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Rick Fox unterläuft ein dummer Verkehrsunfall. Danach ist nichts mehr wie vorher, weil er mit einem Polizeiwagen zusammenstößt, der offenbar auch bei Grün in die Kreuzung fuhr. Als sich weitere mysteriöse Geschehnisse ereignen, kann Rick eine zugehörige Geo-Linie berechnen, aber nicht erklären. Sein Bruder Chris, ein weltbekannter Physikprofessor, soll ihm dabei helfen, widerwillig, denn er kennt Ricks exzessiven Lebensstil mit Gin Tonic und Joints. Vermutlich ist ein okkult anmutender Mord auch eine Folge dieser Anomalie, aber dafür gibt es wenig Anhaltspunkte. Die Recherchen führen die drei Brüder in die bizarre Welt der Kosmologie. Unbemerkt gerät ihr Leben in Gefahr.
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Seitenzahl: 426
Veröffentlichungsjahr: 2024
Impressum
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie.
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© 2024 novum publishing
ISBN Printausgabe: 978-3-99146-863-9
ISBN e-book: 978-3-99146-864-6
Lektorat: Mag. Angelika Mählich
Umschlagfotos: Olena Agapova, F11photo | Dreamstime.com
Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh
Innenabbildungen: Frank Oberon
www.novumverlag.com
Einleitung
Glauben Sie, dass es mehr zwischen Himmel und Erde gibt, als uns phantasielose Wissenschaftler glauben machen wollen?
Ja: Lesen Sie dieses Buch … Sie sind nicht alleine
Nein: Lesen Sie dieses Buch … Und fragen sich noch mal
Im Übrigen kann es überall passieren. München mit dem Alpenvorland ist da keine Ausnahme. In Bayern macht es nur mehr Spaß.
Die drei Brüder
Prof. Dr. Chris Foxist ein weltbekannter Atomphysiker. Wie sein Zwillingsbruder Rick ist er ledig, auch weil ihm seine Forschungsreisen in die subatomare Welt der Quanten keine Zeit für lokale Romanzen lassen. Er hat zwar ein Auge auf Rebecca geworfen, eine attraktive Kriminalbeamtin der Münchner SoKo. Aber die steht nicht auf Männer.
Rick Foxlebt im Münchner Stadtteil Lehel. Im Gegensatz zu seinem Zwillingsbruder pflegt er einen lockeren Lebensstil, liebt seine Nachbarin Samantha und Gin Tonic, und raucht Joints. Beruflich ist er selbständig und programmiert numerische Algorithmen.
Rudi Foxist Bergführer und besitzt ein Sportgeschäft für Alpinsport in Oberaudorf. Das Leben seiner zwei Brüder ist ihm fremd, weil er zum einen nichts von Quantenmechanik verstehen und zum anderen nichts mit dem lasziven Leben in der Münchner Szene zu tun haben will.
Weiters:
Samantha Hilbertist Ricks Nachbarin. Beide schätzen ihre Unabhängigkeit, treffen sich aber mehrmals pro Woche, wenn ihr Hormonspiegel überschwappt. Sie liebt und hasst Ricks lockeren Lebensstil. Als Journalistin kennt sie die Münchner Szene. Ihr Büro ist ein Tisch im Café Magnifique.
Das Ermittlerteam
Hubert Piotrowskileitet als Hauptkommissar die SoKo München. Wie sein Vorbild Maigret hat er einen messerscharfen Verstand. Einzige Schwachpunkte sind sein schlechtes Namensgedächtnis und seine Nerven, die mit ihm durchgehen, wenn der Dezernatsleiter am Rad dreht oder seine Mitarbeiterin Rebecca hin und wieder intergalaktische Ideen hat.
Rebecca Jonesist noch nicht so lange im SoKo-Team. Aber sie hat sich schnell einen Namen gemacht, weil ihre unkonventionelle Denkweise oft entscheidend ist, den Rätseln von Verbrechen auf die Spur zu kommen. Aber auch ihr Äußeres fällt auf: schlohweiße kurze Haare, schwarz geschminkt und gekleidet. Und sie macht bewusst keinen Hehl daraus, dass sie homosexuell ist.
Jens Thorwaldist Piotrowskis Stellvertreter. Er ist ein loyaler Kollege und die gute Seele im Ermittlerteam. Ohne ihn würden die Konflikte seines Chefs mit Rebecca öfter eskalieren.
Weiters:
Dr. Julius Pauli, der Dezernatsleiter. Viel Hilfreiches hat er zu aktuellen Fällen nicht beizutragen. Gut aber, dass er mit dem Ministerpräsidenten per Du ist, besonders dann, wenn der lahme Fortschritt seiner SoKo von der Presse durch den Kakao gezogen wird.
Vorwort
Farben sind allgegenwärtig. Wir Menschen sehen sie von Rot über Grün, Blau bis Violett. Die meisten von uns machen sich keine Gedanken, weil sie einfach da sind. Jeden Tag, nur nicht nachts. In der Nacht sind alle grau, die Katzen, … aber auch die Menschen. Dann flößen sie uns Angst ein. Können uns die Farben noch andere Streiche spielen?
Drei Farben beeinflussen unser Empfinden in besonderem Maße: Das Blut ist rot, die Natur ist grün, der Himmel ist blau. Im Laufe seiner Evolution hat der Mensch ein tief im vegetativen Nervensystem verankertes Bewusstsein für diese Farben entwickelt: Rot für Gefahr, Grün für Leben, Blau für Freude. Die beiden ersten Farben werden in jedem elektrischen Gerät eingesetzt, ohne deren Bedeutung erklären zu müssen, so elementar ist dieses Empfinden:
Rot-Störung, Gefahr
Grün-alles OK, keine Gefahr
EinpraktischesBeispiel: Verkehrsampel.
Bei Rot treten wir auf die Bremse und bei Grün aufs Gaspedal, freie Fahrt, keine Gefahr. Stimmt das immer?
EintheoretischesBeispiel:
Würde die Verkehrsampel Rot und Grün gleichzeitig aussenden, dann sähe man ab einem bestimmten Abstand weißes Licht. Interessant, nicht?
Montag - 16.08.2004
08h 30
Nichts deutet darauf hin, dass dieser Montag ein verhängnisvoller Tag werden wird. Es ist ein schöner Morgen in München, bereits hochsommerlich warm, wolkenlos. Das größte Risiko ist vermutlich von einem Gewitter mit Blitz und Donner überrascht zu werden.
Hoch über den Dächern leuchtet die Sonne mit goldgelben Strahlen in sein Loft, das er vor fünf Jahren gekauft hat, aus Freude am Jetzt und nicht wie andere als Vorsorge für morgen. Nichtsdestotrotz ist eine 200-Quadratmeter-Wohnung im Stadtteil Lehel eine durchaus empfehlenswerte Geldanlage. Rick nennt es sein Wigwam. Dort findet das Leben in einem Raum statt: Schlafen, Kochen, Essen und Trinken, Fernsehen, Büro … alles außer Duschen und Toilette. Schlaftrunken torkelt er ins Bad, duscht erstmal ausgiebig. So früh steht er normalerweise nicht auf.
Vor drei Tagen wurden die Olympischen Spiele in Athen eröffnet. Morgens kommen zusammenfassende Berichte vom Vortag, heute Schwimmen, 400 Meter Freistil der Damen. Durchaus sehenswert, meint er. Dann verlieren sich seine Gedanken über den Dächern von München, während er genüsslich einen frisch gebrühten Cappuccino schlürft. Eigentlich wie jeden Tag, nur nicht so früh.
Absolut nichts deutet auf eine Bedrohung hin, die sich unaufhaltsam nähert.
Rick ist Anfang dreißig, sportlich und gut in Form. Bei seinem Lebenswandel eigentlich ein Wunder. Er und sein Zwillingsbruder wurden in einer Johannisnacht geboren, Chris, am 21. Juni um 23h 50 und Rick am 22. Juni um 00h 15. Ein Indiz für die Richtigkeit dieser Daten ist die von ihrer Mutter Christiane Fox geäußerte Unmutsbekundung, dass ihr damals die beiden Buben die Johannisnacht vermasselt hätten.
Vermutlich wurden die Zwillinge mehrfach verwechselt. Wie oft, ist mathematisch irrelevant, weil es nur zwei Zustände gibt, wie die rechte und linke Seite bei Schiffen: Steuerbord grün und Backbord rot. Die Gene konnte man ohnehin nicht verwechseln, es waren die gleichen. Es bleiben also nur die Namen, Chris und Rick oder Rick und Chris. Vermutlich wurde so oft hin- und hergewechselt, bis er bei Grün, also auf der Steuerbordseite saß und Rick hieß.
Es hat ihn nie gestört und nie interessiert. Er würde immer heute hier stehen und feststellen, dass er sich allmählich sputen muss, sonst kommt er zu spät zum Notartermin, den er zusammen mit seinen Brüdern in der Innenstadt hat. Es geht um den Nachlass ihrer Eltern, die vor einem halben Jahr bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen sind. Die Notarin muss durch persönliche Inaugenscheinnahme prüfen, ob die drei Brüder auch diejenigen sind, die sie als hochwohlgeborenes Organ der Rechtspflege als dieeinzig Hinterbliebenenundalleinig Erbberechtigtenbezeichnet und eingeladen hat. Die Brüder sehen sich nicht so oft, weil sie unterschiedliche Interessen haben und an unterschiedlichen Orten leben. Für familiäre Zusammenkünfte muss schon jemand heiraten oder sterben. Die Letzteren werden naturgemäß immer weniger und die Ersteren sind nicht so viele und die wenigen wollen nicht, allem guten Zureden zum Trotz.
Deshalb ist heute ein Ereignis der letzteren Art und diesem sollte tunlichst mit Sorgfalt und Empathie begegnet werden. Rick ist dazu bereit. Hierzu hat er am Vorabend allen Versuchungen, die gedreht in Schubladen lagen und gekühlt im Kühlschrank standen, widerstanden, um heute einen ordentlichen, soliden, gut rasierten und gekämmten Mitbürger darzustellen. Um den guten Eindruck abzurunden, hat er sich vorgenommen, auch eine Aktentasche zu tragen, obwohl er noch nicht weiß, was er hineinpacken soll. Anziehen will er einen hellgrauen Anzug, ein T-Shirt in Altrosa mit rundem Ausschnitt, einen braunen Gürtel und, farblich abgestimmt, spanische Espadrilles, aber keine Strümpfe und keine Unterhose. Es ist Sommer. Da findet er Strümpfe und Unterhosen uncool und man darf seine Grundsätze nicht vollkommen über Bord werfen, auch dann nicht, wenn der Familienclan ante portas steht.
Rick ist selbstständig und verdient sein Geld mit der Programmierung von Algorithmen. Er hat seine Leidenschaft für die numerische Mathematik spät erkannt, als er zufällig bemerkte, dass er die natürliche Fähigkeit besitzt, Muster zu erkennen. Und zwar nicht Muster auf Tapeten oder auf Kleidungsstoffen, sondern in Datenreihen. Im Laufe der Zeit hat er ein Gefühl dafür entwickelt, welche mathematischen Operationen er auf Datenreihen anwenden muss, um ihnen ihre verräterischen, einzigartigen Muster zu entlocken. Heute verfügt er über ein großes Reservoir an solchen Algorithmen, die er als freischaffender Programmierer namhaften Firmen aus verschiedenen Branchen anbietet.
Die Leckerbissen in seiner C-Code-Sammlung sind Prognosemodelle für Ereignisse, die, wie der Name verrät, in der Zukunft liegen. Auf Basis von Werten der Vergangenheit kann er, unter Hinzufügen von genauen Anfangs- und Randbedingungen quasiin die Zukunft sehen. So ähnlich wie die Wetterfrösche. Allerdings mit dem nicht unerheblichen Unterschied, dass sein Prognosealgorithmus die Zukunft nicht einfach extrapolierend berechnet, sondern so lange iterativ rekursiv verändert, bis die Daten der Vergangenheit und die Daten der Zukunft ein ihr eigenes spezielles Muster ausbilden, das Rick dasEigenmusterder Datenreihe nennt. Er hat festgestellt, dass bei Vorliegen eines Eigenmusters die Vorhersagen ein enormes Vertrauensniveau haben.
Sein Know-how hat ihm einen komfortablen Lebensstil beschert, aber auch im Privatleben gute Dienste geleistet. Rick hat beispielsweise ein Prognosemodell programmiert, um die Hormonwallungen seiner liebenswerten Nachbarin Samantha zu bestimmen, die er kurz Sam nennt. Die Konditionierung der Parameter basiert auf Basisdaten wie ihre Blutgruppe, BMI, Alter, Größe, und ein paar nicht ernsthafte Spielereien wie Mondphase, Luftdruck und Erdmagnetfeld. Diese Rohdaten rechnet sein Algorithmus in eine Ereigniswahrscheinlichkeit um. Bei einem Wert von 75 % meldet sein Programm DefCon2.
Die Bezeichnung DefCon hat Rick vom US-Pentagon übernommen, die Abkürzung für Defense Condition. Die US-Militärs verwenden fünf DefCon-Stufen, als Countdown runtergezählt von 5 bis 1. Bei DefCon1 fliegen die Fetzen. Ganz passend, dachte sich Rick. In seinem Programmsam_alert.exeentspricht dies dem Wert von 90 %. Sein Algorithmus meldet heute DefCon1, also Alarmstufe ROT. Die Message DefCon1 öffnet ein Pop-up-Fenster auf seinem Smartphone. Also Vorsicht. Nicht den geräuschvollen Lift nehmen. Barfuß auf Fußspitzen schleicht er vier Stockwerke in die Tiefgarage. Sicher ist sicher und seine Zeit ist heute nicht so bemessen, dass er sich größere Verzögerungen leisten könnte. Termine beim Notar sind wichtig. Seit seiner Kindheit weiß er von seiner Mutter, dass es nichts Wichtigeres gibt. Also fünfzehn Minuten vor der vereinbarten Zeit da sein, um mit der Vorzimmerdame alle Fragen durchzugehen, die er bereits schriftlich per E-Mail beantwortet hat.
Als Ortskundiger in München hat Rick von seinen Brüdern den Auftrag erhalten, den Notar für die Erbauseinandersetzung auszusuchen. Seine Wahl fiel auf das Notariat Dr. jur. Rautgundis von Adelboden am Marienplatz. Die Notarin hat vor fünf Jahren den Kaufvertrag seines Wigwams beglaubigt. Sie hat sich damals kräftig ins Zeug gelegt, um den wirtschaftlich unbekümmerten Rick vor der nimmersatten Geldgier der Immobilienhaie zu schützen. Er hat es sehr genossen, dass eine honorige Dame im mittleren Alter mit Doktortitel ihre schützende Hand über ihn legte. Aus Dankbarkeit hat Rick sie zurWigwam-Inauguration-Partyeingeladen. Sie kam etwas später, war sehr reserviert und stand ziemlich daneben, auch bekleidungstechnisch. Man merkte, dass sie aus reiner Höflichkeit und nicht aus Partylust gekommen war. Der hämmernde Technosound war auch nicht ihre bevorzugte Musikrichtung, ebenso wenig die Lautstärke. Man musste die Party weithin hören können. Hoffentlich ruft kein genervter Nachbar das Ordnungsamt an. Der Notarin kamen viele solcher Gedanken in den Kopf. Hoffentlich geht das alles gut und sie kommt ungeschoren aus dieser Nummer raus.
Nach einer Stunde quälender, sinnbefreiter Lall-Gespräche mit diversen gutgelaunten Partygästen hat sie sich für eine fünfköpfige Männersitzgruppe interessiert, die etwas abseits am Boden saß und ein Chillum reihum gehen ließ. Ein Chillum kannte sie nicht, und den süßlichen Duft auch nicht. Das Schließen von Wissenslücken ist eine der markantesten Eigenschaften des Homo sapiens. So kam es, dass die Notarin zu fortgeschrittener Stunde einige ihrer unvorteilhaften Kleidungsstücke abgelegt und mit Inbrunst den Regentanz der Komantschen dargeboten hat, angefeuert von urzeitlich-rhythmischen Lauten der Sitzgruppe.
Gegen vier Uhr morgens hat Rick die launisch bestens aufgelegte Notarin nach Hause gefahren, ohne großes Aufsehen. Da er selbst auch nicht mehr fahren konnte, hat er seinen befreundeten Taxifahrer Muja angerufen. Muja und Rick setzten die Frau Doktor auf den Rücksitz, wo sie zu Phil CollinsYou can’t hurry lovenicht ganz tonsicher mitträllerte.
„Wo soll’s denn heute noch hingehen mit dem heißen Ofen?“
„Pst!“, gebot Rick mit dem Finger vor dem Mund.
„Ich habe in ihrer Handtasche einen Ausweis mit Adresse gefunden: Grünwald. Einen Haustürschlüssel habe ich auch gefunden. Fahr jetzt los und quatsch nicht so viel und vor allem vergiss die Sache hinterher wieder. Sie ist eine hochgestellte Persönlichkeit des öffentlichen Lebens.“
„Ja, ist ja gut, Rick, keine Sorge.“
Am Ziel angekommen, einem schnuckeligen Bungalow, war die Notarin auf dem Rücksitz komaähnlich eingeschlafen. Rick und Muja mussten sie zu zweit aus dem Taxi ziehen und zur Haustür tragen. Es war anstrengender, als beide sich das zunächst vorgestellt hatten.
„Im Kino sieht das immer so einfach aus. Einfach hoch, um die Schulter gelegt und weg damit.“
„Aber hier ist nicht Hollywood, Muja, sondern Grünwald … und jetzt geh mal zu.“
Sie trugen die Notarin mehr schleifend zur Haustür, die etwa fünfzig Meter vom Gartentor der Doppelhaushälfte entfernt war, leise, um nicht die Nachbarschaft zu wecken. Und die hat es in sich: Dr. Julius Pauli, der Dezernatsleiter der Soko München. Als sie endlich auf dem Wohnzimmersofa lag, nahm Rick eine Decke vom TV-Stuhl, zusätzlich ein Kopfkissen. Irgendwie entfalteten sich Gefühle, als er sie so unschuldig und verletzlich liegen sah. Er hätte gern mehr von ihrer Wohnung gesehen, aber aus Mangel an Licht und Zeit musste er darauf verzichten. Er tätschelte kurz ihren Hintern und ging dann zurück zur Haustür, wo Muja schon eine Weile rumstand und mit dem Finger ungeduldig auf das Sideboard tippte.
„Willst du dich dazulegen oder können wir jetzt fahren, Rick?“
„Ach, lass mal gut sein, Muja. Sie ist echt in Ordnung. Du triffst heute nicht mehr viele, die einesogute Seele sind wie die Rauti.“
Sie deponierten den Haustürschlüssel auf dem Sideboard neben der Tür und zogen diese leise wieder zu. Rick war froh, dass er etwas Gutes für die Rauti tun konnte. Sie fuhren zurück zur Party, die noch nicht zu Ende war. Rick und die Notarin haben später nie über diese Party gesprochen, und auch nicht darüber, wer sie nach Hause gebracht hat.
In der Garage angekommen, kann Rick seinen Triumph TR2 kaum öffnen, weil Generaldirektor Lührs vom zweiten Stock seinen protzigen Monster-SUV wieder einmal raumgreifend eingeparkt hat.
„Arschloch“, brummelt Rick, während er sich langgezogen in den TR2 zwängt.
Am liebsten würde er die ganze Garage mit Oldtimern füllen, aber dafür werden seine genialen Algorithmen nicht gut genug bezahlt. Also hat er nur den Triumph TR2, Baujahr 1954, in Korallrot. Den aber liebt er wie seine beste Freundin.
Mit lautem Röhren macht er sich schnell davon. Er ist in Sicherheit … so denkt er jedenfalls.
Der Weg zum Notariat ist nicht weit, nur etwa fünf Kilometer. Er könnte locker mit der 19er-Straßenbahn fahren, die direkt vor seinem Haus hält und nach sechs Haltestellen fußläufig zum Notariat Station macht. Aber sein heutiges Outfit passt besser zu einem korallroten TR2 als zu einer taubenblauen Straßenbahn.
Er wird nicht lange fahren dürfen. Schade. Nichts ist für ihn schöner, als mit offenem Verdeck an einem sommerlichen Morgen durch Münchens City zu fahren und die neidvollen Blicke der männlichen Passanten zu spüren. Es geht stadteinwärts. Nach der Ludwigsbrücke, gleich hinter dem Technischen Museum, kommt eine Ampelkreuzung. Der Blick nach links und nach rechts erfüllt sein Herz. Die blaue Isar plätschert geruhsam mitten durch die Stadt. In Richtung Süden erahnt man die in Dunst gehüllten Alpen, in Richtung Norden prahlt die Museumsinsel mit üppiger Architektur. Es ist einfach wunderschön.
Heute sind wenig Autos unterwegs und da seine Ampel grün zeigt, kann er zügig in die Kreuzung einfahren. Rick ist ein guter und routinierter Fahrer. Seit seiner Führerscheinprüfung hatte er noch keinen einzigen Unfall.
09h 54
Unmittelbar bei Einfahrt in die Kreuzung wird ihm plötzlich übel und er wird von grellweißem Licht geblendet. Dann kracht er ungebremst in die Beifahrerseite eines Polizeiautos, welches von links kommend in die Kreuzung eingefahren ist. Die Polizeistreife wird kalt erwischt. Im Streifenwagen springen alle Airbags auf, auch die Seiten-Airbags. Vermutlich der Grund, weshalb beide Polizisten weitestgehend unverletzt bleiben. Ansonsten wäre es wohl übel ausgegangen.
Sein TR2 hat keine Airbags, die hätten aufgehen können. Aber die Energie des frontalen Aufpralls wurde durch die beeindruckende Frontkarosserie ausreichend absorbiert, sodass Rick ebenfalls unverletzt bleibt, zumindest physisch. Die Polizisten und Rick bleiben ein paar Minuten benommen in ihren total zerstörten Fahrzeugen sitzen.
Wütend stemmt sich Rick gegen die Fahrertür, bis sie sich endlich mit knarrendem Geräusch öffnet, um dann vor den Trümmern seiner Leidenschaft zu stehen. Ein Bild, wie man es nur aus billigen Actionfilmen kennt: Die mondäne TR2-Motorhaube hat sich spektakulär zu einer U-Form aufgebogen, die Vorderfront ist praktisch weg, Kühlergrill, Scheinwerfer und Glassplitter liegen verstreut am Boden, das Kühlwasser läuft aus. Es hat sich eine beachtliche Lache gebildet, die in der morgendlichen Sonne bläulich-grüne Schlieren zeigt. Offensichtlich hat es eine Ölleitung erwischt oder die Hydraulik der Scheibenbremsen. Die rechte Vorderradkappe hat sich auf und davon gemacht und zwanzig Meter weiter, auf der anderen Straßenseite, mit einer klappernden Pirouette vor dem Wienerwald eingeparkt. Zwei Jungs nehmen den kleinen Blechtänzer an sich und machen sich aus dem Staub.
Der Schock ist groß. Wenn ihm nicht schon vor dem Unfall kotzübel geworden wäre, dann spätestens jetzt. Immerhin ist sein heißgeliebter TR2 für alle Zeiten hinüber. Dafür ist kein Gutachten erforderlich. Der pure Anblick des Grauens ist ausreichend. Kopfschüttelnd setzt sich Rick auf den Randstein und schaut ungläubig in alle Richtungen.Die Woche fängt schon gut an, spricht er zu sich, wie seinerzeit der Räuber Kneißl, als er an einem Montag gehängt wurde.
Auf der Ludwigsbrücke haben sich inzwischen zahlreiche Zuschauer eingefunden, die sich am Schauspiel ergötzen. Die Tatsache, dass ein beherzter Mitbürger die Bullen abgeschossen und einen Streifenwagen unschädlich gemacht hat, erfüllt viele mit Zufriedenheit und Genugtuung für die vielen erlittenen Ungerechtigkeiten, gegen die sie sich nicht wehren konnten. Alleine die zahlreichen Knollen wären Grund genug, Schadenfreude zu empfinden, gleichwohl diese nicht allzu deutlich zu zeigen. Rick hätte sofort eine Autogrammstunde auf der Ludwigsbrücke geben können: Rick, der Rächer des kleinen Mannes. Viele kaufen sich eine Tüte Eis vom Eisladen gegenüber. Vermutlich wird gleich die Griechen-Mafia mit einem Hähnchengrill anrollen.
Auch die beiden Polizisten mühen sich aus dem Auto. Die total eingedrückte Beifahrertür klemmt und kann nicht geöffnet werden. Also müssen sie auf der Fahrerseite aussteigen, selbst unter normalen Umständen nicht immer einfach. Erschwert wird das Ganze, weil der Dicke auf der Beifahrerseite sitzt. Als der schmächtige Fahrer ausgestiegen ist, übergibt er sich sofort, während der Dicke sich sichtlich abmüht, am Lenkrad vorbeizukommen. Das gelingt ihm lange nicht, trotz Baucheinziehen und lautem Fluchen. Dann kotzt er mitten aufs Cockpit und entlang der Knopfleiste. In seiner Unbeherrschtheit zerreißt er noch seine Uniform.
Einige Zuschauer versuchen, ihm mit rhythmischem Klatschen Mut zu machen, andere können ein Grinsen kaum verbergen. Unterhaltsam finden es alle. Mütter zeigen mit Fingern auf die Unfallstelle und erklären ihren Kindern die Folgen rücksichtlosen Fahrens und dass es immer Männer sind, die so spektakuläre Unfälle produzieren.Offensichtlich haben andere Menschen keine Termine und können sich den Luxus leisten, sich spontan an solch kostenfreien Veranstaltungen zu ergötzen, denkt sich Rick. Es stört ihn, dass diese Open-air-Darbietung im StilAlarm für Cobra 11 auf Kosten seines heißgeliebten TR2 geht, der traurig auf der Straße liegt und bemitleidenswert vor sich hin tröpfelt.
Rick durchlaufen kalte Schauder ob der Unumkehrbarkeit der Situation. Er hat das beklemmende Gefühl, dass die Welt nie wieder so sein wird, wie sie war. Überdies ist ihm flau im Magen. Viel fehlt nicht und er könnte den Guten-Morgen-Espresso wieder begrüßen.
Wie ein Häufchen Elend sitzt er immer noch auf der Bordsteinkante. Die Sheriffs haben ihn ins Visier genommen und bauen sich in bedrohlicher Pose vor ihm auf, in voller Ausstattung: Pistole, Schlagstock, Handschellen, allerdings etwas schlampig angezogen: beiden hängen die Hemden aus der Hose, bei einem ist der Kragenknopf ausgerissen und man sieht Kotzspuren längs der Knopfleiste, beim anderen ist die ganze Jacke samt Hemd zerrissen und auch unappetitlich mit Verdauungsresten besprenkelt. Beide Beamte verströmen einen säuerlichen Geruch.
Rick ist da deutlich besser angezogen und er riecht angenehm nach Zedernholz seines Rasierwassers. Aber er ist unbewaffnet und macht in seiner Blässe einen bemitleidenswerten Eindruck. Seine Mutter würde ihm jetzt ein Glas Rotbäckchen und Zwieback reichen, vielleicht sogar Lebertran.
Der Dicke mit zerrissener Uniform ist vermutlich der Marshall und der Jüngere sein Deputy, mutmaßt Rick. Der Dicke pumpt erregt wie ein Maikäfer, sodass sein behaarter Bierbauch synchron zur Pumpfrequenz sichtbar wird. Fast hätte Rick losgeprustet. Aber die Lage ist zu traurig und außerdem ist ihm immer noch übel.
„Seid ihr auch Zwillinge?“, fragt Rick die Sheriffs.
„Wie kommen Sie da darauf?“, erwidert der Dicke harsch.
„Na, weil euch die Mutti gleich angezogen hat.“
„Haben Sie etwas getrunken?“ Der Ton wird schärfer.
„Ja, klar“, meint Rick schnippisch. „Es ist ja schon 10 Uhr. Bei mir sind es fünf Maß Bier und zehn Obstler … Und wie sieht’s bei euch zwei aus?“
„Hol mal den Alkomat, Max.“ Der Dicke ist jetzt offensichtlich fertig mit Aufpumpen.
„Geht klar, Heinz.“ Deputy Max dreht sich um wie befohlen, und geht zum Streifenwagen.
„Nimm aber drei Röhrchen mit, Max!“, ruft ihm Rick erbost hinterher. Rick ist erfreut ob seines Selbstbewusstseins in dieser Situation. Er steht auf und ist jetzt Aug in Aug mit dem Marshall. „Der Kollege Max verträgt aber nicht viel … so wie der aussieht?“
Der Marshall lässt sich nicht provozieren. Ruhig und gelassen sucht er in seiner zerrissenen Uniform einen Notizblock und einen Stift. „Woher kommen Sie gerade?“
„Ich komme direkt aus dem Bett meines Wigwams, wenn Sie es genau wissen wollen. Und dafür gibt es heute leider keine Zeugin.“
Rick merkt, dass die aufkeimende Wut seine Übelkeit bekämpft. Der Marshall bleibt weiter unbeeindruckt und meint, dass er sich auf ein sattes Bußgeld, mehrere Punkte in Flensburg und ein längeres Fahrverbot einstellen müsse.
„Alles hängt vor allem davon ab“, sagt er in belehrendem Ton, „wie lange es schon rot war, als er in die Kreuzung fuhr.“
Rick ist massiv verunsichert. Wen meint er denn mit „er“? Max oder am Endeihn? Eine innere Stimme sagt ihm, er könnteihnmit „er“ meinen, so unglaublich es klingt.
Der Marshall gebietet ihm, seine Dokumente zu holen, dreht sich ebenfalls um und beginnt, zusammen mit Deputy Max, mit dem Vermessen der Unfallstelle, vor allem den Abständen der Ampeln zum Kollisionspunkt. Dann holen Sie eine Kamera und machen Aufnahmen aus allen Blickwinkeln, geradezu genüsslich, wie Rick empfindet. Dann nimmt der Dicke sein Betriebsfunkgerät und plappert ohne Punkt und Komma in die Muschel.
Rick kann erstmal gar nichts erwidern und gafft den Sheriffs mit offenem Mund hinterher. Er ist perplex ob dieser Dreistigkeit. Erst bei Rot in die Kreuzung fahren, ohne Blaulicht und ohne Sirene, und dann rotzfrech behaupten,erwäre bei Rot in die Kreuzung gefahren.
Er sieht sich hilfesuchend um. Unter den vielen Zuschauern muss es doch einige geben, die bestätigen können, dass er bei Grün über die Ampel gefahren ist oder, besser noch, dass die Sheriffs bei Rot in die Kreuzung gefahren sind. Mit gutem Gefühl nähert er sich der wohlwollend gestimmten Menge. Denn erstens ist er im Recht und zweitens sollte es bei den immer seltener werdenden Ereignissen, wo ein beherzter David gegen Goliath kämpft, Verbündete geben, die sich, wenn auch trübe, aber immerhin, erinnern, wie es sich zugetragen hat.
Die meisten haben es nur Krachen gehört, die anderen sind erst dazugekommen, als es schon gekracht hatte, der eine Rest will sich nicht mit den Sheriffs schlecht stellen, der andere Rest hat seine Frage nicht verstanden, vermutlich noch nicht voll integrierte Nubier oder Komantschen. Alles, was er bekommt, ist wohlwollendes Schulterklopfen und Händeschütteln, als Geste der Ehrerbietung. Vielen Dank.
***
10h 30
Chris und Rudi sind im Wartezimmer des Notariats und sehen zum wiederholten Male auf die Uhr.
„Der Termin ist doch jetzt, oder?“, fragt Chris seinen Bruder.
„Hast du einen Anruf oder eine SMS bekommen?“
Beide suchen die Anruf- und SMS-Listen ihrer Mobiles durch. „Nee, nichts.“
Dann öffnet sich die imposante zimmerhohe Doppeltür mit dunkelbraunem Lederbeschlag und Frau Dr. Rautgundis von Adelboden erscheint, die Notarin. „Guten Morgen meine Herren, können wir?“
Die Notarin ist eine resolute Mittvierzigerin und mit ihren 1,82 Meter nicht zu übersehen. Abgerundet wird die mondäne Erscheinung durch ihre wirren graumelierten Haare und ihre dunkle, rauchige Stimme. Sie ist eine Frau, nach der sich ein Mann umdreht, aber nicht weiß, warum.
„Leider nicht, hochverehrte Frau Notarin“, gluckst Rudi, „unser Bruder Rick ist noch nicht da … und wir wissen derzeit nicht, wo er ist … was er macht und … wann er kommt … und ob er kommt.“
„Ach, Rick ist noch nicht da … na ja …“, säuselt die Notarin süffisant, zur deutlich sichtbaren Verwunderung von Chris und Rudi.
„Na ja … dann warten wir halt noch etwas, meine Herren“, sagt die Notarin, indem sie sich umdreht und mit wackelnden Hüften wieder dorthin verschwindet, wo sie hergekommen ist.
Stille …
„Wow … was war das denn?“, fragt Chris in den Warteraum hinein.
Jetzt platzt dem gesalbten Professor aber der Kragen.
„Was glaubt denn diese krächzende Grauschleiereule, wer wir sind? Der eine kommt erst gar nicht und die andere kommt und geht wieder. Von dem einen hört man überhaupt nichts und die andere sagt nurNa ja. Wo zum Teufel sind wir hier eigentlich? Dann sagen wir jetzt auchNa jaund gehen zum Frühschoppen.“
Rudi nickt zustimmend. Ein Veto hätte er wegen angeborener Formulierungsschwäche in Krisensituationen nicht gewagt und beim StichwortFrühschoppenschaltet sich automatisch seinNoch-a-Maß-Programm ein. Im Laufe seiner persönlichen Evolution ist dieses Programm im Rückenmark nahe dem Sitzfleisch ansässig geworden und braucht kein Hirn mehr, um ausgeführt zu werden.
Also gehen beide zur Tür und sagen der Sekretärin, dass Sie sich wegen eines neuen Termins bei ihr melden werden.
Sie müssen nur ein paar hundert Meter gehen und sind dann dort, wo Chris meint, „da hätten wir gleich hingehen sollen“, im Müllerbräu.
Rudi nickt weiterhin wohlwollend, während sein Programm eine Maß Bier und drei Weißwürste bestellt.
Der Müllerbräu ist ein bayerisches Kult-Wirtshaus, wie es im Lexikon steht. Ein großer Raum mit vier Meter Raumhöhe, morbide Holzvertäfelung und robuste Bedienungen. Sie sind die guten Seelen der Bräustube. Der historische Teil der Speisekarte ist für viele ausländische Gäste meist nur eine Belustigung, aber kein Essen. Ochsenmaulsalat, gesottene Kälberfüße, gekochter Kalbskopf, gebackene Kuheuter oder lauwarme Kaldaunen sind nur einige Beispiele aus der fantasievollen Krösen-Küche. Letztere waren auch Leibspeise des römischen Statthalters Caius Aerobus, wie man bei Asterix nachlesen kann. Mutige, meist alkoholisierte Jungspunde, die sich von ihrer johlenden Clique überreden ließen, dasgebackene Kuheuterzu verkosten, haben beim Anblick der bedrohlich wirkenden Brust der Bedienung die Nerven verloren und spontan Leberkäs mit Kartoffelsalat bestellt.
***
Ricks hektische Suche nach Zeugen, die beim heiligen Apostel Paulus, beim Barte des Propheten, oder wenigstens in Gottes Namen halt bezeugen würden, dass er vorschriftsmäßig bei Grün in die Kreuzung gefahren ist, bleibt ergebnislos. Er hat keine Zeugen. Die Polizisten schon; sie sind zu zweit.
Es meldet sich sogar noch ein übereifriger Obrigkeitsschleimer, der die Grünphase der Polizeistreife bestätigt, wohl in der Hoffnung, er könne diesen Schleim gegen ein paar Punkte in Flensburg eintauschen oder er würde zusammen mit seiner Frau auf den nächsten Polizeiball im Bayerischen Hof eingeladen.
Sieht schlecht aus für Ricks Wahrheit. Die Wahrheit der anderen hat bessere Karten. Für ihn gibt es nichts Schlimmeres, als im Recht zu sein, und es am Ende nicht zu bekommen. Ungerechtigkeit ist der Nährboden für Aufstand und die Stunde der Robin Hoods und Zorros. Rick fühlt ganz deutlich diesen brennenden Drang nach Aufstand, aber anders als seine berühmten Vorgänger wird er diesen Drang wohl oder übel runterschlucken müssen. Er hat schlichtweg nicht die Zeit, die Massen zu mobilisieren für den Sturm auf das Polizeipräsidium.
Apropos Zeit … er hat einen Termin um 10h 30 bei seiner Lieblingsnotarin. Er glaubt ja, dass die Rauti auf ihn steht. Zumindest hat sie ihm beim Kauf seines Wigwams ein paarmal zugezwinkert. Er hat so getan, wie wenn er es nicht bemerkt hätte. Sie hat es als putzige Schüchternheit gedeutet.
Starr vor Schreck sieht Rick auf seine Armbanduhr: 11h 17. Der Notartermin war um 10h 30. Die Katastrophen nehmen heute kein Ende. Sein Mobilfunkgerät liegt noch im TR2. Er findet es erregt rotblinkend auf dem Boden zwischen Bremspedal und Kupplung. Er öffnet noch das Handschuhfach und holt seine Papiere heraus. Das Handy zeigt drei entgangene Anrufe von Bruder Chris und einen Anruf von Rauti.
Woher hat denn die Notarin seine Handynummer? Er muss diese Frage zurückstellen. Erstmal Chris anrufen. Rick macht sich schon auf eine Standpauke gefasst.
***
„Na wer sagts denn. Kaum ist eine Stunde vorbei und schon ruft er an, der Herr Bruder.“
Chris prostet Rudi zu. Beide haben inzwischen die erste Maß getrunken und die Weißwürste verspeist.
RudisNoch-a-Maß-Programm hat schon die nächste Maß bestellt. Die aufgeladene Stimmung hat sich entspannt. Chris hat seinen Adrenalinspiegel wieder auf Normalniveau runterregeln können.
„WAS ist dir passiert?!“
Er hält sich die Hand vor dem Mund, um nicht ungehemmt loszuprusten. Rudi schaut ihn fragend an und deutet ihm aufgeregt an, er solle doch Freisprechen einschalten.
„Wir sitzen im Müllerbräu. Komm vorbei, dann besprechen wir das weitere.“
Chris beendet das Gespräch und nimmt einen kräftigen Schluck.
„Stell dir vor, Rudi, Rick hatte gerade einen Unfall mit einem Polizeiwagen, vorne am Deutschen Museum.“
Rudi hebt die Augenbrauen.
„Wie kann man nur so blöd sein und am helllichten Tag ein Polizeiauto zu rammen. Vermutlich war er wieder zugekifft oder der Restalkohol vom Vortag hat zugeschlagen. Aber er kommt eh gleich vorbei. Dann kann er die ganze Geschichte erzählen. Na dann, Prost, Rudi.“
***
Rick zeigt den Sheriffs seine Papiere und die Adresse seines Wigwams.
„Also gut, Herr Fox … so heißen Sie doch, Rick Oberon Fox, oder?“
„Ja, genau, steht doch hier“, motzt Rick zurück. „Sheriff, ich habe echt einen dringenden Termin und muss jetzt weg.“
„Immer schön ruhig bleiben, Herr Fox. Wir haben alles aufgenommen und machen nur noch eine kurze Zeugenbefragung. Der Abschleppwagen ist auch schon verständigt. Wir kommen morgen Vormittag bei Ihnen vorbei. Bis dahin haben Sie sich auch wieder beruhigt. Sie können dann in Ruhe das Unfallprotokoll lesen und unterschreiben. Dann können wir Ihnen auch sagen, wo das rote Wrack abgestellt worden ist. Sie müssen nur noch einen Alkoholtest machen, dann sind wir fertig.“
Der Marshall reicht ihm den Alkomat und setzt ein neues Mundstück ein.
„Dann geben Sie mal her, aber Sie werden enttäuscht sein, Sheriff.“
„Also Herr Fox, Sie müssen blasen, solange Sie einen Ton hören.“
„Ja, dann. Es kann losgehen.“ Rick hält das Gerät an den Mund und wartet mit einem treudoofen Blick in Richtung des Marshalls.
Dieser sieht ihn nicht minder dümmlich an. „Was ist los? Jetzt blasen Sie endlich mal!“
„Ja, aber ich hör noch keinen Ton, Herr Oberkommissar. Ich soll doch blasen,wennich einen Ton höre. Das sagten Sie doch.“
„Der Ton kommt schon. Sie sollenso langeblasen, bis Sie den Ton hören undnichterst blasen,wennSie den Ton hören.“
„Sheriff, können Sie das noch mal wiederholen, vor allem dort, wo der Ton kommt.“
„Kaum zu glauben, dass Sie die Führerscheinprüfung bestanden haben, bei der Auffassungsgabe.“
„Wir mussten damals mehr fahren und weniger blasen, Herr Marshall. Am besten, Sie machen eine Demo, dann können wir auch gleichIhrenAlkoholspiegel zu den Akten geben. Vielleicht könnte das irgendwann mal wichtig werden, meinen Sie nicht?“
„So … jetzt ist aber genug, Herr Fox. Sie blasen jetzt augenblicklich ins Rohr oder ich nehme Sie mit ins Krankenhaus zur Blutentnahme. Es liegt ganz bei Ihnen.“
„Also dann auf Ihre Verantwortung. Ich blase jetzt da rein,ohneden Ton zu hören, auf dem Sie vorher so penetrant rumgeritten sind … Sie ändern ja ruckzuck Ihre Meinung. Nur gut, dass ich mich schnell auf geänderte Situationen einstellen kann. Das ist eine meiner Stärken, Sheriff.“
Eigentlich will Rick alles schnell beendet haben. Befürchten muss er gar nichts. Er kann sich gar nicht erinnern, wann er trockener war als jetzt. In seinem Mund hätte man Lawrence von Arabien drehen können. Er bläst drauf los und setzt sofort wieder ab, als ein Ton zu hören ist.
„Haaa! Sheriff, da ist er ja, der Ton. Dann kann es losgehen, oder?“
„Ja, Sie Genie. Blasen’s einfach weiter, Herr Fox.“
Der Polizist nimmt das Röhrchen aus dem Alkomat und schaut sich die Verfärbung an.
„Alles klar. Alkoholpegel 0,015 ‰. Das ist in Ordnung. Ich vermerke im Protokoll: Der Fahrer war nicht alkoholisiert. Ist Ihnen das recht?“
Rick ist mittlerweile alles recht. Er will nur weg von hier, den Ort des Grauens verlassen und Trost bei seinen Brüdern und in seiner guten, alten Paralleluniversität finden. Rick verlässt die Unfallstelle. Einige Zuschauer klatschen, wie am Ende einer Vorstellung. Rick unterlässt es, sich zu verbeugen.
Chris ist Physiker und ein polyglotter Berufsnomade. Rick hat ihn mal gefragt, wo sein zu Hause ist. Er meinte, dort, wo die Rechnungen ankommen. Vor zehn Jahren hatte Chris eine ernsthafte Beziehung zu Anuschka Schérghowa, die Tochter eines russischen Bau-Oligarchen, der nach Bayern auswanderte. Er lernte sie in einem Moskauer Forschungslabor kennen. Sie gingen es dementsprechend forsch an. Die Verbindung hatte eine Halbwertszeit von drei Monaten … tja. Chris hat absolut kein Verständnis für Paraphysik, Ufologie, Aliens oder Area51 und dergleichen. Solch billigen Science-Fiction-Mist schaut er sich nicht mal in Spielfilmen an. Er arbeitet mit realer, messbarer Materie und deren Energie. Bei der dunklen Seite der Materie macht er eine Ausnahme. Aber bis vor Kurzem hat er auch diese links liegenlassen.
Rudi ist ortsgebunden und bodenständig. Er spricht fließend Bayerisch. Seit über 20 Jahren ist er Inhaber eines kleinen Ladens für Profi-Bergsportausrüstung in Oberaudorf, einem verträumten Ort am Fuße der Alpen. Zu seinen Kunden zählen auch bekannte Protagonisten im Freeclimbing, die man hin und wieder in diversen TV-Talkshows bestaunen kann. Aber auch die lokale Bergrettung kauft ihre Ausstattung gerne in „Rudis Bergwelt“: Rucksäcke, Schutzjacken, Seile in unterschiedlichen Fangstoßfestigkeiten, Beal-Karabiner und ein umfangreiches Sortiment an Klemmhaken, Firnanker, Eisschrauben, Exen, Leuchtpatronen bis hin zu Taschenbüchern mit Bergtouren für Einsteiger und Fortgeschrittene. Rudi ist selbst ein begeisterter Bergfex und kann aus eigener Erfahrung seine Produkte erklären und empfehlen. Die Tatsache, dass er noch nie tödlich abgestürzt ist, so meint er, spricht für die Qualität seiner Ware.
Als Rick am Eingang der Paralleluniversität steht, sieht er seine Brüder sofort rechts hinten in der Ecke sitzen. Sie scheinen sich gut zu amüsieren. Auf halbem Weg sehen sie Rick nahen und machen ihm eine Handbewegung, die ihm den Weg weisen soll.Ja, herzlichen Dank, denkt sich Rick für diese wertvolle Wegweisung. Er wäre doch glatt vorbeigelaufen und gegen die Wand gedonnert.
„Hallo Chris, Hallo Rudi, schön, dass wir uns mal wiedersehen.“ Rick versucht das unheilvoll Geschehene nicht gleich zum Mittelpunkt der Gespräche werden zu lassen.
„Ja, du machst ja schöne Sachen.“ Bruder Chris erstickt sein Vorhaben im Keim.
„Na ja, Chris … ich weiß immer noch nicht, was da schiefgelaufen ist.“
Rudis Programm bestellt noch a Maß. Nach ein paar kräftigen Schluck Bier fasst sich Rick ein Herz und erzählt die Geschichte vom Ableben seines TR2. Die Trauer der Brüder hält sich in Grenzen. Mehr Interesse scheinen die merkwürdigen Umstände zu wecken. Zumindest für Chris.
„Es ist doch sehr unwahrscheinlich, dass ausgerechnet die Polizei so ein Verkehrsvergehen begeht. Bei Rot über die Ampel.“
„Doch, wenn sie just in diesem Moment einen Notfall gemeldet bekommen und losrasen, bevor sie Blaulicht und Tatütata einschalten“, kontert Rick.
„Na Ja …“, meint Chris, „trotzdem sehr unwahrscheinlich. Nehmen wir mal an, dass beide Autos bei Grün losfahren, dann ist entweder die Ampelanlage defekt oder es wäre, wie wir sagen, eine Anomalie.“
Klar, das ist kein Thema für einen Realo-Physiker. Rick spült den kurzen, wenig erhellenden Vortrag seines Bruders mit einem kräftigen Schluck runter.
„Machen kann man doch eh nichts mehr“, interveniert Rudi, „trink etwas und lass es für heute gut sein. Wichtig ist doch, dassdirnichts passiert ist. Alles andere ist nur Blech und einfach nur blöd, aber nicht so wichtig wie deine Gesundheit.“
Mein Gott, wie recht Bruder Rudi hat. Damit kann sich Rick anfreunden.
„Was machen wir jetzt mit deiner Rautgundis?“ will Chris wissen.
„Wir rufen sie an und machen einen neuen Termin, was sonst?“ Rick antwortet wie aus der Pistole geschossen, schnell und bewusst emotionslos. Er hat den süffisanten Unterton in der Frage deutlich wahrgenommen. Deshalb will er zügig andere Themen in den Vordergrund stellen. „Wie lange bist du noch in München? Wo wohnst du derzeit eigentlich? Was machst du aktuell?“
Auf diese Fragen hat Chris gewartet. Er hätte sie auch beantwortet, wenn keiner danach gefragt hätte. So ist es aber einfacher.
Und so kommt der unvermeidliche Vortrag, der sich in einer Paralleluniversität aber gut ertragen lässt. Er lebt seit drei Monaten in der Schweiz, weil er gebeten wurde, an einem aufsehenerregenden Experiment am dortigen Forschungreaktor mitzuarbeiten, nämlich der Bestimmung der Masse von Neutrinos.
Vielleicht wäre es lehrreich gewesen, zumindest aber informativ, in jedem Fall interessant, wenn sie aufmerksam zugehört hätten, Rudi und Rick. Aber beide waren geistig abgelenkt, Rudi vomNoch-a-Maß-Programm und Rick vom GruselfilmTod im Straßengraben. Schade. Dann wüssten sie jetzt, dass Neutrinos eine Masse haben und dass sie der dunklen Materie zugerechnet werden. Aber obwohl es viele geben soll, wiegen sie halt kaum was und deshalb reicht es einfach nicht. Er erklärte es so: „Sie wiegen fast nichts, aber es gibt unfassbar viele … undUnfassbar-VielmalFast-NichtsergibtWahnsinnig-Viel.“
Rudi hebt die Augenbrauen. So einen Spruch hat er schon vom Finanzamt gehört, als er meinte,er hätte eh fast Nichts.
„Und was machst du jetzt, wo es nicht reicht?“ Rick stichelt nach.
Rudi hebt die Augenbrauen. Er fürchtet, dass jetzt Teil zwei kommt. Er bestellt vorsichtshalber drei Obstler. Zustimmendes Nicken von Rick. Vielleicht hilft der Obstler, sein flaues Gefühl im Magen zu bekämpfen. Leider hat er inzwischen auch Kopfschmerzen bekommen.
„Ich habe ein kleines Chalet in der Schweiz gemietet, vermutlich für die nächsten zwei Jahre“, fährt Chris fort. „So lange wird es wohl brauchen, bis unsere Experimente verwertbare Ergebnisse bringen.“
„DassWahnsinnig-VieldochAusreichend-Vielist?“
„Ja, so ähnlich, Rick“, gibt sich Chris versöhnlich und kippt den Obstler weg.
„Wir müssen halt enorme Energien erzeugen und hochkomplexe Experimente durchführen. Wir haben schon erste Versuche gemacht, aber aktuell tappen wir noch im Dunkeln.“
Rick ruft inzwischen im Notariat an.
„Ja, hier Rick Fox, wir bräuchten einen zeitnahen Ersatztermin, vielleicht morgen? Ja … ich warte … einen Augenblick, ich frag mal in die Runde.“ Rick legt sein Mobile zur Seite.
„Wir könnten morgen einen Ersatztermin bekommen, um 14 Uhr.“
Chris und Rudi nicken.
„OK, alles klar. Dann bis morgen“, spricht Rick ins Smartphone, … „und einen schönen Gruß an Frau von Adelboden.“
„Ich dachte, die heißt Rautgundis“, frotzelt Chris.
***
Rick ist in sein Wigwam zurückgekehrt. Er liegt auf dem TV-Sofa und sieht gedankenverloren in das 100-Zoll TV-Display: Olympia, Schwergewichtheben. Ein aufgeblähter Ochsenfrosch nach dem anderen zieht an einer Hantel, die aussieht wie die Achse eines Güterwaggons. Vorne drückt es den Olympioniken die Glubschaugen raus, hinten einen fulminanten Arsch. Bei diesem Anblick würde jeder Bräugaul sofort wässerige Augen bekommen. Alles scheint kurz vor dem Platzen. Schwere Kost für einen Ästheten wie Rick.
Seine Kopfschmerzen sind noch unangenehmer geworden, mehreren Aspirintabletten zum Trotz.
Die Türklingel schallt wie die Glocke von Jericho. Unerträgliche Schmerzen.Die Sheriffs wollten doch erst morgen kommen? Rick torkelt zur Wohnungstür und öffnet sie.
Oh Gott! Sam!
Die hatte er gar nicht mehr auf dem Radar. Sie drängt sich vorbei ins Wigwam, wie wenn es ihre Wohnung wäre.
„Hey Rick, Du siehst echt scheiße aus.“
Typisch Sam … Nimmt kein Blatt vor den Mund. Samantha Hilbert arbeitet als Sportjournalistin für das Süddeutsche Tageblatt. Daher kennt sie Gott und die Welt und ist bestens vernetzt mit den Promis und der Szene. Keine VIP-Party, zu der sie nicht eine Einladung bekommt. Äußerlich fällt sie nicht sofort auf. Sie ist ein dunkler schlanker Typ mit langen Haaren, immer mit Sportmütze unterwegs, sparsam geschminkt und meist in orientalische Wickelkleider gehüllt. So bleibt Ihre sportliche Figur verborgen und nur Insidern vorbehalten. Rick ist einer davon. Sie sehen sich in der Regel zweimal pro Woche, meist am Mittwoch, wenn Rick kocht, und am Wochenende. Beide schätzen es, den Rest der Woche unabhängig voneinander zu verbringen.
Seit sie vor einem Jahr in das Haus eingezogen ist, hat sie Rick relativ schnell alsfellow-with-benefitsklassifiziert. Die Tür-an-Tür-Nachbarschaft hat diesbezüglich viele Vorteile. Sie ist witterungsunabhängig, spontan nutzbar, schnell mitzunehmen wie Coffee2Go. Rick ist zudem ein netter Kerl, sieht gut aus und ist unkompliziert. Bisher war sie sehr zufrieden mit ihm. Es stört sie zwar, dass Rick kifft, aber sie raucht auch mal eine Tüte mit.
„Was ist los, Rick? Ist es heute nicht so gut gelaufen?“
Sam stellt diese Floskelfrage, während sie den American Fridge öffnet und zwei Drinks zubereitet: Suntoki Gin.
„Du bist echt drollig … nicht so gut gelaufen, sagt sie. Das war mit Abstand der schlimmste Tag in meinem Leben.“
Sam setzt sich zu ihm, klopft ihm auf den Oberschenkel, zieht hohlwangig am Strohhalm zieht und glotzt ihn dabei treuherzig an. „Erzähl schon.“
„Ich hab den TR2 geschrottet.“ Eigentlich wollte er nicht schon wieder diese Trauergeschichte erzählen.
„Ich schwöre bei allem, was mir heilig ist, dass ich bei Grün gefahren bin.“
„Ich wusste gar nicht, dass dir irgendetwas heilig ist, aber wir müssen rausfinden, was passiert ist.“ Sam zieht wieder am Strohhalm. „Ich ruf morgen mal Rebecca an.“
Jetzt kommt die Journalistin durch. Sie kennt, wer hätte etwas anderes vermutet, Hauptkommissar Hubert Piotrowski von der Soko München, und seine Assistentin Rebecca Jones ist sogar eine langjährige Freundin.
„Sam, was mir nicht aus dem Kopf geht, sind die Umstände. Ich war ja überhaupt nicht in Eile, gut ausgeschlafen und fit. Man kann doch rot und grün nicht so einfach verwechseln, selbst wenn man farbenblind ist. Das grüne Licht ist unten und das rote Licht ist oben. Gut, mir ist unmittelbar vorher übel geworden. Kennst du das, wenn sich der Magen hebt, wie bei Turbulenzen im Flieger? Und jetzt hab ich auch noch tierische Kopfschmerzen.“
„Klar, Rick, du hast ein Schleudertrauma, vom Aufprall. Du brauchst dringend eine Nackenmassage“, diagnostiziert Sam.
„Ganz toll. Und woher bekommt man um diese Zeit eine Nackenmassage?“
Ricks neckische Frage war nicht wirklich ernstgemeint. Zufällig ist heute auch noch DefCon1. Da sollte es doch mit dem Teufel zugehen, wenn keine Nackenmassage drin wäre.
Yoga, Massage und Chakren, also die Energiezentren, gehören zu Sams Basiswissen. Es waren die ersten ungefragten Vorträge von Sam, die er allabendlich über sich hat ergehen lassen müssen. Jetzt kommen noch die Meridianlinien ins Spiel, ihr Spezialgebiet.
Da zunächst die Rückenmeridiane an der Reihe sind, muss sich Rick erstmal ausziehen. Das kennt er schon, nur nicht so früh am Abend.
„Finde die Meridianlinien, dann folgst du dem Weg der Energie. Nur wo Energie fließt, werden Kräfte frei“, erklärt sie ihm dozierend.
Rick traut sich nicht nachzufragen, was das für Kräfte sind. Außerdem scheint die Behandlung bereits zu wirken. Die Kräfte der stimulierten Meridiane vertreiben zumindest die Schreckensbilder des Tages.
„So Rick, umdrehen!“
Sie wirft sich auf ihn und schaut ihm hypnotisierend in die Augen.
„Also echt, Rick, deine verschiedenfarbigen Augen sehen echt cool aus … so am Tag.“
Rick kann sich noch gut an seine Kindheit erinnern, an den Hausarzt Dr. Mahlzahn. Er hob seine grob gebürsteten Augenbrauen, als er bemerkte, dass sein genetischer Klon Chris zwei blaue Augen hatte und Rick nicht. Spannungserhöhend zog er mehrere Sekunden an seiner Fehlfarbenzigarre, blies nachdenklich eine fette Rauchschwade in die Praxis und meinte dann, dass dies zu dennormalen Anomaliender Natur gehöre, aber vollkommen ungefährlich sei. Seine Mutter hatte erleichtert durchgeschnauft. Für sie war das ausreichend gut erklärt, obwohl sie bis dato noch nie den Begriff Anomalie gehört hatte.
Rick hat diese Anomalie seiner Augenfarben nie gestört. Im Gegenteil, er hat sie sogar gut einsetzen können. Unzählige Mädels in Discos und Nachtclubs haben ihm viel Aufmerksamkeit geschenkt, auch weil das grüne Auge das Disco-UV-Licht stark reflektierte. Er war deshalb etwas Besonderes.
ZusammenphantasierteEvolutionsgeschichten über seine Mutationenhat er so gut in- und auswendig gelernt, dass er sie auch noch nach zehn Gin Tonic fehlerfrei aufsagen konnte. Seine männlichen Konkurrenten mussten viel Schampus bezahlen und stundenlang triefenden Schmalz ins weibliche Ohr sülzen, um die Gunst der Ohrbesitzerin zu gewinnen. Rick hingegen musste nur treuherzig mit seinen zweifarbigen Augen schauen und zum Schluss das SchlüsselwortAnomalieflüstern. Es gab kein Halten mehr, wenn er dann erwähnte, dass dies nicht die einzige Anomalie ist, mit der er sich rumschlagen muss. Die Mädels rollten mit den Augen und sahen sich erwartungsvoll an. Der Rest war einfach … eine gemähte Wiese, sozusagen.
Als Rick am nächsten Morgen aufwacht, ist Sam weg.
Dienstag - 17.08.2004
09h 15
Die Augen noch geschlossen wälzt er sich im Bett und tastet die linke Seite ab. Sam ist weg, seine Kopfschmerzen nicht.
Er will überhaupt nicht aufstehen. Es ist Tag1 nach TR2. Eine neue Zeitrechnung beginnt. Rick geht zum TV. Zusammenfassung Athen vom Vortag: Schwimmen. Keiner ertrunken. Wie jeden Tag zum Wachwerden ein dampfender Espresso.
Zu Beginn der neuen Zeitrechnung gibt es heute zum Frühstück ausnahmsweise einen kleinen Joint. Sein Loft füllt sich mit dem süßlichen Duft der Rauchschwaden. Dazu passt ein kleines Glas Single Malt Whisky.
Eigentlich ist es gar nicht so schlimm, denkt sich Rick nach einer Viertelstunde. Rudi hat absolut recht, nur eine Materialschlacht. Und schlecht hat sich sein TR2 nicht geschlagen. Den Streifenwagen aus dem Jahre 2002 hat er jedenfalls unschädlich gemacht. Dass er dafür sein Leben hingegeben hat, ist eine wahrhaft ritterliche, für die Allgemeinheit aufopfernde Tat gewesen. Er wird ihm ein ewiges Andenken bewahren.
Er holt sein Smartphone und wischt die Bilder der letztjährigen Italienreise von rechts nach links: Gardasee, Florenz, Pisa, Amalfi-Küste … sagenhaft schöne Bilder … das satte Rot des polierten Lacks vor dem glitzernden Blau des Meeres und dem üppigen Bewuchs von Zypressen und Platanen in changierenden Grüntönen … Er zieht melancholisch am Stängel. Die Intensität der Farben empfindet er heute als besonders kräftig. Manchmal ist sein TR2 sogar blau und das Meer glitzert rot. Wunderbare Erinnerungen. Dabei bläst er sentimental Rauchringe in die Luft, die langsam aufsteigen, um im Nichts zu verschwinden.
Jetzt laufen ihm doch ein paar Tränen über die Wangen und seine Augen röten sich. Seine anfängliche Gelassenheit schlägt in wimmerndes Gejammer um. In die Wehmut mischen sich periodisch Zorn und Rachegelüste. Immerhin war er unschuldig. Wie hätte er das Ende seines TR2 verhindern können? Bei Grün an der Ampel stehen bleiben und sich erst versichern, ob nicht die Carabinieri bei Rot von Links daher geschossen kommen? Bei Rot mit Vollgas über die Ampel? Das hat er in Italien schon bei Taxifahrern erlebt.
Solo una raccomandazione, sagte der Fahrer beruhigend, als er Ricks entsetzten Blick durch den Rückspiegel bemerkte. Aber doch nicht die deutschen Sheriffs. Das machen die doch nicht, oder?
Was soll er nur mit dem TR2 machen? Auf dem Autofriedhof zuschauen, wie er herzlos zermalmt wird? Das würde er nicht ertragen. Sein Bruder Chris könnte ihn vermutlich mithilfe der Quantenmechanik in einen Kubikzentimeter großen roten Würfel umformen. Dann würde er ihn in eine kleine Schmuckschatulle stecken und zu Hause aufbewahren. Ohne davon eine Ahnung zu haben, glaubt er aber, dass die Kosten hierfür sein Budget überschreiten würden. Er holt den Fahrzeugbrief aus der Kommode und studiert die technischen Daten. Demzufolge würde die kleine Schmuckschatulle schlappe 839 Kilogramm wiegen. Das würde sein hochwertiger Kröncke-Schrank nicht aushalten, vermutlich nicht mal der Boden seines Wigwams.Mein Kleiner würde durchbrechen bis runter zum Generaldirektor Lührs, sinniert er schmunzelnd.
„Er hat ganz schön an Gewicht zugelegt … das kommt von jahrelanger guter Pflege und davon, dass ich ihm alles gegönnt habe, was es so gibt, Superbenzin statt geschmacklosem Biobenzin.“
Rick merkt nicht, dass er immer mehr Blödsinn faselt und ordentlich zu sabbern beginnt, wie ein Englischer Bullterrier, und dass ihm auch noch unappetitlicher Rotz aus der Nase läuft.
Es ist gut, dass ihn die Türklingel aus dieser tiefdepressiven Phase holt. Ohne groß zu denken, womit auch gerade, öffnet er die Wohnungstür.
„Hallo Rick … Wow! … Du hast dich ja perfekt auf den Besuch der Polizei vorbereitet“, prustet Samantha los.
„Deine Bude gleicht einem Wertstoffhof, es riecht, wie auf einem orientalischen Cannabis-Bazar und du siehst aus wie ein wimmerndes Suchtopfer im Endstadium. Also, da steht glaubhaft einer, der auf gar keinen Fall bei Rot über eine Ampel fahren würde … ja, bist du denn komplett balla-balla, Rick!“
Sam ist entsetzt und nach zwei Sekunden ist es Rick auch.
„Die Sheriffs!“ Er sieht sich um. „Shit, die habe ich ja total vergessen.“
Rick sieht auf die Wanduhr. Es ist kurz vor 10 Uhr. Sie könnten also jede Minute auftauchen.
„Sam, ich muss mich jetzt ranhalten.“ Rick schiebt Sam zur Wohnungstür.
„Ja ja, ist ja gut. Ich wollte dir nur ein Nackenkissen für dein Schleudertrauma vorbeibringen“, erwidert Sam brüsk.
„Hier, leg es an. Du wirst sehen, es hilft. Vermutlich auch beim Besuch der Polizei. Kranke und Verletzte werden mit etwas mehr Mitgefühl behandelt. Das kannst du bestimmt brauchen. Tschüss, bis die Tage … und …“, sie dreht sich beim Weggehen noch mal um, „… trink etwas Zitronensaft. Zitronensäure zerstört THC. Ist zwar schade um den schönen Trip, aber sicher vorteilhaft, wenn du beim Verhör nicht total high bist.“
„Ja, OK, mach ich … bis später.“
Rick weiß gar nicht, wo er anfangen soll. So rennt er zunächst ziellos im Loft hin und her. Wie kann er die Situation retten. Rick schnäuzt sich die Nase, laut wie ein Elefant, wischt sich den Sabber von den Mundwickeln und mustert die Lage mit rotunterlaufenen Augen.
Der Qualm muss raus!Er reißt Türen und Fenster auf, wedelt minutenlang mit dem Saunahandtuch die Rauchschwaden nach draußen und sprüht ordentlich Pitralon in die Luft, ein älteres Weihnachtsgeschenk seiner Mutter.
„Igitt, igitt, das Zeug riecht echt krass. Die fallen mir ja bewusstlos um. Möglicherweise eine weitere Straftat.“
Rick holt noch mal das Handtuch.
OK, das muss reichen.Jetzt Tisch abräumen, gleich in die Mülltonne, ohne Vorsortierung.Abwischen, auf den Boden und unter den Teppich schubsen.
Oh Gott, der Boden, übersät mit T-Shirts, Unterhosen und leeren Flaschen. Alles in eine Lidl-Einkaufstasche und hinter den Schrank werfen.
TV einschalten, das beruhigt: Es läuft Olympia in Athen, Zusammenfassung vom Vortag.
In die Küche, Zitronen auspressen, trinken. Rick hat das Gefühl, als würden sich alle Plomben lösen und ein höllischer Wind durch die Zahnlücken pfeifen. Hoffentlich entkrampft sich die Gesichtsmuskulatur wieder.
Dann ab ins Bad, kurz duschen, Scheitel ziehen, ein Spritzer Aftershave auf den Hals, sauberes Hemd, Hose … und fertig.Nein … noch Sams Nackenkissen anlegen. Dann setzt er sich wieder an den Tisch, schnauft kurz durch.
„Na also, warum macht Sam immer so einen Stress. Ist doch alles gut … So, jetzt können sie kommen, die Sheriffs.“
Rick hat den Gefechtsmodus eingeschaltet, DefCon2 sozusagen. Aber er ist unbewaffnet, er hat keine Argumente, ganz zu schweigen von Beweisen für seine Wahrheit. Da er keine neuzeitlichen Zeugen hat, muss Galileo Galilei herhalten. Der kluge Herr ist zwar schon seit Jahrhunderten tot, aber er ist jenseits aller Vorbehalte und ein zeitloser Zeuge. Kraft seiner ewigen Formeln der Kinetik sollte es rechnerisch beweisbar sein, dass seine Ampel grün war, als er in die Kreuzung fuhr. So jedenfalls hofft Rick, seine Wahrheit schlüssig beweisen zu können. Er freut sich schon auf die belämmerten Gesichter der Ordnungshüter.
„Also … der Aufprall war im rechten Winkel.“