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Yuna Oh ist der letzte gefallene Stern des Götterreichs. Das klingt erst mal ziemlich cool, ist es aber nicht. Sie hat keine magischen Fähigkeiten und die Hälfte ihrer Freunde und Familie (einschließlich ihrer Eltern) kann sich nicht mehr an sie erinnern. Zu allem Überfluss ist der gesamte magische Clan der Gom sauer auf sie, weil sie die Höhlenbär-Göttin getötet hat. Eins ist klar: Yuna muss das alles irgendwie geradebiegen. Auch wenn das bedeutet, dass sie ins Reich der Seelen hinabsteigen muss. Zum Glück trifft sie dort auf ihren verlorenen Zwillingsbruder Dahl und gemeinsam müssen sie die Welt der Magie vor einem schrecklichen Schicksal bewahren.
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Seitenzahl: 499
Veröffentlichungsjahr: 2024
Für mein Mandu – mögen deine Wangen bis ans Ende deiner Tage so süß und knuddelig bleiben.
Technik nervt.
Okay, das ist vielleicht ein bisschen unfair. Die technischen Errungenschaften des 21. Jahrhunderts haben unzählige Leben gerettet und Millionen Menschen rund um den Globus miteinander vernetzt. Sie haben es mir und meinen Freunden sogar ermöglicht, mit einem Gwisin, einem hungrigen Geist, zu sprechen, der uns geholfen hat, das Rätsel des letzten gefallenen Sterns zu lösen. Objektiv betrachtet ist Technik also schon ziemlich genial.
Subjektiv betrachtet hingegen?
Jepp, nervt immer noch.
Hey, meckert nicht rum. Ihr würdet das genauso sehen, wenn ihr die letzten zwei Monate dazu verdonnert gewesen wärt, mühsam Bücher aus der magischen Bibliothek Satz für Satz und Wort für Wort in einen Laptop zu übertragen. Und das auch noch in den Sommerferien. Der Clan der Horangi hat sich komplett auf innovative Zauber, Open-Source-Magie und digitale Zauberbücher umgestellt. Das ist ja auch alles schön und gut (Letzteres vor allem für unseren ökologischen Fußabdruck). Nur bedeutet das halt leider, dass jemand all diese Wälzer von Hand in die Cloud übertragen muss. Und dieser Jemand bin aktuell ich.Yippie!
»Hey, Yuna.« Mein Kumpel Taeyo reibt sich die Augen und reckt die Hände über den Kopf. Er sitzt neben mir und arbeitet an einem Upgrade seiner Geisterkommunikations-App Ghostr. Er ist ein Programmier-Wunderkind und zugleich ein Meister im Umgang mit seinem Element, Wasser. »Ich mach mal kurz Pause und hol mir ein paar Peperos. Willst du auch welche?«
Taeyo ist ein Horangi-Hexer, und das schon seit seiner Geburt. Ich dagegen musste erst in den Clan eingeführt werden. Denn obwohl ich als Horangi auf die Welt gekommen bin, wurde ich von einer Familie von Gom-Heilern großgezogen. Nun gehöre ich beiden Clans an – obwohl ich weder Elementmagie beherrsche noch heilen kann. Das klingt wahrscheinlich ziemlich verwirrend, ist aber auch eine lange Geschichte. Wenn ich Schriftstellerin wäre, könnte ich vermutlich ein ganzes Buch darüber schreiben …
»Es gibt jede Menge neue Geschmacksrichtungen. Komm schon, die solltest du probieren«, fordert Taeyo mich auf. »Du hast dir eine Pause verdient.«
Ich nutze die Unterbrechung, um mich auf meinem ergonomischen Stuhl zurückzulehnen und mich zu strecken. Ich sitze schon die ganze Zeit wie ein nasser Sack vor meinem Laptop und tippe ein Buch mit dem Titel Das Reich der Seelen für Dummies ab, in dem es um die Unterwelt für Hexen, die Abläufe bei der Reinkarnation und so Zeugs geht. Ich werde pro Wort bezahlt, deswegen möchte ich die letzten paar Kapitel unbedingt noch fertigkriegen, bevor ich nach Hause gehe.
»Vielleicht hast du recht«, antworte ich. »Ich nehme Cookies-and-Cream. Danke.«
»Gute Wahl!« Taeyo springt von seinem Stuhl auf und läuft zum Snackautomaten. »Ich koste mal die neuen rosafarbenen mit Grüntee-Geschmack. Ich bin gespannt!«
Er trägt wie immer eine Fliege, aber diesmal eine senfgelbe, die ich noch nicht kenne. Sie passt zu den glänzenden Hosenträgern über dem lachsfarbenen Hemd, die seine traubenfarbenen Chinos hochhalten. Er ist quasi ein wandelnder Pantone-Fächer, was ihm aber für einen nerdigen, ernsthaften dreizehnjährigen Jungen erstaunlich gut steht.
Während Taeyo unsere Pepero-Stäbchen aus dem Automaten zieht, dehne ich meinen verspannten Nacken und sehe mich in dem hell erleuchteten weitläufigen Raum um. Darin sind auf kunstvolle Weise mehrere Gemeinschafts-Arbeitsplätze, Kickertische, einige abgetrennte Schlafabteile und sogar eine Selbstbedienungs-Ramyeon-Station untergebracht.
Ich weiß, es ist Sonntag, aber trotzdem ist es ungewöhnlich ruhig, wenn man bedenkt, dass es sich um das Hauptquartier des Gelehrten-Clans handelt. Außer Taeyo, mir und meiner zahmen Inmyeonjo-Vogelfrau Areum (die auf Taubengröße geschrumpft ist und in einer Kiste mit Papierschnipseln zu meinen Füßen döst) sind nur noch zehn andere Leute hier. Darunter mein Irgendwie-noch-bester-Freund Emmett – kann man jemanden als besten Freund bezeichnen, wenn der sich nicht mehr an einen erinnert? – und Cosette Chung, eine superhübsche und superschlaue Gumiho-Illusionshexe, die mittlerweile wohl enger mit Emmett befreundet ist als ich. Die beiden sitzen auf Gymnastikbällen vor einem großen Fernseher mit gekrümmtem Bildschirm und spielen ihr Lieblingsgame, Battle Galactic.
Ich gebe es zu: Ich kann es immer noch nicht richtig fassen, dass Emmett und Cosette hier auf dem Campus der Horangi abhängen. Bis vor Kurzem war der Clan der Gelehrten aus der magischen Gemeinschaft verstoßen, weshalb sie gezwungen waren, sich ein neues Zuhause abseits der anderen fünf Clans aufzubauen. Dabei ist dieser Campus entstanden – ein Netzwerk aus Baumhäusern, das, durch Spiegel getarnt, in den Wipfeln des Angeles National Forest thront. Die Gelehrten leben, essen, studieren und arbeiten hier – und für mich ist es mittlerweile einer der wenigen Orte in der Stadt, an denen ich mich noch blicken lassen kann.
Taeyo gibt mir die Packung mit den von Keksstückchen überzogenen Schokostäbchen, und ich knabbere nachdenklich daran. In den vergangenen zwei Monaten ist echt viel passiert. Und nichts davon war gut. Seufz. Ich sollte euch wohl mal auf den neuesten Stand bringen, oder?
Also, zuallererst solltet ihr wissen, dass ich nicht nur Horangi und Gom bin, sondern auch der letzte gefallene Stern des Götterreichs. Beziehungsweise, wenn wir es ganz genau nehmen, bin ich ein Stück der dunklen Sonne, die vom Himmel des Götterreichs gefallen ist, weshalb ich halb menschlich, halb göttlich bin. Ja, ich weiß. Klingt voll cool. Aber ich kann euch versichern: Es hat mir nichts als Ärger eingebrockt.
Es sind nämlich längst nicht alle Göttinnen so gütig und wohlwollend, wie wir immer dachten. Die Höhlenbar-Göttin – die Schutzpatronin des Gom-Clans – hat versucht, mich zu töten, um Zugang zum Reich der Sterblichen zu erlangen, was für die Menschheit katastrophale Folgen gehabt hätte. Und außerdem ein ziemlicher Schock für die Saram (also die nicht magischen Leute) gewesen wäre, die keine Ahnung haben, dass Magie wirklich existiert. Zum Glück konnte ich auf die Hilfe meiner Familie und Freunde zählen. Gemeinsam ist es uns gelungen, das prophezeite »Ende aller Tage« abzuwenden, indem wir die Göttin getötet haben.
Anfangs war das ein fantastisches Gefühl. Das Reich der Sterblichen war wieder sicher! Meine Schwester Hattie war unter die Lebenden zurückgekehrt! Wir hatten es mit der Götterwelt aufgenommen und gewonnen! Wir waren Helden – hurra!
Und dann machte uns die Realität einen Strich durch die Rechnung.
Ohne ihre Schutzpatronin, die ja die Quelle ihrer Magie war, konnten die Angehörigen des Gom-Clans niemanden mehr heilen. Meine Eltern schlossen ihre Praxis, weil sie es nicht ertrugen, sie ohne ihre Fähigkeiten weiterzuführen. Stattdessen fingen sie als Tellerwäscher bei Seoulful Tacos an. Wir wollen lieber gute, ehrliche Handarbeit verrichten, als ständig daran erinnert zu werden, was wir verloren haben, sagten sie. Könnt ihr hören, wie ich meine Augen verdrehe?
Und obwohl ich gerade buchstäblich die Welt gerettet hatte (übrigens: gern geschehen), wurde eine kleine, aber lautstarke Gruppe von Heilern immer wütender auf mich, weil sie ihrer göttlichen Gabe beraubt worden waren:
Warum hast du deinen Plan nicht erst mit jeder einzelnen Gom-Gemeinde auf allen sieben Kontinenten abgesprochen? (Äh, weil ich keine zehn Jahre Zeit hatte.)
Warum konntest du die Göttin nicht einfach auf der Erde rumlaufen lassen? (Äh, weil sie ziemlich deutlich gemacht hat, dass sie keinerlei Respekt für das Leben der Sterblichen hatte.)
Warum hast du dir keinen besseren Plan einfallen lassen? (Ähm, weil es ein Wettlauf gegen die Zeit war, die Göttin aufzuhalten, bevor sie alles zerstören konnte? Schon vergessen?!)
Wie ihr euch vorstellen könnt, ist die Stimmung im Gom-Clan – weltweit – am absoluten Tiefpunkt.
Und das Schlimmste daran? Meine Eltern, der Gom-Clan und alle Horangi-Gelehrten (sogar Taeyo) haben bis zu dem großen Showdown mit der Höhlenbär-Göttin keine Erinnerung mehr an mich. Dieser Teil ihres Gedächtnisses wurde durch einen Deal gelöscht, den ich mit einem Dokkaebi-Dämon geschlossen habe, um den letzten gefallenen Stern zu finden. Die einzige Person in meiner Familie und meinen beiden Clans, die sich noch an mich erinnern kann, ist meine Schwester Hattie. Mago sei Dank, dass ich sie habe.
Ach ja, das hätte ich beinahe vergessen: Die Krönung des Ganzen ist, dass ich zwar der letzte gefallene Stern des Götterreichs bin, aber keinerlei magische Fähigkeiten besitze. Außer, dass ich die Statue der Göttin im Festsaal des Tempels zerstört habe (was, seien wir ehrlich, wahrscheinlich ein Unfall war), konnte ich meine göttliche Abstammung für exakt null Komma gar nichts nutzen. Und das Problem ist nicht mal, dass ich nicht zaubern kann. Viel ätzender ist, dass die Leute sich jetzt an mich wenden, wenn sie Antworten auf ihre Fragen suchen. Sie wollen von mir hören, dass die anderen Göttinnen nicht heimlich auch irgendwelche Anschläge auf das Reich der Sterblichen vorhaben. Aber woher soll ich das wissen? Alles, was ich weiß, ist, dass ich echt gut darin bin, schlimme Dinge noch viel, viel schlimmer zu machen.
Einmal tief Luft holen.
Da wären wir also. Jetzt wisst ihr, warum ich an einem traumhaft sonnigen Sonntagnachmittag im Hauptquartier der Horangi sitze und lerne, dass das Reich der Seelen (der Ort, an dem wir Hexen nach dem Tod landen) Himmel und Hölle zugleich ist. Ich wünschte, ich könnte behaupten, dass das Teil eines Plans ist, die Welt vor zukünftigen Angriffen aus dem Reich der Götter zu beschützen. Aber in Wahrheit verstecke ich mich hier. Das Einzige, worin ich in den vergangenen zwei Monaten besser geworden bin, ist Ausblenden. Ich tue alles dafür, meine Schuldgefühle zu betäuben und alles und jeden von mir fernzuhalten. So zu tun, als wäre alles in Ordnung, ist viel einfacher, als zu akzeptieren, dass es das nicht ist. Glaubt mir.
»KaTalk!«
Die Benachrichtigung ertönt gleichzeitig auf meinem, Taeyos, Cosettes und Emmetts Handy. Wir alle schauen nach und stellen fest, dass Hattie etwas in unsere KakaoTalk-Gruppe geschrieben hat – die Messenger-App, die wir Hexen am liebsten benutzen.
Achtung, Leute. Kommt SOFORT zu uns nach Hause. Beeilt euch, ich erkläre euch alles, wenn ihr hier seid. Noah und ich warten schon. Es ist wichtig!!!
Mir fällt die Pepero-Schachtel aus der Hand. Sie trifft Areum am Kopf, die aus dem Schlaf hochschreckt und sich auf meine Schulter rettet.
»O meine Mago«, flüstere ich mit erstickter Stimme. »Etwas Schlimmes ist passiert, Areum. Das weiß ich. Ich kann es fühlen.«
Die Inmyeonjo gurrt mir beruhigend ins Ohr. »Keine Panik, Yuna Oh. Lass uns erst mal schauen, was los ist.«
»Sie hat recht.« Taeyo klappt ruhig und besonnen seinen Laptop zu. »Wir sollten keine voreiligen Schlüsse ziehen, bevor wir alle Fakten kennen. Lasst uns erst mal hinfahren und hören, was Hattie zu sagen hat.«
Ich beiße mir auf die Unterlippe. Ich bin zwar keine Seherin, aber mein Bauchgefühl sagt mir, dass da etwas nicht stimmt. Vielleicht hat eine der anderen Göttinnen beschlossen, dass es Zeit ist, sich zu rächen. Wenn ich so darüber nachdenke, bin ich mir ziemlich sicher, dass ich letzte Nacht einen Albtraum hatte, in dem Schlangen vorkamen, und jeder weiß, dass das ein schlechtes Omen ist. In dem Traum trieben Hattie und ich auf einem riesigen aufblasbaren Flamingo mitten auf dem Meer, erschöpft und kurz vor dem Verdursten. Als der Himmel über uns seine Schleusen öffnete, leckten wir uns die aufgesprungenen Lippen und jauchzten vor Freude. Endlich! Trinkbares Wasser! Nur war der Regen gar kein Regen. Stattdessen fielen glitschige gestreifte Schlangen aus den Wolken, klatschten gegen die Gummihaut des Flamingos und wanden sich um unsere Füße. Igitt. Albträume (und Schlangen) sind echt der Horror.
Hastig packe ich meinen Laptop ein. Ich stopfe das Buch, an dem ich gearbeitet habe, auch in meine Tasche und schlucke das flaue Gefühl runter, das der Albtraum in mir hinterlassen hat. Die restlichen Kapitel muss ich dann eben später fertig abtippen.
Während Taeyo und ich die hölzerne Wendeltreppe des Baumhauses hinablaufen, versuche ich, mich zu erinnern, wie es meinen Eltern heute Morgen ging. Sie hatten dunkle Ringe unter den Augen, und ihre Hände waren von ihrem neuen Job spröde und rissig. Aber so sehen sie mittlerweile eigentlich immer aus – müde und deprimiert. Könnte ihnen noch etwas anderes zugestoßen sein? Bei dem Gedanken wird mir ganz übel.
Sind gleich da!!, schreibe ich Hattie, gefolgt von einer Reihe besorgter Emojis.
Jennie Byun, eine Samjogo-Seherin und meine frühere Erzfeindin (inzwischen Freundin), antwortet unmittelbar nach mir.
David und ich sind auch gleich da. Der Trank, den er für mich brauen soll, war der totale Reinfall. Ich bin SO kurz davor, seinen nutzlosen Hintern zu feuern.
Emmett postet ein Drachen-Emoji und ein Roller-Emoji, bevor Cosette und er uns nach draußen nachlaufen. Areum nimmt wieder ihre zwei Meter große Gestalt an und beginnt, ihre Schwungfedern zu richten.
»Hatties Nachricht klang dringend«, meint Cosette. »Worauf warten wir noch?«
Emmett macht ein finsteres Gesicht. Allerdings guckt er eigentlich immer, als wäre er gerade in Hundekacke getreten, daher versuche ich, mich davon nicht zusätzlich beunruhigen zu lassen. Er klappt seinen geschuppten blauen Drachenroller auf und springt drauf. »Cosette, Taeyo und ich nehmen Boris. Wir sehen uns bei dir zu Hause, Yuna.«
Ich nicke, und Areum stupst mich mit ihrem Schnabel an. Ich reite nicht oft auf ihr – ich möchte mir nicht ausmalen, was passiert, wenn die Saram ein Mädchen entdecken, das auf einer riesigen Vogelfrau über L.A. fliegt –, aber heute mache ich eine Ausnahme. Ich greife nach ihren Flügeln und ziehe mich auf ihren Rücken.
»Cosette, wärst du so lieb?«, frage ich.
Cosette reibt mit ihrem Gi-Armband über ihr Handgelenk und aktiviert so ihr silbernes Gumiho-Mal. Während sie die Worte eines Tarnzaubers spricht, beginnt Areums braun-weiß gesprenkeltes Gefieder zu schimmern und wird dann komplett durchsichtig. Meine eigene Haut juckt und kribbelt, als würden Ameisen darüber laufen, und ich spüre den Wind, als Areum probeweise mit den Flügeln schlägt.
»Ihr seid beide inkognito. Kann losgehen«, bestätigt Cosette.
Areum hebt ab, und ich klammere mich an ihren Federn fest. Was auch immer Hattie uns mitzuteilen hat, ich habe ein äußerst mieses Gefühl dabei.
Dank Boris, dem superschnellen Drachen auf Rädern, treffen Taeyo, Emmett und Cosette nur wenige Sekunden nach mir bei uns zu Hause ein. Ich weiß nicht, womit ich gerechnet habe – einer abgebrannten Ruine vielleicht? Stattdessen ist es unheimlich ruhig und still, was meine Sorgen ehrlich gesagt nur noch größer macht. Ich stürme die Stufen zur Veranda hoch und renne zur Tür.
»Alter, du strahlst Stress aus wie ein Atomreaktor Radioaktivität«, ruft Emmett mir nach. »Atme mal durch.«
Die anderen laufen hinter mir her, und ich mache dem Tür-Sin schnell ein Kompliment. Der Riegel schnappt mit einem befriedigenden Klick zur Seite. Ich hole ein letztes Mal tief Luft, dann öffne ich die Tür. Ich rechne mit dem Schlimmsten.
»Überraschuuung!«
Zappelige Würmer aus buntem Krepppapier fliegen mir ins Gesicht. Ich kreische auf und schlage sie weg. Bilde ich mir das nur ein, oder haben sich da ein Haufen Leute und ein Hund in unsere winzige Diele gezwängt und schreien mich aus vollem Hals an? Und warum tragen alle spitze Hüte?
»Alles Gute nachträglich zum Dreizehnten, Yuna!«, kräht Hattie freudestrahlend.
Noah Noh, ein Miru-Wächter und Hatties (nicht besonders geheimer) Schwarm, steht neben meiner Schwester, daneben Jennie und David. Alle vier grinsen von einem Ohr zum anderen. Hinter ihnen stehen meine Eltern sowie Sora und Austin, die neuerdings so was wie meine Horangi-Paten sind.
»Moment, ist das hier so eine Art Party?« Ich stocke. »Aber mein Geburtstag war vor über einem Monat«, nuschle ich überfahren. Dann legt sich der erste Schreck und weicht einer gewissen Verärgerung. »Ernsthaft, Hat, ich hatte fast einen Herzinfarkt! Ich dachte, es wäre was Schlimmes.«
Hattie, die ihr rotes Lieblingskleid mit den weißen Punkten trägt, schlägt sich auf den Oberschenkel. Sie wirkt kein bisschen verlegen. Wenn überhaupt, scheint sie sich über den gelungenen Hinterhalt zu freuen. »Ich würde ja sagen, dass es mir leidtut, aber das war einfach zu lustig. Du hättest mal dein Gesicht sehen sollen, Yuna! Pures Gold, echt!« Sie krümmt sich vor Lachen, und ihre eingefallenen Wangen bekommen zum ersten Mal seit Langem etwas Farbe. Unser Samoyede Mong lässt sich von ihrer Energie anstecken und rennt überglücklich im Kreis um mich herum.
Ich drehe mich zu Taeyo, Emmett und Cosette um und werfe ihnen einen finsteren Blick zu. »Und ihr wart auch alle eingeweiht?«
Sie schauen betreten auf ihre Füße. Selbst Areum schrumpft in sich zusammen und versteckt sich hinter Boris’ Rädern.
»Natürlich wart ihr das«, schnaube ich. Mein Ärger ist inzwischen verraucht, aber so richtig freuen kann ich mich nicht.
Hattie nimmt meine Hand und zieht mich ins Wohnzimmer, das auf wahrhaft magische Weise geschmückt ist. Konfetti und Girlanden schweben durch einen Zauber wie regenbogenbunte Wolken über unseren Köpfen. Süßigkeiten in allen Formen und Größen sausen wie Bienen umher, auf der Suche nach dem nächsten Mund, in den sie fliegen können. Es gibt sogar einen verzauberten Ballon, der wie ein Cheollima aussieht, mit den Flügeln schlägt und laut wiehert.
»Ta-da!«, ruft Hattie, während sie mit stolzer Geste auf die Mirror-Glaze-Torte auf dem Tisch zeigt, über der dreizehn Kerzen in der Luft hängen, die munter die Plätze tauschen.
»Heiliges Bananenbrot, ist das ein verzauberter Kuchen?!«, kiekst Emmett. »Welche Sorte?« Mong, der Emmetts Aufregung spürt, springt hoch und versucht, in die Torte zu beißen. Zum Glück schafft er es nicht.
Hattie nickt. »Das ist eine Alle-Sorten-Torte. Der Tokki-Bäcker hat mir gesagt, dass jeder Bissen einen anderen Geschmack hat – Schokotoffee, Red Velvet, Regenbogenkuchen, Karottenkuchen und was es sonst noch alles gibt. Je mehr man isst, desto mehr Geschmacksrichtungen kriegt man.«
So lebendig und aufgekratzt habe ich sie nicht mehr gesehen, seit sie von den Toten zurückgekehrt ist. Ihre Haut hat immer noch diese kränkliche Blässe, und sie ist so mager und abgezehrt, dass sie kaum mehr als ein wandelndes Skelett ist. Aber ihre Augen leuchten. Sie freut sich so sehr, dass ich mich kurz frage, ob eine Party nicht vielleicht genau das ist, was wir alle heute brauchen. Eine Ausrede, die Welt mal für eine Weile zu vergessen, alberne Partyhüte aufzusetzen und Alle-Sorten-Torte zu essen.
Doch dann kommt wieder dieses betäubte Gefühl zurück und erinnert mich daran, dass ich die anderen nicht zu nah an mich ranlassen sollte. Die Gefahr ist einfach zu groß, dass ich ihnen wieder wehtue. Und ich will nicht noch mehr Leben zerstören.
»Danke, Sis«, sage ich, um einen fröhlichen Tonfall bemüht. »Aber das wäre wirklich nicht nötig gewesen.«
Sora und Austin umarmen und beglückwünschen mich. Austin übertreibt es dabei völlig und drückt mich so fest, dass sich die Ninjasterne an seiner Jacke in meine Haut bohren. Dann kommen meine Eltern und nehmen mich nacheinander in den Arm. Bei ihnen ist es mehr dieses unbeholfene Auf-den-Rücken-Klopfen, wie man es mit einem Cousin zweiten Grades macht, den man kaum kennt.
Ich gebe mein Bestes, mir nicht anmerken zu lassen, wie sehr mir das wehtut. Ich weiß ja, dass sie sich aufrichtig bemühen. Trotzdem – es ist echt ätzend. Mit Sora und Austin ist es nicht ganz so schlimm für mich, weil wir einander ja erst vor Kurzem kennengelernt haben. Aber meine Eltern behandeln mich wie eine Fremde, die zufällig unter ihrem Dach wohnt. Und das schmerzt. Sehr.
Hattie scheint zu spüren, wie es mir geht, und drückt meine Hand. »Wir finden eine Lösung«, flüstert sie mir ins Ohr. »Wir helfen ihnen, sich wieder zu erinnern.«
Eomma räuspert sich. »Ich hoffe, du hast dir nicht allzu viele Sorgen gemacht, Yuna«, sagt sie höflich. »Wir wollten eine Feier organisieren, die einem gefallenen Stern angemessen ist. Hattie wollte dich damit überraschen, aber sie neigt dazu, ein bisschen über das Ziel hinauszuschießen. Bitte entschuldige.«
Äh, ja, ich weiß, würde ich am liebsten antworten. Sie muss mir wirklich nicht erzählen, wie meine eigene Schwester tickt. Ich meine, ich habe ja nur mein ganzes Leben mit ihr verbracht. Aber mir ist klar, dass Eomma es nicht so gemeint hat. Also halte ich die Klappe.
Appa nickt. »Es tut uns leid, dass wir nicht schon früher etwas organisiert haben. Wie du weißt, waren Eunha und ich – ich meine, deine Eomma und ich … also … Die letzte Zeit war nicht ganz einfach für uns.«
»Ist schon gut«, versichere ich tapfer. »Ich weiß. Und danke.«
Mong stupst meinen Oberschenkel mit seiner feuchten Nase an, als wollte er mich daran erinnern, dass er auch noch da ist. Ich gehe in die Hocke und seufze. »Ich hab dich auch lieb, du große Flauschkugel.«
Er leckt mir über die Wange und kratzt dann mit der Pfote an einem kleinen, länglichen Päckchen, das an seinem Halsband hängt. Es ist in schlichtes braunes Packpapier eingewickelt.
»Was hast du denn da?« Ich nehme es ihm ab und entdecke eine kurze Nachricht, die in winzigen Buchstaben auf dem Papier geschrieben steht.
Unsere Entscheidungen sagen viel darüber aus, wer wir sind, aber wirklich entscheidend ist, was wir aus ihnen machen. Alles Gute zum Geburtstag, gefallener Stern. – Haetae (PS: Ich hoffe, das hilft dir, alles zusammenzuhalten.)
Ich schnappe nach Luft. »Wo hast du das her?«, frage ich. »War der Haetae hier?«
Mong hechelt und kratzt sich am Ohr. O Mann, warum hat noch niemand eine Übersetzungs-App für Hunde entwickelt? Das wäre doch mal ein Job für Taeyo.
Ich reiße das Papier auf und finde etwas darin, das wie eine kurze Stricknadel aussieht. Sie ist dunkelbraun, und das stumpfe Ende ist wie ein zusammengerollter Wurm geformt, wie ein kleiner Haken.
Ich runzle die Stirn. Seit er vor zwei Monaten Hatties Leben gerettet hat, habe ich nichts mehr von der gehörnten Löwenbestie gehört, und jetzt schenkt er mir eine einzelne verformte Stricknadel? Will er mir damit etwa mitteilen, dass ich mir ein neues Hobby suchen soll? Sehr subtil, wirklich.
Areum krächzt laut, während Mong sie durchs Zimmer jagt, und ich lege das merkwürdige Geschenk weg. Ein bisschen getroffen fühle ich mich schon. Wenn er schon den ganzen weiten Weg hierhergekommen ist, hätte er doch wenigstens kurz dableiben und Hallo sagen können. Aber anscheinend ist selbst der Haetae enttäuscht von mir.
Irgendwie gelingt es mir, für den Rest der Feier ein Lächeln aufzusetzen, und ich bringe sogar ein echtes Lachen zustande, als Jennie sich darüber beklagt, dass David »der mieseste Aromatiker aller Zeiten« sei. Angeblich hat er Jennie versprochen, einen Liebestrank für sie zu brauen, durch den ihr Schwarm Mateo sich in sie verlieben würde. Stattdessen hat er aber sein Herz einfach komplett angehalten.
»Es hat volle zwei Stunden gedauert, bis er wieder angefangen hat zu atmen!«, jammert Jennie und schlägt sich gegen die Stirn. »Könnt ihr euch vorstellen, wie gestresst ich war? Mir wäre fast selbst das Herz stehen geblieben. Und das ist nicht mal übertrieben.«
»Es tut mir wirklich leid, Jennie«, wiederholt David zum fünfzigsten Mal, während seine rosigen Wangen nur noch röter werden. »Aber jetzt geht es ihm wieder gut, und ich habe ihm eine extrastarke Dosis Gedächtnisnebel verabreicht, damit er sich an nichts erinnern kann.«
Sie schnaubt. »Du hast gesagt, es würde funktionieren!« Sie verschränkt die Arme vor der Brust und senkt die Stimme. »Ich hatte echt Angst um ihn. Was, wenn er nicht wieder aufgewacht wäre?«
David legt ihr eine Hand auf den Rücken. »Das wäre ganz allein meine Schuld gewesen. Aber ich glaube, ich weiß, was ich falsch gemacht habe. Nächstes Mal sollte es klappen.« Er schenkt ihr ein zaghaftes, hoffnungsvolles Lächeln. »Soll ich nachher vorbeikommen? Ich koche Japchae für dich. So, wie du es magst.«
»Mit einem Dressing aus Kicher-Elixier?« Jennies Augen glitzern. »Na, dann will ich doch hoffen, dass du vorbeikommst.«
Mit ihren Wortwechseln bringen sie mich jedes Mal zum Lächeln. Sie sind total verschieden, aber das scheint bei ihnen keine Rolle zu spielen. So eine Freundschaft ist schon irgendwie was Tolles, denke ich.
Als die anderen »Happy Birthday« auf Koreanisch und Englisch anstimmen und Appa die verzauberten Kerzen über meiner Alle-Sorten-Torte anzündet, bin ich komplett erschöpft. Ich wünschte, sie würden endlich gehen.
»Vergiss nicht, dir etwas zu wünschen!«, ruft Hattie, als Eomma mir die Torte vor das Gesicht hält.
Ich schließe die Augen und puste die Kerzen aus, wobei ich mir aus vollem Herzen wünsche, dass alles wieder so wird, wie es war. Als meine Eltern noch heilen konnten, als Hattie gesund war, als alle noch ihre Erinnerungen hatten und alles so war, wie es sein sollte. Bevor ich alles kaputtgemacht habe.
Plötzlich gibt es einen lauten Knall, und etwas kracht mit voller Wucht gegen die Außenmauer unseres Hauses. Es hört sich an, als würde ein Hagelschauer auf uns niederprasseln, aber mit Hagelkörnern so groß wie Steinen. Unser magisches Haus kreischt und bebt vor Angst und rollt die hölzernen Dielen auf.
»James, was war das?« Eomma klammert sich an Appas Arm fest.
Er zuckt zusammen. »Keine Ahnung. Aber das klang gar nicht gut.«
Wir rennen zu den Fenstern, um nachzusehen. Draußen in unserem Vorgarten hat sich eine kleine Menschengruppe versammelt. Alle tragen schwarz-orange gestreifte Masken, um ihre Gesichter zu verbergen. Rote Flüssigkeit tropft von ihren erhobenen Händen, und sie rufen im Chor etwas auf Koreanisch. Ihre Stimmen sind wutentbrannt.
Mir gefriert das Blut in den Adern. Sind das die Göttinnen, die gekommen sind, um mich zu holen? Hatte ich deswegen den Albtraum mit den gestreiften Schlangen? Ich bin nicht bereit für einen Kampf. Wie soll ich meine Familie und Freunde beschützen?!
»Was rufen sie da?«, fragt Emmett.
»Wer ist das?«, fragt Hattie.
Sora atmet kräftig aus. »Es klingt wie eine Art Zauberbann.«
»Das sind Hexen.« Eommas Augen weiten sich. »Sie verfluchen uns und wünschen uns nichts als Pech an den Hals.«
Ich keuche entsetzt auf. Es sind also keine Göttinnen. Es sind Mitglieder unserer eigenen Gemeinschaft.
»Aber warum?«, fragt Noah leise. Er wirft Hattie einen besorgten Blick zu.
Diesmal antwortet niemand. Wir alle wissen warum.
»Clan-Zerstörer!«, brüllt eine der Stimmen draußen, als wollte sie unterstreichen, was wir alle denken.
»Das sind Gom«, bestätigt Appa düster. »Unser eigener Clan attackiert uns.«
Hattie steht unerschütterlich neben mir und drückt meine Hand, aber ich ziehe sie weg. Meine Familie und unser Zuhause werden meinetwegen angegriffen.
»Bleibt, wo ihr seid!«, ruft Appa uns zu, während er nach draußen stürmt.
Niemand hört auf ihn. Wir rennen hinter ihm her und drängen uns gerade in der Einfahrt zusammen, als die Fremden in einen Van springen. Die Schiebetür knallt zu, und der Van rast davon.
»Mago sei Dank sind sie weg«, brummt Eomma. Sie dreht sich um und will wieder reingehen, doch dann stößt sie ein schmerzvolles Wimmern aus und sinkt zu Boden.
»Eomma? Was ist los?« Ich wirble herum, um sie aufzufangen, und da sehe ich es.
Unser gesamtes Haus ist mit einer dicken dunkelroten Flüssigkeit beschmiert worden, die an den Wänden hinabrinnt. Es sieht aus, als würde das Haus blutige Tränen weinen.
»Warum machen sie so was?«, fragt Hattie mit zitternder Stimme. »Was wollen sie von uns?«
Austin zeigt auf unsere Garage. Sein Gesicht ist aschfahl. »Ich glaube, das haben sie mehr als deutlich gemacht.«
Ich schnappe nach Luft. Auf dem Garagentor erscheint eine hasserfüllte Botschaft in derselben blutroten Farbe. Die Angreifer haben sie so verzaubert, dass die zerlaufenden Buchstaben einer nach dem anderen sichtbar werden:
DUGEHÖRSTNICHTHIERHER, YUNAOH!
DUBISTEINESCHANDEFÜRDEINEFAMILIEUNDDEINENCLAN.
FAHRZURHÖLLE!
Appa rennt zum Garagentor und versucht energisch, die feindseligen Worte mit seinen rissigen Händen wegzuwischen. Dadurch verschmiert er die Farbe aber bloß auf dem weißen Holz und macht alles nur noch schlimmer. Er wischt sich die Hände an seinen Shorts ab und murmelt so böse Worte in sich hinein, wie ich sie noch nie von ihm gehört habe.
»Du bist keine Schande für deine Familie oder den Clan!«, versichert Eomma mir mit zornrotem Kopf. »Wehe du hörst darauf, was diese selbstsüchtigen Hexen von sich geben.«
Sora erhebt die Stimme, was nach meiner Erfahrung nicht oft passiert. »Wir finden heraus, wer das war – jeden einzelnen Namen –, und sorgen dafür, dass ihre Taten Konsequenzen haben. Diese Feiglinge schaffen es nicht mal, ihr Gesicht zu zeigen, sondern verstecken sich hinter diesen abscheulichen Masken!«
»Genau!«, pflichtet Emmett ihr bei. »Sie tun so, als wärst du eine Verbrecherin. Haben sie schon vergessen, dass du eine Heldin bist?«
Alle nicken mit Nachdruck, während ich mich insgeheim frage, ob die Vandalen nicht vielleicht doch recht haben. Ich bin keine Heldin. Ich bin ein Schandfleck für unsere Familie und unsere Gemeinschaft, so wie die blutrote Farbe auf unserem Haus.
Hattie führt mich die Stufen zur Veranda hinauf. »Lasst uns reingehen«, sagt sie sachte. »Darum können wir uns später noch kümmern.«
Taeyo nickt beruhigend, als ich an ihm vorbeigehe, und hält sein gechipptes Handgelenk hoch. »Keine Sorge, ich mach das nachher mit meiner Wasserkraft sauber. Ich habe meine Magie schon eine Weile nicht benutzt. Das wird ein Spaß.«
Cosette reibt ihre Handgelenke aneinander, und auf ihrer Haut erscheint ihr silbernes Mal. »Und bis dahin versehe ich das Haus mit einem Tarnzauber, damit eure Saram-Nachbarn nicht auf die Idee kommen, die Polizei zu rufen oder so was.«
Meine Freunde sind so nett, wie sie auf Eierschalen laufen, nur um meine Gefühle nicht zu verletzen. Und alles, was ich möchte, ist einfach nur weinen. Ich wünschte, meine berüchtigte Augen-Inkontinenz würde diesen Moment für einen dramatischen Auftritt nutzen. Dann würde ich endlich diesen fürchterlichen Druck loswerden, der sich seit Wochen in mir aufgestaut hat. Aber nichts passiert. Seit Hattie wieder unter die Lebenden zurückgekehrt ist, habe ich keine einzige Träne mehr vergossen. Was irgendwie ironisch ist. Ich dachte immer, Weinen sei ein Zeichen von Schwäche – etwas, wofür man sich schämen muss. Doch nun, da ich nicht mehr weinen kann, fühle ich mich, als wäre irgendwas in mir kaputtgegangen. Als hätte ich einen wichtigen Teil von mir verloren, der mich zu der macht, die ich bin.
»Ab ins Haus, Leute«, befiehlt Eomma. »Wir brauchen jetzt ein schönes, großes Stück Kuchen. Danach geht es uns gleich besser.«
Ich bin so überfordert, dass ich mir vorkomme wie eine Lavalampe aus umeinanderwabernden Gefühlen. Doch ich lasse mich mitschleifen, als alle gemeinsam in die Küche strömen und dem Küchen-Sin ein Kompliment machen. Eomma bittet Hattie, die Alle-Sorten-Torte aus dem Wohnzimmer zu holen, und ich lasse mich auf einen der Küchenhocker plumpsen, während die anderen den Schreck mit einem großen Glas Wasser runterspülen. Plötzlich läuft mir ein seltsamer Schauer über den Rücken.
»Aah!« Jennie spuckt einen Mundvoll Wasser aus. »Es ist kochend heiß!«
Noah, David und Cosette schreien ebenfalls auf und fächeln ihren verbrühten Mündern kühle Luft zu. Eomma sieht sie bestürzt an. »Aber das ist aus dem Krug im Kühlschrank«, beteuert sie. »Es müsste kalt sein!«
Die Lichter über uns beginnen zu flackern, und im nächsten Moment fliegen sämtliche Küchenschränke und Schubladen auf. Selbst die Kühlschranktüren werden von einer unsichtbaren Kraft aufgerissen und stoßen Sora und Austin unsanft beiseite. Vor unseren entsetzten Augen schweben alle Töpfe, Pfannen, Teller, Gläser und Schüsseln aus den Schränken, als wären sie auf magische Weise zum Einsatz gerufen worden.
»Äh, Küchen-Sin, was machst du?«, ruft Hattie, als sie mit der Torte in der Hand zurückkommt. Sie sieht sich entgeistert um. »Was ist denn hier los?«
Inzwischen schwebt der gesamte Inhalt der Küchenschränke über unseren Köpfen, als würde er nur auf den nächsten Befehl warten. Selbst der Toaster erhebt sich von der Arbeitsfläche und gesellt sich zu seinen Kameraden an der Decke. Sein Kabel streift Taeyos Schulter wie der Schwanz eines aufgebrachten Äffchens. Über der Spüle saust plötzlich eine Schüssel in die Tiefe und zerbricht. Keramiksplitter verteilen sich überall auf dem Boden.
Areum fliegt zu mir und krallt sich an meiner Schulter fest. »Das ist der Bann, mit dem die Hexen das Haus belegt haben, Yuna Oh«, warnt sie. »Die Haus-Sin sind verflucht.«
»Alle raus aus der Küche!«, brüllt Appa mit bebender Stimme. »Schnell!«
Das muss er uns nicht zweimal sagen. Wir rennen um unser Leben, als um uns herum Gläser mit Eingelegtem und Gimchi zu Boden krachen. Als Nächstes sausen die Messer und Gabeln mit dem spitzen Ende voran auf uns zu. Zu unserem Glück ist Austin da. Er reibt seine Handgelenke aneinander und aktiviert den Biochip unter seiner Haut. Seine Elementmagie ist Metall, und er schafft es, die Messer lang genug in der Luft zu halten, damit wir unversehrt darunter hindurchlaufen können. Als wir im Wohnzimmer ankommen, erfüllt ohrenbetäubendes Getöse die Küche. Scheppernde Töpfe, herabstürzende Pfannen, zersplitterndes Glas und explodierende Geräte. Es ist ein einziges Chaos.
Dann beginnen sich die Wände im Wohnzimmer unter lautem Ächzen zu biegen und zu krümmen, während nach und nach alle Türen im Haus zuknallen. Noah schreit entsetzt auf: »Ich glaube, das gesamte Haus ist verflucht!«
Wir drängen uns zusammen, als die verzauberten Süßigkeiten wie ein Schwarm blutrünstiger Moskitos auf uns losgehen und sich die Girlanden um unsere Beine wickeln.
»Wir müssen hier raus!«, brüllt Austin.
Areum schlägt mit den Flügeln nach den Bonbons, die auf meinen Kopf zusausen, und stößt ein abwehrendes Kreischen aus, während ich mir meine Tasche und das Geburtstagsgeschenk des Haetae von der Couch schnappe. Gemeinsam hasten wir in den Flur hinaus und versuchen, nicht das Gleichgewicht zu verlieren, als der Boden anfängt, buchstäblich unter uns Wellen zu schlagen. Ich gerate ins Stolpern und will mich an der Wand abstützen, die unter meiner Berührung schrill aufschreit. Eine Tapetenklaue greift nach mir. Erschrocken und auch ein bisschen gekränkt ziehe ich den Arm zurück. Das hier sind dieselben Wände, die mich früher in den Schlaf gesungen haben. Die mir ihre Geschichten und Beobachtungen ins Ohr geflüstert haben. Was ist nur los mit ihnen?
Irgendwie schaffen wir es zur Haustür, doch die ist fest verschlossen. Zum Glück kann Sora das Holz mit ihren magischen Fähigkeiten gerade lange genug auseinanderzwingen, dass wir einer nach dem anderen hindurchrennen können, bevor es sich hinter uns mit einem lauten Knall wieder schließt. Atemlos und traumatisiert stehen wir auf dem Rasen und blicken zu unserem verfluchten Haus hinauf. Wenigstens sind wir in Sicherheit.
»Unser Haus …«, wispert Eomma mit erstickter Stimme. »Und unsere armen, armen Haus-Sin.«
Appa drückt sie an sich. »Die werden schon wieder, Eunha. Und wir auch. Alles wird gut.« Er klingt jedoch, als müsste er sich das zuallererst einmal selbst versichern.
»Wir können nicht zurück«, erwidert sie leise. Tränen rinnen über ihre Wangen. »Wir haben unser Zuhause verloren. Wir können nirgends hin.«
»Wir sind obdachlos?« Hatties Stimme bricht. Sie sieht mich mit großen, panischen Augen an. Von ihrem freudigen Strahlen ist nichts mehr übrig. »Was machen wir jetzt?«
Auf meiner Schulter stößt Areum ein trauriges Krächzen aus. Ich fühle mich, als hätte mir jemand einen Speer ins Herz gerammt. Nichts davon haben sie gewollt. Ich bin der letzte gefallene Stern des Götterreichs, verflixt noch mal. Ich sollte etwas sagen – etwas tun – können, um es wiedergutzumachen. Stattdessen stehe ich bloß wie gelähmt da und lecke mir die trockenen Lippen. Ich habe keine Antworten. Ich bin voll der Fake. Göttlich? Schön wär’s.
»Ihr kommt natürlich mit zu uns«, sagt Sora schließlich und legt meiner Eomma eine Hand auf die Schulter. »Der Horangi-Clan hat immer ein Zuhause für euch.«
Eomma weint zu sehr, um zu antworten, doch sie greift dankbar nach Soras Hand.
»Danke«, sagt Appa leise und mit gesenktem Kopf. »Das werden wir euch nie vergessen.«
»Ich … es … es tut mir so leid …«, presse ich mühsam hervor. Mein Körper fühlt sich so starr und steif an, als wäre er aus Beton. Eine unangenehme Hitze glüht in meiner Magengrube. Mein Auge zuckt.
Emmett stupst Hattie an und wirft einen vielsagenden Blick in meine Richtung.
Hattie nimmt meine Hand. »Atme, Yuna. Ganz ruhig. Du kannst nichts dafür. Du musst dich nicht entschuldigen.«
Alle werden ganz still. Das Einzige, was ich noch höre, ist das Zirpen der Zikaden in den Bäumen. In mir drin wird eine Coladose voller Emotionen so heftig durchgeschüttelt, dass ich fürchte, jeden Moment zu explodieren.
»Hattie hat recht.« Eomma wischt sich über die Augen. »Das ist allein die Schuld der Hexen, die das Haus verflucht haben. Du, Yuna, hast nichts …«
»Aufhören!«, schreie ich. Areum flattert erschrocken auf. Ich reiße meine Hand aus Hatties und drehe mich zu meinen Freunden und meiner Familie um. »Bitte, hört einfach auf!Ihr alle! Da auf dem Garagentor steht mein Name. Ich bin es, die sie hassen. Hört auf, so zu tun, als ginge es dabei nicht um mich. Ihr macht es nur noch schlimmer!«
Mein Ausbruch ist echt nicht respektlos gemeint. Aber es ist nun mal die Wahrheit. Diese ganze Kette unglücklicher Ereignisse ist nur in Gang gekommen, weil ich unbedingt magische Fähigkeiten haben wollte. Deshalb sollen sie bitte endlich aufhören, so zu tun, als wäre alles in Ordnung. Denn das ist es nicht.
Sora nimmt mich behutsam beiseite und führt mich zu ihrem Auto. Ich lasse es zu, weil ich eh nichts Weiteres mehr zu sagen habe.
»Die Party ist vorbei«, sagt sie leise. »Machen wir für heute Schluss.«
Alle außer Emmett gehen nach Hause. Er beschließt, Hattie, meine Eltern, die Gelehrten und mich zum Campus der Horangi zu begleiten.
Auf der Fahrt dorthin legt Hattie ihren Kopf auf meine Schulter. Ihr Atem wird langsamer und ihr Körper ganz schlaff. Sie ist offensichtlich weit über ihre Grenzen gegangen.
»Es wird regnen«, murmelt sie, während sie darum kämpft, die Augen offen zu halten.
Ich blicke aus dem Fenster. Nichts als blauer Himmel.
»Das glaube ich nicht, Liebes«, erwidert Eomma vom Vordersitz. »Es ist weit und breit keine Wolke zu sehen.«
»Es wird regnen«, wiederholt Hattie. »Ich bin mir sicher.« Sie gähnt herzhaft und schmiegt sich noch etwas dichter an meine Schulter.
»Bist du neuerdings wetterfühlig? Wie so eine alte Frau, der jedes Mal die Gelenke wehtun, wenn es regnet?«, scherze ich. Doch Hattie kriegt davon schon nichts mehr mit. Ihr Körper lehnt kalt und reglos an mir. Gruselig.
Beklommenes Schweigen erfüllt den Wagen.
»Ich glaube, das ist wieder eine von ihren Schlafphasen«, flüstere ich schließlich in die Stille hinein.
Das Schweigen dehnt sich aus.
Wir alle denken dasselbe: Letztes Mal war sie zwei volle Tage weg. Hoffen wir, dass es diesmal nicht noch länger wird.
Wir richten uns im Horangi-HQ ein. Kurz nach unserer Ankunft beginnt es zu regnen – genau wie Hattie vorhergesagt hat. Es schüttet wie aus Eimern. Eomma und Appa wundern sich darüber, wie seltsam ein solcher Regenguss mitten im August ist. Aber ich weiß, dass das etwas mit Hattie zu tun haben muss. Als sie neulich zwei ganze Tage durchgeschlafen hat, hat es auch die gesamte Zeit über geregnet. Das kann kein Zufall sein.
Eigentlich soll ich mich gleich mit meinen Eltern und Emmett zum Essen treffen, dabei fällt mir nichts ein, wonach mir gerade weniger wäre. Wie kann ich mit ihnen an einem Tisch sitzen und so tun, als sei alles in bester Ordnung, wo sie doch gerade meinetwegen ihr Zuhause verloren haben?
Also verstecke ich mich stattdessen in einem der Meditationsräume auf dem Campus. Es gibt hier jede Menge davon, alle mit einem anderen Motto, aber ich mag am liebsten den Strand. Die Gelehrten verzaubern die einzelnen Räume mithilfe ihrer Elementmagie, sodass sie haargenau wie ihr Vorbild aus der echten Welt aussehen. Ziemlich unglaublich.
Nachdem ich den Pin-Code an der Tür eingegeben habe, betrete ich ein Baumhaus, und plötzlich erstreckt sich vor mir ein täuschend echt wirkender, scheinbar endloser Strand. Wenn man erst mal drinnen steht, ist es schwer zu erkennen, wie groß der Raum wirklich ist. Die Horangi verfügen über ein beeindruckendes Talent, Wände und Boden nahtlos ineinander übergehen zu lassen. Es ist ein bisschen so, als würde man sich in einer virtuellen Realität wiederfinden, nur ohne die klobige Brille.
Ich ziehe die Schuhe aus und lasse meine Zehen in den warmen Sand einsinken. Eine Palme watschelt hinter mir her, als ich auf die heranbrandenden Wellen zugehe, und spendet angenehmen Schatten. Ich lasse mich in den Sand plumpsen und öffne meine Tasche.
Darin befinden sich mein Laptop, das Buch über das Reich der Seelen und die seltsame Stricknadel, die ich vom Haetae bekommen habe. Außerdem habe ich noch den tränenförmigen Onyx dabei – der einzige Gegenstand, den mir meine leiblichen Eltern hinterlassen haben – und den goldenen Kompass, den mir Taeyo geschenkt hat, kurz nachdem wir einander kennengelernt haben. Sonst habe ich nichts aus dem Haus retten können.
Ich seufze und klappe den Laptop auf. Dann kann ich wohl genauso gut die letzten Kapitel von Das Reich der Seelen für Dummies fertigstellen. Damit bin ich zumindest abgelenkt, und etwas Besseres habe ich gerade eh nicht zu tun. Und Eomma und Appa können das bisschen Extrageld sicher gut gebrauchen.
Ich fange an, den Abschnitt über die bekannten Persönlichkeiten abzutippen, die in der magischen Unterwelt leben. Meine Anspannung steigt, als ich zu den berühmten Heilern komme. Sankt Heo Jun ist einer der angesehensten Gom-Heiler der Geschichte, beginnt der Absatz.
Er lebte zu Zeiten König Seonjos in der Joseon-Dynastie und wurde im zarten Alter von 29 zum Leibarzt der Königsfamilie ernannt. Seine Lehren hatten einen entscheidenden Einfluss auf die moderne Form der Zauberkraft, die heutzutage von Gom-Heilenden angewandt wird, und bereiteten zudem den Weg für die sogenannte traditionelle koreanische Medizin, wie sie in der Welt der Saram bekannt ist.
Ich halte inne und lockere meine Finger, bevor ich den nächsten Absatz tippe. Von Sankt Heo Jun habe ich definitiv schon mal gehört – immerhin ist er einer unserer namhaftesten Ahnen. Was er wohl davon halten würde, was ich unserem Clan angetan habe?
Sankt Heo Jun starb 1615 im Alter von 69 Jahren. Doch für sein großes Mitgefühl und seine glanzvollen Errungenschaften als Heiler belohnte ihn Mago Halmi, indem sie ihm nachträglich den Status als Gottheit ehrenhalber verlieh. Obwohl er seither zahllose Gelegenheiten zur Wiedergeburt hatte, hat sich Sankt Heo Jun gegen eine Rückkehr ins Reich der Lebenden entschieden. Wie es sich für einen wahren Gom gehört, hat er es sich stattdessen zur Aufgabe gemacht, bis in alle Ewigkeiten den gefangenen Seelen in der Hölle zu helfen. Wenn er nicht gerade im Höllenkreis von Jiok arbeitet, ist er in seinem Zuhause in Cheondang anzutreffen – dem himmlischen Bezirk des Reichs der Seelen.
Ich erinnere mich, in einem früheren Kapitel gelesen zu haben, dass man nur nach Cheondang kommt, wenn man zuvor erfolgreich die sieben Gerichtshöfe der Hölle durchlaufen hat. Dort unten gibt es sieben Richterinnen und Richter, die anhand der Werte, für die sie stehen, beurteilen, wie man sein Leben gelebt hat. Wenn man für ein bestimmtes Fehlverhalten schuldig gesprochen wird, muss man die anschließende Strafe im Gefängnis des jeweiligen Richters oder der jeweiligen Richterin absitzen. Das klingt ziemlich krass, aber die Idee dahinter ist, dass jede Seele in den Himmel kommt, sobald sie ihre Strafe abgesessen hat. Und wenn es so weit ist, erhält auch jede Seele die Möglichkeit, in ein neues Leben wiedergeboren zu werden.
Ich tippe gerade die letzten Wörter des Absatzes ab, als ich das Piepsen des Tastenfelds am Eingang höre und die Tür zum Meditationsraum aufschwingt.
»Yuna? Bist du hier drin?«
Ich stöhne entnervt auf. Hat man denn nirgends seine Ruhe?
»Du bist hier drin.« Emmett kommt mit einem Teller Cookies auf mich zu. »Areum, du hattest recht.«
Areum fliegt zu der verzauberten Palme und lässt sich darauf nieder. »In der Tat. Dies ist einer der Orte, an denen sich Yuna Oh gern versteckt. Das weiß Areum.«
»Na, vielen Dank auch, Areum«, erwidere ich trocken.
Emmett baut sich vor mir auf und stemmt die freie Hand in die Hüfte. »Ich dachte, du isst mit uns. Wir haben auf dich gewartet.«
Ich zucke mit den Schultern. »Hatte keinen Hunger.«
Er zögert, als wollte er etwas sagen. Dann verzieht er das Gesicht und fischt ein Taschentuch aus seiner Hosentasche. Er breitet es auf dem Sand aus, nimmt umständlich darauf Platz und hält mir den Teller unter die Nase. »Nicht annähernd so gut wie meine, aber egal. Hauptsache, Cookies.«
Ich schüttle den Kopf und wende mich ab. »Schon gut.«
Seine Miene verfinstert sich weiter, und er hält mir den Teller mit noch mehr Nachdruck hin. »Alter, jetzt sei nicht so ein Miesepeter. Die sind mit Salzkaramell.«
Ich sehe ihn an, und mein Herz setzt einen Schlag aus. »Soll das heißen, du erinnerst dich?«
Der alte Emmett – der, der sich an unsere gemeinsame Kindheit erinnern kann – weiß, dass Salzkaramell meine Lieblingssorte ist. Vor allem, wenn er sie backt. Und mit einem schnörkeligen Zuckerguss-E verziert.
Seine linke Augenbraue schießt in die Höhe. »Woran soll ich mich erinnern?«
Der Hoffnungsfunke in mir erlischt, und ich schüttle niedergeschlagen den Kopf. »Nichts.«
Unbehagliche Stille kehrt ein, was einfach nur noch traurig ist, weil es so was zwischen Emmett und mir früher nie gab.
Er durchbricht sie als Erster: »Hör mal, ich weiß, es ist echt hart, dass sich niemand an dich erinnert und so, aber wir sind immer noch hier. Du bist uns immer noch wichtig, und das ganze andere kitschige Blablabla denkst du dir jetzt bitte dazu.«
Mir fällt auf, wie sehr sich Emmett weiterentwickelt hat, wenn man bedenkt, wie gefühlophob er noch vor zwei Monaten war. Er bemüht sich gerade ernsthaft, ein tiefgründiges und bedeutsames Gespräch mit mir zu führen und ein guter bester Freund zu sein – obwohl er praktisch nichts mehr über mich weiß. Die Begegnung mit seiner Mutter scheint einen nachhaltigen Eindruck bei ihm hinterlassen zu haben. Also hatten meine vielen Fehler zumindest etwas Gutes.
»Es geht nicht darum, dass sich niemand an mich erinnert«, brumme ich. »Jedenfalls nicht nur.«
Emmett mustert mich missbilligend, wie nur er es kann – bei ihm ist irgendwie jeder einzelne Gesichtsmuskel daran beteiligt. »Okay, dann komm ich jetzt mal mit der knallharten Wahrheit. Du musst aufhören, alle auszuschließen. Glaub mir, ich weiß, wovon ich rede. Es mag einfacher erscheinen, aber letzten Endes wirst du dich erst besser fühlen, wenn du nicht mehr vor allem und jedem davonläufst. Reiß die Mauern ein und öffne dich.«
Areum flattert von der Palme herab und fängt an, in meiner Tasche zu wühlen. Wahrscheinlich sucht sie nach etwas, woraus sie sich ein Nest bauen kann.
»Du verstehst das nicht«, entgegne ich.
»Das werden wir ja sehen.«
Ich senke den Blick. »Es ist kompliziert.«
Er verschränkt die Arme vor der Brust. »Liegt es daran, dass du aus dem Götterreich stammst, oder so? Hältst du dich neuerdings für was Besseres, weil wir bloß stinknormale Sterbliche sind?«
»Nein, überhaupt nicht! Es ist nur so, dass ständig jemand verletzt wird. Und zwar meinetwegen. Es ist meine Schuld, dass uns all diese schlimmen Dinge passieren, und ich kann nichts dagegen tun. Und ich soll eine Art göttlicher Stern sein? Lächerlich.«
Emmett zupft einen Fussel von seinem T-Shirt. »Also, für mich klingt das ziemlich simpel. Du glaubst, es geht dabei nur um dich. Als würde sich die ganze Welt um dich drehen.« Er hält inne. »Wobei, genau genommen bist du ein Stück der dunklen Sonne, also tut sie das in gewisser Weise tatsächlich …« Er merkt, dass er abschweift, und schüttelt den Kopf. »Worauf ich hinauswill: Du musst das nicht alleine schaffen. Wir stecken da alle mit drin. Jetzt zieh gefälligst den Kopf aus dem Du-weißt-schon. Wir warten auf dich. Kapiert?«
Ich nicke geistesabwesend. Was soll ich darauf antworten? Er hat leicht reden. Er erinnert sich nicht daran, dass ich ihn angelogen habe und was er meinetwegen alles durchmachen musste. Er versteht nicht, was das für ein Druck ist, wenn man von der gottgleichen Heldin zur Totalversagerin wird.
»Okay, schön, dass das geklärt wäre.« Er ist sichtlich erleichtert, dass das Gespräch vorbei ist. »Wenn wir schon beste Freunde sind, weißt du sicher, was das für ’ne große Nummer für mich ist, hier solche aufmunternden Reden zu schwingen. Ganz ehrlich? Ich bin gerade fast ein bisschen stolz auf mich.« Er rappelt sich auf und klopft die paar Sandkörner von seinem komplett schwarzen Outfit. »Ich geh dann mal zurück in die Küche. Der Koch hat versprochen, mir beizubringen, wie man Sirutteok macht. Aber du kommst doch bald nach, oder?«
»Klar.«
»Na dann.«
Und schon ist er wieder weg. Die Tür ist noch nicht ganz hinter ihm ins Schloss gefallen, da ruft Areum neben mir: »Yuna Oh, du hast ein Binyeo von Mago Halmi!« Sie klingt beeindruckt.
Ich sehe meine Inmyeonjo an, die aufgehört hat, in meiner Tasche zu kramen, und das Geburtstagsgeschenk des Haetae in der Klaue hält.
»Sekunde, du weißt, was das ist?«, frage ich.
Sie nickt nach Vogelmanier ruckartig mit dem Kopf. »O ja. Diese Binyeo sind im Reich der Götter äußerst begehrt. Mago Halmi wird auf vielerlei Weise dargestellt, aber in ihrer menschlichen Gestalt trägt sie ihr Haar zu einem makellosen Dutt frisiert, der mit einem Binyeo wie diesem festgesteckt wird.«
Ich starre das überdimensionierte Essstäbchen mit dem wurmähnlichen Kringel am Ende ungläubig an. »Warte mal, diese Nadel ist ein göttlicher Haarschmuck? Von Mago Halmi?«
Areum krächzt zustimmend. »So ist es. Du hast großes Glück, dass du eins besitzt. Sie sind sehr selten, sogar im Götterreich.« Sie lässt das Binyeo in meine Hand fallen und hockt sich auf das aufgeschlagene Buch über das Reich der Seelen.
Ich suche in meiner Tasche nach dem kleinen Zettel, den der Haetae dem Geschenk beigelegt hatte. Warum schenkt er mir so etwas Wertvolles? Ich lese seine Nachricht noch einmal.
Unsere Entscheidungen sagen viel darüber aus, wer wir sind, aber wirklich entscheidend ist, was wir aus ihnen machen. Alles Gute zum Geburtstag, gefallener Stern. – Haetae (PS: Ich hoffe, das hier hilft dir, alles zusammenzuhalten.)
Ich taste nach meinen ungekämmten Haaren. »Ah, jetzt ergibt der Teil auch Sinn«, sage ich.
Areum hat derweil beschlossen, dass das Buch ein erstklassiges Nest abgibt. Sie kratzt mit den Krallen darüber, um es sich gemütlich zu machen, und reißt dabei prompt eine Seite aus.
»Hey, Vorsicht!«, schimpfe ich und nehme ihr das Buch ab. Auf der rausgerissenen Seite ist eine Tabelle abgebildet, die die sieben Gerichtshöfe der Hölle und ihre jeweiligen Strafen auflistet. Na super. Jetzt kriege ich auch noch Ärger, weil ich heiliges Eigentum der Horangi zerstört habe.
Ich stecke die Seite ein, um sie später wieder anzukleben, und will gerade das Buch zuschlagen, als mein Blick an einem Absatz hängen bleibt. Mit dem Binyeo fahre ich die Worte nach, die ich eben erst in meinen Laptop übertragen habe.
Doch für sein großes Mitgefühl und seine glanzvollen Errungenschaften als Heiler belohnte ihn Mago Halmi, indem sie ihm nachträglich den Status als Gottheit ehrenhalber verlieh.
»Gottheit ehrenhalber«, wiederhole ich, während ich die Worte sacken lasse.
Die Gom haben ihre Magie durch den Tod ihrer Göttin verloren. Ihnen fehlt also eigentlich nur eine göttliche Schutzpatronin, um wieder heilen zu können. Oder ein Schutzpatron.
»O meine Mago …«, murmle ich und halte das Binyeo ins künstliche Sonnenlicht. »Areum, wenn ich Sankt Heo Jun überzeugen kann, der neue Schutzgott der Gom zu werden, können meine Eltern wieder heilen. Dann können sie Hattie gesund machen, sie können ihre Praxis wieder öffnen, und die schrecklichen Drohungen haben ein Ende. Warum ist mir das nicht früher eingefallen?«
Areum denkt darüber nach. »Hmm. Als Ehren-Gottheit hätte er tatsächlich die nötige Kraft, um den Heilern ihre Gabe zurückzugeben. Sofern er es denn wünscht.« Sie fängt an, mit dem Schnabel ihre Federn zu richten. »Aber, Yuna Oh, wie willst du Kontakt zu Sankt Heo Jun aufnehmen? Ist er nicht bereits im 17. Jahrhundert gestorben?«
Vor meinem inneren Auge erscheint der wütende Schriftzug auf unserem Garagentor.
DUGEHÖRSTNICHTHIERHER, YUNAOH!
FAHRZURHÖLLE!
Ich weiß schon, dass das nicht wörtlich gemeint war, aber hey, so abwegig ist die Idee gar nicht … oder? Hat der Haetae nicht gesagt, dass es darauf ankommt, was wir aus unseren Entscheidungen machen? Vielleicht hat Emmett ja recht – wenn ich meine Fehler wiedergutmachen will, muss ich aufhören wegzulaufen. Ich muss auf die Lösung zulaufen.
»Areum, du kannst doch zwischen dem Reich der Sterblichen und dem Reich der Götter hin und her fliegen, oder? Könntest du mich auch ins Reich der Seelen fliegen?«
Sie verschluckt sich fast an einer Feder. Sie hört mit der Gefiederpflege auf und wirft mir einen beunruhigten Blick zu. »Du willst in die Unterwelt?« Sie schüttelt den Kopf. »O nein, dorthin kann ich dich nicht bringen. Das ist nicht möglich. Dort kommst du nur hinein, wenn deine Nummer aufgerufen wird. Verstehst du?«
Als ich nicht antworte, flattert sie auf meine Schulter und spricht mir langsam und deutlich ins Ohr, als könnte ich sie so besser verstehen. »Hörst du mir zu, Yuna Oh? Ins Seelenreich kommt man nur auf einem Weg: indem man stirbt.«
Ich umklammere das Geburtstagsgeschenk des Haetae und lasse mir noch einmal alles durch den Kopf gehen, was ich falsch gemacht habe. Bei dem Gedanken daran, was ich vorhabe, müsste ich eigentlich eine Riesenangst haben. Doch stattdessen empfinde ich zum ersten Mal seit zwei Monaten wieder etwas Hoffnung.
Endlich gibt es etwas, mit dem ich meine Fehler bereinigen kann. Ich habe die Möglichkeit, die Dinge wieder hinzubiegen. Vielleicht ist es das, was mir der Haetae mit seiner Nachricht sagen wollte. Dass ich mich entscheiden soll, etwas zu unternehmen.
Ich wickle meine Haare zu einem straffen Dutt, stecke sie mit dem Binyeo fest und versuche, etwas von Mago Halmis Kraft in mir wachzurufen. Dann schiebe ich den Onyx in meine Hosentasche, damit er mich daran erinnert, wo ich herkomme. Wenn ich mich dort unten verirre, möchte ich nicht vergessen, dass ich in die Welt der Sterblichen gehöre.
»Zum Glück, Areum«, sage ich, während ich meine restlichen Sachen in meiner Tasche verstaue und zur Tür gehe, »habe ich Freunde, die absolut katastrophal darin sind, einen Liebestrank zu brauen.«
David Kim gehört zu diesen Menschen, die so nett sind, dass man fast schon misstrauisch werden kann. Aber er ist wirklich so. Bis vor zwei Monaten war er für mich bloß dieser schüchterne, immer lächelnde Typ aus der Samstagsschule, dessen rosige Wangen aussahen, als sei er den ganzen Weg hergerannt. Er hatte oft eine Auswahl an Tränken und Tinkturen dabei, falls jemand aus der Klasse müde oder gestresst war oder etwas mehr Selbstbewusstsein brauchte. Und er war immer nett zu mir, selbst wenn Jennie sich über mich lustig machte, weil ich keine »richtige« Hexe war.
Aber seit diese Göttinnen-Sache passiert ist, wurde mir klar, warum es überall heißt, die Kims hätten ein Herz aus Gold – das liegt nämlich nicht nur daran, dass ihr Nachname »Gold« bedeutet und das Motto des Tokki-Clans Herz und Freundlichkeit lautet.
Erst hat David seine Eltern überredet, meine Eltern bei sich im Restaurant einzustellen, und dann hatte er auch noch die Idee mit dem Buch der Erinnerungen – einem Album voller Fotos und kurzer Notizen, die die wichtigsten Meilensteine und Ereignisse meines Lebens zeigen, damit meine Eltern und Freunde eine Idee davon bekommen konnten, was sie alles vergessen hatten. Hattie und ich hatten bei der Zusammenstellung jede Menge Spaß. Und obwohl es das gewaltige Loch im Gedächtnis meiner Familie und meines besten Freundes nicht schließen konnte, hat es tatsächlich geholfen. Anfangs jedenfalls.
Darum weiß ich, dass er mir vergeben wird. Und ja, mir ist bewusst, dass Einbruch eine Straftat ist. Genau wie Diebstahl. Aber Robin Hood war auch ein Dieb, und er gilt immer noch als der Gute, weil er seine Beute den Armen gegeben hat. So weit geht es bei mir vielleicht nicht, aber wenn es mir gelingt, Davids misslungenen Liebestrank zu stehlen und mein Herz damit vorübergehend anzuhalten, kann ich in die Unterwelt reisen und den Gom ihre Magie wiedergeben. Und das ist es ja wohl mehr als wert.
»Bist du sicher, dass David nicht zu Hause ist, Yuna Oh?«, fragt Areum auf meiner Schulter. Ich eile mit derart schnellen Schritten aus dem Hauptquartier der Horangi, dass sie mit den Flügeln schlagen muss, um das Gleichgewicht zu halten.
Ich nicke abwesend. »Das hab ich dir doch schon dreimal gesagt, Areum. Ich hab gehört, wie Jennie und er auf meiner Party verabredet haben, sich bei ihr zu treffen. Er wollte Japchae für sie machen.«
Mir kommt in den Sinn, wie ich über ihre ungewöhnliche Freundschaft nachgedacht habe, und dabei geht mir auf, dass wir alle jemanden haben, der uns genau so akzeptiert, wie wir sind, mit all unseren Macken und Fehlern.
»Aber wie willst du hineinkommen?«, fährt Areum fort. »Und was, wenn jemand zu Hause ist?«
Ich scheuche die Inmyeonjo von meiner Schulter. Langsam geht mir ihre Fragerei gehörig auf die Nerven. »Wie ich schon drei Mal gesagt habe«, wiederhole ich, »Davids Eltern sind im Restaurant und bereiten sich auf den abendlichen Ansturm vor. Und sein Harabeoji sollte lieber zu Hausesein. Darauf verlasse ich mich nämlich.«
David hat schon mehrmals erwähnt, dass sein Großvater dabei ist, das Gedächtnis zu verlieren, und dadurch etwas wunderlich geworden ist. Unter anderem lässt er neuerdings ständig die Hintertür offen – angeblich, weil die Königin von England zu Besuch kommt, um mit ihm Baduk zu spielen. Da wäre es nun wirklich unhöflich, die Tür abzuschließen.
»Diese Hintertür ist meine einzige Chance. Sonst muss ich ein Fenster einschlagen.« Ich verziehe das Gesicht. So weit will ich es ungern kommen lassen. »Danach schleiche ich einfach nach unten in ihr Aromarium und schnappe mir den Trank. Kinderspiel.«
Areum schweigt kurz, bevor sie ihre Befragung fortsetzt. »Angenommen, es gelingt dir, den Trank in deinen Besitz zu bringen, Yuna Oh. Was, wenn du in der Unterwelt eintriffst und Sankt Heo Jun sich weigert, Schutzpatron der Gom zu werden? Es gibt keine Garantie, dass er deiner Bitte nachkommt.«
Ich lege noch einen Zahn zu. »Er war einer der selbstlosesten und mächtigsten Gom-Heiler der Geschichte, Areum. Er hat auf eine Wiedergeburt verzichtet, um die gefangenen Seelen zu heilen. Da lässt er es sich bestimmt nicht nehmen, dafür zu sorgen, dass es auch im Reich der Sterblichen wieder Heiler gibt. Unser Clan-Motto lautet nicht grundlos Dienst und Opferbereitschaft.« Mit jedem Schritt wird meine Entschlossenheit stärker. »Ich muss einfach nur da runter und es ihm persönlich erklären. Dann sagt er auf jeden Fall Ja.«
»Aber dafür musst du zuerst durch die Hölle gehen«, beharrt Areum. »Was, wenn du in einem der Gefängnisse dort landest und nicht in die Welt der Lebenden zurückkehren kannst?«
»Du siehst nur, was alles schieflaufen könnte«, blaffe ich. »Was ist mit allem, das gut gehen könnte? Endlich gibt es einen Weg für mich, alles wieder in Ordnung zu bringen. Kapierst du das nicht?« Kurz bin ich selbst überrascht, mit welchem Eifer ich mich in diesen Ausflug in die Unterwelt stürze. Ich klinge schon ganz wie meine Schwester. Es fühlt sich gut an. Als würde ich eine hattieförmige Rüstung tragen.
Areum krächzt besorgt. »Aber dort unten kann ich dich nicht beschützen, Yuna Oh. Es ist meine Pflicht, das zu tun. Ich will dich nicht enttäuschen.«
Plötzlich komme ich mir mies vor, weil ich sie so angeschnauzt habe. Sie versucht schließlich nur, auf mich aufzupassen. »Es tut mir leid, Areum«, murmle ich leise. »Ich weiß, warum du mich davon abbringen willst. Aber jetzt musst du mir unbedingt vertrauen. Bitte. Ich muss das tun. Und dabei brauche ich deine Hilfe.«
Sie schnattert trotzig, verzichtet jedoch auf weitere Einwände.
»Du bist die beste Inmyeonjo, die man sich nur wünschen kann«, flüstere ich und schmiege meine Wange an ihre Flügelfedern. »Ich hoffe, das weißt du.«
Als wir bei David zu Hause ankommen, hat die Nachmittagssonne bereits ihren Biss verloren. Sie steht immer noch hoch am Himmel, aber das Vogelgezwitscher aus den umstehenden Palmen kündigt bereits die Abenddämmerung an.
Nervös umklammere ich meine Umhängetasche. Den Laptop und das Buch über das Reich der Seelen habe ich rausgenommen und Areum den goldenen Sternenkompass gegeben, damit sie ihn so lange bewacht. Ich brauche den Platz in der Tasche, um den Trank ungesehen nach draußen zu schmuggeln. Nachdem ich einmal tief Luft geholt habe, schleiche ich um das Haus herum zur Hintertür. Aus dem Wohnzimmer schallen laute Stimmen, was mich hoffen lässt, dass Davids Harabeoji dort drin ist und fernsieht.
Mit zitternder Hand greife ich nach dem Türknauf. Und tatsächlich: Sie lässt sich öffnen! Ich recke triumphierend die Faust. Schritt eins von Mission »Rettet die Gom« läuft genau nach Plan!
Ich zucke zusammen, als Areum ihre Krallen in meine Schulter gräbt. »Bist du dir sicher, Yuna Oh?«, fragt sie.
»Hör zu, ich hab dir doch …«
Weiter komme ich nicht, denn plötzlich steht ein älterer Herr mit einer wilden grauen Einstein-Frisur vor mir. Ich weiche erschrocken zurück. Verflixt! Er hätte uns nicht sehen sollen.
»Nuguseyo?« Er mustert mich und die taubengroße Vogelfrau auf meiner Schulter mit großem Interesse.
»Ich, äh, ähm, ich …«, stammele ich, während ich versuche, mir auf die Schnelle etwas einfallen zu lassen. (Nicht gerade meine Stärke.) »Annyeong haseyo«, erwidere ich schließlich und verbeuge mich. »Wir kommen vom Restaurant, um ein paar Tränke aus dem Aromarium zu holen. Mr. und Mrs. Kim schicken uns. Ihnen sind die … die … Dings ausgegangen.« Ich halte den Atem an und ärgere mich über mich selbst. Dings? Ernsthaft? Was Besseres konnte ich mir nicht aus den Fingern saugen?
