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Wenn Drachen und Phönixe den Himmel bevölkern und Träume Magie entfesseln ...
Entdecke deinen eigenen Traumgefährten - mit einer von vier Charakterkarten exklusiv in der 1. Auflage
Die 14-jährige Aria Loveridge ist kein gewöhnliches Mädchen: In ihr schlummert das mysteriöse Dreamslinger-Gen, durch das sie gewaltige Elementarmagie wirken kann. Doch diese Traumkraft gilt als gefährlich, und Aria hat gelernt, sie zu fürchten und zu unterdrücken. Fernab der Gesellschaft wächst sie im Resthaven-Internat auf - bis eines Tages Gesandte des sagenumwobenen Royalen Bundes der Dreamslinger auftauchen. Im Königlichen Hanguk sollen Aria und andere Jugendliche lernen, ihre Kräfte zu beherrschen. Aber Aria hat andere Pläne: Statt die Aufnahmeprüfungen zu meistern, will sie den Royalen Bund von innen heraus stürzen - und entdeckt dabei eine Welt, in der sie zum ersten Mal sie selbst sein darf ...
Epische Fantasy-Geschichte vor der Kulisse von Seoul/Südkorea - mit einer mutigen Heldin, Drachen, Phönixen, riesenhaften Tigern & Schildkröten und magischen Träumen
Das Abenteuer geht weiter: Auftakt einer neuen Fantasy-Reihe
"Ein absolutes Muss für alle, die Geschichten über Zusammenhalt, fantasievolle Magie und Selbstfindung lieben. Und: Ich möchte auch einen Blüten-Drachen!" SHANNON MESSENGER, Bestsellerautorin der KEEPER OF THE LOST CITIES-Reihe
"Ein außergewöhnliches Fantasy-Abenteuer. Graci Kim hat es wieder einmal geschafft!" RICK RIORDAN, Bestsellerautor von PERCY JACKSON
Erstauflage exklusiv mit Farbschnitt & einer von vier Charakterkarten (nur solange der Vorrat reicht)
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 401
Veröffentlichungsjahr: 2025
Cover
Inhalt
Über das Buch
Über die Autorin
Titel
Impressum
Widmung
1 Guten Morgen, Resthaven
2 Die Sonnenblumenwiese
3 Live auf allen Kanälen
4 Leaving on a Jetplane
5 Sind wir bald da?
6 Die Blütenbrücke
7 Ein Fisch auf dem Trockenen
8 Die königliche Willkommenszeremonie
9 Wie man Schmetterlingspost faltet
10 Orientierungstag mit Allianzen
11 Möge die Unterweisung beginnen
12 Achtung, fertig, rollen!
13 Hingabe, Knoten und Fransen
14 Im Untergrund
15 Von Sprösslingen und Sabotage
16 Schlummersimulation
17 Onkel und Tanten im Überfluss
18 Happy Chuseok!
19 Reisen und Enthüllungen
20 Aber wer bist du wirklich?
21 Konfrontationen
22 Erntedienst
23 Die Wahrheit im Lotus
24 Wahlfamilie
25 Die dritte und letzte Prüfung
26 Die Gezeitenrutsche
27 Keine zweite Chance
28 Explosionen
29 Unerfreuliche Begegnungen
30 Einweihung in der Lagune
Epilog
Danksagung
Arias Schlaflied
Tauche ein in die magische Welt
Wenn Drachen und Phönixe den Himmel bevölkern und Träume Magie entfesseln …
Entdecke deinen eigenen Traumgefährten - mit einer von vier Charakterkarten exklusiv in der 1. Auflage
Die 14-jährige Aria Loveridge ist kein gewöhnliches Mädchen: In ihr schlummert das mysteriöse Dreamslinger-Gen, durch das sie gewaltige Elementarmagie wirken kann. Doch diese Traumkraft gilt als gefährlich, und Aria hat gelernt, sie zu fürchten und zu unterdrücken. Fernab der Gesellschaft wächst sie im Resthaven-Internat auf – bis eines Tages Gesandte des sagenumwobenen Royalen Bundes der Dreamslinger auftauchen. Im Königlichen Hanguk sollen Aria und andere Jugendliche lernen, ihre Kräfte zu beherrschen. Aber Aria hat andere Pläne: Statt die Aufnahmeprüfungen zu meistern, will sie den Royalen Bund von innen heraus stürzen – und entdeckt dabei eine Welt, in der sie zum ersten Mal sie selbst sein darf …
Epische Fantasy-Geschichte vor der Kulisse von Seoul/Südkorea - mit einer mutigen Heldin, Drachen, Phönixen, riesenhaften Tigern & Schildkröten und magischen Träumen
Das Abenteuer geht weiter: Auftakt einer neuen Fantasy-Reihe
»Ein absolutes Muss für alle, die Geschichten über Zusammenhalt, fantasievolle Magie und Selbstfindung lieben. Und: Ich möchte auch einen Blüten-Drachen!« SHANNON MESSENGER, Bestsellerautorin der KEEPER OF THE LOST CITIES-Reihe
»Ein außergewöhnliches Fantasy-Abenteuer. Graci Kim hat es wieder einmal geschafft!« RICK RIORDAN, Bestsellerautor von PERCY JACKSON
Graci Kim ist eine preisgekrönte Bestsellerautorin für magische Kinder- und Jugendbücher mit besonderen Settings. Bevor sie Autorin wurde, war Graci neuseeländische Diplomatin und Moderatorin einer Kochsendung. Sie lebt mit ihrem Mann und ihrer Tochter in Aotearoa, Neuseeland. Mehr spannende Einblicke unter: www.gracikim.com oder bei Instagram (@gracikimwrites) & TikTok (@gracikim).
– Band 1 –
Übersetzung aus dem neuseeländischen Englischvon Ulrike Raimer-Nolte
Titel der amerikanischen Originalausgabe: »Dreamslinger«
Für die Originalausgabe:
Copyright © 2025 by Graci Kim
Published by Arrangement with Graci Kim
c/o WRITERS HOUSE LLC, 120 Broadway, 22nd Floor, NEW YORK, NY 10271 USA
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.
Für die deutschsprachige Ausgabe:
Copyright © 2025 by
Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6-20, 51063 Köln, Deutschland
Bei Fragen zur Produktsicherheit wenden Sie sich bitte an:
Vervielfältigungen dieses Werkes für das Text- und Data-Mining bleiben vorbehalten.
Die Verwendung des Werkes oder Teilen davon zum Training künstlicher Intelligenz-Technologien oder -Systeme ist untersagt.
Textredaktion: Claudia Müller, Hamburg
Umschlaggestaltung: Guter Punkt, München | www.guter-punkt.de unter Verwendung einer Umschlaggestaltung von Zareen Johnson
Vorsatzgestaltung: Guter Punkt, München | www.guter-punkt.de unter Verwendung der Karten-Illustration von Virginia Allyn © 2021 by Disney Enterprises,
Inc. Reprinted by permission of Disney • Hyperion Books. All rights reserved.
Nachsatzgestaltung: Guter Punkt, München | www.guter-punkt.de
unter Verwendung der Illustrationen von Isabeau Backhaus
Covermotiv: © 2025 by Jessica Fong
eBook-Erstellung: Jilzov Digital Publishing, Düsseldorf
ISBN 978-3-8339-1052-4
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luebbe.de
lesejury.de
Für alle, die eine Ausnahme von der Regel sind.
Möge dein Weg dichin etwas Außergewöhnliches verwandeln.
Heute würde ein wahrhaft revolutionärer Tag werden, dachte Aria Loveridge, als sie aufstand und nach den metallischen Handschuhen auf ihrem Nachttisch griff. Daneben lehnte ein kleiner Zettel an einer Dominoschachtel. Es war eine Nachricht von ihrem Vater.
Guten Morgen, Fünkchen! Was hältst du von einer Runde Domino nach dem großen Event?
Aria lächelte, während sie die Handschuhe überzog. Ihr Vater hatte ihr diesen Spitznamen verpasst, weil sie explodieren konnte wie ein Feuerwerk. Von Geburt an ging sie leicht in die Luft, und ihre kindlichen Wutanfälle waren legendär gewesen. Tatsächlich gehörten Wutanfälle zu den häufigsten Anzeichen, dass jemand das Gen besaß.
Doch schon bevor klar war, dass sie die Mutation in sich trug und zu den Dreamslingern gehörte, hatte ihr Vater nie einen Zweifel daran gelassen, dass sie in seinen Augen genau richtig war. Sie hatte nur stärkere Gefühle als andere Kinder. Sie nahm die Welt um sich herum intensiver wahr als der Durchschnitt. Als Alleinerziehender war es seine Aufgabe, ihr beizubringen, wie sie mit diesen starken Emotionen umgehen sollte.
Er war ganz ohne Frage ihr größter Held. Und heute war der Tag, an dem das endlich die ganze Nation anerkennen würde. Aria war voller Vorfreude.
Etwas nervös lief sie zum Labor, das sich im Kellergeschoss von Resthaven befand, dem bisher einzigen Internat für Dreamslinger. Dort stellte sie sich zu den anderen Jugendlichen, die im Schlafanzug für die Morgenvisite anstanden.
»Aria Loveridge, bitte tritt ein!«, hörte sie die kühle Stimme von Dr. Dixon. Er entließ gerade einen anderen Slinger aus einer der vier Entzugskammern, die den langen Flur des Labors säumten. Dann lief er über den glänzenden Fliesenboden zurück zu seinem Schreibtisch, setzte sich und öffnete Arias Akte in seinem Computer. Dabei nickte er in Richtung des Plastikstuhls, der vor dem Tisch stand. Doch bevor Aria überhaupt Zeit hatte, sich zu setzen, begann schon die Befragung.
»Der Gehirnscanner hat während deiner gestrigen Schlafphase zwischen 3:12 Uhr und 3:40 Uhr eine erhöhte Aktivität festgestellt. Hast du irgendetwas geträumt?«
Aria zupfte an ihren Handschuhen herum. »Ich erinnere mich an einen Traum, in dem mir ein paar Zähne ausgefallen sind. Ziemlich normal, aber ich hasse diese Träume. Und ich glaube, da war noch einer, in dem ich vergeblich die Toilette gesucht habe. Das war echt mistig, kann ich Ihnen sagen.«
Er tat so, als habe er meinen Kommentar nicht gehört. »Ich meine, erinnerst du dich an etwas aus der Albtraum-Sphäre?«
»Ja.« Das war relativ normal. Niemand kannte den Grund dafür, aber alle Dreamslinger teilten denselben wiederkehrenden Traum. Sie fanden sich in einer kreisförmigen Wildnis wieder, die einen Bach, ein Tal und ein unheimliches Waldgebiet enthielt, überspannt von einem violetten Himmel.
»Ist dir in der Sphäre eine der Bestien begegnet?«, fuhr Dr. Dixon fort.
»Ja, die Vogelbestie.«
Der gigantische Vogel mit Schwanzfedern aus Flammen war eines der vier monströsen Wesen, die im Traum der Dreamslinger auftauchten. Außerdem gab es noch die Schildkröte (mit einem Panzer aus Eis), den Tiger (mit einem Fell aus Herbstlaub) und den Drachen (mit einem Schuppenleib aus Blütenblättern). Alle vier waren riesenhaft und Furcht einflößend, aber gleichzeitig besaßen sie eine seltsame, hypnotische Anziehungskraft.
Dr. Dixon tippte alles in seinen Computer. »Ist es der Vogelbestie gelungen, dich zu ihrem Elementarmeer zu locken?«
Aria senkte den Blick und nickte kaum merklich. Sie war dem Vogel bis zum südlichen Ende der Albtraum-Sphäre gefolgt, wo hinter der kreisrunden Grenze ein Abgrund aus lodernden Flammen klaffte.
Niemand wusste, warum es die vier Elementarmeere gab. Der Süden war mit Feuer gefüllt, der Norden mit Eis, der Westen mit wirbelndem Laub und der Osten mit Giftpflanzen. Die Meere umschlossen die runde Albtraum-Sphäre, und jedes Meer wurde von einer der Bestien bewacht.
Genauso unerklärlich war, warum die Bestien die Träumenden dazu verlocken wollten, in eines der Meere zu springen. Aria wusste nur, dass sie all ihre Willenskraft aufbieten musste, um dem Drang zu widerstehen und sich nicht Hals über Kopf hineinzustürzen.
Dr. Dixon hörte mit dem Tippen auf und starrte sie aus schmalen Augen an. »Und bist du mit dem Südlichen Feuermeer in Berührung gekommen?«
»Ich habe nur die Zehen hineingestippt«, bekannte Aria, ohne zu zögern. Jede Lüge würde sich in den Kammern von selbst entlarven. »Dann habe ich den Fuß sofort zurückgezogen. Ehrenwort.«
Wenn Slinger in eines der Meere eintauchten, litten sie am kommenden Tag unter der dazugehörigen Elementarkrankheit. Nach dem Aufwachen nahmen ihre Eruptionen die Form an, die zum jeweiligen Meer passte, also Feuer, Eis, Sturm oder Gift.
Dr. Dixon durchbohrte Aria mit Blicken, während er die Entertaste des Computers drückte. »Dir dürfte genauso klar sein wie mir, dass heute eine Menge auf dem Spiel steht. Dein Vater hat hart gearbeitet, um uns so weit zu bringen. Ich will doch hoffen, dass du uns nicht enttäuschst.«
Aria schnaubte. »Das ist jetzt nicht Ihr Ernst, Dr. D! Ich setze mich schon selbst genug unter Druck.«
Sie wusste ganz genau, dass man sie als lebendige Verkörperung von Professor Jack Loveridges Werk betrachten würde, weil sie nun einmal seine Tochter war. Seine bahnbrechenden Forschungen hatten das Hilfsprogramm für Dreamslinger ermöglicht und waren der einzige Grund, warum genetisch Betroffene hier mit der Rücksicht behandelt wurden, die man ihnen so lange verweigert hatte. Resthaven war das krönende Ergebnis seiner Arbeit. Und wenn der heutige Tag ein Erfolg wäre, würde sein Internatsmodell von sämtlichen Staaten der USA übernommen werden. Deshalb durfte sich jetzt niemand einen Fehler erlauben.
»Geh in die Entzugskammer und sieh zu, dass du alles ausscheidest, was du während des Traums aufgesogen hast. Bis zum letzten Tropfen«, sagte Dr. Dixon.
Aria schritt hastig den Flur entlang, vorbei an der Hitzekammer, die Eis in Sekunden schmelzen konnte, dann an der Entgiftungskammer und danach an der Vakuumkammer, die Sturmwinde absaugte. Ihr Ziel war die vierte Kammer mit feuersicheren Wänden und einer Schicht aus weißem, schaumigem Löschgel an der Decke und auf dem Boden.
Nachdem sie die Tür hinter sich verriegelt hatte, streifte Aria die schützenden Handschuhe aus Metallfasern ab. Sofort loderten alle Gefühle auf, die sie zu unterdrücken gelernt hatte. Wie bei sämtlichen Dreamslingern waren heftige Emotionen der Trigger, durch den ihre Eruptionen ausgelöst wurden. Die Entzugskammern waren der einzige Ort, an dem die Jugendlichen ihre Emotionen herauslassen konnten. Aria knackte mit den Fingerknöcheln und kostete die Erwartung aus, die fast schmerzhaft unter ihrer Haut prickelte. Dann erlaubte sie dem inneren Sturm aus Nervosität, Aufregung und Angst, sich zu einem Crescendo zu steigern, und schleuderte die ganze Energie aus ihrem Körper.
Sie stieß ein Heulen aus der Tiefe ihres Solarplexus aus, während hungrige Flammen aus ihren Fingern zischten und eine wundervolle Erleichterung sie durchströmte. Mit geschlossenen Augen gönnte sie sich die Ruhe, ihre Gedanken wandern zu lassen. Wie viel Glück sie doch hatte, in Resthaven zu wohnen. Wie schön ihr vierzehnter Geburtstag gewesen war, den sie mit den anderen im Internat gefeiert hatte. Wie sicher sie sich hier fühlte.
Doch schon bald schweiften ihre Gedanken weiter zurück, zu dem Tag, als sie ihre erste Eruption gehabt hatte. Das war erst ein Jahr her. Sie war als Dreizehnjährige auf einer Klassenreise im Almiro Nationalpark gewesen und hatte mit den anderen in urigen Holzhütten übernachtet. Abends war sie ins Bett gefallen, den Bauch voller gerösteter Marshmallows und den Kopf voller Lagerfeuergeschichten. Dann hatte sie einen furchterregenden Traum gehabt, in dem ein riesiger Tiger aus bernsteinfarbenem Laub sie in ein Meer wirbelnder Herbstblätter gejagt hatte.
Als sie aus dem Albtraum aufgeschreckt war, hatte ihr ganzer Körper unerträglich gekribbelt, als wäre er in einen See aus heißer Knisterbrause getaucht worden. Verängstigt und verwirrt hatte sie die schmerzhaft pulsierenden Finger ausgeschüttelt, nur um einen mörderischen Sturm in der Holzhütte zu entfesseln. Die Fensterscheiben waren zersprungen, ihre schlafenden Zimmergenossen wurden brutal aus den Betten geschleudert und wie Gliederpuppen zu Boden geschmettert. Auf diese Weise hatte Aria herausgefunden, dass sie das Dreamslinger-Gen in sich trug.
Zu erfahren, dass sie an derselben genetischen Mutation litt wie die Leute, die ihre Mutter umgebracht hatten … Durch so etwas konnte man schon einen Schock fürs Leben bekommen.
In der Entzugskammer bemühte sie sich jetzt, jedes letzte kleine Flämmchen auszuscheiden, das ihre Hände hervorbrachten, bis nur noch Rauch aus den Fingerspitzen quoll. Erst als ihr Körper sich ganz taub anfühlte und ihre Kehle heiser vom wilden Schreien war, erlaubte sie sich, die Kammer zu verlassen. Sie fühlte sich bereit, den Tag zu beginnen, der für sie und ihren Dad mit Sicherheit der schönste aller Zeiten werden würde.
»Basima, ich glaube, hier müsste der Fußboden stärker poliert werden«, stellte sie fest. »Ich kann mich noch nicht darin spiegeln.«
»Maria, sorgst du dafür, dass die angekokelten Vorhänge ausgetauscht werden? Oh, und auch die verätzten Yogamatten mit den Löchern.«
»Sollten wir die Kameraleute lieber zum Meditationsraum führen oder zu den schallisolierten Nischen für Atemübungen? Hm, vielleicht wäre der Flügel für Kunsttherapie noch besser.« Aria war sich bewusst, wie arrogant sie vermutlich klang, während sie das Personal von Resthaven herumscheuchte. Das war nicht ihre Absicht, aber auf dem Weg zu ihrem Morgenmantra inspizierte sie zwanghaft jeden Winkel des Gebäudes. Alles musste perfekt sein, wenn ihr Vater seinen großen Moment hatte.
Denn schließlich bekam man nicht jeden Tag hohen Besuch vom US-Sonderbeauftragten für Dreamslinger-Angelegenheiten und vom texanischen Gouverneur. Und schon gar nicht wurde jeden Tag ein Vertrag unterzeichnet, der die Dreamslinger-Initiative ihres Vaters in sämtlichen US-Staaten verbindlich machen könnte. Das Ganze sollte live im Fernsehen übertragen werden. Dieser Tag war die Gelegenheit, aus Resthaven ein Vorzeigemodell für die Zukunft der gesamten Nation zu machen.
Erst jetzt bemerkte Aria, dass sie sich verspätet hatte, und rannte eilig zu den Gemeinschaftsräumen. Sicher warteten schon alle darauf, dass sie das Morgenmantra anleitete.
»Mäßigen … zügeln … bändigen!«, singsangte Aria kurz darauf von der Bühne, während ihre Mitbewohner und Mitbewohnerinnen rhythmisch die Klangschalen tönen ließen und dieselben drei Wörter im Chor wiederholten. »Mäßigen … zügeln … bändigen!«
Das Morgenmantra fand immer direkt nach der Visite von Dr. Dixon und dem medizinischen Team statt. Es dauerte nur fünf Minuten, aber ihr Vater hatte recht: Diese drei Wörter halfen, jeden Tag mit einem Gefühl der Dankbarkeit und Zusammengehörigkeit zu beginnen. Sie alle arbeiteten schließlich auf ein gemeinsames Ziel hin.
»Dankbar sind wir für den freundlichen Schutz, der uns gegen die Anfälle nutzt«, rezitierte Aria die Abschlussformel. »Mögen wir unseren Nächsten nicht schaden, sondern nur zum Guten beitragen.«
»Mäßigen … zügeln … bändigen!«, hallte es im Chor von den Jugendlichen zurück.
Aria stieg die kleine Bühnentreppe hinab, während der sechzehnjährige Pablo die Nachrichten im Fernsehen anschaltete.
»Leute, schaut mal … in Almiro haben die Anti-Slinger schon wieder jemanden zusammengeschlagen!«
Alle scharten sich um den kleinen Bildschirm.
»Das ist der dritte Überfall in nur drei Wochen«, stellte Levi fest und schüttelte sich. »Ist das nicht vorm Rathaus? Das ist nur eine Straße weiter.«
Aria erhob ihre Stimme über das nervöse Gemurmel. »Genau deshalb ist der heutige Tag so wichtig. Die Ideen meines Vaters können helfen, der feindseligen Rhetorik von Anti-Slingern etwas entgegenzusetzen. Aber trotzdem liegt noch eine Menge Arbeit vor uns.«
Die anderen nickten zustimmend.
»Ich hab länger nicht daran gedacht, wie weit wir schon gekommen sind«, murmelte Pablo, worauf ein weiteres einstimmiges Nicken folgte.
Dreamslinger waren von Anfang an Außenseiter in der Gesellschaft gewesen. Man stempelte sie als gefährlich und unberechenbar ab und ging ihnen lieber aus dem Weg. Vor zehn Jahren hatte sich die politische Lage noch einmal verschärft, als es in Texas zu einer Masseneruption gekommen war, bei der Tausende von Menschen durch Slinger-Kräfte starben. Danach hatten viele Staaten bestimmt, dass Dreamslinger in Sicherheitsverwahrung genommen werden durften, selbst wenn sie nicht verurteilt worden waren. Das allgemeine Misstrauen genügte, um sie lebenslang einzusperren. Slinger waren für die Öffentlichkeit zum Feind Nummer eins geworden.
Einige radikale Anti-Slinger gingen so weit, die Vernichtung aller Gen-Tragenden zu fordern, als seien sie Ungeziefer, das man ausrotten musste. Aber inmitten dieses Chaos hatte Arias Vater sich erhoben und war zum Fürsprecher eines bedingungslosen Mitgefühls geworden.
Obwohl Arias Mutter bei der Masseneruption getötet worden war, hatte ihr Vater einen revolutionären Ansatz verfolgt, nämlich ein Hilfsprogramm für Dreamslinger. Er argumentierte, dass die Betroffenen keine Kriminellen seien. Sie litten unter einer Krankheit und sollten von der Gesellschaft als Patientinnen und Patienten angesehen werden, die eine Behandlung verdienten. Falls es gelänge, Slingern das nötige Handwerkszeug beizubringen, um sich selbst zu mäßigen, zu zügeln und zu bändigen, wäre das ein Gewinn für die gesamte Menschheit. Damals ahnte er noch nicht, dass seine eigene Tochter mit Beginn der Pubertät plötzlich selbst Teil seines Programms werden würde.
Sie verdankte ihm alles. Stolz kehrte sie in ihr Zimmer zurück und holte sich eines der Notizbücher ihrer verstorbenen Mutter. Da sie nach draußen gehen wollte, befestigte sie noch die Binde mit der vierblättrigen Blume – dem internationalen Zeichen für Dreamslinger – an ihrem Oberarm. Auch diese Maßnahme war von ihrem Vater vorgeschlagen worden. Wenn Slinger das Warnsymbol trugen, konnte man sie nicht verdächtigen, ihre Identität aus zweifelhaften Gründen zu verheimlichen. Außerdem erlaubte es Menschen, die besonders vorsichtig sein wollten, auf Abstand zu gehen, damit sie vor eventuellen Eruptionen sicher waren. Nach Arias Erfahrung war das Armband für beide Seiten von Vorteil.
Als der Stoff ordentlich saß, machte Aria sich auf den Weg zum Haupteingang von Resthaven. Draußen strahlte ihr ein heller Morgen entgegen, dem die Sommerhitze bereits anzumerken war. Ihr Dad und seine prominenten Gäste würden sich erst nachmittags zu dem großen Live-Event treffen. Bis dahin war noch viel zu erledigen.
Aber zuerst wollte Aria noch einen besonderen Ort besuchen.
Arias Mutter hatte Sonnenblumen geliebt. Nach ihrem Tod war ihre Asche deshalb an der Stelle verstreut worden, wo sich die Wiesenlandschaft im Sommer verwandelte – in das Sonnenblumenfeld von Almiro. Hier leuchteten den Spazierenden Millionen strahlend gelber Smileys mit Blütenblättern entgegen. Ihr Vater hatte Aria erzählt, dass sie zwischen den Blumen laufen gelernt und ihre ersten Schritte gewagt hatte, während die hohen Stängel sie umgaben wie eine Gruppe stolzer Tanten. Und hinterher hatte die ganze Familie mit einem Picknick am See gefeiert.
Aria war erst vier Jahre alt gewesen, als ihre Mutter Ersa (die nach der griechischen Göttin des Morgentaus benannt war) während der Masseneruption getötet worden war. Mit ihr war auch ein Teil von Aria selbst gestorben. Vor allem ihre Verbindung zu Korea, dem Geburtsland ihrer Mutter. Aria hatte kaum noch Erinnerungen an Ersa, nur einen asiatischen Kettenanhänger mit der Glückszahl Acht sowie das flüchtige Gefühl einer warmen Umarmung. Den Duft ihres Parfums – White Musk mit einer leichten Zitrusnote – würde Aria immer und überall erkennen. Außerdem gab es noch ein Lied, mit dem die Mutter sie in den Schlaf gewiegt hatte. Wann immer sie ihrer Mom jetzt nah sein wollte – was ziemlich häufig vorkam –, besuchte sie die Sonnenblumenwiese. Hier war Ersa Loveridge für Aria unsterblich.
»Hi, Mom, heute ist der große Tag«, sagte Aria, während sie durch das Feld aus gelben Sonnengesichtern wanderte und den geerbten Glücksanhänger rieb, den sie immer um den Hals trug. Sie warf einen Blick auf das Notizbuch, das sie mitgenommen hatte. Es trug in kratziger Handschrift den Titel Ersas Wortschätze Nr. 8: Spezielle Gefühle, von denen ich nicht einmal wusste, dass sie Namen haben.
Ihre Mom hatte einen ganzen Karton voll mit diesen kleinen Notizbüchern hinterlassen. Jedes war eine einzigartige Sammlung von Schätzen, die irgendwann ihre Neugier erregt hatten. Witzige Songtexte. Interessante Namen. In einem der Hefte befand sich sogar eine Liste von Wolkentieren, die sie am Himmel gesehen und mit Datum notiert hatte. Dieses hier, mit dem Gefühlswortschatz, war eines von Arias Lieblingsnotizbüchern, denn es fühlte sich beinah so an, als könnte sie dadurch mit ihrer Mutter kommunizieren.
»Heute wird Dad das ganze Land beeindrucken, Mom. Ich bin so stolz auf ihn. Du nicht auch?« Aria öffnete das Heft auf einer zufälligen Seite und las den Eintrag, auf dem ihr Finger landete. Er lautete:
SAUDADE (Substantiv, Portugiesisch):
– Nostalgisches Gefühl, weil man etwas Geliebtes verloren hat, das nie wiederkehren wird.
– Die Sehnsucht danach, jemandem oder etwas in weiter Ferne nahe zu sein.
Aria nickte. »Ich wünschte auch, du könntest hier bei uns sein. Aber dir geht es doch gut, wo immer du bist, oder?«
Sie wählte eine weitere zufällige Seite und tippte, ohne hinzuschauen, auf eine Stelle. Diesmal lautete der Eintrag:
HIRAETH (Substantiv, Walisisch):
(1) Heimweh nach einem Ort, an den man nicht zurückkehren kann.
(2) Sehnsucht nach einem Zuhause, das es nie gab.
Aria seufzte. »Tut mir leid, dass du Heimweh hast, Mom. Falls es dir hilft: Mir geht es genauso. Aber ich habe kein Heimweh nach einem Ort. Sondern nach einer Zeit. Nach der Zeit, als unser Zuhause noch wir drei waren.«
Bevor sie noch trauriger werden konnte, steckte sie das Notizbuch schnell weg. Stattdessen spazierte sie zum See hinüber. Dabei summte sie das Lied vor sich hin, das ihre Mutter ihr immer zum Einschlafen vorgesungen hatte.
Flieg frei, Vogel, fliegFlieg frei, Vogel, fliegNiemand darf deine Flügel beschneidenDu bist geboren, um am Himmel zu kreisen.
Flieg frei, Vogel, fliegFlieg frei, Vogel, fliegDenn dort, hinter dem Grau,Öffnet sich eine neue Tür.Meine Flügel werden dich nach Hause führen.
Von allen Gefühlen war Trauer am schwersten zu mäßigen. Vom Zügeln und Bändigen ganz zu schweigen. So viele Techniken zur Gefühlsregulation sie in Resthaven auch gelernt hatte, nichts hatte ihr die Kontrolle über den Schmerz geben können. Trauer ließ sich nicht zähmen wie Frustration oder Wut. Dazu war das Gefühl zu schwer greifbar. Unberechenbar. Es schlich sich heran, wenn man es am wenigsten erwartete, und zog einem den Boden unter den Füßen weg.
Wie zum Beweis flammte ein letzter verirrter Feuerfunke aus ihren Fingern und landete in einem nahen Grasbüschel, als sie gerade ans offene Seeufer gelangte. Aria grummelte und trat das Feuer mit dem Fuß aus, bevor es sich ausweiten konnte.
In der Nähe des Ufers schien irgendetwas los zu sein. Sie lief ein paar Schritte in die Richtung, weil sie dankbar für die Ablenkung war. Ein Grüppchen jüngerer Kinder hatte sich um mehrere Jugendliche geschart, die Kapuzenumhänge mit Symbolen auf dem Rücken trugen. Das Ganze sah wie eine Art Cosplay-Treffen aus.
Doch dann begann einer der Jugendlichen mit einem seltsamen Singsang, und plötzlich materialisierte sich neben ihm eine Schildkröte von der Größe eines Esstisches mit einem Panzer aus reinem Eis. Fast gleichzeitig beschwor ein Mädchen in einem Kapuzenmantel einen gigantischen Drachen herauf, dessen Leib mit Schuppen aus Blütenblättern bedeckt war. Aria lief ein eiskalter Schauer über den Rücken.
Die meisten der Kinder aus dem Ort kreischten erschrocken und rannten davon. Sie kannten die Regel: Man näherte sich Dreamslingern stets auf eigene Gefahr. Nur ein paar besonders Mutige – oder Leichtsinnige – blieben zurück. Sie zitterten nervös und waren gleichzeitig zu neugierig, um sich aus dem Staub zu machen.
Aria starrte mit offenem Mund die allzu vertrauten Kreaturen in der unvertrauten Umgebung an. Die Schildkröte mit dem Eispanzer und der Drache mit Blütenschuppen waren Bestien aus der Albtraum-Sphäre. Wie konnten sie hier in der realen Welt sein?
»Wie wär’s mit ein bisschen Spaß?«, fragte der Jugendliche neben der Schildkröte grinsend die Kinder. Er machte eine schleudernde Handbewegung zum See. Aria zuckte zusammen und erwartete eine gefährliche Eis-Eruption, doch stattdessen erschien mitten auf dem Wasser eine große Eisscholle. Der frostige Panzer der Bestie leuchtete auf, während die Finger des Jungen einen komplizierten Tanz beschrieben und aus der Eisscholle eine Rutsche formten, die in den See führte. »Ich dachte, vielleicht wollt ihr euch bei der Hitze ein bisschen abkühlen.«
Ein furchtloser kleiner Junge riss sich das T-Shirt über den Kopf und sprang mit wildem Geheul ins Wasser, um die frostige neue Rutsche auszuprobieren.
»Wie wäre es mit einer Seilschaukel?«, fragte das Mädchen neben dem Blüten-Drachen herausfordernd. »Ich wette, so eine habt ihr noch nie gesehen.«
Sie richtete die Hände auf ein nahes Stück der Sonnenblumenwiese und machte eine einladende Geste. Ihr Drache leuchtete auf, und dann begann sich ein Blumenstiel bis zum Seeufer zu strecken, als wäre er aus superelastischem Gummi. Das Mädchen bewegte die Finger in einer Knotenbewegung, sodass sich der Stängel an einen übers Wasser ragenden Ast knüpfte. Sofort sprang ein Kind auf den Blütenkopf wie auf einen Schaukelsitz und schwang sich in Richtung des Sees.
Aria schaute mit einer Mischung aus Faszination und Panik zu. Wer waren diese Leute, die ihre Eruptionen so geübt und präzise handhaben konnten? Sie wirkten völlig gelassen – im Gegensatz zu den chaotischen Gefühlsausbrüchen, die sich Aria jeden Morgen in der Kammer erlaubte. Nicht zu vergleichen mit der rohen, unkontrollierbaren Wildheit ihrer Eruptionen. Es sah eher so aus, als hätten diese Jugendlichen Superkräfte.
»Du kannst gern dazukommen, wenn du willst«, sagte einer von ihnen. Der dunkelhaarige Junge ging auf Aria zu. Auf seinem Umhang prangte das Symbol eines Gänseblümchens. »Keine Angst, wir beißen nicht.«
Erst jetzt bemerkte Aria den geflochtenen Gürtel um seine Taille, von dem ein komplizierter Knoten mit langen, seidigen Fransen baumelte. Sie runzelte die Stirn. Wo hatte sie so etwas schon einmal gesehen? Der Knoten wirkte vertraut, aber sie wusste nicht, warum. In Gedanken ging sie die Unterrichtsthemen in Resthaven durch … Vielleicht hatte es damit zu tun, wie man sich selbst vom Träumen abhalten konnte? Nein, das war es nicht. Irgendein geschichtliches Thema … über das Einfangen von …
Sie stieß ein Keuchen aus und wich stolpernd zurück, als es ihr einfiel. »Das ist ein B-Bestienfänger!«, stotterte sie.
Der Junge legte den Kopf schräg. »Nicht ganz.«
In Arias Kopf drehte sich alles. »Oh doch, das ist es. Wir haben alles darüber gelernt. Und die einzigen Leute, die so verrückt sind, sie zu benutzen …« Sie riss die Augen auf. »Ihr seid Royale Slinger aus dem Königlichen Hanguk, nicht wahr? Aber wie ist das möglich? Das Königreich hat sich von der Außenwelt abgeschottet. Leute wie ihr dürfen das Land gar nicht verlassen!«
»Und doch sind wir hier.«
Aria wich noch einen Schritt zurück. Das Königliche Hanguk war ein winziger Inselstaat, der sich mitten in Seoul befand. Er war dafür berüchtigt, eine überproportional große Menge an Dreamslingern zu haben und sich vom Rest der Welt komplett abzukapseln. Man wusste wenig über das Reich, außer dass der König den sogenannten Royalen Bund der Dreamslinger befehligte, in dem Kinder ab der Pubertät darauf gedrillt wurden, ihre Eruptionen zu beherrschen und zu steuern.
Erst einmal klang das nach einer beneidenswerten Fähigkeit, nur war ein Teil dieser umstrittenen Ausbildung, Bestien aus der Albtraum-Sphäre in die reale Welt zu ziehen. Und das war für die jungen Slinger – und die Allgemeinheit – ein enormes Risiko. In einem Interview hatte ihr Vater einmal gesagt, die Methoden des Royalen Bundes seien damit vergleichbar, Kindern eine geladene Waffe in die Hand zu drücken. Nur schlimmer, denn durch das Training wurden die Kinder selbst zu Waffen.
Der Junge blickte auf Arias Armband und runzelte die Stirn. »Du könntest eine Heldin sein, ist dir das klar?«
»Meinst du etwa so wie du?«, antwortete sie verächtlich. »Man kann ja wohl kein Held sein, wenn man schon der Schurke ist.«
»Nun, das kommt ganz darauf an, wen man fragt.«
Arias Blick huschte wieder zu dem Fransenknoten, und der Junge hob ihn an, damit sie ihn besser betrachten konnte.
»Darin werden sie beherbergt«, erklärte er und singsangte ein paar Worte, die wie Suri suri masuri klangen.
Aria blinzelte, als plötzlich ein gigantischer Drache mit Rosenblütenschuppen neben dem Jungen stand. Erschrocken wich sie zurück.
»Kein Grund, sich aufzuregen.« Er schwang sich mit einer geübten Bewegung auf den Rücken der Bestie, und das flügellose Echsenwesen mit schlangenhaftem Leib stieß ein Zischen aus. »Ich heiße übrigens Tae, und das hier ist Jaya. Er ist ein Blüten-Drache.«
Als Aria ihn sprachlos anstarrte, fuhr er fort: »Nur weil Leute das mutierte Gen haben, sind sie noch lange keine Schurken … sondern einfach etwas ungewöhnlich. Der Royale Bund könnte dir helfen, außergewöhnlich zu werden. Denk darüber nach.«
Für den Bruchteil einer Sekunde ließ Aria sich von der Magie des Moments mitreißen und stellte fest, dass sie nickte. Aber dann kam sie wieder zu Sinnen und erinnerte sich daran, warum das alles zu schön wirkte, um wahr zu sein. Weil es tatsächlich zu schön war.
Schließlich hatte der Royale Bund der Dreamslinger vor zehn Jahren die Masseneruption verschuldet. Damals hatte das abgeschottete Königreich plötzlich Hunderte junger Slinger auf eine internationale Tour geschickt, damit sie ihre umstrittenen Fähigkeiten in der Öffentlichkeit präsentieren konnten. Das Königreich nannte es eine diplomatische Maßnahme, um schädliche Gerüchte über den Bund zu zerstreuen und generell dafür zu sorgen, dass sich das Ansehen von Slingern verbesserte – seien sie nun royal oder nicht. Angeblich wollten sie der Welt beweisen, dass die Genmutation eine Macht für das Gute sein konnte.
Aber stattdessen geschah etwas ganz anderes. Als die Gruppe von Abgesandten in Texas ankam, war sie von der ständigen Überanstrengung ausgelaugt. Ein handgreiflicher Streit war zwischen ein paar Royalen Slingern und einer Gruppe ansässiger Protestler ausgebrochen und hatte sich zu einem landesweiten Massenkonflikt ausgeweitet. Das Resultat war eine Kette aus Feuersbrünsten, Eisstürmen, Windhosen und Vergiftungswellen, die über Dutzende Städte hinwegfegte und Tausende unschuldiger Menschen das Leben kostete. Einer davon war Arias Mutter gewesen.
Bei dem Gedanken wurde Aria unsagbar traurig. Seit der Masseneruption waren außerhalb des Königlichen Hanguk so gut wie keine Royalen Slinger gesichtet worden.
Bis jetzt.
»Hey, Kleiner, sei vorsichtig!«, rief einer der Jugendlichem dem Jungen zu, der immer wilder auf der Sonnenblumenschaukel schwang und fast mit dem Kopf voran gegen die Eisrutsche krachte.
»Das ist supercool!«, johlte der Junge, ignorierte die Warnung und holte noch mehr Schwung.
Im nächsten Moment rief eine Slingerin ihre Tigerbestie und benutzte eine Winderuption, um die treibende Eisscholle seitlich ans Ufer zu ziehen. Gleichzeitig wand das Mädchen, das die Schaukel geformt hatte, den Stängel wie ein Lasso um den Körper des Jungen, um ihn ins Wasser plumpsen zu lassen. Leider verzahnten sich diese beiden Hilfsversuche so unglücklich, dass der Kleine in die Tiefe fiel und nicht im See, sondern auf dem harten Eis landete. Sein Schädel stieß mit schrecklichem Knirschen gegen die scharfe Kante der Scholle. Unter seinem Hinterkopf breitete sich eine Blutlache aus.
Aria schrie.
Schlagartig verstand sie den Vergleich, den ihr Vater benutzt hatte. Wenn man eine menschliche Waffe war, musste man nicht einmal jemandem schaden wollen und tat es trotzdem.
So schnell sie konnte, rannte sie zum nahe gelegenen Parkplatz, damit dort jemand den Krankenwagen rief. Tatsächlich brachte sie einen Mann dazu, sein Handy zu zücken, auch wenn er dabei murmelte: »Missgeburten.«
Erst als sie bemerkte, wie er verächtlich ihr Armband anstarrte, wurde ihr klar, dass damit nicht die Royalen Slinger gemeint waren, sondern sie.
»Aber das war ich nicht!«, rief sie empört. »Ich habe niemanden verletzt. Das waren die. Ich bin total anders, Ehrenwort. Uns kann man überhaupt nicht vergleichen!«
Der Mann warf ihr einen herablassenden, mitleidigen Blick zu, wodurch sie nur noch mehr in Rage geriet. Schon begann Hitze aus ihren Fingern zu sprühen, als sich eine Eruption in ihr aufstaute. Aria biss die Zähne zusammen. Sie würde dem Mann nicht den Gefallen tun, vor seinen Augen die Kontrolle zu verlieren.
Mäßigen. Zügeln. Bändigen.
Wie sagte ihr Vater immer? Wer klug war, zog sich manchmal aus der Schlacht zurück, um den Krieg zu gewinnen. Und dieser Typ war es nicht wert, sich mit ihm anzulegen.
Nachdem sie sicher war, dass sich jemand um den Jungen kümmern würde, nahm sie die Beine in die Hand und rannte nach Hause. Dabei schob sie sämtliche Gedanken an blöde, gehässige Ignoranten und mysteriöse Royale Slinger beiseite. Denn einen Moment lang hatte sie das Allerwichtigste fast vergessen: Heute war der Tag, an dem sie und ihr Dad in Resthaven einen echten Feldzug gewinnen würden.
Und dafür lohnte es sich zu kämpfen.
Als Erstes musste sie ihren Vater finden. Der Zeitpunkt, zu dem die Royalen Slinger plötzlich in Almiro aufgetaucht waren, konnte kein Zufall sein. Sie musste ihn warnen. Aber ihr Vater war heute schon früh zu einer Vorbesprechung mit dem Gouverneur und dem Sonderbeauftragten aufgebrochen, und leider hatte sie kein Handy.
»Dr. D!«, rief Aria, als sie durch die Eingangstür in die Empfangshalle von Resthaven platzte. »Wir müssen meinen Dad anrufen. Bitte, es ist dringend!«
Dr. Dixon bemerkte sie nicht einmal. Er war zu sehr damit beschäftigt, sämtliche Bewohner des Internats ordentlich aufzustellen, um die Prominenz zu empfangen. Noch wuselten alle nervös herum. Die Jugendlichen trugen ihre Sonntagskleidung und bemühten sich um gutes Benehmen. Na ja, die meisten von ihnen.
»Juno, geh in dein Zimmer, und zieh deine Handschuhe über. Sofort!«, kläffte Dr. Dixon ein Mädchen an, das aus Versehen eine kleine Gifteruption aus ihren Fingern schoss. Das Zeug landete direkt vor der Eingangstür und brannte ein Loch in die Fußmatte mit der Aufschrift Herzlich willkommen.
Der Arzt beeilte sich, die rauchende Fußmatte hinter dem Empfangstresen verschwinden zu lassen. Dabei lief sein Gesicht puterrot an. »Wenn du alles ausgeschieden hättest, wie ich es dir heute Morgen gesagt habe, dann würdest du jetzt nicht die Kontrolle verlieren!«, schrie er sie an. »Hol sofort deine Handschuhe, und zieh sie an!«
»Dr. D«, versuchte Aria es noch einmal und wedelte mit der Hand vor seinem Gesicht herum. »Ich muss dringend meinen Vater anrufen. Es geht um die Zeremonie, und er muss unbedingt wissen, dass …«
»Aria Loveridge!«, schimpfte er, und seine Augen wurden schmal, als er sie von oben bis unten musterte. »Von dir habe ich wirklich Besseres erwartet. Wo hast du gesteckt? Und wieso schwitzt du aus allen Poren? Du siehst aus, als hättest du einen Ringkampf mit einem Gebüsch ausgetragen!«
Bevor sie alles erklären konnte, seufzte er tief und schob sie aus dem Weg, denn die Limousine mit der politischen Delegation hielt vor dem Eingang.
»Alle auf ihre Position! Unsere Gäste sind da!«, rief er.
Aria fühlte sich wie auf glühenden Kohlen, als sie den VIPs beim Aussteigen zuschaute. Der erste war groß und kantig, der zweite dicklich und klein. Die beiden waren von einem Stab offiziell aussehender Begleiter umgeben. Arias Panik steigerte sich noch, als sie auf die restliche Fahrzeugschlange blickte und aus dem nächsten Van ein Kamerateam mit voller Ausrüstung quoll. Dann endlich stieg auch ihr Vater aus einem der Wagen.
»Dad!«, rief Aria, während Dr. Dixon nach vorne eilte und den VIPs die Hände schüttelte.
Der Arzt drehte sich kurz um und warf ihr einen warnenden Blick zu, dann säuselte er in Richtung der Gäste: »Willkommen in Resthaven, Gouverneur Miller, Sonderbeauftragter Reid! Bitte, kommen Sie herein. Darf ich Sie durch unser bescheidenes Haus führen?«
»Dad!«, schrie Aria noch einmal lauter und wedelte mit den Händen über ihrem Kopf, während der Arzt die Gruppe in die Eingangshalle führte. »Dad, ich muss dir etwas erzählen. Ich war im Sonnenblumen…«
»Aria«, sagte ihr Dad ruhig und entschieden, während die beiden Politiker sie neugierig anstarrten. »Jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt.«
Er hob eine Augenbraue, während er an ihr vorbeiging, und Aria verstand die Warnung sehr gut. Heute musste sie ihre Gefühle mehr denn je mäßigen, zügeln, bändigen. Aber ihr war auch klar, dass ihre Neuigkeiten zu wichtig waren, um sie unter den Tisch fallen zu lassen. Möglicherweise war die gesamte Live-Übertragung in Gefahr.
»Aber, Dad, du verstehst nicht, es ist dringend!« Ihr rauschte das Blut in den Ohren, als sie sich an dem Sonderbeauftragten mit den scharfen Gesichtszügen vorbeidrängte, um zu ihrem Vater zu gelangen. »Als ich gerade auf der Wiese war, habe ich gesehen, wie …«
»Argh!« Der Sonderbeauftragte stolperte, weil Aria so plötzlich vor ihm aufgetaucht war, und fiel über sie. Ein Staatsbeamter mit Aktentasche beeilte sich, ihm wieder auf die Füße zu helfen, doch dabei fielen ihm ein paar Papiere aus der Tasche, und der rundliche Gouverneur trat darauf. Sein Fuß rutschte weg, und er stürzte ebenfalls mit einem lauten Krachen zu Boden und stöhnte.
Der gesamte Trupp blieb wie erstarrt stehen, und ihr Vater fuhr zu ihr herum. Arias Verhalten war ihm sichtbar peinlich. »Aria, bitte!«
Als sie erkannte, was sie angerichtet hatte, wich Aria einen Schritt zurück. »Tut mir leid!«, flüsterte sie, und ihre Wangen brannten vor Scham. »Das wollte ich nicht. Ich muss nur … es ist wichtig, dass du weißt …«
»Genug ist genug!«, sagte ihr Vater bestimmt, und als Aria seinen enttäuschten Blick sah, blieben ihr die Worte im Halse stecken. »Ich verstehe nicht, was in dich gefahren ist. Aber jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt, hörst du?«
Aria zog den Kopf ein. Sie konnte an einer Hand abzählen, wie oft ihr Vater ihr gegenüber diesen Tonfall benutzt hatte. Ihr war klar, dass sie nicht mehr zu ihm durchdringen würde. Also schluckte sie die Tränen runter und nickte gehorsam. Sie würde eben sämtliche Daumen und Zehen drücken, dass die Royalen Slinger sich nur durch einen unglücklichen Zufall gerade jetzt in der Stadt befanden.
»Sieh zu, dass du dich von den prominenten Gästen fernhältst«, zischte Dr. Dixon, als sie an ihm vorbeikam. »Auf uns sind Kameras gerichtet, Herrgott noch mal!«
Also machte Aria sich während der Hausführung möglichst unsichtbar, konnte aber sehen, dass der Sonderbeauftragte und der Gouverneur immer wieder zustimmend nickten, als ihr Vater erklärte, wie das Erziehungsprogramm in Resthaven funktionierte.
Als die Gruppe im Vortragssaal ankam, wo der eigentliche Hauptakt des Besuchs stattfinden sollten, ließ Arias Nervosität allmählich nach. Alles lief wie geplant. Trotz ihres Missgeschicks waren sie auf der Zielgeraden. Die Sache würde doch noch gut enden.
Der Gouverneur und der Sonderbeauftragte setzten sich an den Tisch, der für die Unterzeichnung vorgesehen war, während die Kameraleute vorne an der Bühne und ganz hinten im Zuschauerraum ihre Technik aufstellten. Als alle ihre Plätze eingenommen hatten, schritt Arias Vater die Stufen zum Podium hinauf, wobei sein Gehstock rhythmisch auf den Boden klickte. Aria saß in der ersten Reihe und lächelte strahlend zu ihm hinauf.
»Es ist zehn Jahre her, dass ich bei der Masseneruption meine geliebte Frau verloren habe. Genauso ist es vielen von Ihnen dort draußen ergangen. Tatsächlich hat unser ganzes Land an diesem Tag einen großen Verlust erlitten, auf die eine oder andere Art.«
Die Kameras wanderten sein Bein hinauf, wie um seine persönliche Tragödie zu verdeutlichen, denn er hatte schreckliche Brandwunden davongetragen, als er Arias Mom hatte retten wollen.
»Doch im Laufe dieses Jahrzehnts habe ich es mir zur Aufgabe gemacht, allumfassende Informationen zu sammeln, und meine Forschung hat eines bewiesen: Die genetisch Betroffenen in unserer Mitte zu kriminalisieren und einzusperren ist nicht die Lösung unserer Probleme. Dadurch werden lediglich Symptome behandelt, und der Konflikt wird in die Zukunft verschoben. In Wirklichkeit gibt es nur einen Weg, unsere nationale Dreamslinger-Krise zu bewältigen, nämlich mein Prinzip des bedingungslosen Mitgefühls. Wir haben die Pflicht, für die Verwundbarsten unserer Gesellschaft Sorge zu tragen. So helfen wir nicht nur uns selbst, sondern der gesamten Menschheit.«
Er ließ seinen Blick in das Publikum schweifen. »Sehen Sie sich um, hier haben Sie den Beweis direkt vor Augen. Resthaven hat dafür gesorgt, dass die polizeilich gemeldeten Eruptionen in Almiro um neunzig Prozent zurückgegangen sind. Damit haben wir nicht nur die niedrigste Quote im gesamten Staat Texas, sondern sogar in den gesamten USA. Und ich kann mit Stolz verkünden, dass wir vom heutigen Tag an die Möglichkeit haben werden, diese wissenschaftlich wirksame Methode auf jeden Staat unserer großartigen Nation auszuweiten.«
Donnernder Applaus brach los, und Aria klatschte am lautesten von allen.
Gouverneur Miller und Sonderbeauftragter Reid fügten noch ein paar kurze Bemerkungen hinzu, dann legten die Staatsbeamten aus ihrem Stab die nötigen Vertragsunterlagen zurecht, die von beiden unterzeichnet werden mussten. Die Kameras zoomten näher heran und nahmen den Tisch mit den metallisch schimmernden Füllfederhaltern ins Visier, an dem sogleich eine neue Ära für Dreamslinger und für das ganze Land anbrechen sollte.
»Und nun kommt der Moment, auf den wir alle gewartet haben«, verkündete Arias Vater. »Ich möchte hiermit den Gouverneur von Texas und den US-Sonderbeauftragten für Dreamslinger-Angelegenheiten einladen, den Vertrag zu unterzeichnen, der meine Dreamslinger-Initiative in sämtlichen Bundesstaaten …«
Er wurde unterbrochen, denn in diesem Moment kam jemand durch die Tür des Vortragssaals gestürmt. Er trug einen Kapuzenumhang mit Gänseblümchensymbol. Und er wurde von einer riesigen Drachenbestie begleitet, deren Schuppen aus Rosenblättern bestanden. Aria stockte das Blut in den Adern.
»Was zum …«, hauchte ihr Vater ins Mikrofon.
Der Royale Slinger, den Aria schon aus dem Sonnenblumenfeld kannte – dort hatte er sich ihr als Tae vorgestellt –, lief selbstbewusst durch den Mittelgang auf die Bühne zu. Die Kameras folgten ihm gierig und sogen die Verwirrung im Saal in sich auf.
Die Panik auf dem Gesicht ihres Vaters ließ Aria hastig Ausschau nach dem Sicherheitspersonal halten. Aber dann fiel es ihr wieder ein: Heute gab es kein Sicherheitspersonal. Ihr Vater hatte ganz bewusst entschieden, darauf zu verzichten. Er wollte an die Zuschauenden draußen die Botschaft senden, dass es nicht nötig war, genetisch Betroffene ständig zu überwachen. Seine Heime für Dreamslinger sollten Orte des Friedens sein. Dabei hatte niemand von ihnen an eine gewaltsame Störung von außen gedacht.
Tae und sein Blüten-Drache stellten sich vor den Kameras in Position und wandten sich an das Publikum.
»Ich entschuldige mich dafür, dass ich unangekündigt in Ihre Veranstaltung geplatzt bin. Aber mein Auftrag lautet, Ihnen eine wichtige Nachricht Seiner Majestät, König Lee Ogu, Herrscher des Königlichen Hanguk, zu überbringen.«
Im ganzen Saal wurde es totenstill. Sogar die Kameras schienen zu verstummen.
»Zum ersten Mal in der Geschichte unserer Nation wird der Royale Bund der Dreamslinger seine jährlichen Auswahlprüfungen für alle jungen Leute dieser Welt öffnen. Das gilt für alle Jugendlichen mit der Mutation, unabhängig von ihrem Geburtsort, ihrem Stammbaum oder ihrer religiösen Überzeugung.«
Aria schnappte nach Luft, genau wie alle anderen im Saal. Auf der Bühne quollen ihrem Vater fast die Augen aus dem Kopf.
»Wir bieten allen genetisch Gesegneten hiermit die einmalige Gelegenheit, sich auf Augenhöhe mit ihresgleichen zu messen, ihre angeborenen Fähigkeiten beherrschen zu lernen und sich die unzähligen Reichtümer der Schlafenden Welt zu eigen zu machen.«
Wie aufs Stichwort öffnete der Blüten-Drache weit das Maul und ließ eine Lichtkugel von der Größe einer Pampelmuse zwischen seinen spitzen Zähnen erscheinen. Das Rund schimmerte in einem hypnotischen Violett, das von glühenden, goldenen Blitzen durchzogen war. Der Drache wandte den Kopf in Taes Richtung und ließ den Kiefer zusammenklappen, um damit die Kugel auf seinen menschlichen Begleiter zu schleudern.
Kaum hatte sie den Körper des Royalen Slingers getroffen, waberte die durchscheinende Gestalt einer Riesenspinne um ihn herum auf. Und dann geschah das Unfassbare. Dem Jungen begannen zusätzliche Arme zu wachsen. Sie alle waren haarig und sahen eindeutig nach Spinne aus. Die Verwandlung setzte sich fort, bis Tae ganze acht zusätzliche Beine hatte, die sich alle unabhängig voneinander bewegten.
Das Publikum schrie, und jemand vom Beamtenstab sackte ohnmächtig zu Boden. Der stämmige Gouverneur begann auf der Bühne laut zu beten. Aria konnte vor Schock nicht einmal klar denken. Was war das für eine violette Leuchtkugel? Hatte sich Tae gerade wirklich Spinnenbeine wachsen lassen?!
»Wie man sieht, stehen den erfolgreichen Absolventen der Auswahlprüfungen außergewöhnliche Fähigkeiten zur Verfügung.« Sein Blick ruhte direkt auf Aria, als er aus ihrem Gespräch am See zitierte. »Abgesehen davon werden erfolgreiche Teilnehmerinnen und Teilnehmer zu einem Teil des Royalen Bundes und erhalten lebenslange Aufenthalts- und Bürgerrechte in unserem Königreich. Die Auswahlprüfungen beginnen pünktlich am siebten August. Wer an einer Teilnahme interessiert ist, sollte sich zuerst auf einer dieser Schriftrollen anmelden.«
Aria blinzelte, als Hunderte winziger Schriftrollen von der Decke herabregneten. Jetzt endlich erwachte ihr Vater aus seiner Erstarrung und hinkte geradewegs auf Tae zu.
Der Junge fuhr ungerührt fort: »Wie Sie vielleicht wissen, oder auch nicht, sind innerhalb der Grenzen des Königreichs keine elektronischen Geräte erlaubt. Aber allen Probandinnen und Probanden werden gleich nach der Ankunft legale Mittel der Kommunikation zur Verfügung gestellt. Hat noch jemand eine Frage?«
Die unerwartete Chance, Fragen zu stellen, brachte Aria mit einem Ruck zurück in die Gegenwart. Als sie sich umschaute, wurde ihr klar, dass die Situation noch schlimmer war als befürchtet. Schließlich wurde alles live im Fernsehen übertragen. Die Slinger des Royalen Bundes zerstörten gerade die harte Arbeit ihres Vaters, nur um den eigenen Interessen zu dienen und ihre gefährliche Agenda in die Welt hinauszuposaunen. Das konnte sie nicht länger zulassen.
Sie sprang auf die Füße. Aber ihr Vater erreichte Tae zuerst.
»Das ist weder die richtige Zeit noch der richtige Ort, junger Mann!« Er zeigte mit seinem Gehstock auf Tae, wodurch die kunterbunte Häkelarbeit sichtbar wurde, mit der Aria das Holz umwoben hatte. »Ich muss Sie bitten zu gehen. Wir haben genug gehört.«
Die Aufforderung hatte höflich und friedlich geklungen, aber der Blüten-Drache reagierte verärgert, weil der Stock drohend auf Taes Gesicht wies. Er zischte und peitschte mit seinem langen Schwanz nach dem Professor. Die Muskelmasse traf die empfindlichen Beine ihres Vaters mit voller Wucht, sodass er krachend zu Boden stürzte.
»DAD!«
Glühend heißer Zorn flammte in Aria auf und brodelte durch ihre Eingeweide. Nicht umsonst nannte ihr Vater sie Fünkchen. Wie konnte jemand es wagen, ihm auch nur ein Haar zu krümmen!
Bevor sie wusste, wie ihr geschah, schossen Flammenstrahlen aus ihren Händen, ungezügelt stark und voller Wut. Das Hosenbein eines nahe stehenden Kameramanns fing Feuer. Er stieß einen spitzen Schrei aus und fuchtelte herum, sodass sein Stativ umfiel und die Funken auf den Rest seines Teams übersprangen.
Aria schrie erschrocken auf und verbarg die Hände hinter dem Rücken. Nein, nein, nein! Das hätte niemals passieren dürfen. Nicht ausgerechnet heute! Eine erdrückende Stille legte sich über den Saal, und alle Blicke richteten sich auf sie. Als Aria die entsetzten Mienen der anderen sah, wich das Blut aus ihrem Gesicht. Was hatte sie nur angerichtet?!
Während sie wie erstarrt dastand, begann eine geschäftstüchtige Kamerafrau ihre Linse in Arias Richtung zu schwenken, um sie zu filmen. Sofort warf sich ihr Vater davor und schirmte Aria mit seinem Körper ab.
»Stellen Sie das Ding aus! SOFORT!«
Aria wagte kaum, ihren Vater anzusehen, der sich nun besorgt ihr zugewandt hatte. Als ihre Blicke sich trafen, zersprang ihr Herz in tausend Stücke. Die Enttäuschung war so deutlich in seinen rot geränderten Augen zu lesen, dass Aria wusste, sie hatte unumkehrbar eine verbotene Grenze überschritten. Trotz bester Absichten hatte sie es irgendwie geschafft, das Lebenswerk und den Ruf ihres Vaters mit einem Schlag in Rauch aufgehen zu lassen … buchstäblich.
Nachdem alle Flammen gelöscht und der Krankenwagen und die Feuerwehr davongefahren waren, brach in Resthaven erst das richtige Inferno los.
»Wie konnten Sie das geschehen lassen, Professor Loveridge!«, brüllte der Gouverneur. Sein rundes Gesicht war rot angelaufen. Seine Stimme hallte im Büro ihres Vaters wider und brachte die Wände zum Wackeln. »In meiner ganzen Karriere habe ich noch nie, wirklich noch nie, eine solche PR-Katastrophe erlebt. Wussten Sie, dass dieser Royale Slinger die Gelegenheit zu einem Auftritt nutzen würde?«
Aus ihrem Versteck hinter dem Aktenschränkchen konnte Aria sehen, wie perfekt ihr Vater seine Gesichtszüge beherrschte, sodass nichts an ihnen abzulesen war. Offenbar benutzte er eine der Techniken zur Gefühlsunterdrückung, die in Resthaven gelehrt wurden.
»Ganz und gar nicht, Herr Gouverneur«, erwiderte er mit erzwungener Ruhe. »Ich wusste nicht einmal, dass sie sich auf amerikanischem Boden befinden, ganz zu schweigen von Almiro.«
Aria hätte am liebsten vor Wut geschrien. Sie hatte versucht, es ihm zu sagen! Wenn er doch nur zugehört hätte!
»Und was ist mit diesem unmöglichen Kind, das vor den Kameras eine Eruption hatte?«, verlangte der Sonderbeauftragte Reid zu wissen. Seine nasale Stimme war so dünn wie seine ganze Gestalt. »Ich hoffe, es wird angemessen bestraft.« Offenbar war ihm nicht bewusst, dass es sich bei Aria um dasselbe Mädchen handelte, das ihn in der Eingangshalle zu Fall gebracht hatte.
»Das war meine Tochter«, schoss ihr Vater zurück und versteifte sich sichtbar. »Ich empfehle Ihnen, in Zukunft besser auf Ihre Wortwahl zu achten, Sonderbeauftragter.«
»Ihnen sollte wohl bewusst sein, dass Sie uns in eine denkbar schwierige Lage gebracht haben«, antwortete Reid und ignorierte die Warnung. »Wir haben gerade auf sämtlichen Fernsehkanälen eine peinliche Demütigung erfahren. Da werden Sie wohl kaum erwarten, dass wir weiter Ihr Programm unterstützen?«
Ihr Vater schluckte. »Tatsächlich bin ich der Meinung, man sollte es mit noch größerer Dringlichkeit vorantreiben. Wenn das Königliche Hanguk plötzlich wieder seine Grenzen öffnet, müssen wir vorbereitet sein. Beim letzten Mal, als der Royale Bund sich blicken ließ, endete es in der Masseneruption. Wir müssen dafür sorgen, dass es ihm nicht gelingt, unsere genetisch Betroffenen mit seiner extremistischen Propaganda zu blenden.«
Gouverneur Miller seufzte tief. »Da muss ich leider zustimmen. Eine zweite Masseneruption würde unser Land nicht überleben. Nicht nach allem, was die Slinger uns das letzte Mal angetan haben.«
Der Sonderbeauftragte blickte finster vom Gouverneur zu Arias Vater und fingerte an der großen Blumenvase auf dem Schreibtisch herum.