Dreckszeug - Ralf Hergarten - E-Book

Dreckszeug E-Book

Ralf Hergarten

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Beschreibung

In einem alten Steinbruch in Kall wird die Leiche der angehenden Enthüllungsjournalistin Sandra Wolter gefunden. Ins Visier der Schleidener Polizei und des ermittelnden Kommissars Frajo Wergen gerät schnell der Freund der Ermordeten, mit dem sie am Abend ihres Todes einen heftigen Streit gehabt hatte. Doch ist er nicht der einzige Verdächtige – Wergen ermittelt auch im Umfeld zweier Eifeler Baufirmen, die sich auf die Entsorgung von Sondermüll spezialisiert haben: Warum war Sandra Wolter hier nacheinander als Sekretärin angestellt? Und hat ihr Tod am Ende etwas mit den illegalen Umtrieben der Eifeler Entsorgungsmafia zu tun?

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Ralf Hergarten

Dreckszeug

Ein Eifeler Umweltkrimi

Eifeler Literaturverlag 2022

1. Auflage 2022

© Eifeler Literaturverlag

In der Verlagsgruppe Mainz

Alle Rechte vorbehalten

Printed in Germany

Eifeler Literaturverlag

Verlagsgruppe Mainz

Süsterfeldstraße 83

52072 Aachen

www.eifeler-literaturverlag.de

Gestaltung, Druck und Vertrieb:

Druck & Verlagshaus Mainz

Süsterfeldstraße 83

52072 Aachen

www.verlag-mainz.de

Abbildungsnachweis:

Lassedesignen – stock.adobe.com

Druckbuch:

ISBN-10: 3-96123-046-3

ISBN-13: 978-3-96123-046-4

E-Book:

ISBN-10: 3-96123-061-7

ISBN-13: 978-3-96123-061-7

Vorwort

Der Nationalpark. Seit 2006 ist das ehemalige Truppenübungsgelände begehrtes Naherholungsziel. Tausende von Wanderern bevölkern die Natur, genießen dieses scheinbar unberührte Fleckchen Erde.

Doch diese Erde birgt eine Vorgeschichte: Neben der historischen Vorbelastung als Junker-Ordensburg der Nazis finden sich Hinterlassenschaften – nicht nur der übenden Truppen.

Ein Kriminalroman vor dem beeindruckenden Gebiet des Nationalparks Nordeifel tief in der nordrheinwestfälischen Eifel.

Kapitel 1

Sandra hatte sich den Abend anders vorgestellt. Sie stand in Kall auf dem Bürgersteig, Nieselregen durchnässte ihren Pullover und ließ sie frieren. Der Streit war heftig gewesen, und sie sehnte sich nach Armen, die sie zärtlich an sich ziehen und ihr das gute Gefühl vermitteln würden, dass die Welt da draußen ihr nichts anhaben konnte.

Mit zitternden Fingern wählte sie eine Nummer auf ihrem Mobiltelefon.

»Hallo?«

»Sandra hier. Ich brauche jemanden zum Reden. Kann ich vorbeikommen?«

»Natürlich, Liebes. Du kannst immer vorbeikommen. Wir müssen ohnehin mal reden. Wann bist du da?«

Etwa eine Viertelstunde später hielt das Auto von Sandra Wolter, ein alter Opel Astra, vor einem unauffälligen Einfamilienhaus. Sandra stieg aus, ging zur Eingangstür, die sich schon öffnete. Sie wurde erwartet.

»Komm herein. Mein Gott, du bist ja ganz nass. Zieh‘ mal die nasse Jacke aus, ich mache dir einen Drink.«

»Ich hab‘ die Schnauze voll von allem.« Es brach förmlich aus ihr heraus. »Ich kann einfach nicht mehr. Mir wird das alles zu viel. Manchmal denke ich, ich sollte zur Polizei gehen und einfach reinen Tisch machen.«

»Ach, Mädel«, der Mann kam auf sie zu und breitete die Arme aus, »lass dich erst mal in den Arm nehmen, dann wird alles besser.«

Sandra kam der Aufforderung nur zu gern nach. Sich anlehnen, anschmiegen, das war es, was sie jetzt brauchte. Die Umarmung kam ihr merkwürdig steif vor. Sie wollte sich befreien, aber die Arme, die sie umfingen, ließen das nicht zu. Sie wanderten von ihren Schultern zu ihrem Hals und drückten zu: unbarmherzig, mit der Gnadenlosigkeit eines Schraubstocks.

Sandra wollte schreien, doch kein Laut entwich ihrer Kehle. Die Hände, die in leichten schwarzen Lederhandschuhen steckten, ließen das nicht zu. Sie spürte Druck im Kopf, Panik. Sie wollte strampeln, doch der Blick ihres Gegenübers lähmte sie. Schließlich ließ ihr Widerstand nach, sie ergab sich in ihr Schicksal. Ihr Kopf schien zu platzen, und dann explodierten tausend weiße Sterne in ihrem Schädel. Der leblose Körper sackte in sich zusammen, gehalten von den Händen, die immer noch unbarmherzig zudrückten. Sandra merkte längst nicht mehr, wie sie abgelegt wurde.

Mit einem verächtlichen Blick musterte der Mann sein Werk. Naives Ding. Eigentlich schade drum, war hübsch gewesen. Er ging in die angrenzende Garage und holte einen stabilen Leinensack aus dem Regal, in dem er früher Surfsegel aufbewahrt hatte. Er wusste, dass er sich beeilen musste. Der Körper war nur so lange beweglich, bis die Leichenstarre einsetzte. Er durchsuchte die Jeans seines Opfers nach Mobiltelefon und Autoschlüsseln und nahm beides an sich.

Mechanisch griff er einen Satz Spanngurte und schnürte den Körper auf ein handliches Maß, so dass er in den Sack passte. Dann öffnete er die Tür, vergewisserte sich, dass niemand auf der Straße herumlief. Das war in dem Eifeldorf nicht zu befürchten; zu vorgerückter Stunde, wenn die Geschäfte geschlossen waren, war hier kaum etwas los auf der Straße. Ohne jede Hast trug der Mann das verschnürte Bündel zu dem vor dem Haus geparkten Opel. Er öffnete den Kofferraum, packte das Bündel hinein und setzte sich ans Steuer.

Kapitel 2

»Perfekt. Einfach perfekt. Ja, den linken Arm ein wenig höher, soooo …, prima!«

»Puh, ich muss mich aufwärmen.« Der Fotograf Robert Esser setzte die Kamera ab. Christine Berners fror sichtlich, doch ihr Ehrgeiz verbot ihr, die Fotosession abzubrechen. Sie beschlossen, eine kleine Pause zu machen, damit sie sich im Auto aufwärmen und eine heiße Tasse Tee trinken konnte. Robert sichtete unterdessen die bisher geschossenen Fotos und war begeistert. Christine jauchzte vor Freude über die gelungenen Bilder.

Der alte Steinbruch oberhalb von Kall mit seinen Abbaugeräten und längst verrosteten Baggern bot herrliche Kontraste. Die aus dem kalten, klaren Himmel scheinende Sonne machte die Bilder perfekt.

Esser bat Christine, ein kobaltblaues Wäscheset anzuziehen, das einen auffallenden Farbtupfer in der Gesamtkomposition darstellen würde. Das war etwas, was er an seinem Hobby liebte: Das »In-Szene-Setzen« eines verletzlich-schönen Körpers vor dem Kontrast einer alten Ruine oder der brutalen Kante eines Industriegeräts.

»Wie lange willst du denn noch machen?« Die leichte Ungeduld in Christines Stimme ließ ihn die Session auf die nächsten 30 Minuten beschränken.

Christine stakste auf ihren High Heels in Richtung des Abraumbaggers, während Robert die Kamera vorbereitete.

»Aaaaah! Verdammt, ich hasse das!« Der auf diesen Fluch folgende gellende Schrei ging ihm durch Mark und Bein. Christine sah aus, als hätte sie ein Gespenst gesehen. Robert sprintete sofort zu ihr hinüber. Sie war auf einem glitschigen Stück Lehm ausgerutscht und hatte sich mitten in eine riesige senfbraune Matschpfütze gelegt.

Doch nicht dieses Missgeschick hatte ihr den Ausdruck des puren Entsetzens auf das Gesicht gebracht – wie gebannt starrte sie auf etwas, das am anderen Ende der Pfütze lag.

»Robert, schnell! Verdammt! Hier …« Robert folgte Christine, die auf etwas deutete, was ein paar Meter von ihr weg lag. »Da liegt jemand! Ich glaube, die ist tot! Robert, mach doch was!«

Tatsächlich. Was da lag, war eindeutig ein lebloses menschliches Wesen.

Robert watete zu dem Körper, tastete mechanisch nach dem Puls, prüfte, ob die Frau, die vor ihm lag, atmete. Er versuchte, sie zu reanimieren. Gleichzeitig gab er Christine die Anweisung, von seinem Handy aus die Polizei und den Rettungsdienst zu rufen.

Während Robert die Wiederbelebungsbemühungen fortsetzte, fiel ihm ein dunkler Rand um den Hals der Frau auf, so als hätte jemand sie stranguliert.

Christine berichtete, die Leitstelle habe am Telefon versprochen, sofort einen Rettungswagen und die Polizei zu schicken. Robert wusste, dass es nur wenige Augenblicke dauern konnte, bis die ersten Fahrzeuge eintreffen würden, denn in der Nähe war eine große Station des Deutschen Roten Kreuzes und wenige hundert Meter weiter im Rathaus von Kall befand sich eine Polizeiwache. Er bat Christine, sich schnell warme Sachen überzustreifen und dann an den Eingang des Steinbruchs zu gehen, um den kurz darauf eintreffenden Rettungskräften den Weg zu zeigen.

Der Notarzt, ein kräftiger Mittdreißiger, eilte mit seinem Koffer herbei, und nahm von dem mit ihm gekommenen Rettungsassistenten die Blutdruckmanschette entgegen. Der Assistent legte mit routinierten Bewegungen das EKG an und startete die Aufzeichnung.

»Nee, da können wir wieder abrücken«, befand der Notarzt nach wenigen Augenblicken, »da lass mal den Bestatter ran. Da sind wir leider zu spät.«

Er nahm seinen Koffer und bedeutete dem Rettungsassistenten, zusammenzupacken. »Da machen wir nix mehr, Ben!« Der Angesprochene zuckte mit den Schultern und trabte mit seinem Koffer hinter dem Notarzt zurück zu dem orange-weiß beklebten Fahrzeug, mit dem sie gekommen waren. Schwerfällig ließ er sich auf den Fahrersitz fallen und schaltete das Blaulicht aus. Er drückte ein paar Knöpfe im Fahrzeug und gab eine Rückmeldung an die Leitstelle.

Im gleichen Augenblick traf Heinrich Bieskolla, Kommissar aus Schleiden, ein, ging zu dem Rettungsdienstfahrzeug, mit dessen Besatzung er ein paar Worte wechselte. Nach wenigen Sekunden kündete ein lautes Piepsen von den Funkgeräten an den Gürteln der Mediziner, dass der nächste Einsatz bevorstand. Die beiden Rettungsdienstleute grüßten und mit eingeschaltetem Alarm fuhren sie wieder auf die nahe Umgehungsstraße. Heinrich Bieskolla kam auf Robert zu.

»Jung, dat wird aber ne schlechte Gewohnheit von dir, immer, wenn ich dich seh‘, hat dat mit Leichen zu tun.«

Heinrich strahlte Ruhe aus. Er repräsentierte den Dorfsheriff, wie ihn das Klischee nicht besser hätte beschreiben können. Wenn alle um ihn herum in Hektik verfielen und planlos durch die Gegend rannten, war er es, der erst einmal durchatmete. Seine massige Figur bildete oft den ruhenden Pol inmitten des hektischen Geschehens. Schon kurz nach dem Schulabschluss hatte er beschlossen, statt einer Karriere in der Stadt lieber auf dem Land zu bleiben und die Ruhe des dortigen Lebens zu genießen. Robert und er waren sich schon einige Male über den Weg gelaufen. Während Robert noch die Schulbank gedrückt hatte, war Heinrich schon in Uniform durch Schleiden gegangen und hatte darauf geachtet, dass dem Gesetz der nötige Respekt gezollt wurde. Als Robert viele Jahre später eine Leiche am Urftsee gefunden hatte, hatten die beiden Männer wieder Kontakt zueinander bekommen.

Robert Esser registrierte den Kollegen, der mit Heinrich Bieskolla zusammen gekommen war, und der sich direkt als Frajo Wergen von der Polizei Schleiden vorstellte. Wie zur Entschuldigung sagte er: »Die Kaller Kollegen sind in einer anderen Sache raus, deshalb kommen wir gerade aus Schleiden.«

»Lass mal,« unterbrach ihn Bieskolla, »der Herr Esser ist ein alter Bekannter. Das ist ein Fotograf aus Gemünd, der vor einiger Zeit mal bei der Aufklärung eines Falls in Vogelsang geholfen hat.«

Frajo erinnerte sich an den Fall, in dem es um Nazis auf Vogelsang gegangen war.

»Sachma«, hob Bieskolla an und deutete auf die Leiche, »dat am Hals, dat is‘ mir nicht geheuer.« Er drehte sich zum Streifenwagen um: »Pia! Ruf ma die Spusi un die Kollegen vom KK 11 her! Ich glaub‘, das ist was für die!«

Pia Wesseling, die junge Kollegin, die beim Wagen geblieben war, winkte den beiden Männern, dass sie verstanden hatte.

Robert sah nachdenklich auf die Leiche.

Ihr kurzes, blondes Haar leuchtete regelrecht in der Sonne – ihr Gesicht wirkte unwirklich, denn die Augen waren offen; leer starrte der Blick aus einem einstmals hübschen Gesicht in den Himmel.

»Sie wirkt so … jugendlich«, schluchzte Christine, die sich zitternd an Roberts Schulter lehnte. Für einen Moment sagte niemand ein Wort.

Dann brummte Bieskolla: »Und schon ist KGB auch wieder zur Stelle. Hätte mich ja auch gewundert.«

Wenige Augenblicke später stiefelte Karl-Georg Berners, genannt KGB, ein Journalist des Kölner Tageblattes, durch die Kiesgrube. Seinen richtigen Namen kannten nur wenige, Frajo war sich nicht einmal sicher, ob er selbst ihn noch kannte. KGB galt als intimer Kenner der Eifler Szene, und hatte sein Journalistenleben lang so manchen Politiker an den Rand des Wahnsinns und darüber hinaus getrieben. Gefürchtet war sein Stirnrunzeln, wenn er sich am Ende einer Pressekonferenz meldete und mit unschuldigem Gesicht die brisantesten Fragen stellte. Bevor er die Kamera zückte, wandte er sich an Bieskolla.

»Moin, Heinrich, wat haste denn für mich?«

»Moin, der Herr, wenn man das nachmittags um vier noch sagen kann«, spöttelte Bieskolla. »Also, so wie es aussieht, haben wir eine weibliche Leiche, ungefähr Ende 20. Todesursache wissen wir noch nicht. Ist aber voll bekleidet, alles Weitere warten wir mal ab. Ob die Todesursache natürlich ist, steht noch nicht fest. Aber Ort und Lage der Leiche sprechen für mich dagegen.«

»Ok, das reicht erst mal, danke.« KGB nahm seine Kamera, machte ein paar Bilder von der Kiesgrube, ohne dabei die Leiche direkt zu fotografieren. Dann packte er seine Kamera wieder ein, grüßte mit dem Hinweis, dass er sich über jede Information freue, und verschwand.

Heinrich Bieskolla wandte sich an den mit ihm gekommenen Frajo Wergen:

»Sieh mal, sie hat Markenklamotten an, sie trägt Schmuck, eine goldene Uhr, sie sieht mir auch nicht nach einem Junkie aus. Wenn sie hier nicht plötzlich einen Herzinfarkt bekommen hat, würde ich wetten, da hat einer nachgeholfen. Und, wenn ich das richtig sehe, sind da dunkle Stellen am Hals. Wüsste gern mal, wer das ist, ich habe das Gesicht hier aber auch noch nie gesehen.« Prüfend blickte er sich um und studierte die direkte Umgebung. Nichts deutete darauf hin, dass hier kürzlich ein Kampf stattgefunden haben könnte.

Schließlich drehte er sich zu Esser.

»Ich muss dich das fragen: Hast du Fotos von der Leiche gemacht?«

»Nee, als Christine sie entdeckt hat, habe ich direkt versucht, erste Hilfe zu leisten. Leider vergeblich, wie du siehst.«

»Mann, ist das kalt«, zitterte Christine. »Bringst du mich nach Hause?« Robert willigte ein.

Nachdenklich schaute Christine während der Fahrt aus dem Fenster. »Sie war noch nicht alt, oder?«

»Nein, ich denke, so Ende zwanzig vielleicht.«

»Mein Gott, Robert, wer macht so was? Was kann einen Menschen dazu bringen, einer Frau das anzutun? Was, Robert?« Über ihre Wange lief eine einzelne Träne, suchte sich ihren Weg zum Mundwinkel. Ungeduldig wischte Christine sie weg. So weiblich Christine aussah, sie legte viel Wert darauf, keine Schwächen zu zeigen, erst recht nicht vor einem Mann. Den Bruchteil einer Sekunde dachte Robert darüber nach, warum Menschen wohl, wenn sie von tausenden toten Flüchtlingen hören, einfach zur Tagesordnung übergehen konnten, während sie, wenn sie einen einzigen Toten vor sich sehen, emotional so aus der Bahn geworfen wurden.

»Ich weiß es wirklich nicht, Christine. Ich kann mir das schlicht nicht vorstellen. Es … es ist so schrecklich, Robert. Sie erinnerte mich an eine Schulkameradin von mir. Was ist das für ein Ende, in einer alten Grube herumzuliegen und zufällig gefunden zu werden?«

»Wie ich Heinrich kenne, werden wir irgendwann erfahren, was es mit der Toten auf sich hatte.«

Kapitel 3

Mit feinem Knistern verbreitete der Kamin seine Wärme. Frajo Wergen räkelte sich gemütlich auf seiner Couch. Ein Sonntag, wie er ihn liebte. Eine Tasse schwarzen Tees mit einem kleinen Schuss Rum, ein Eifelkrimi und eine warme Decke; Zutaten zum Glück. Sein erstes freies Wochenende seit langem. Die letzten Wochen hatten rumänische Einbrecherbanden die Gegend unsicher gemacht, und Hauptkommissar Frajo Wergen hatte einen Sonderdienst nach dem anderen schieben müssen. Schließlich hatten sie eine ganze Bande ausgehoben, als sie einen Schrotthändler in Gemünd bestahl. Jetzt genoss er seine wohlverdiente Freizeit. Frajo vertiefte sich in sein Buch. Der Protagonist des Krimis fuhr gerade durch die malerische Eifellandschaft und genoss die Ruhe …

»Heee! Mach mal auf! Schnell! Meine Fresse, liegst du etwa am hellerlichten Tag auf der Couch? Nu, mach‘ schon!!! Hier ist Kummes!«

Letzteres hätte Kummes nicht betonen müssen, denn wer sonst hätte Frajo um diese Zeit so aus seinen Träumen zu reißen gewagt? Die Stimmgewalt, die seinem fassgleichen Brustkorb entsprang, passte zu dem fast zwei Meter großen Hünen. Frajo beeilte sich, in die Senkrechte zu kommen, bevor Kummes, dessen bürgerlichen Namen Heinz-Werner Backes nie jemand benutzte, mit seinen baggerschaufelähnlichen Händen die Tür in homöopathisch kleine Stücke zertrümmern würde. Kummes – diesen Spitznamen hatte Heinz-Werner als Jugendlicher erhalten, als er zu romantischer Hochform auflief, und eine von ihm verehrte junge Dame aus »der Stadt« zu sich einlud: »Kummes vürbei för jet ze drönke!« (Komm mal auf Getränk vorbei.) Die Angesprochene hatte mangels Kenntnis des Eifeldialekts diese nette Einladung vollkommen falsch verstanden und die Flucht ergriffen – die umstehenden Kumpanen von »Kummes«, wie er ab da hieß, wollten sich ausschütten vor Lachen.

»Ja, ja, ich komme ja schon, meine Güte, Kummes, es ist Sonntag, was kann denn da so dringend sein?«, öffnete Frajo dem frühmorgendlichen Besucher die Tür.

Kummes hielt sich nicht mit Höflichkeitsfloskeln auf, das entsprach nicht seinem Naturell. So aufgeregt, wie er jetzt war, hatte Frajo ihn allerdings noch nicht erlebt. Seine Pranken fuchtelten ziellos in der Luft herum, und Frajo bekam ernsthafte Bedenken, was wohl geschähe, wenn Kummes ihm aus mangelnder Koordination zufällig eine Ohrfeige mit diesen Bratpfannen verpassen würde.

Kummes fiel auf einen Küchenstuhl, der bedenklich ächzte, und faltete die Hände zu einem Fleischberg, der in der Mitte des Tischs ruhte. Sein Verhalten ließ alle Alarmglocken in Frajo aufklingen.

»Sie haben Pjotr gekascht.«

Kummes machte eine hilflose Bewegung und schaute Frajo an, als habe er ihm damit mindestens die Welt und das Universum erklärt. Auf Frajos fragenden Blick fühlte Kummes sich bemüßigt, ein paar erklärende Sätze nachzulegen.

»Pjotr. Mazurek. Meinen Freund. Vom Fußball. Lieber Kerl. Soll … ach, Scheiße, Frajo, er soll seine Freundin umgebracht haben! Doch nicht Pjotr! Das kann doch gar nicht sein! Der kann nicht mal eine Blutwurst aufschneiden!«

»Jetzt mach mal langsam, Kummes, und erzähl‘ mal der Reihe nach. Was ist genau passiert?« Frajo erinnerte sich, dass der Name Pjotr auf der Dienststelle gefallen war. Die Kollegen von einer anderen Schicht hatten einen Pjotr Mazurek verhaftet, der im Verdacht stand, die Frau ermordet zu haben, die Frajo in der Kiesgrube liegen gesehen hatte.

Kummes atmete tief durch und ging zu Frajos Kühlschrank, nahm sich ein Bier heraus. Die Suche nach einem Flaschenöffner ersparte er sich und öffnete die Flasche mit einem Messer, das auf dem Tisch lag. Hastig setzte er an und leerte sie in einem Zug aus.

»So«, nahm er den Faden auf, »also, das ist so. Pjotr ist ein guter Freund von mir. Er hat einige Jahre hier auf dem Bau gearbeitet. LKW fahren war immer sein Traum, Trucker-Romantik und so, was weiß ich. Er hat immer nur gearbeitet, und am Wochenende haben wir dann schon mal einen Zug durch die Gemeinde gemacht, so Calypso und Lenz und so, mal ein bissl Mädels gucken.«

Frajo unterbrach:

»Das ist ja alles ganz interessant, aber wo ist da jetzt der Grund für seine Verhaftung?«

Frajo stellte zwei weitere Flaschen Bier auf den Tisch. Kummes‘ Blick wurde glasig, und er starrte auf seine Hände. Langsam, konzentriert, erzählte er:

»Also, Pjotr hat sich nix geleistet, hat immer davon geträumt, mal einen eigenen LKW zu haben. Vor etwas mehr als einem Jahr dann hat er Sandra kennengelernt. Pjotr ist bis über beide Ohren verliebt in sie. Plötzlich beginnt er, von Urlaub zu reden, von einer gemeinsamen Wohnung, immer seltener von seinem eigenen LKW.«

»Wo, sagst du, hat er gearbeitet?«

»Früher beim Breuer-Theo, in Blankenheim, im Gewerbegebiet. Der macht vor allem Straßenbau und Entsorgung. Großer Laden, macht viel hier in der Gegend. Von da ist er zu SPINEX gegangen, die sind in Kall«

Frajo nickte. Theo Breuer, das war ein Unternehmer – Name in der Eifel. Er kannte Theo, der Kontakt war über verschiedene Einsätze entstanden. Schwarzarbeit, Diebstahl auf der Baustelle, Prügeleien unter den Bauarbeitern – Frajo war immer wieder davon beeindruckt gewesen, dass bei der großen Firma, die Breuer inzwischen hatte, der Chef ständig selbst vor Ort war, wenn es etwas zu schlichten oder mit der Polizei zu regeln gab.

Kummes‘ Stimme rief ihn wieder ins Hier und Jetzt zurück.

»Einige Zeit, nachdem Pjotr mit Sandra zusammen war, hat er bei Breuer gekündigt. Breuer war ziemlich sauer. Wenn in so einer Firma einer kündigt, ist das, als würde er die Familie verlassen. Aber Pjotr sagte, bei seinem neuen Chef würde er viel mehr verdienen.« Kummes trank einen gierigen Zug aus der Flasche.

»Das wird Theo nicht gefreut haben.«

»Du sagst es, er hat getobt vor Wut, hat Pjotr einen Verräter genannt und Sandra von da an ziemlich mies behandelt. Irgendwann hat sie dann auch von Breuer zu SPINEX gewechselt. Keine gute Entscheidung, wie ich finde.«

»Warum?«

»Der Chef von SPINEX ist ein Halunke, wenn du mich fragst. Ein Schmierlappen vor dem Herrn. Unangenehmer Typ. Hast du noch ein Bier?«

»Also«, fragte Frajo, als er das Bier geöffnet hatte, »wie ist es zu der Verhaftung gekommen?«

»Tja«, Kummes kratzte sich am Kopf »so weit wie ich das weiß, war das so: Am Freitagabend muss Sandra mit ihrem Chef Karol, also dem Geschäftsführer von SPINEX, essen gegangen sein. Sie waren im Brauhaus in Kall, und Karol hatte noch ein paar polnische Geschäftsfreunde dabei. Spät am Abend ist Pjotr dann aufgetaucht, und hat einen Riesenrabbatz gemacht. Er hat Karol das Bier über den Kopf geschüttet, gebrüllt, er würde ihn umbringen, und Sandra direkt dazu. Karol hat ihn einfach ausgelacht, hat ihm eine verpasst und ihn rausschmeißen lassen. Später ist Sandra dann allein heimgegangen. Na ja, und am nächsten Tag, am Samstag, haben sie die Leiche von Sandra gefunden. Klar, dass sie direkt auf Pjotr kamen. Er lag vollkommen besoffen in seinem Bett, als sie ihn verhaftet haben. Aber glaub mir, Frajo: Ich weiß, dass er es nicht war, so wahr ich Kummes heiße!«

»Ich verstehe, Kummes. Ich denke, ich werde mich morgen mal auf der Dienststelle informieren. Aber richtig gut sieht das nicht aus für deinen Freund. So ein Mist …«

»Frajo, bitte, versprich mir, dass du alles tust, was du kannst, um Pjotr da rauszuholen. Dann hast du echt einen gut bei mir. So, und jetzt einen Schnaps. Oder hast du keinen Els da?«

Die Art und Weise des Eiflers, mit Katastrophen umzugehen. Erst mal einen Els. Dieser honigfarbene Kräuterlikör aus Monschau polarisiert die, die ihn probieren. Entweder liebst du ihn, oder du hasst ihn. Kummes zählte, genau wie Frajo, zu ersterer Partei, wobei beide nie verstehen würden, warum die Damen den Els durch ein Stück Würfelzucker tranken. Frajo ging an den Kühlschrank, entnahm diesem eine Flasche Els und aus seiner Küchenvitrine zwei größere Schnapsgläser.

Was Frajo Wergen während seiner konzentrierten Tätigkeit des Einschenkens irritierte, war, dass Kummes scheinbar von der Tat an sich nur wenig Notiz nahm. Dass ein Mensch umgekommen war, schien ihn nicht sonderlich zu beeindrucken, aber dass sein Freund Pjotr in Schwierigkeiten steckte, machte ihn förmlich fertig.

***

Als Kummes einige Stunden später ins Nachbarhaus zurückwankte, sah die Welt für ihn ein winziges Stück besser aus. Er war zuversichtlich, dass Frajo ihm helfen würde. Frajo Wergen teilte seinen Optimismus da nicht. Vielleicht war diesem Pjotr einfach eine Sicherung durchgebrannt. Dafür sprach, dass Pjotr offensichtlich reichlich Alkohol getrunken hatte, ob vor oder nach der Tat, wusste Frajo nicht. Er nahm sich vor, sich selbst ein Bild zu machen. Das war er Kummes schuldig. Kummes war ein Typ, den man nachts um drei anrufen konnte, wenn man eine Panne mit dem Auto hatte, und er würde nur fragen, wo man steht, um sich dann direkt in Bewegung zu setzen.

Kapitel 4

Die Bundesstraße 265 zwischen Gemünd und Schleiden war gesperrt. Seit Wochen bemühten sich hier Bauarbeiter, die Winterschäden zu beheben, die jedes Jahr Löcher in die Straße fraßen wie Motten in alte Socken. Kein Wunder, bei den Mengen Salz, die auf diesen Straßen gestreut wurden, meist mit dem Effekt, aus einer angenehmen festgefahrenen Schneedecke ein unkalkulierbares Schneematschchaos zu fabrizieren.

Alle paar Jahre wurden die Straßen dann »saniert«, die gesamte Fahrbahndecke erneuert. Diesmal sollte, so war im Kölner Tageblatt zu lesen gewesen, sogar der Unterbau neu gemacht werden. Es würde ewig dauern, bis die Straße wieder befahrbar wäre.

Frajo Wergen hatte schon ein paar Mal die grinsenden Gesichter der uniformierten Kollegen gesehen, wenn sie siegesgewiss die rote Kelle schwenkten, und er sich ausrechnen konnte, dass es ihm wieder gelungen war, in eine Falle der Kollegen vom Verkehrsdezernat zu tappen, indem er eine der illegalen Umleitungen genutzt hatte.

Seit er bei der Kriminalpolizei in Schleiden beschäftigt war, war er permanent den Hänseleien der Kollegen von der Schutzpolizei ausgesetzt, wenn sie einmal wieder so taten, als würden sie sein privates Fahrzeug nicht erkennen.

Diesmal beschloss er, den legalen Weg zu nehmen, dieser führte ihn außerdem am Chalet, einem kleinen Café in Herhahn vorbei, wo Frajo schnell ein Croissant und einen Kaffee genießen könnte.

Diesen Pjotr hatte Frajo, sofern er sich erinnerte, nur einmal auf einem Grillfest im Garten seines Nachbarn registriert. Ein drahtiger Typ, der Frajo ein wenig an Asterix, den gallischen Krieger aus der gleichnamigen Comic-Serie erinnerte. Pjotr hatte auf dem Grillfest einen Handstand auf zwei Bierflaschen gemacht, was ihn nicht daran hinderte, dabei eine seiner selbst gedrehten Zigaretten zu rauchen.

Ein Frajo bisher unbekannter, freundlicher neuer Kollege der Schutzpolizei saß hinter dem Tresen des Empfangsraums, als er die Wache betrat. Frajo bat ihn, Heinrich Bieskolla zu informieren, dass er mit Pjotr sprechen werde.

»Ach, dä Pitter … das ist ja vielleicht einer … sowas habe ich auch noch nicht erlebt.«

»Wieso?«

»Na ja, dass einer einsitzt und jeden, der Kontakt zu ihm hat, mit einem Witz begrüßt, obwohl seine Situation alles andere als lustig ist – das ist nicht der Normalfall. Warten Sie, ich rufe Herrn Bieskolla kurz an.«

Das war in der Tat, was Frajo seinerzeit auf dem Grillfest aufgefallen war: Pjotr bestritt die Hälfte seiner Unterhaltungen mit Witzen. Stundenlang hatte er die halbe Party unterhalten, und einen Gag nach dem anderen gerissen.

Frajo stieg die Treppe hinauf und klopfte an Bieskollas Tür.

»Eja? Komm rein, wenn du keinen Ärger machst!«

Frajo betrat das Büro von Heinrich Bieskolla. Hinter einem Schreibtisch, der das Büro füllte, saß Bieskolla, zwischen Aktenbergen und Bildschirm, und kämpfte mit der Tastatur seines PCs.

Frajo erinnerte sich, dass Bieskolla ihn als frisch gebackener Streifenpolizist in Gemünd mit einem frisierten Mofa erwischt hatte. Damals hatte er Wergen gezwungen, das Vorderrad in seinen Streifenwagen zu legen und hatte ihn den Rest des Mofas nach Hause tragen lassen. Damit hatte er erreicht, was er wollte: Frajo Wergen war nie mehr mit einem frisierten Mofa gefahren.

»He, träumst du?«, riss Heinrich ihn aus seinen Gedanken. »Tschuldigung, ich sinnierte gerade darüber, wie lange wir uns schon kennen. Aber eigentlich komme ich, um dir Ärger abzunehmen, nicht, um welchen zu machen. Ich würde gern mal kurz mit Pjotr Mazurek sprechen.«

»Ach, unser Witzbold. Seltsamer Kauz, wird verhaftet und erzählt auf dem Weg zur Wache Gefängniswitze. Die Beamten, die ihn holten, sind fast in den Graben gefahren. Hat aber den Ernst seiner Lage auch scheinbar noch gar nicht erkannt. Kaffee?«

»Ja, gern.«

Frajo berichtete Bieskolla von seinem Gespräch mit Kummes und dessen Bitte, sich einzuschalten.

»Tja, Jung, wie du selbst schon sagst, ein seltsamer Typ, dieser Pjotr. Er beteuert, es hätte zwar einen Streit gegeben, aber danach sei er allein nach Hause gefahren und hätte sich weggesprengt. Zwei Flaschen Wodka. Mein Gott, der verträgt was.

Ich habe bisher nur wenige Fakten über die Sache. Auf jeden Fall behauptet dieser Pjotr, als er aus dem Brauhaus ging, hätte er dieses Mädchen, diese …«, er suchte auf seinem Schreibtisch, »Sandra Wolter, genau. Da hätte er die zum letzten Mal gesehen.«

»Und, wie schätzt du das ein?«

»Na ja, sagen wir mal so: Besonders glücklich ist seine Lage nicht. Er streitet heftigst vor Zeugen mit seiner Freundin, eine Eifersuchtsszene, so wie es aussieht. Dabei brüllt er sie an, er würde sie umbringen. Kurze Zeit später wird das Mädel ermordet, und er hat kein Alibi außer zwei leeren Flaschen Wodka. Erinnern kann er sich auch an nichts mehr – könnte ich auch nicht nach so viel Schnaps. Was soll ich davon halten? – Herein!«

Der Polizist vom Empfang trat ein.

»Herr Oberkommissar, Ihr Kaffee«.

Suchend sah der Kollege sich um. In Bieskollas Büro war kein freier Platz, der ohne akute Absturzgefahr für zwei Kaffeetassen gereicht hätte.

»Stellen Sie sie einfach da hin.«

Bieskolla machte eine Geste auf das Chaos auf seinem Schreibtisch. Er liebte solche Spielchen. Aus den Augenwinkeln beobachtete Frajo die steigende Not des Polizisten. Er beschloss, Heinrich den Spaß zu verderben und nahm dem Beamten die Kaffeebecher aus der Hand. Einen reichte er Heinrich. Als der Uniformierte das Büro verlassen hatte, knurrte Heinrich:

»Spielverderber.«

Ungeniert setzte er seine Tasse auf dem Laserdrucker ab, dem einzigen ebenen Untergrund. Die Geste charakterisierte genau Heinrichs Verhältnis zu moderner Technik: Er verachtete sie zutiefst.

»Und warum willst du jetzt mit ihm sprechen? Glaubst du, du kriegst was aus dem raus?«

»Ich möchte einfach ein Gefühl dafür kriegen, was da passiert ist.«

Heinrich und Kummes kannten sich von einem Zusammentreffen in Wergens Haus, als dieser mit Kummes ein paar Bier getrunken hatte, und Heinrich mit seinem privaten Computer vorbeigekommen war, den Frajo reparieren sollte.

Bei der Erwähnung Heinrichs Berufs hatte Kummes demonstrativ den Autoschlüssel auf den Tisch gelegt, was zu einem Heiterkeitsausbruch auf Heinrichs Seite geführt hatte.

Nachdem sie noch ein paar Informationen ausgetauscht hatten, begab sich Frajo in ein Besprechungszimmer direkt neben den Zellen im Untergeschoss. Er setzte sich an den Tisch, der mitten in dem ansonsten schmucklosen Raum stand, und überlegte, wie er das Gespräch beginnen sollte. Er beschloss, passiv zu bleiben und abzuwarten, wie Pjotr auf ihn reagieren würde.

Kapitel 5

Pjotr Mazurek saß in seiner Zelle und brütete dumpf vor sich hin. Er verstand diese Welt nicht mehr. Er war in kleinen Verhältnissen aufgewachsen und hatte bei der Spargelernte im Vorgebirge gearbeitet. Das hatte ihm so viel eingebracht, dass er seinen Eltern davon einen Teil schicken konnte. Irgendwann hatte er neugierig bei einer Baustelle herumgestanden, und war mit einem der Arbeiter ins Gespräch gekommen. Dieser hatte ihn dem Boss, Theo Breuer, vorgestellt, und kurze Zeit später fing Pjotr als Fahrer bei der Firma Breuer an. Der Lohn war gut, und vor allem konnte er dort nicht nur in der Saison arbeiten. Als er dann noch Sandra Wolter, die Assistentin des Chefs, kennenlernte, war sein Glück perfekt.

Er hatte sie auf einer Betriebsfeier vor einem zudringlichen Kollegen geschützt, war mit ihr einmal ausgegangen und schließlich waren Sandra und er ein Paar geworden. Und jetzt war Sandra tot. Ermordet. Er wusste nicht, was er tun sollte. Sein ganzes Glück hatte sich in Nichts aufgelöst. Alle Pläne, die er mit Sandra zusammen gehabt hatte, waren kaputt. Und die Polizei hielt ihn für den Mörder seiner Freundin!

Pjotr hasste sich selbst dafür, dass er an dem Abend so viel getrunken hatte und sich an nichts mehr erinnern konnte. Er fühlte innerlich, dass er Sandra nichts getan haben konnte, doch das Gefühl allein würde die Polizisten nicht überzeugen. In seiner Not hatte Pjotr sich an Kummes gewendet, und gehofft, dass wenigstens der ihm helfen könnte. Doch bisher war von Kummes keine Hilfe gekommen. Als der Beamte an die Tür kam, weinte Pjotr Mazurek hemmungslos.

***

Der Beamte reichte Pjotr ein Taschentuch, in das er ausgiebig schnäuzte. Dann schaute er den Polizisten fragend an, und dieser kommandierte: »Kommense mal mit, ein Kollege hat noch Fragen.«

Schon wenige Augenblicke später betrat Pjotr, eskortiert von dem Beamten in Uniform, den Raum. Er wirkte deutlich älter als Wergen ihn in Erinnerung hatte. Seine verschmitzten Augen verrieten bei genauem Hinsehen die Verzweiflung, die auch seine tief in die Haut eingegrabenen Lachfalten nicht überdecken konnten. Pjotr sah aus, als habe er geweint. Seine Oberarme erinnerten Frajo an Popeye. Ausgeprägte Muskeln verrieten, dass Pjotr harte körperliche Arbeit gewohnt war, sie schienen in der Proportion nicht zum Rest des Körpers passen zu wollen. Seine Hände kündeten von jahrelanger Arbeit auf dem Bau. Raue, rissige Haut, in die Zement und andere Stoffe ihre Spuren eingegraben hatten. Pjotr erkannte Frajo auf Anhieb wieder.

»Ah, der Freund von Kummes, Kummes hat mir erzählt, du kümmerst dich und alles wird gut!«

Frajo Wergen hätte Kummes Weber am liebsten die Gurgel auf links gedreht, denn so wie die Sache bisher stand, würde er Pjotr nicht so einfach aus seiner misslichen Lage heraushelfen können. Außerdem war er hier nicht als Freund von Kummes, sondern als Polizist.

Die beiden Männer setzten sich an den Tisch in der Mitte des Raumes. Der Beamte, der Pjotr hereingebracht hatte, stellte sich neben die Tür und verschmolz förmlich mit der Wand.

»Ich bin Frajo, Polizeihauptkommissar Frajo Wergen. Kummes scheint ja schon von mir erzählt zu haben. Du kannst gern Frajo sagen«, eröffnete Frajo hilflos.

»Natürlich … Herr Kommissar Frajo, ich bin der Pjotr. Würde gern einen Wodka darauf trinken, aber guten polnischen Wodka haben die bestimmt hier nicht.«

Frajo ahnte, was Heinrich Bieskolla mit ungebrochener Lustigkeit gemeint hatte.

»Sag mal, Pjotr, ich weiß bisher nur von Kummes, was ungefähr los ist. Außerdem war ich bei dem Einsatz dabei, als wir deine Freundin – als wir Sandra Wolter gefunden haben. Es wird das Beste sein, wenn du mir einfach mal der Reihe nach erzählst, wie es dazu gekommen ist, dass du jetzt hier sitzt.«

Pjotr stöhnte vernehmlich.

»Sag mir, Kommissar, hat meine Sandra – ist es schnell gegangen?«

»Dazu darf ich nichts sagen. Bitte erzähl‘ mir jetzt erst mal deine Version.«

»Habe ich den anderen Polizisten auch schon gesagt. Erinnere ich mich nicht an alles. Aber bitte, Kommissär Frajo, fragen gern nochmal, habe ich nichts zu verstecken.«

»Ok, Pjotr, fangen wir doch da an, wie du Sandra kennen gelernt hast.«

Augenblicklich vollzog sich eine Wandlung in seinem Gesicht. Wirkte er gerade noch wie ein Pennäler, der auf das Prüfungsergebnis der Fahrprüfung wartet, verfinsterte sich seine Miene kurz. Trauer sprach aus seinen Augen, als er an den Tod von Sandra dachte, dann hellte sich seine Miene wieder auf, als er begann:

»Sandra, ja, tolle Frau. Habe ich kennen gelernt, als ich bei Breuer gearbeitet habe. War Assistentin von Breuer. Immer ganz schick, riecht immer gut – Traum von Frau! Ich weiß nicht, ob du verstehst, aber wenn einer wie ich so tolle Frau kennen lernt, das ist – wie sagt ihr – wie Sechser in Lotto. Was kann ich bieten? Habe ich nicht viel Geld, spare, arbeite viel und fahre ganz kleine Auto.«

Frajo verstand. Es schien für Sandra zu sprechen, dass sie nicht auf das Äußere geachtet hatte, denn Pjotr war kein Adonis. Dennoch: Frajo konnte sich gut vorstellen, dass der Pole mit seiner Art, mit Schalk im Nacken und lockeren Sprüchen Punkte gesammelt hat, wenn eine Frau erst einmal bereit war, ein paar Worte mit ihm zu wechseln.

»Ja, ich verstehe. Aber ihr seid doch zusammengekommen?«

»Ja, hat Breuer große Betriebsfeier gemacht. War schon spät. Ich nix getrunken, weil nach Betriebsfeier habe ich Breuer nach Hause gefahren. Habe ich immer noch paar Euro extra für bekommen, weil Chef hatte kein Führerschein mehr.«

»Und dann?«

»Einer von Büro, so Lackaffe, mit viel Gel in Haar, hatte paar Bier zu viel und hat angefangen, Sandra begrabschen. Sie hat gesagt, dass sie nicht will das, er weitergemacht. Hat gesagt, sie soll sich nicht anstellen, in Club wäre doch auch ganz prima gewesen. Hat Sandra ihm Ohrfeige gegeben. Ist er noch heftiger geworden, hat gesagt, dass Sandra das macht um ihn heiß zu machen. Habe ich gesagt, er soll in Ruhe lassen. Meint er, er ist Abteilungsleiter und ich soll sehen, dass ich wegkomme, wäre nur dummer Fahrer. Hat wieder angefangen, Sandra an Brust gefasst. Bin ich hin und habe ihm aufs Maul gegeben. Sandra ist aufgesprungen und hat Chef geholt. Na, und dann hat Chef den rausgeschmissen und hat mir gesagt, ich soll Sandra heimfahren. Er hat Taxi genommen.«

»Was hat er gemeint mit ›in Club war auch ganz prima‹?«

»Weiß nicht, vielleicht Lenz, Musikclub in Gemünd. Hat Sandra gesagt, geht mich nix an. Ich Sandra dann heimgefahren. Sie Kaffee gemacht, und dann – na ja«, er hob die Hände und ließ sie wieder auf den Tisch fallen, hilflos, mit einer unbestimmten Geste in den Raum, »wir zusammen.«

»Verstehe, und weiter?«

Pjotr verbarg sein Gesicht in den Händen und schluchzte tief aus dem Innersten. Die Schluchzer erschütterten seinen Körper wie ein Erdbeben. Frajo fühlte mit ihm. Dieser Mann hatte auf einen Schlag alles verloren, was ihm etwas bedeutet hatte. Und jetzt beschuldigte man ihn, seine Freundin ermordet zu haben.

»Habe – ich – Sandra – geliebt«, kam es stoßweise aus dem Berg Hände hervor, »ich – sie – nicht – getötet!«

Frajo Wergen wartete, bis Pjotr sich wieder beruhigt hatte, und machte einen weiteren vorsichtigen Versuch.

»Also, ihr wart dann zusammen. Wie ist es denn zu der Szene im Brauhaus gekommen?«

Pjotr stierte vor sich hin, er schien die Ereignisse zu sortieren.

»Ich fuhr immer LKW von Breuer. Schutt, Recycling und so was. Meist auf Grube in Strempt. Irgendwann ist an Grube einer gekommen, hat gefragt, was ich verdiene. War auch LKW-Fahrer, einer von SPINEX. Wir uns unterhalten, und er hat Kaffee ausgegeben, hat gesagt, verdient er viel besser als ich. Weniger Arbeit. Guter Chef. Soll ich doch mal bei ihm vorbeikommen. Ich habe gedacht, gucken nicht schaden. Wollt ja bisschen mehr Geld verdienen, und bei Breuer habe ich nicht getraut nach mehr fragen.

Bin ich also hin und Chef von andere Fahrer hat direkt gefragt, was will ich verdienen. Na, was soll ich sagen: Wollte ich Sandra beeindrucken. Wollte gemeinsame Wohnung kaufen. Auto. Fernseher. Brauchte ich Geld. Habe ich gesagt, ich will drei Euro mehr die Stunde. Hat Krawczyk mir gesagt, wenn ich wechsle zu ihm, kriege ich vier Euro mehr. Braucht guten Fahrer, hat er gesagt, der Erfahrung hat.«

»Ich nehme an, Breuer war nicht begeistert?«

»Habe mich nicht getraut erst, Breuer Bescheid sagen. He, vier Euro mehr, verstehst du? Dann bin ich doch hin. Breuer hat gesagt, ich Verräter, soll machen, dass wegkomme. Bin ich dann zu SPINEX angefangen. Paar Wochen später hat Sandra bei Breuer gekündigt. Wollte nicht Assistentin sein bei Konkurrenz von Firma, wo ihr Freund für fährt.«

Frajo nickte. Die Reaktion von Breuer war verständlich. Breuer war ein waschechter Eifler, von altem Schrot und Korn. Man konnte von ihm das letzte Hemd haben, aber er konnte zur rasenden Wildsau werden, wenn man ihm in die Quere kam. Der Wutausbruch passte zu ihm. Aber warum hatte Sandra gekündigt? Wirklich nur, weil ihr Freund für die Konkurrenz fuhr? Das wäre ein Grund gewesen, aber reichte der, um einen guten Job hinzuwerfen?

»Also, Ich habe verstanden, dass Breuer auf euch sauer war. Und, was habt ihr gemacht?«

»Habe ich mit Karol gesprochen, mit neue Chef. Habe gesagt, dass Sandra wegen mir gekündigt, weil ich zu ihm gegangen. Chef hat gesagt, ist kein Problem, Sandra kann bei ihm anfangen. Zahlt er ihr mindestens gleich viel wie Breuer. Wenig später hat Sandra angefangen bei SPINEX, und Scheiße ging los.«

»Welche Scheiße?«

»Karol hat Sandra in sein Büro eingestellt. Ist essen gegangen mit Sandra. Immer öfter hat Sandra kein Zeit gehabt, musste länger arbeiten in Firma. Habe ich gesagt, gut, ist Probezeit, Sandra muss zeigen, was kann. Aber ist immer mehr geworden. Und ich hatte gerade gekauft kleine Wohnung in Wolfgarten! Aber was will Frau wie Sandra mit kleine LKW-Fahrer!«

»Hat sie denn was mit Karol gehabt?«

»Was weiß ich, is auch egal, jetzt Sandra is tot. Aber wieso soll ich getötet haben? Habe ich geliebt Sandra! Hör zu, Frajo, du musst mir helfen! Kummes hat gesagt, du kennst jeden hier, du kannst helfen! Bitte!«

Frajo Wergen hob abwehrend die Hände. Die Verzweiflung in Pjotrs Stimme erschien echt. Pjotr hatte sich mit Breuer verkracht, und Breuer hatte neben einem guten LKW-Fahrer seine Assistentin eingebüßt.

So, wie Frajo die Sache beurteilte, war die Situation für Pjotr alles andere als angenehm gewesen. Er war abhängig von Karol, und der flirtete mit Pjotrs Freundin.

»Pjotr, kommen wir doch noch mal zu dem Abend im Brauhaus. Was ist denn da passiert?«

»Ach, Scheiße! Sandra hatte gesagt, hat Treffen mit Geschäftsleute und Karol. Gehen essen um neue – wie sagt man – Aufgabe? Vertrag? Vergabe? Na, um neuen Auftrag zu feiern. He, und das an mein Geburtstag! Habe ich gesagt, bitte, bleib hier, lass uns feiern. Ich wollte sie Überraschung machen, wollte ihr von Wohnung in Wolfgarten erzählen. Aber sie nur gelacht, hat gesagt, wir können immer noch feiern, Job ist wichtiger. Hat sich geschminkt und ist zu Essen gegangen. Da habe ich Flasche Wodka aufgemacht und Wut weggespült.«

»Hm. Und dann?«