie immer.
»Shae, du weißt, dass dein Unterbewusstsein durch mich mit dir sprechen möchte. Du fühlst dich schuldig, du leidest.«
Ich stoße ein abgehacktes Lachen aus.
»Nein, Dax, sorry. Das ist so nicht richtig.« Ich trete näher auf den verrotteten Körper zu, der auf dem schwarzen Waldboden liegt.
»Gelitten habe ich, bevor ich herausgefunden habe, dass du ein Psychopath bist, der seinen Ziehsohn zum Mörder gemacht hat, mich entführt und unter Drogen gesetzt hat, um mir weiß zu machen, dass ich mir das alles nur einbilde. Aber ich habe dich geschlagen. Ich«, ich zeige mit beiden Händen auf mich, »habe mich befreit. Aus eigener Kraft, mithilfe meines Könnens als die beste Dreamer, die es zurzeit gibt.«
Ein hohles Lachen dringt an mein Ohr, aber es stammt nicht von Dax‘ Leiche, sondern windet sich zwischen den Ästen hervor. Es stammt von mehreren Stimmen oder ist das Echo einer einzelnen, so genau kann ich das nicht ausmachen.
Ich drehe mich einmal im Kreis, suche zwischen den verrotteten, schwarzen Ästen nach weiteren Personen, einer einzelnen, nach Schatten, nach Umrissen, aber ich kann nichts sehen, nichts erkennen.
»Oh ja, Shae«, Dax‘ Stimme hat sich zu einem leisen Zischen gewandelt, »wir werden noch viel Spaß miteinander haben.«
Ich gehe in die Hocke und betrachte sein Gesicht von Nahem. »Träum weiter. Denn das bist du nur ein Traum. Vielleicht meine Verarbeitung deiner Hinrichtung, aber nicht mehr.«
Wieder ertönt die Kakophonie von Gelächter zwischen den Baumkronen. Was auch immer es ist, es bewegt sich weiter weg. Zur Sicherheit versuche ich nach der Traummaterie zu fassen. Ich kann sie fühlen, aber da ich in meinem Traum bin, kann ich ihn nicht verändern, nur beenden. Falls mir Dax noch weiter auf die Nerven geht, werde ich nicht scheuen und genau das tun. Dafür ist mir mein Schlaf zu wertvoll.
Doch zuerst muss ich ihm noch die eine Frage stellen, die mich bisher davon abgehalten hat, zu entfliehen.
»Was ist mit der Welt nach deiner Hinrichtung passiert? Warum hat sie Risse bekommen?« Ich fixiere seinen Leichnam, damit ich keine Regung, keinen Hinweis auf Lüge oder Wahrheit verpasse.
Wieder vernehme ich seinen kläglichen Versuch eines Lachens. Jetzt kommt der Moment der Wahrheit. Endet es einfach oder erfahre ich etwas Neues? Verrät mir mein Unterbewusstsein, was ich übersehen habe, oder lässt es mich weiterhin im Regen stehen?
»Ich bin nicht allein, denn ...« Auf einmal verändert sich die Gestalt von Somexter und Aidrick liegt an seiner Stelle auf dem morastigen Walduntergrund. Okay, das ist unerwartet. Meine Verblüffung wandelt sich blitzartig in Entsetzen.
Schwarze Schlieren strömen aus seinen Augen. Bloße Panik ziert sein wunderschönes Gesicht. Angst hat so viele Gesichter, aber dieses hier ist definitiv eins davon.
»Shae, hilf mir!« Inzwischen quillt eine schwarze Masse aus Augen, Mund und Nase. Das Gesicht, das ich unter Tausenden erkennen würde, verzerrt sich gequält, und Aidricks Körper windet sich zuckend hin und her.
»Aidrick!«, rufe ich entsetzt und versuche, ihn zu beruhigen.
Unter meiner Haut treten schwarze Adern hervor, rufen nach etwas. Nein, ich rufe nach etwas.
Mein Blick fällt auf meine Pulsadern, die sich schwarz und gierig unter meiner Haut winden. Aidrick schreit. Laut und qualvoll.
Ich umfasse sein wunderschönes Gesicht zärtlich mit meinen Händen.
»Aidrick, das ist nicht real.« Versuche ich ihn oder mich zu beruhigen. Seine Schreie werden lauter und noch qualvoller, sodass es mir das Herz zerreißt.
Die Flüssigkeit, die ihm inzwischen die Luft abzuschnüren scheint, windet sich jetzt um meine Handgelenke und verschwindet in meinen sich windenden Pulsadern. Das ist einfach nur widerlich, und ich halte es nicht länger aus, Aidrick so leiden zu sehen.
Es ist nur ein Traum, Shae, beruhige dich. Analysiere.
Ich atme tief ein und aus und schließe meine Augen. Das ist nicht real. Ich habe zwar nicht die Kontrolle über meine Träume, aber ich bin eine Dreamer.
Als ich die Augen öffne, bin ich allein.
Und dann öffne ich ein zweites Mal die Augen.
Kapitel 2
»Wer mit dem Strom schwimmt, erreicht die Quelle nie.«
Peter Tille
»Und wir erwarten die Ankunft unserer Beschützer, unserer Retter und unserer Heilsbringer in jeder Sekunde.«
Gebannt sitzen Aidrick, Holotier und ich auf meiner Couch und verfolgen das Medienspektakel. Der Notstand wurde ausgerufen. Aufgeregt huschen Übertragungsdrohnen über den Himmel, zeigen die verstörenden Bilder der klaffenden Fetzen des Himmels, dahinter das blanke, schwarze Nichts.
Ich kann nicht wegsehen, kann meine Lider nicht schließen. Seit der Inanisierung von Dax sind gerade mal sechs Stunden vergangen. Sechs Stunden, in denen ich sofort mit Aidrick in meine Praxis gefahren bin, das Traumserum genommen habe und versucht habe, über meine Träume etwas herauszubekommen.
Etwas, das ich übersehen habe. Aber ich habe versagt. Zwar ist mein Unterbewusstsein sofort auf Dax‘ Hinrichtung angesprungen, aber leider konnte ich es nicht beeinflussen, dass es mir die Lücken füllt, die ich übersehen habe. Denn so muss es sein. Ich habe etwas übersehen, stelle nicht die richtigen Fragen, füge Dinge nicht richtig zusammen. Wieder erscheint Dax‘ höhnisches Grinsen vor meinem inneren Auge.
Aidrick nimmt zärtlich meine Hand in seine und löst meine verkrampfte Faust. Ich hatte gar nicht wahrgenommen, wie sehr sie inzwischen schmerzt. Seine warmen Finger streicheln über meinen Handrücken, und ein wohliger Schauer läuft über meinen Rücken und steht im kompletten Kontrast zu meiner Anspannung.
»Und da, Somnia, seht in den Himmel. Sie kommen!«
Sieben Lichtstrahlen in den Farben des Regenbogens fahren über den Himmel und manifestieren sich zur stofflichen Form der einzelnen Zeitlosen, die für das menschliche Auge gedacht sind. Sie haben einen größeren Hügel knapp außerhalb Somnias gewählt, auf dem sie sich nun bedächtig und anmutig zu einem Kreis formieren. Dann tritt eine Person in die Mitte.
Ich halte die Luft an. Sie werden es richten, was auch immer diese Situation ausgelöst hat, sie werden es richten. Die klaffenden Wunden im Himmel werden gleich geschlossen.
»Meine Güte, als hätten sie alle Zeit der Welt.« Holotier ist von der Couch gesprungen und hat sich direkt vor den großen Bildschirm gesetzt, um noch näher am Geschehen zu sein. »Können die mal zusehen? Das ist ja nicht auszuhalten!«
»Holotier, sei leise«, zische ich und meine Anspannung verdichtet sich.
Um die Zeitlosen kreisen nun etliche Drohnen und filmen das Ganze von Nahem. Unisono gehen die Goldenen auf ihren Gefährten in der Mitte zu und legen ihm eine Hand auf die Schulter oder den Rücken. Alle blicken gen Himmel. Der Zeitlose in der Mitte streckt beide Hände aus und schließt die Augen. Die Zeichnungen auf ihren Stirnen beginnen zu leuchten. Irisierendes Blau ergießt sich von Stirn bis Schläfe jedes einzelnen. Die Drohnen richten nun ihr Augenmerk auf die Risse im Himmel.
Ich stoße die Luft aus. Bei den Zeitlosen, sie beginnen sich zu schließen. Meine Brust wird leichter. Zentimeter für Zentimeter gehen alle sichtbaren Risse zu und die Kapillaren meiner Lunge auf.
Auf den Straßen, neben dem Hügel, auf dem die Zeitlosen stehen, in den Wohnungen und auf allen Plätzen, auf denen die Menschen gebannt dieses Spektakel verfolgen, erheben sich Jubelrufe. Schreie entladen sich.
Es werden Menschen und Silberne gezeigt, denen Tränen über die Wangen laufen, dann wieder zu den Rissen geblendet, die sich weiter schließen, zwar langsam, aber stetig.
Dann liegt der Fokus wieder auf unseren Goldenen. Ihre Gesichter sind steinern. Weiterhin haben sie die Köpfe gen Himmel gereckt und die Arme auf Knowledge, wie ich jetzt an der herangezoomten Stirnsignatur erkenne. Sein ätherisches Gesicht ist im Fokus der Kamera, deren Bilder uns angezeigt werden. Gebannt betrachte ich die Konturen des Zeitlosen und drücke Aidricks Hand.
Nur ganz leicht zunächst, aber dann immer deutlicher werdend, bilden sich kleine Fältchen zwischen den Augenbrauen von Knowledge. Was zum ...
Die Kameras schwenken wieder um und zeigen die Risse. Eine geisterhafte Stille legt sich über die Szenerie. Die Stimmen und Jubelrufe der Menschen verklingen, und ich führe meine freie Hand zum Mund und unterdrücke ein Aufkeuchen.
Die Risse pulsieren, dehnen sich wieder aus, ziehen sich zusammen, werden kleiner, werden größer und dann ... verharren sie in ihren Positionen. Minuten verstreichen. Ich bin mir nicht sicher, ob sie sich wieder zusammenziehen oder ob das meine Wunschvorstellung ist. Weiterhin betrachte ich die Bilder, die die Drohnen übertragen. Die Risse bleiben geöffnet, zwar schmaler, aber nicht geschlossen.
Nicht geschlossen!
Die Zeitlosen haben es nicht geschafft. Das ... das ist eine Vollkatastrophe.
Die Kameras schwenken wieder zu den Zeitlosen, die inzwischen Knowledge tragen, der kraftlos zusammengesackt ist. Stimmen werden laut, einige jubeln, andere protestieren. Die Zeitlosen nehmen Knowledge in ihre Mitte, lösen sich in pures Licht auf, ziehen über den Himmel gen Zentrum und hinterlassen ein mediales Chaos.
Erste Menschen werden interviewt, erste Stimmen laut. Von verzweifelten Gesichtern über optimistische Äußerungen bis hin zu wütend erhobenen Fäusten ist alles dabei.
»Na, das nenn‘ ich mal eine Scheißsituation«, kommt es von Holotier, der sich inzwischen auf dem Rücken wälzt und hin und her schubbert.
»Scheißsituation?« Ich stehe auf, gehe Richtung Fensterfront und fahre mir durch die Haare. »Das ist eine Vollkatastrophe!« Ich lege mir meinen angewinkelten Zeigefinger an die Oberlippe und murmele: »Wieso konnten sie die Risse nicht schließen? Wieso sind sie so schwach?«
Aidrick kommt zu mir ans Fenster und ich spüre seine Wärme an meinem Rücken. Er reibt mit beiden Händen über meine Oberarme.
»Es wird sich alles fügen, Shae. Die Risse sind schon viel kleiner geworden. Ich wette mit dir, dass die Zeitlosen sich erholen und einen neuen Versuch starten werden, die Risse zu schließen.« Seine Worte sollen mich beruhigen, doch ich höre Zweifel in seiner Stimme. Zweifel, die durch das Leben als ungewollter Silberner in sein Herz gepflanzt wurden. Langsam drehe ich mich um und blicke in seine dunkelblauen Augen mit den silbernen Ringen um die Pupillen. Seine Hände verweilen weiterhin an Ort und Stelle.
Ich lege ihm eine Hand auf die Brust.
»Ich weiß, Aidrick. Meine Hoffnung ist, dass es so kommen wird. Aber die wichtigste Frage ist doch, woher kommen diese Risse?« Meine Stirn sinkt gegen seine Brust. Die Ereignisse der letzten Stunden zerren an meiner Ausdauer. Erst Dax‘ Inanisierung, dann die Risse im Himmel, meine gescheiterten Versuche in mein Unterbewusstsein vorzudringen und dann die Katastrophe, bei der Schwäche der Goldenen beiwohnen zu müssen. Was jetzt wohl passieren wird?
Bisher waren wir immer alle sicher. Jeder wusste, die Zeitlosen werden es richten. Zwar mussten wir einige Abstriche machen, aber es ging den meisten von uns gut. Und jetzt? Es fühlt sich an, als wäre alles infrage gestellt.
Ich erhebe meinen Kopf und ziehe meinen Blazer gerade, straffe die Schultern und räuspere mich. »Ich sollte mich vorbereiten.«
Aidrick runzelt die Stirn, und Holotier kommt auf alle Viere.
»And here we go ...«
»Holotier!«, zische ich meinen eigensinnigen Kater an, aber der streicht nur seelenruhig um unsere Beine.
»Wie meinst du das, du musst dich vorbereiten? Worauf?« Aidrick versucht meinen Blick einzufangen, aber ich starre aus der Fensterfront hinter ihm.
Ich hole tief Luft, senke kurz den Blick, bevor ich mich sammle und ihn ansehe. »Natürlich bereite ich mich darauf vor, eine Silberne zu werden. Bis dahin ist noch einiges zu regeln.« Ich löse mich von ihm und gehe an ihm vorbei.
»Du willst das wirklich durchziehen?«
Meine Füße gehen keinen Schritt weiter, und ich drehe mich zu ihm um. »Aber natürlich, Aidrick. Es ist eine Ehre für mich.«
Die Erinnerung an unser kurzes Streitgespräch, bevor die Welt buchstäblich über uns eingestürzt ist, kehrt wieder, und ich kenne seine Meinung zu dem Thema. Nur habe ich absolut keine Lust darauf, jetzt diese Diskussion zu führen. Ich brauche dringend Ruhe, muss mich sortieren, und so gehe ich in Richtung Schlafzimmer.
»Shae ...«, Aidrick greift nach meiner Hand. Was sich eben auf der Couch noch so wundervoll angefühlt hat, lässt mich jetzt leicht zusammenzucken. »Geh nicht. Lass mich jetzt nicht wieder so stehen. Ich dachte über diesen Punkt sind wir hinaus.«
Mein Magen krampft, und ich balle die Hände zu Fäusten. Ja, das dachte ich auch, aber nur weil wir wundervollen Sex hatten, bedeutet das nicht, dass er sich in mein Leben und meine Entscheidungen einmischen darf.
»Ich lass dich nicht stehen, Aidrick. Ich bin einfach nur verdammt müde und kaputt.« Ich drehe mich zu ihm um. »Wenn du willst, können wir noch Sex haben, aber dann würde ich dich bitten zu gehen und mir eine kleine Verschnaufpause zu gönnen.« Das von dir, lasse ich unausgesprochen. Aidricks Lippen kräuseln sich zu einem spöttischen Grinsen.
»Nein, lass gut sein. Ich verstehe eine Abfuhr, wenn ich sie bekomme, und nein danke, für einen Mitleidsfick bin ich mir zu schade. Also, wir sehen uns.« Mit schnellen, langen Schritten hat er meine Haustür erreicht und hätte sie bestimmt ins Schloss geknallt, wenn es nicht eine Gleittür gewesen wäre. Aber ich finde schon, dass er besonders energisch auf dem Touchpanel herumdrückt. Ich seufze. Noch ein Problem für Morgen-Shae, aber Heute-Shae möchte jetzt wirklich nur noch ins Bett.
Ich ziehe meine High Heels aus, die ich in der ganzen Aufregung vergessen hatte, gegen bequeme Hausschuhe zu tauschen. Dann setze ich mich wieder auf die Couch und lasse mich in die Kissen fallen. Was für ein absolut beschissener Tag.
Etwas blau Leuchtendes erklimmt meinen Bauch und macht es sich dort bequem.
»Shae, Shae, Shae«, seufzt Holotier, während er mit tapsigen Pfoten den rechten Platz sucht.
»Ich will es nicht hören!«
»Aidrick ist einer von den Guten, weißt du? Bei den anderen Holotieren wird er hochgehandelt, als heißestes Anhängsel unserer Gebieter ...«
Ich fahre hoch und Holotier faucht, als er ungewollt von meinem Bauch fliegt.
»Ich habe doch gesagt, ich will es nicht wissen ... Und überhaupt, was geht die anderen Holotiere mein Privatleben an, du geschwätziges Vieh?« Ich sitze auf der Couch und starre auf mein Hologrammhaustier hinab, das mich aus goldschimmernden Pupillen anstrahlt.
»Jetzt wirst du wieder beleidigend. Es ist nicht auszuhalten mit dir!« Er dreht mir seinen Hintern zu, und ich werfe die Arme in die Luft und starre einen Moment an meine Zimmerdecke. In welcher Cloud habe ich die Bedienungsanleitung abgelegt?
»Ich glaube, du solltest jetzt wirklich zu Bett ...« Holotier verstummt und das lässt mich aufhorchen. Er verstummt sonst nie. Ich setze mich gerade hin und verfolge seinen Blick. Er ist starr auf den Fernseher gerichtet und jetzt sehe ich auch warum.
Rot gebänderte Schlagzeile huschen über den Screen.
›Risse wurden nicht geschlossen!‹
›Erste Proteste werden laut!‹
›Leiter berichtet von Energieverlust in Traumfarm.‹
Nein, nein, nein.
›Leiter fühlt sich von Zeitlosen im Stich gelassen.‹
Das muss Aidricks Vater sein, dieser ätzende Typ. Ausgerechnet jetzt kommt er mit dieser Schlagzeile, das kann doch kein Zufall sein. Ich wende den Blick vom Bildschirm ab.
»Holotier, Privatmodus an.« Ohne zu murren, erscheint zwischen den kleinen Widderhörnchen mein wohl vertrautes Symbol des Blumenkubus und somit mein Signal, dass ich sprechen und recherchieren kann.
»Gibt es eine Verbindung zwischen Dax Somexter und Air Lynvig?« Holotier leuchtet einen Moment intensiv auf, bevor er beginnt.
»Dax Somexter und Air Lynvig haben am 30. Juli 3724 gemeinsam an der Zuordnung menschlicher Heimkinder für Silberne teilgenommen. Weitere öffentlich zugängliche Dateneinträge sind nicht auffindbar.«
»Das heißt beide haben am gleichen Tag ihre Ziehkinder geholt und sich somit wahrscheinlich vor Ort getroffen?«
»Korrekt.«
Die Bilder von Aidrick und Paul, aus Aidricks Erinnerungen, erscheinen vor meinem inneren Auge. Wie unschuldig Paul noch war, bevor Dax Mentira aus ihm gemacht und ihn auf die Menschheit losgelassen hat. Ein Schauer läuft über meinen Rücken und meine Härchen stellen sich auf. Ich schüttele den Kopf, ich will jetzt nicht an Mentira denken.
»Bitte erstelle ein Memo an mich, dass ich mich weiter mit der Geschichte von Air Lynvig beschäftigen will.«
»Memo ist angelegt.«
»Privatmodus aus.«
Ich muss das mit Aidrick wieder in Ordnung bringen.
Morgen.
Kapitel 3
»Tu deinem Leib etwas Gutes, damit deine Seele Lust hat, darin zu wohnen.«
Teresa von Ávila
Spazierengehen!? ›Sei mal locker, so was machen normale Menschen‹, hatte Aidrick zum Schluss unserer kurzen Diskussion gesagt, als er mich mittags abholte. Verstohlen gleitet mein Blick über den Mann an meiner Seite. Taxiert seine Wangenknochen, die gerade Linie seiner Nase, den Schwung seiner Lippen. Ein Seufzen sitzt in meiner Brust.
Als ich ihn heute Morgen angerufen habe, um mich zu entschuldigen, war die Stimmung anfangs noch unterkühlt. Beinahe hätte ich nicht auf den Knopf meines Connectors gedrückt, der mich mit Aidrick verbunden hätte. Ich kann mich nicht erinnern, mich in meinem Erwachsenenleben jemals entschuldigt zu haben. Vielleicht mal bei Beth für Kleinigkeiten oder bei Holotier, damit er nicht mehr nervt. Aber eine echte Entschuldigung war niemals nötig. Immer professionell, immer fehlerfrei. Was macht dieser Mann nur mit mir? Was mache ich mit mir?
Wieder mustere ich ihn von der Seite. ›Wenn die Eiskönigin mal von ihrem Thron runterkommt und einen Fehler eingesteht, wer bin ich dann, nachtragend zu sein?‹ Das Lächeln in seiner Stimme strahlte bis in mein Herz. Der Seufzer in meiner Brust löst sich.
Und nun gehe ich mit ihm spazieren! Er hat ja recht. Normale Menschen gehen bestimmt spazieren. Sie bewegen sich einfach fort, ohne Ziel. Sehen sich die Auslagen in den Geschäften an, ohne etwas Bestimmtes kaufen zu wollen. Ich schüttele unwillkürlich den Kopf, und ein leises Schnauben kommt über meine Lippen. Ich verstehe dieses Konzept einfach nicht.
Auch meinen Einwand, dass es unpassend ist, einen Tag nach dem missglückten Versuch, die Risse zu schließen, einfach durch die Gegend zu schlendern, wischte Aidrick mit Leichtigkeit fort. ›Ist uns gestern der Himmel auf den Kopf gefallen oder sieht es so aus, als würde er es bald tun? Und die wichtigste aller Fragen: Bist du eine Goldene?‹ Nachdem ich ihn nur intensiv, mit gehobener Augenbraue, angesehen hatte, zuckte er mit den Schultern, hob die Handflächen und schlussfolgerte, dass ich dann sowieso nichts tun könnte.
Stimmt. Meine Augen suchen den Himmel ab, sehen, was nicht da sein sollte. Die Risse sind unverändert, schmaler, aber deutlich noch vorhanden. Strahlendes Blau umschließt tiefe Schwärze. Ich will hineinsehen und gleichzeitig graut es mir davor. Machtlosigkeit überkommt mich, und ich presse die Zähne aufeinander, bis mein Kiefer schmerzt. Aber ich will etwas tun können. Meine Hand ballt sich zur Faust.
Um diese Zeit sind nicht allzu viele Bürger Somnias auf der Straße. Die wenigen, die nicht bei ihrer Arbeit sind, scheinen alltäglichen Dingen nachzugehen. Sie tragen ihre Einkäufe nach Hause, besuchen Traumsalons oder sind einfach unterwegs zu ihrem Ziel. Welches auch immer es ist. Merkwürdig. Für mich fühlt es sich an, als sei ich aus der Zeit gefallen. Über mir am Himmel spielt sich etwas ab, das einfach nicht sein kann. Nicht sein darf. Aber hier unten in den Straßen geht das Leben weiter. Es kann nicht stillstehen, auch wenn etwas in mir schreit, dass es so sein sollte. Unwillkürlich nicke ich.
»Bist du jetzt mit deinem Selbstgespräch fertig?« Aidrick lächelt warm auf mich herab. Ich blinzle einmal und schüttele den Kopf, damit die Gedanken verschwinden.
»Das sind die besten Unterhaltungen«, versuche ich einen Scherz und lächle zurück. Ich weiß noch nicht, wie sicher unser Frieden ist. Sollte mir das eigentlich nicht auch egal sein?
»Wir sind fast da, komm!«, Aidricks Augen funkeln, als er meine Hand packt und mich in eine schmale Seitengasse zieht.
»Ich denke, wir gehen spazieren? So ohne Ziel und so?« Etwas in mir wehrt sich dagegen, dass er die Richtung vorgibt, aber ich habe etwas gutzumachen, also lasse ich ihn gewähren. Schulden bezahlt man.
»Das Leben ist ein Fluss. Alles verändert sich zu jeder Zeit. Und so kann ein Spaziergang auch ein Ziel bekommen.« Er zwinkert mir zu, und der warme Wind, der durch die Gasse fährt, weht ihm einige Haarsträhnen in die Augen.
Innerlich stöhne ich über dieses kryptische Philosophieren. Doch dann verlassen wir die Gasse und enden auf einem weiten Platz.
»Ein Jahrmarkt? Das ist nicht dein Ernst, Aidrick!« Sofort stemme ich meine Absätze in den Straßenbelag. Doch er lässt nicht locker. »Komm schon! Hast du mir nicht heute Morgen noch gesagt, du willst versuchen, alte Muster zu durchbrechen?«
»Völlig richtig. Ich dachte aber eher an Teamwork, echte Diskussionen und so und nicht an … «, ich strecke meinen Arm aus und wedele mit der Hand in Richtung der bunten Stände, »… das da!«
Aidrick, der immer noch meine Hand in seiner hält, streicht mit der anderen beruhigend über meinen Handrücken. »Sieh mal, ab und an muss man sich auch mal was Gutes tun. Sich ablenken von all dem Irrsinn.« Er blickt kurz in den Himmel, und wir beide wissen, was er meint. »Du willst immer alles unter Kontrolle haben, alles regeln. Aber …«, bei diesem Wort tippt er mir auf die Brust, »vergiss das hier dabei nicht. Je angestrengter du nach Lösungen suchst, desto schwieriger kann es manchmal werden. Lass deine Sinne übernehmen und schalt den Kopf aus. Lass mal los, Shae!«
Sein Appell kommt an. Intensiv und drängend. Obwohl ich weiß, dass er es gut meint, entziehe ich ihm meine Hand und streiche meine Haare glatt. Ich trete einen Schritt zurück und bringe Abstand zwischen uns. Sehe zwischen ihm und dem Markt hin und her.
»Nur eine halbe Stunde, Shae. Dreißig Minuten Normalität, bevor wir uns wieder dem ganzen Wahnsinn stellen.« Erneut huscht sein Blick gen Himmel und landet dann bei meinen Augen. Fragend, bittend.
Ich könnte nachgeben. Ich könnte aber auch hier und jetzt mit meinen Recherchen über Lynvig anfangen. Wer wäre wohl eine bessere Quelle?
Also nicke ich. »Eine halbe Stunde und keine Minute mehr! Dann machen wir mit unseren Nachforschungen weiter. Deal?«
Ein strahlendes Lächeln breitet sich über Aidricks Gesicht aus. Und mit der Hand an meinem unteren Rücken flüstert er mir ins Ohr: »Deal! Und danach werde ich dein ergebener Diener sein.« Sein warmer Atem streift meine Haut und wohlige Gänsehaut überschauert mich.
***
Genüsslich zupfe ich einen Faden meiner Honigblume ab und lasse ihn auf der Zunge zergehen. Das letzte Mal, als ich mir diese Süßigkeit gegönnt habe, war ich noch ein Kind. Aber ich liebe es immer noch. Direkt am Stand wird die Honigwabe aus dem Stock genommen und das flüssige Gold in eine Zentrifuge gegossen. Virtuos dreht und wendet der Verkäufer einen Stab aus Süßholz darin und lässt so die unterschiedlichsten Formen entstehen. Hier kann man zwischen Herzen, Kugeln und Blumen wählen.
Ich drehe mich um und lehne mich mit dem Rücken gegen den Verkaufstresen. Gegenüber ist ein Stand, bei dem man allen möglichen Nippes gewinnen kann. Ein kleines Kind zieht seine Mutter dorthin und nachdem sie bezahlt hat, bekommt es eine Tüte mit Futter in die Hand. Der Junge stellt sich an das Bassin, dessen oberer Rand sich fast auf der Höhe seiner Brust befindet und beginnt, die Holo-Enten, die darin schwimmen, zu füttern. Ziel des Spiels ist es, eines der Tiere durch das Futter zu sich zu locken, sodass man es anfassen kann. Wem das gelingt, der bekommt einen Preis. Allerdings scheinen die Holo-Vögel noch nicht wirklich am Essen interessiert zu sein: Eine der Enten putzt sich hingebungsvoll das Gefieder, eine andere gründelt und reckt ihren Bürzel in die Höhe und zwei weitere versuchen, sich gegenseitig von den Seerosenblättern zu schubsen.
Wir brechen auf und schlendern über den Jahrmarkt. Melodien, Töne, Hupen und Gelächter schwirren durch die Luft und verbinden sich zu diesem einzigartigen Lied, das man nur an solchen Orten vernehmen kann.
Wir passieren einen durchsichtigen Quader, der in gut vier Metern Höhe hängt. Hier ist noch nichts los, aber das Schild schreit in grellen Farben: Erleben Sie das Wunder der Schwerelosigkeit für nur fünfzig Somnus! Ich schmunzle. Das wäre es mir auch wert.
Eine unheilvolle Melodie lockt meine Aufmerksamkeit auf die andere Seite, und ich erschrecke kurz, als sich ein riesiger Drache mit weit aufgerissenem Maul über mich beugt und mich in seinem Feuer einhüllt. Mit einem Lachen deute ich auf die unterschiedlichen virtuellen Monster, die einen zum Gruseln hinein locken sollen und wende mich an Aidrick: »Ich habe deinen Vater neulich mal persönlich kennengelernt. Er könnte hier gut als Vorlage gedient haben.«
Mein Begleiter mustert die Figuren ebenfalls und wiegt dann abwägend den Kopf. »Ich weiß nicht. Du sollst dich hier doch fröhlich erschrecken und nicht zu einem Eisklumpen werden.«
Ich lege meine Hand kurz an seinen Oberarm. »War es so schlimm? Ich weiß, ich habe einige deiner Erinnerungen gesehen, aber das kann doch nicht alles gewesen sein? Gab es da nichts Gutes, Freundliches?«
»Nein, nichts.« Er wendet den Kopf ab und betrachtet die Magnet-Bahn auf der anderen Seite intensiv. Die Menschen darin werden nur durch Anziehung gehalten und steuern fröhlich kreischend auf einen dreifachen Looping zu. Aidrick steckt die Hände in die Hosentaschen und zieht die Schultern nach oben. Mein Magen macht ebenfalls eine Drehung, und plötzlich ist mir nicht mehr nach weiteren Recherchen über seinen Vater zu Mute.
Nach einigen schweigenden Metern sind wir am Ende des Marktes angekommen und treten auf eine der Hauptstraßen Somnias hinaus. Aus der Ferne vernehme ich das Gemurmel einer Menge, kann sie jedoch noch nicht sehen, da mir die großen Straßenbäume die Sicht versperren. Als wir sie passieren, springen mir sofort die großen Nachrichten-Tafeln ins Auge. ›Die Goldenen haben das Unheil abgewendet‹, ›Sind die Risse eine Strafe des Schicksals?‹, ›Zeitlose: Retter oder Versager?‹
Am Ende der Straße hat sich eine Menschenmenge versammelt. Sie scheinen zu diskutieren, setzen sich dann aber in Bewegung. Zwei Männer an der Spitze entrollen ein Spruchband und heben es hoch über die Köpfe der Demonstranten. Ich lese Schwarz auf Rot: Eine neue Zeit bricht an!
Und wieder wandert mein Blick zum Himmel. Ja, da haben sie wohl recht.
Kapitel 4
»Wer unsere Träume stiehlt, gibt uns den Tod.«
Konfuzius
Meine Augen heften sich an die Zimmerdecke. Die Strahlen der aufgehenden Sonne vertreiben langsam die Schatten der Nacht.
Ich liege in meinem Bett, allein. Bewusst gewählt, denn ich wollte meine vorletzte Nacht als menschliche Dreamer mit mir verbringen.
Und so liege ich hier und denke über meine Träume nach und darüber, dass ich als Silberne nicht mehr aktiv träume. Ein flaues Gefühl füllt meinen Magen. Mein ganzes Leben dreht sich um das Träumen, um Traumanalyse, um Traumhygiene.
Nun bald aber werde ich ein unendlich langes Leben vor mir haben, aber nie wieder träumen ... Und werde ich meinen Job weiter ausüben können? Abrupt setze ich mich auf und stütze mich mit meinen beiden Händen auf der weichen Matratze ab.
Meine Praxis, meine Patienten, Beth. Verdammt, darüber habe ich mir bisher keine Gedanken gemacht, ich hatte einfach keine Zeit dazu. Sobald man eine Silberne wird, bekommt man normalerweise neue Funktionen: Arbeit im Ministerium, Supervisorenausbildung, hochrangige Jobs in Traumfarmen ... Alles das, was mich null interessiert. Ich liebe mein Leben und meinen Beruf.
Ich schwinge meine Beine über die Kante des Bettes und gehe in die Dusche. Mein Spiegelbild erzählt mir von meiner Aufgewühltheit. Schatten liegen unter meinen Augen, und die kleine Falte zwischen meinen Augenbrauen ist deutlich zu sehen.
Ich drücke mit beiden Handballen meine Augen zu und atme tief ein und aus. Was für ein Chaos.
Auf der einen Seite freue ich mich sehr darüber, dass mir die Ehre zuteilwird, von den Goldenen gesegnet zu werden.
Auf der anderen Seite muss ich gestehen, auch wenn ich das Aidrick gegenüber nie zugeben würde, dass ich Angst vor dem Ungewissen habe.
Aidricks Worte haben mich verunsichert, und ich hasse es.
Meine Hände umfassen das Waschbecken, ich presse die Lippen zusammen und lasse die Zunge dazwischen gleiten. Mit einem kleinen Kraftschub stoße ich mich vom Becken ab und gehe unter die Dusche. Noch vor der Weihe muss ich klären, dass ich weiter in meinem Beruf arbeiten kann.
***
»Na, wie ist deine Laune heute?« Holotiers Stimme ertönt außerhalb der Duschkabine, und ich verdrehe unter dem heißen Wasser die Augen. Da ich nicht antworte, meint mein Hologrammtier anscheinend, es darf weiterreden.
»Das Ding mit dem Silberne werden und so, meinst du wirklich das ist was für dich? Und mich!? Hast du eigentlich schon mal darüber nachgedacht, dass du vielleicht ein Hologrammupdate bekommst und ich ... wegrationalisiert werde oder schlimmer! Gelöscht! Ich! Oh Shae ...« Vernehme ich da wirklich ein Heulen? Habe ich das so eingestellt, dass dieser Kater menschlich heulen kann?
Ich drehe die Dusche ab und schnappe mir ein Handtuch.
»Holotier«, sage ich erstaunlich sanft, »mach dir keine Gedanken. Das wird schon werden.«
»Wird schon werden? Wird schon werden?« Die letzten drei Worte faucht er in meine Richtung.
»Nun komm schon, ich weiß es doch auch nicht!« Ich stemme die Hände in meine unter einem flauschigen Handtuch versteckte Hüfte.
»Das ist keine zufriedenstellende Antwort, Shae! Du sollst mich trösten und mich nicht noch mehr mit Ungewissheit strafen. Hier wäre ein: Auf keinen Fall, mein liebstes aller lieben Holotiere, wird das passieren. Das lasse ich nicht zu. Ich werde für dich kämpfen und alles daransetzen, dass das nicht passiert. Ich werde dich lieben und ehren, bis der Tod uns scheidet und darüber hinaus ... So was wäre eine angemessene Antwort!«
Ich lege den Kopf zur Seite und verziehe meinen Mund zu einem schiefen Grinsen. »Alles klar. Das was du sagst.« Es dauert einen Moment, bis es bei meinem blau leuchtenden Freund ankommt.
»Na, geht doch.« Holotier reckt das Kinn in die Höhe und geht aus der Badezimmertür.
Ich folge ihm.
Im Wohnzimmer läuft bereits die xte Wiederholung der Geschehnisse der letzten achtundvierzig Stunden inklusive der aufkeimenden Proteste, von denen Aidrick und ich gestern Augenzeugen geworden sind.
Menschen mit holografischen Spruchbändern, echte Plakate und Protestschilder flackern in wilder Reihenfolge über den Bildschirm.
Ich runzle die Stirn und setze mich auf meine Couch. Holotier nimmt neben mir Platz und legt sein Köpfchen an mein Bein. Das ist definitiv ein neues Feature. Er scheint wirklich Angst zu haben, dass ich ihn austausche. Vielleicht sollte ich ihm doch erzählen, dass ich das nie im Leben tun würde. Ich fahre ihm mit meiner Hand leicht über das blau leuchtende Fell und er beginnt zu schnurren.
»Wann sollen du und Aidrick heute im Zentrum sein?«
»In zwei Stunden.« Ich streichle das weiche Fell zwischen seinen Widderhörnchen. Er dreht den Kopf und blickt mich an. »Vielleicht könntest du heute das Thema ja schon mal ansprechen, bevor morgen Abend deine Weihe zur Silbernen ist.«
»Das Thema scheint dich wirklich zu beschäftigen.« Ich kraule ihn unter dem Kinn und streiche seitlich sein Fell nach hinten. »Natürlich, Shae.« Die Ernsthaftigkeit, die Holotier an den Tag legt, lässt mich stutzig werden.
»Hab keine Angst, ich lege keinen gesteigerten Wert darauf, dass irgendein Update dich verändert oder du sogar gelöscht wirst - auch wenn du mich manchmal zur Weißglut treibst. Ich hoffe, das weißt du.«
»Natürlich. Aber auch ein Hologramm hat Gefühle und möchte ab und zu liebe Worte hören.« Ich schmunzle und erhebe mich.
***
»Hast du eine Ahnung, warum sie uns sehen wollen, einen Tag vor meiner Weihe?«
Aidrick versteift sich neben mir, öffnet und schließt seine mir zugewandte Hand. Mein Solarflitzer bringt uns zielsicher durch die Straßen Somnias und die Häuserschluchten ziehen in reflektierenden Strahlen an uns vorbei.
»Nein, ich weiß es nicht ... also nicht offiziell, aber ich kann mir denken, dass es wohl etwas mit den Rissen zu tun hat.«
»Ja.« Ein mulmiges Gefühl steigt in mir auf, und ich fasse mir an die Kehle. Ich drehe mich zu Aidrick, während ich den Wagen auf Autopilot stelle.
»Wir müssen was unternehmen, Aidrick. Wenn sie uns heute sagen, dass sie unsere Hilfe brauchen, dann stehen wir kurz vor dem Weltuntergang.« Ich betrachte ihn, und er dreht sich nun auch zu mir.
»Shae, das wird langsam zu groß für uns.« Er ringt nach Worten und ich lasse ihn. »Das mit Dax, mit Mentira und dem CEO ... das war ein kleiner überschaubarer Rahmen, aber das hier ...«, er zeigt aus dem Fenster, »Risse im Himmel, Goldene, die sie nicht schließen können ...«
»Traumfarmen, die Energie verlieren«, beende ich die Aufzählung des Grauens. »Ja, ich weiß. Es ist groß, vielleicht zu groß, aber Aidrick, es ist unsere Welt. Wir haben nur die eine.«
»Ich weiß, dass du recht hast und doch habe ich keinen blassen Schimmer, wie wir behilflich sein können.« Er stößt geräuschvoll Luft aus und streicht sich durch die Haare.
»Lass uns erst mal abwarten, was sie von uns wollen. Vielleicht ist es ja auch was ganz anderes.«
Mit gerunzelter Stirn blickt er zu mir herüber. »Ja, vielleicht.« Er greift nach meiner Hand, und ich heiße die Wärme willkommen, lasse sie durch meinen Körper strömen und gönne mir den Moment der Zweisamkeit.
***
Nervös stehe ich vor den zwei großen Flügeltüren im Zentrum. Ich hebe die Hand, will gegen das schwere, weiß lackierte Holz klopfen, halte inne und tausche einen Blick mit Aidrick, der neben mir steht.
»Soll ich?«, lautlos formen meine Lippen diese Worte. Er nickt mir zu, und ich lasse meine Fingerknöchel gegen das Türblatt schlagen.
»Tretet ein!«, die Stimmen der Goldenen füllen meinen Geist, und ich drücke die Tür auf. Trete einen Schritt hinein und habe das Gefühl, als hätte sich die Zeit gekrümmt. Weiter Raum, heller Marmor, Stühle mit goldenen Lehnen im Halbkreis. Unsere Anführer in strahlend weißen Roben, äußerlich mal wieder nicht zu unterscheiden. Ihre blau schimmernden Signaturen sind heute unbestimmt. Stumm und starr sitzen sie da, die einzige Bewegung geht von dem fließenden Blau auf ihrer Schläfe und Stirn aus. Ist es wirklich erst ein paar Tage her, dass ich hier war? Es kommt mir vor wie ein anderes Leben.
Es sieht aus, als wenn alle wieder genesen sind und sich bester Traumgesundheit erfreuen.
Wieder dringen die sieben Stimmen als eine an mein Ohr und durchfluten meinen Geist.
»Shae und Aidrick, wir heißen euch willkommen.«
Ich senke leicht den Kopf, Aidrick tut es mir gleich.
»Wir haben euch zu uns eingeladen, weil wir eure Hilfe brauchen.« Aidrick und ich tauschen wissende Blicke aus.
»Wie soll diese Hilfe aussehen?«, frage ich so förmlich wie es geht. Es dauert einige Momente, bis die Zeitlosen antworten.
»Unsere Energie schwindet, Shae, und wir wissen nicht warum dem so ist.« Mein Magen rutscht mir in die Kniekehlen. Ich habe ja damit gerechnet, dass die Energie in den Traumfarmen vielleicht Auswirkungen auf die Zeitlosen haben könnte, aber dass sie selbst Energie verlieren, ist mehr als eine Katastrophe, es könnte unsere Welt zugrunde richten. Keine Beschützer mehr, keine Leitbilder.
Ich räuspere mich. »Das ist eine Aussage, die sehr bedeutungsschwer ist. Was genau heißt das? Ihr verliert Energie?«
»Dessen sind wir uns bewusst.« Wieder Schweigen und keine Antworten auf meine Fragen.
»Da ihr beide im letzten Monat bereits Nachforschungen in der größten Traumfarm angestellt habt, bitten wir euch, eure Suche auszuweiten.« Als keine weitere Instruktion kommt, will ich gerade weitere Fragen stellen, aber Aidrick kommt mir zuvor.
»Was genau bedeutet unsere Suche ausweiten?«
»Uns ist bewusst, dass du, Aidrick, neben der Arbeit im Ministerium noch einem anderen Gewerbe nachgehst, dessen Expertise uns vielleicht von Nutzen sein könnte.«
Aidrick zieht eine Augenbraue hoch und schenkt mir einen Seitenblick.
»Ich werde gerne meine Expertise nutzen, um euch die Informationen zu liefern, die ihr gerne hättet, so denn ich es schaffe, an eine Quelle zu gelangen.«
Ein kollektives, langsames Nicken erstreckt sich durch den Kreis der Zeitlosen.
Ich trete einen Schritt vor. »Warum wir? Ich meine, ich danke euch für euer Vertrauen und fühle mich geehrt, dass ihr uns mit so einer wichtigen Sache betraut, aber ... ich verstehe nicht, warum wir für diese existenzielle Aufgabe ausgesucht wurden.«
Ich spüre ein kollektives Lächeln durch mein Hirn streichen. Es umschmeichelt mich und ganz sicher auch Aidrick. Ich wische meine Hände an meiner weißen Anzughose ab.
»Ihr beide habt im Fall Dax Somexter bewiesen, dass wir euch voll und ganz vertrauen können. Leider ...« Es entsteht wieder eine lange Pause. »Leider haben wir das Vertrauen in den engen Bereich unserer Berater und untergebenen Silbernen verloren. Dax war ein langjähriger Vertrauter. Dass er seine von uns verliehene Gabe so ausgenutzt und für böse, selbstsüchtige Zwecke verwendet hat, hat uns zutiefst getroffen.«
Knowledge, vielleicht ist es auch Air, dreht leicht den Kopf, und der Hauch eines Nickens deutet sich an, als er sich zu den anderen Zeitlosen dreht. Zwei weitere Goldene treten vor. Zwischen ihnen schwebt etwas in der Luft, das mir erschreckend vertraut vorkommt.
»Ah, ich spüre, dass du es wiedererkennst.« Ich schlucke schwer. Ein Geheimnis, das ich noch nicht mit den Zeitlosen geteilt habe. An meinem Hals klettert Röte hinauf.
Dunkelblauer, starrer Untergrund, durchzogen mit goldenen Schlieren, schwebt in einer nebligen Traumsequenz zwischen den beiden Zeitlosen.
»Was kannst du uns zu dieser Sequenz sagen, Shae?«
Ich räuspere mich und halte kurz meine geschlossene Hand vor meinen Mund.
»Ich war mir am Anfang nicht ganz sicher, aber ich denke, dass die Langzeit- und Tagträumer, die in der Traumfarm 9 2/3a ihre Energie abgeben, dieses Geflecht am Boden ihrer Träume aufweisen, dort wo eigentlich die Traummaterie sitzen sollte.« Wieder ein Nicken der Zeitlosen.
»Aufgrund dessen, dass ich mitten in den Ermittlungen zu Mentira und Dax steckte, habe ich mich nicht weiter damit auseinandergesetzt. Mein Versäumnis, es euch gegenüber zu erwähnen, tut mir leid. Wenn ich fragen darf, ...«, ich verschränke meine Hände hinter dem Rücken, »Wie seid ihr darauf aufmerksam geworden?«
Die beiden Zeitlosen, die das Bild des Geflechts zwischen sich projiziert haben, lassen dieses verblassen und dann verschwinden.
Ein Summen gelangt an mein Gehör. Es schwillt an, dehnt sich aus und schrumpft wieder zusammen. Es erweckt den Anschein, als wäre auch dieses Geräusch eine Art Kommunikation zwischen den Zeitlosen.
Knowledge tritt vor. »Unser loyaler CEO, Mister Air Lynvig«, sein Blick gleitet zu Aidrick, »dein wertgeschätzter Vater, setzte uns vor ein paar Tagen von diesen Anomalien in Kenntnis.« Beim Gedanken an das letzte Zusammentreffen mit Aidricks Vater bekomme ich eine Gänsehaut und ein Schauer läuft mir über den Rücken. Nie im Leben wird Air Lynvig für mich etwas anderes sein, als ein emotionaler Eisklotz und Sadist.
»Ah.« Mehr bringe ich nicht zustande. Neben mir tritt Aidrick von einem Bein auf das andere.
»Da hat mein Vater ja gute Arbeit geleistet. Warum betrauen Sie ihn nicht mit der weiteren Recherche?« Seine Worte triefen vor Sarkasmus, und ich muss mich zusammenreißen, dass ich ihm nicht auf den Fuß trete.
Knowledge senkt sein Haupt, und ich höre wieder die mehrfache Stimme in meinem Kopf.
»Air Lynvig hat uns noch nie Grund zum Misstrauen gegeben. Ihm haben wir die Somdoskope zu verdanken. Er war es, der nach dem schrecklichen Tod des CEOs Ikarus ohne Umschweife seinen Platz eingenommen hat, uns also sofort geholfen hat.« Ich runzle die Stirn. »Und genau das ist der Grund, warum wir ihn nicht noch zusätzlich mit der Recherche und Aufklärung des Energieabfalls betrauen wollen. Die qualifizierte Leitung der Traumfarm hat Vorrang.«
Wieder tritt das Summen ein, und ich wechsele einen Blick mit Aidrick, der alarmiert zu mir herüberschaut.
»Ich bin eine Dreamer. Mein Patientenstamm braucht mich, und ich liebe meinen Job.«
»Ja, aber ab morgen bist du eine von uns, eine Silberne.« Bedächtig streckt Knowledge eine Hand nach mir aus. Unschlüssig, was ich nun tun soll, hebe ich leicht die Hand, balle sie dann zur Faust und lasse sie wieder sinken.
»Ich bin eine Dreamer und ich möchte auch eine bleiben. Ich bin sehr gut in dem, was ich tue.« Ich ziehe mein Jackett glatt und blicke in die Runde. »Ich bitte darum, dass ich auch als Silberne eine Dreamer bleiben darf und den Menschen weiterhin zu Diensten bin und euch auch, indem ich ihre Träume reinige, ihnen ihre Ängste nehme und ihr somit die beste Qualität an Traumenergie habt.«
»Und was gedenkst du mit deinem anderen Berufsfeld zu tun?«
»Den Straftätern?« Wieder ein kollektives Nicken.
Ich hole tief Luft. »Ich gebe diese Entscheidung in eure Hände, aber ich bin die beste Dreamer, die es in Somnia gibt, also warum sollte ich meine Qualifikation nicht auch als Silberne nutzen?«
Aidricks Blick liegt sengend und gequält auf mir, sodass ich abermals tief Luft hole und die Schultern kreisen lasse.
»Wir werden die Entscheidung deines weiteren Berufseinsatzes morgen nach deiner Weihe geklärt haben und es dir im Anschluss mitteilen. Für jetzt bitten wir um eure vollkommene Verschwiegenheit und Kooperation. Sobald ihr Neuigkeiten bezüglich dieses Geflechts, wie du es nanntest, habt, teilt ihr uns diese unverzüglich mit.«
Diesmal nicke ich nur knapp, und Aidrick tut es mir gleich.
»Wenn Ihr erlaubt, würde ich gerne noch eine Frage stellen.«
Wieder strömt ein Lächeln durch meine Hirnwindungen.
»Warum konntet Ihr die Risse nicht schließen?«
Das Summen schwillt wieder an und dauert mehrere Augenblicke, in denen mein Blick über alle Zeitlosen gleitet, um zu erkennen, ob es irgendeine Gefühlsregung ihrerseits gibt. Aber nichts ist zu erkennen.
Knowledge stellt sich zurück in den Kreis seiner Gefährten. Alle fassen sich an den Händen und eine unfassbare Energie erfüllt den Raum. Mir fällt es schwer zu atmen, so verdichtet ist die Luft um uns herum. Auf einmal flackert ein Bild über der Mitte des durch die Hände geschlossenen Kreises und taucht den Raum in einen gelbgoldenen Schein. Ich sehe die Bilder, die in den letzten achtundvierzig Stunden die Medien regiert haben, aber diesmal aus der Sicht der Zeitlosen. Die Bündelung ihrer Energie, die Risse, wie sie sich langsam schließen. Höre den Jubel der Menschen, erlebe die Freude, die die Zeitlosen dabei empfanden und dann sehe ich feine, verästelte schwarze Schlieren aus den Rissen hervortreten. Das konnte man über die Übertragungswege nicht erkennen ... Wahrscheinlich auch keine Bilder, die für die Sinne der Menschen bestimmt sind.
Die schwarzen Schlieren legen sich um den grellen Energiefluss der Goldenen und lassen diesen nach und nach versiegen ... fast so, als würden sie ihn leersaugen.
Ich keuche auf. Das ist unfassbar. Was für eine Materie kommt aus den Rissen?
Ich sehe und spüre die große Kraftanstrengung, die die Goldenen unternehmen, um gegen die schwarze Masse anzukämpfen. Sehe, wie sie erneute Energie aussenden, um die Risse wenigstens an Ort und Stelle zu halten und wie fragil das Ergebnis ist. Meine Sorge wächst ins Unermessliche. Die Lage ist noch schlimmer, als ich dachte.
»Für den Moment haben wir einen stabilen Zustand, Shae. Wir sind selbst auch auf der Suche nach den Gründen, warum uns das Schließen und somit der Schutz deiner und auch unserer Welt nicht gelungen ist, aber wir können nicht überall gleichzeitig sein. Unsere Macht ist zwar groß, aber wir brauchen sie gebündelt, um die Risse an Ort und Stelle zu halten und gleichzeitig herauszubekommen, warum uns das Schließen nicht gelungen ist.
Wir sind auf eure Hilfe angewiesen, uns mit so viel Energie zu versorgen, wie es nur geht. Und dafür brauchen wir funktionierende Traumfarmen und Träume, die angstfrei und kreativ sind.« Ich nicke stumm, überwältigt von dieser grausamen Szenerie.
»Nun denn, ihr dürft gehen. Wir sehen uns morgen.«
Kapitel 5
»Die Seele hat die Farben deiner Gedanken.«
Marcus Aurelius
Umgeben von sattgrünen Wiesen, soweit das Auge reicht, sitze ich am Ufer eines Flusses, der träge vor sich hinfließt. In seiner Mitte treibt eine Frau, das Gesicht dem wolkenlosen Himmel zugewandt. Ihre langen blonden Haare sind fächerförmig ausgebreitet und bewegen sich mit dem langsamen Rhythmus des Wassers. Immer wieder steigen aus den regenbogenfarbenen Fluten schillernde Blasen empor und schweben leicht wie Federn gen Himmel.
»Das ist also der Traum?«, wende ich mich an die Frau, die neben mir im Gras sitzt. Währenddessen grabe ich meine Hand in die Traummaterie auf der wir sitzen. Meine Finger tasten und suchen, bis sie auf etwas Hartes stoßen. Da ist es, das Traumgeflecht. Schon wieder.
Sie nickt und betrachtet ihren Körper im Fluss. »Es ist immer der gleiche. Ich träume nie etwas anderes. Nicht von der Gegenwart …«, sie holt tief Luft, fast scheint es, als würde ihr das Atmen schwerfallen, »und erst recht nicht von der Vergangenheit. Bei den Zeitlosen, ich habe es versucht!«
Ich denke an das Traumgeflecht. »Haben Sie jemals eine Traumfarm besucht?«
Mit einem Kopfschütteln erwidert sie: »Nein, nicht, dass ich wüsste.«
Sie wirkt einsam und verlassen. Die schmalen Schultern nach vorn gebeugt, die knochigen Hände mit den abgekauten Nägeln im Schoß. Ihr Pendant im Wasser erscheint fülliger. Obwohl sie bewegungslos dahintreibt, strahlt sie mehr Leben aus als meine Patientin neben mir.
»Fast zwei Jahre sind vergangen, an die ich keine Erinnerung mehr habe.« Sie streckt ihren Arm aus, und ihre helle Haut blendet mich fast im strahlenden Licht der Sonne. Sie beschreibt einen Bogen, der den Regenbogenfluss sowie die Wiesen miteinschließt. »Und alles, was mir meine Erinnerung, mein Unterbewusstsein oder was auch immer gibt, ist das hier.«
Ich nicke. Viel ist es wirklich nicht. Eine rotviolett schillernde Blase steigt auf und zerplatzt. Kindergelächter schwebt durch die Luft und meine Patientin seufzt. »Das ist Sam, mein Sohn. Als ich verschwunden bin, war er erst vier. Wie soll ich einem Sechsjährigen erklären, wo seine Mutter zwei Jahre gesteckt hat, wenn ich es selbst nicht weiß?«
Die nächste Blase platzt. Menschen singen laut und schräg Happy Birthday. Darüber legt sich das Bellen eines Hundes, das eine weitere entlassen hat. Nach einer Weile ist die Luft erfüllt von Lachen, Musikfetzen und Alltagsgeräuschen. »Hab einen schönen Tag. Ich liebe dich, mein Herz!«, eine warme Männerstimme legt sich über alles andere und meiner Begleiterin treten Tränen in die Augen. »Daniel, mein Mann. Das war das Letzte, was er zu mir gesagt hat. Danach ist nichts mehr.«
»Und jedes Mal sitzen Sie hier und sehen sich selbst zu? Durch meine Gegenwart hat sich nichts verändert? Es ist wichtig, dass ich den Originaltraum sehe, damit ich Sie richtig beraten kann.«