Drei Brüder - Johannisfeuer - Frank Oberon - E-Book

Drei Brüder - Johannisfeuer E-Book

Frank Oberon

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Beschreibung

Der Watzmann spielt verrückt und auch Rudis Wandergäste. Sie verschwinden wie das Echo vom Königssee, das berühmte Audiologo von Berchtesgaden, und kehren als Tote zurück. Das Szenario widerspricht der Schönheit der Natur, die zu den Top 5 in Bayern gehört. Als die Besucherzahlen zurückgehen, liegen die Nerven blank. Rudi bittet seine Brüder Chris und Rick um Hilfe. Chris könnte sich nebenbei um das verlorene Echo kümmern, ein dilettantisches Ablenkungsmanöver, wie sich herausstellen sollte, denn das Mysterium am Watzmann hat mehr Facetten als alle Beteiligten ahnen. Die Soko München kommt zu Hilfe.

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Seitenzahl: 495

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie­.

Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fern­sehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und ­auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

© 2024 novum publishing

ISBN Printausgabe: 978-3-7116-0004-2

ISBN e-book: 978-3-7116-0005-9

Lektorat: Mag. Angelika Mählich

Umschlagfotos: Olena Agapova, Dmitry Orlov | Dreamstime.com

Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh

Innenabbildungen: Frank Oberon

www.novumverlag.com

Einleitung

Glauben Sie, dass es mehr zwischen Himmel und Erde gibt, als uns phantasielose Wissenschaftler glauben machen wollen?

Ja - Lesen Sie dieses Buch … Sie sind nicht alleine

Nein - Lesen Sie dieses Buch … Und fragen sich noch mal

Im Übrigen kann es überall passieren. München und das Alpenvorland sind da keine Ausnahme. In Bayern macht es nur mehr Spaß.

Die Drei Brüder

Prof. Dr. Chris Fox ist ein weltbekannter Atomphysiker. Wie sein Zwillingsbruder Rick ist er ledig, auch weil ihm seine Forschungsreisen in die subatomare Welt der Quanten keine Zeit für lokale Romanzen lassen. Er hat zwar ein Auge auf Rebecca geworfen, eine attraktive Kriminalbeamtin der Münchner Soko. Aber die steht nicht auf Männer.

Rick Fox lebt im Münchner Stadtteil Lehel. Im Gegensatz zu seinem Zwillingsbruder pflegt er einen lockeren Lebensstil, liebt seine Nachbarin Samantha und Gin Tonic, und er raucht Joints. Beruflich ist er selbständig und programmiert numerische Algorithmen. Unklar ist, warum er im linken Auge eine Bionic-Linse hat. Unter den Brüdern wird darüber aber nicht gesprochen.

Rudi Fox ist Bergführer und besitzt ein Sportgeschäft für Alpinsport in Oberaudorf. Das Leben seiner zwei Brüder ist ihm fremd, weil er zum einen nichts von Quantenmechanik versteht und zum anderen nichts mit dem lasziven Leben in der Münchner Szene zu tun haben will.

Weiters …

Samantha Hilbert ist Ricks Nachbarin. Beide schätzen ihre Unabhängigkeit, treffen sich aber mehrmals pro Woche, wenn ihr Hormonspiegel überschwappt. Sie liebt und hasst Ricks lockeren Lebensstil. Als Journalistin kennt sie die Münchner Szene. Ihr Büro ist ein Tisch im Café Magnifique.

Das Ermittlerteam

… am Tegernsee

Herbert Sokrates leitet als Hauptkommissar die Soko Berchtesgaden. Kriminaltechnisch ist es ein ruhiger Ort, der vom Tourismus geprägt ist. Als sich plötzlich Todesfälle häufen, ist er überfordert. Er bekommt Hilfe aus München.

Joe Santer ist Kriminalassistent. Anders als sein Chef neigt er zu impulsiven Ausbrüchen. Leider gibt es nicht so viele Verbrechen, bei denen er seine fragwürdigen Ermittlungs­methoden ausleben kann.

Rebecca Jones ist Kriminalassistentin in der Soko München. Auf Wunsch der drei Brüder macht sie ein paar Tage Urlaub in Berchtesgaden und ermittelt zunächst undercover in den Mordfällen rund um Rudis Bergwanderungen. Im traditionell geprägten Berchtesgaden fällt ihr Äußeres besonders auf: schlohweiße Haare, schwarz geschminkt.

Weiters

Dr. Anselm Bauernfeind ist Dezernatsleiter der Soko Berchtesgaden. Er und sein Amtskollege in München, Dr. Julius Pauli, waren Kommilitonen an der Polizeiakademie. Dr. Pauli vermittelt ihm Rebecca als Verstärkung für sein überfordertes Team.

Vorwort

Sein ganzes Leben lang hat Abraham jeden Anruf Gottes mit einem klaren »Ja, hier bin ich« beantwortet. Demütig und ergeben bekennt er sich zu diesem Gott und dessen Zumutungen, die in letzter Zeit immer schwieriger werden. Wozu und wofür auch immer will sein Gott jetzt eine finale Bekräftigung seiner Treue. Hierzu braucht es aber schon einen Berg, der Himmel und Erde verbindet: Morija!

Wenn Abraham nicht im Nahen Osten gelebt hätte, sondern in Bayern, wäre der Berg vermutlich der Watzmann gewesen. Und dann wäre auch der Weg hinauf angenehmer gewesen, bei saftigen Wiesen und Kuhglocken, weißblauem Himmel und urigen Hütten, statt steiniger Stolperwege, glühender Sonne und gastronomischer Wüste.

»I muass aufi, aufi auf’n Berg«, soll er zu seiner Sara gesagt haben, als sie ihn anfauchte: »Ja wo rennst denn schon wieder hin, du Depp, du damischer?«

Warum sich Abraham auf den anstrengenden Weg hinauf auf den Berg begeben hat, ist nicht vollständig überliefert. Sicherlich wird er schon gewusst haben, dass die Luft dort oben besser ist und auch die Sicht. Und die Alltagsprobleme mit seiner Frau Sara schrumpfen scheinbar wie die Landschaften.

Seither sucht der Mann die Berge nicht nur der Erholung wegen, sondern um dem Göttlichen näher zu sein und entfernter dem Zänkischen.

Mittwoch - 14.06.2006

Für viele Gäste wird es der Establishing Shot werden, das Einstimmungsbild ihres Urlaubsfotobuches. Bei Filmen ist es immer die erste Kameraeinstellung und zeigt eine markante, einzigartige Aufnahme der Umgebung. Durch einen Establishing Shot wird der Ort der Handlung vorgestellt, damit man weiß, wo sich das Ganze abspielt. Besonders einfach ist dies an berühmten Orten, wie Hongkong, San Francisco, Paris, Rio de Janeiro oder Berchtesgaden. Hier stehen stumme Protagonisten rund um die Uhr kostenlos in Pose:

HK Bay Skyline, Golden Gate Bridge, Eiffelturm, Zuckerhut, Watzmann.

Heute haben die Urlauber die besondere Gelegenheit, ihren Establishing Shot mit einem kitschigen Klischeefoto zu verschmelzen. Solche Fotos haben die zweifelhafte Aufgabe, den zwangsgeladenen Gästen des alljährlichen Urlaubsbilderabends gleich zu Beginn ein Raunen zu entlocken und ihnen einen Vorgeschmack zu geben auf das, was jetzt zwei Stunden lang auf sie zukommt. Einige der Gäste kontern souverän und meinen, dass es erstaunlich ist, was man heute mit digitaler Bildverarbeitung alles machen kann. Dies sind vor allem die Gäste männlichen Geschlechts, die ohnehin nicht kommen wollten, weil ihnen der Bilderreigen des Vorjahrs noch in den Knochen steckt und … Weil am Samstagabend des 24. Juni das Fußball-WM-Viertel­finale zwischen Deutschland und Schweden stattfindet. Aber wie so oft im Leben siegt die weibliche Obrigkeit mit Argumenten, die in ihrer Logik so schwierig zu verstehen sind, dass der männliche Verstand außer »Äh, äh … aber, wieso …« kein überzeugenderes Plädoyer für einen romantischen Abend in zärtlicher Zweisamkeit bei Fußball, Dosenbier und Kartoffelchips über die Lippen bringt. Erfolgreiche Vetos müssen wie aus der Pistole geschossen kommen und Fußball wäre für die feingeistige Damenwelt ohnehin kein Grund. Trostspendend ist der Umstand, dass der mitgeplagte Gastgeber ausreichend Bier gekühlt und Leberkässemmeln vorbereitet hat. Mit Alkohol lässt sich das weiß-blaue Bilder-Einerlei der diesjährigen Urlaubspräsentation deutlich besser überstehen.

Am Freitag, dem 9. Juni, hat die Fußball-WM 2006 in Deutschland begonnen. Sie wird als Sommermärchen in die Geschichte eingehen, aber auch als weiterer Beleg dafür, dass ohne Schmiergeld kein Ball bei einer FIFA-WM rollt. Keine fundamental neue Erkenntnis, das gehört mittlerweile zum Allgemeinwissen. Für die heranreifende Jugend gibt es vermutlich bald einen passenden Begriff im Duden. Daher wundert es umso mehr, dass viele Jahre später ein paar naive Beamte im deutschen Finanzwesen, danach die sensationslüsterne Presse und dann natürlich sofort viele verantwortliche Politiker zu der Frage kommen werden: Ist da vielleicht Bakschisch im Spiel gewesen, um das Sommermärchen 2006 nach Deutschland zu holen?

Wie bitte? Diesmal nicht? wäre die weitaus größere Überraschung gewesen. Dabei war es diesmal günstig wie nie: nur lasche 6,7 Millionen Euro, ein richtiges Schnäppchen, Glück gehabt, könnte man auch sagen. Unser Franzl hat sich den Arsch aufgerissen, um die WM für dieses mickrige FIFA-Kleingeld plus kleinere Gebühren nach Deutschland zu holen, aber gleichzeitig ein Hundertfaches an Umsätzen für die Tourismusbranche und an Steuern und Abgaben und, was mindestens genau so viel zählt, ein längst überfälliges positives Image für unser Nation:

Deutschland. Zu Gast bei Freunden

Der Franzl ist in der Nachkriegszeit im Stadtteil Giesing aufgewachsen. Da musste man schauen, wo man bleibt, und vor allem, wie man zu ein paar Kröten kommt. In Giesing war es üblich, dass die Gangs-of-Giesing heimatlose Fahrräder gesammelt und an ladenlose Kolonialhändler verkauft haben. Wer sich die Mühe gemacht und vorher den Rost ordentlich abgeschmirgelt hatte, der konnte gut und gerne 25 % mehr Kohle für ein Rad bekommen. So wurde jedem Straßenjungen in Giesing schon früh bewusst, dass es durchaus vorteilhaft ist, wenn man vor Geschäftsabschluss ordentlich schmiergelt oder beim Geschäftsabschluss ordentlich Schmiergeld dabeihat.

Im Prinzip gibt es zwei Arten von Urlaubsorten: das Meer und die Berge.

Die schiere Unendlichkeit des Wassers beflügelt den frommen Wunsch, woanders hinzukommen, dorthin, wo es immer schön und warm ist, dorthin, wo die Frauen kaum etwas anhaben und auf die Männer hören, kurz gesagt, einfach woanders hin, wo es einfach anders ist.

In den majestätischen Bergen hingegen keimt die Hoffnung, ewig hier bleiben zu dürfen und dass die anderen den Weg hierher nicht finden. Berchtesgaden hat beides, Wasser und Berge. Nur hier tragen die Männer kurze, ledrige Beinkleider und sie hören auf die Frauen. Trotzdem gehört der Königssee zu den Top-Ten-Tourismus-Filextstücken in Bayern.

Und bei so viel Schönheit im Übermaß darf schon mal der Herrgott mit ins Spiel kommen:

Wen Gott liebhat, den lässt er fallen in dieses Land,

schreibt Ludwig Ganghofer vor über 100 Jahren.

An dieser Liebe wollen jährlich eine halbe Million Menschen teilhaben, meist aus Deutschland und Amerika, aber immer mehr auch aus Russland. Letztere verraten ihre Herkunft durch ihre weibliche Begleitung mit üppigen und provokativ blinkenden Grabbeigaben an Hals und Fingern und durch Pelzkragen mitten im Hochsommer.

Unverwechselbar auch die Hochgeschwindigkeits-urlauber aus Japan. Sie erfreuen sich an der Schönheit der Natur ausschließlich durch das Kameraobjektiv. Dabei beeindruckt die Fernostgäste weniger das Blau des Sees und die majestätischen Berge, sondern mehr das kitschige Bunt des kleinen weißen Bonsai-Kirchleins mit zwei putzigen Zwiebeltürmchen und purpurroten Kuppeldächlein, das auf der Halbinsel Hirschau steht, scheinbar mitten im Gebirgssee: Sankt Bartholomä. Es ziert die meisten Postkarten und wird als der Inbegriff bayrischer Idylle gehandelt.

Die Kapelle ist eingebettet zwischen steil aufragenden Berghängen, darunter auch die höchste Felswand der Ostalpen, die Watzmann-Ostwand. Aber ohne den See wäre die Kapelle nicht zu ihrem weltberühmten Ansehen gekommen.

Der glasklare Gebirgssee sieht nicht nur so aus, als würde man von seinem Wasser das beste Bier der Welt brauen können, in der Tat, er ist der sauberste See Deutschlands – mit Attest.

***

Die männlichen Urlauber, die mit ihren Frauen oder Freundinnen vor der abfahrtbereiten Bayern-Galeere am Königssee stehen, leiden heute unter der Bedrohung, das WM-Spiel Deutschland gegen Polen um 21 Uhr zu verpassen. Wohlwollend, aber auch notgedrungen sagen sie deshalb zu allem Ja und Amen, was ihre besseren Hälften so alles an kostspieligen Ideen vorschlagen. Es soll als vorauseilendes Lösegeld eingesetzt werden, um sich von der Einladung zum traditionellen Neckermann-Dinner freizukaufen, das heute um 20 Uhr beginnt. Empfang ist bereits um 19 Uhr. Small Talk mit dem Gastgeber und den anderen Urlaubsgästen bei ein, zwei Gläschen Söhnlein Brillant. Bei diesem Warm-up vereinbart man die Tischzusammenstellung für das nachfolgende Dinner nach individuell unterschiedlichen Wertmaßstäben, wie Äußerlichkeit, Unterhaltsamkeit, Nützlichkeit.

Im Moment ist ein solcher Vorschlag der Frauen, nicht den billigen Raddampfer KÖNIG2 zu nehmen, den auch ihr klein­karierter Nachbar buchen würde, sondern etwas Besseres. Besser gesagt, etwas Teureres: Eine üppig geschmückte Galeere für sechs Ruderer und einen Steuermann, sowie Platz für zwölf handverlesene, gut zahlende Gäste, den Veranstaltungsleiter und einen Musiker. Dieser hält vielversprechend eine goldglänzende Trompete in der Hand.

Das Bild ist so bizarr, dass es nur knapp am Kitsch vorbeischrammt. Es ist ein wunderschöner Junitag, wie jeder Tag während der Fußball-WM. Die Urlaubergruppe steht am Seeufer am Malerwinkel, also an der Nordspitze des Königssees. Hier fahren alle Schiffe und Boote zur Rundfahrt ab, so auch die Bayerngaleere. Der Blick auf den See ist gewaltig: grün-blau changierendes Wasser in unendlicher Länge, eingerahmt von imposanten Bergen. Auch Ihre Majestät ist heute wieder da: der Watzmann, das steinerne, übermächtige Symbol des weltberühmten Ortes Berchtesgaden. Und, als ob es nicht schon genug an Mächtigkeit in Farben und Formen wäre, steht eine hochglanzpolierte Edelholz-Bayerngaleere am Landesteg. Sie ist knapp zwanzig Meter lang und üppig mit rot-weißen Geranien geschmückt. Vorne sitzen sechs frische, bayrische Burschen in Chiemgauer Tracht, stramme Wadeln, Arsch in der Lederhose, ein halboffenes Trachtenhemd und ein wild-grüner Filzhut mit Gamsbart. Sie halten die Riemen senkrecht in die Luft. Es soll heißen »Von mir aus kann’s losgehen«. Dahinter der Steuermann im selben Outfit. In der Mitte stehen rechts, also Steuerbord, ein schneidiger Trachtler mit einer goldglänzenden Trompete und auf der Backbordseite der Fremdenführer Bernhard Wiesinger, bekannt als Neckermann-Bernhard. Er schafft an, weil er alle an Bord bezahlt. Das Geld bekommt er natürlich von den zwölf Urlaubern, von denen jeder zehnmal mehr für den exklusiven Trip bezahlt als das gemeine Volk, das vor dreißig Minuten mit der KÖNIG2 in Richtung St. Bartholomä abgefahren ist.

Es zieht sich hin, die Abfahrt der Bayerngaleere. Bernhard Wiesinger sieht auf seine Uhr. Er muss einen strikten Zeitplan einhalten. Dieser ist zwar mit viel Reserven ausgestattet, aber diese Reserven sollte man nicht schon vor der Abfahrt vertrödeln. Während der Fahrt kann noch viel passieren. Das weiß der Wiesinger aus jahrelanger Erfahrung.

Der Zeitplan ist maßgeblich vom berühmten Echo bestimmt. Die beiden Dampfer KÖNIG1 und KÖNIG2 und auch die Bayerngaleere dürfen sich nicht an der Echowand treffen. Das Echospektakel muss jede Fahrt selbst gestalten dürfen, so wie es im Prospekt steht. Die Ruderfahrt der Bayerngaleere ist streckenmäßig die kürzeste. Sie geht nur bis zur Kapelle und wieder zurück zum Malerwinkel. Kurz vor Ende der Fahrt gibt es dann Schampus, auch für die Ruderer. Die haben ordentlich Durst bekommen. Der letzte Teil der Fahrt wird deshalb meist auch der zeitlich aufwendigste. Gleichwohl, die gesamte Tour mit Echo und Fotoshooting muss innerhalb von 70 Minuten beendet sein. Darin eingeschlossen alle Vorfälle, die oft nicht vorhersehbar sind.

Es würde sich lohnen, bis zur Station Salet am anderen Ende des Königssees zu fahren und einen kleinen Spaziergang zum Obersee zu machen. Gebannt schweift dort der Blick über den herrlich gelegenen See hinüber zur Fischunkelalm und zum Röthbach-Wasserfall, mit 450 Meter Höhe Deutschlands höchster Wasserfall. Aber da fährt halt nur ein Allerweltsdampfer hin und nicht eine schmucke Bayerngaleere.

Früher wurde das Echo nach Gebirgsschützenart zelebriert. Seit etwa 10 Jahren wird die Schussmethode durch ein Trompetenstakkato ersetzt. Es gab damals öfters aufsehenerregende Vorfälle, wie die Flucht eines jungen Mannes, der von einem bewaffneten Einkauf kam und im Touristengetümmel und auf See Schutz vor den nahen Häschern suchte. Vom überraschenden Echo-Böllerschuss aufgeschreckt hat er seinen Arbeitsrevolver gezogen und zwei Warnschüsse in die Luft abgegeben, worauf an Bord Chaos und Panik ausgebrochen ist. Wohl auch deshalb, weil das Echo furchterregend war. Es hörte sich an, wie eine dieser sinnlosen, aber erfrischend schussfreudigen Szenen aus einem Winnetou-Film. Alle männlichen Touristen sprangen sofort selbstaufopfernd ins kalte Nass, in der Meinung, dass die verbleibende Horde kreischender Frauen den jungen Schießhund um den letzten Verstand und dann zur Aufgabe bringen würde. So wie zu Hause halt. So lange wollte der dritte Ruderer von hinten, der Bernbacher Blasi aber nicht warten, weil es um seinen Verstand auch nicht so gut bestellt war. Er hat dem mit dem Arbeitsrevolver wild fuchtelnden Jungräuber eine Mordswatschn eingeschenkt und ihm gut zugeredet: »So, und jetzt hoggst de hi, sonst fangst nó oane.«

Der eingeschüchterte Raub-Azubi hatte alles verstanden und gehorchte aufs Wort. Der Bernbacher Blasi hat ein scharfgeschnittenes, leicht gegerbtes Gesicht und ist, wie alle anderen Burschen in dieser Gegend, schnell auf Betriebstemperatur. Seine Kernkompetenz liegt weniger in der intellektuellen, meist viel Zeit in Anspruch nehmenden, Schlichtung von Meinungs­verschiedenheiten, sondern mehr in der schlagkräftigen Argumentation, die schneller geht. Der bewaffnete Teil dieses Vorfalls war damit beendet. Das Gekreische ebbte ab, die Hysterie nicht, wie man an den glasigen Augen der Touristinnen und an der hohen Atmungsfrequenz erkennen konnte. Sie wurden alle ins Krankenhaus Berchtesgaden gebracht, die pudelnassen Männer wegen Unterkühlung und die Frauen zur Behandlung ihrer Hyperventilation. Sie mussten mehrere Minuten in eine Papiertüte ein- und ausatmen. Die Männer auf der anderen Seite des Warteraums bekamen stattdessen heißen Tee mit Obstbrand, eine lokal bewährte Universaltherapie. Sie mussten dabei den gegenüber sitzenden Frauen zuschauen, die hektisch Kohlendioxyd schnauften und weiße Papiertüten auf- und abbliesen und aussahen wie rollige Lurche auf Brautschau.

Der Räuber in Ausbildung war desillusioniert und ließ sich ohne Gegenwehr verhaften. Man hatte das Gefühl, er suchte Schutz vor den diversen Urgewalten der Natur. Seine Beute in Höhe von 187,34 Euro hat er anstandslos zurückgegeben, abzüglich des Fahrgeldes von 8,25 Euro für die Seefahrt.

***

Wie fast jeden Tag in den Bergen ist er auch heute rechtzeitig vor Sonnenaufgang aufgestanden. Er sitzt auf einer erhöhten, nach Wiesenblumen und Gras duftenden Almwiese und blickt nach Osten. Heute hat er auf der Mitterkaseralm mit einer achtköpfigen Touristengruppe übernachtet. Nicht ganz überraschend wurde gestern Abend ziemlich viel getrunken, auch harte Getränke, wie Enzian und andere leicht entzündbare Gebirgsbrände. Deshalb liegt seine Crew noch in den dampfenden Lagerbetten des Gemeinschaftsschlafraumes. Im Vergleich dazu ist die Luft auf seiner Almwiese deutlich frischer und vermutlich auch sauerstoffreicher.

Vor etwa einem Jahr wurde Rudi gebeten, professionelle Bergtouren im Gebirgsraum Königssee anzubieten. Rudi besitzt ein Profi-Sportgeschäft in Oberaudorf und ist über die Landesgrenzen hinaus bekannt. Inzwischen beliebt auch als Bergführer, weil er die Zügel etwas lockerer lässt als seine fanatischen Kollegen, die es nach Meinung der Gäste etwas übertreiben mit der Disziplin. Vor allem abends mit dem Schnaps und morgens mit der Zeit.

Das Gros seiner Gäste ist im Hotel Watzmann unter­gebracht. Dort bekommt der Wiesinger Bernhard eine anständige Provision. Die ansässige Jugend geht abends gerne ins hoteleigene Restaurant zur Wally, eine großräumige Wirtsstube, zwecks Informationsaustausch. Den Sozialkontakten förderlich sind das gute Edelstoff­bier, der günstige Preis von 6,90 Euro pro Liter und die offenherzige Bedienung, die Reiter Susi. Die Susi ist 27 Jahre alt und geizt nicht mit optischen Signalen. Das wirkt sich positiv auf den Flüssigkeitskonsum aus und auf die männlichen Instinkte der allabendlichen Hackordnung. Von der Natur so vorbestimmt, werden die Argumente mit zunehmender Uhrzeit lauter und unmissverständlicher, aber umso unverständlicher für die neugierig lauschen­den Touristen aus aller Welt an den Nachbartischen. Es ist eine kostenlose, bildgewaltige Aufführung: ein Einakter in Natursprache.

»Hoid’s Mei, sunst fangst oane«

Dieser Ausdruck wird im allabendlichen Einakter oft als Abschluss diverser, hitziger Dialoge verwendet. Als Gast in fremden Ländern nimmt man gerne ein paar solcher Sprachfloskeln mit nach Hause. Es macht einfach mehr her, zu den hunderten von Bildern auch selbst­gesprochene Texte in der Sprache der Eingeborenen (hier: bayrisch) einzuweben. Vor allem die Fernostler meinen, dass dieser Ausdruck ein einziges Wort ist, nämlich »hodasmeisunfantoane« und »Danke, ich habe verstanden« bedeutet. Man muss das Wort aber schon konsequent üben. Am besten vor dem Zubettgehen und gleich nach dem Wachwerden im Bett, mit bewegten Lippen sprechen, um es sich besser zu merken und sprachlich zu perfektionieren.

Rudi sieht ehrfürchtig nach Osten. Die Freilichtbühne ist vorbereitet, alles noch in einen grauen Vorhang gehüllt, aber bereits erkennbar mächtig in den Requisiten. Schroffe Felsen, weite Almen, vorsichtiges Tirilieren der Vögel, eine Ode an die noch schläfrige Natur, ungeduldig warten alle auf die alles überstrahlende Primadonna. In den Bergen ist das morgendliche Schauspiel imposanter als im Flachland, wo es graut, bevor es hell wird. Die hohen Berge verbergen sie lange, bis sie dann ihren wirkungsvollen Auftritt hat. Zuverlässig, wie jeden Tag tritt sie in die Szene ein und taucht alles in eine orange Farbe, bis sie mittags gleißendes Licht auf den See wirft, der vor Ehrfrucht die Götterfunken als blitzende Sterne zurückspiegelt. Es ist der allen sichtbare Dank an die generöse Spenderin des Lebens. Die Hütten machen sich jetzt klein in Anwesenheit der monströsen, altehrwürdig zerklüfteten Majestäten im Glanz der Morgensonne.

Rudi dreht sich langsam um 360 Grad. Es sind unzählige Postkarten, die sich vor ihm auftun. Eine barocke Landschaft, zu üppig für ein natürliches Bild, für ein Gemälde zu schwülstig, zu unwirklich. Rudi ist gerne Mitglied in diesem Mia-san-mia-Club, auch wenn sich die schnarchenden Furzer im Schlafraum immer wieder lustig machen, über sein Müaah-saan-müaah-Gefühl. »Meinetwegen, sollen sie doch«, denkt sich Rudi, während er den Überbietungswettstreit der Sehenswürdigkeiten betrachtet und den Odem dieses göttlichen Morgens einatmet.

So gegen halb neun kriechen die ersten Crewmitglieder aus den grauen Feldbetten und verlassen die CO2-Methan-Atmosphäre. Einen taumelnden Stinker nach dem anderen spuckt die Hütte aus. Die meisten sind noch nicht richtig angezogen, stützen sich in gebückter Haltung auf den Oberschenkeln ab, winden sich unkoordiniert, gähnen laut vor sich hin, reiben sich die roten Augen, strecken die Arme in die Höhe. Vermutlich ist es genau dieses Bild, auf das andere Bergführer verzichten wollen. Unbeeindruckt von diesem Sauhaufen zeigt Rudi mit einer gekonnten Rundumpromenade seiner rechten Hand die Heimat seiner Berge.

»Look, is this nothing«, doziert er mit stolz geschwellter Brust.

»We go now something eating and then we start with the tour… so, jetzt geht’s alle was essen und aufs Klo. Wir brechen in einer Stunde auf«, sind Rudis Anweisungen in zwei Sprachen.

»Geht klar, Rudi«, der Rotschopf vorlaut und unab­gestimmt stellvertretend für sein deutsches Team.

»Hodasmeisunfantoane«, auch Matsuhisa hat es verstan­den und geht mit den anderen Bergkameraden in die Frühstücksstube. Matsuhisa hat eine Unterkunft im Hotel Watzmann und ist oft im Restaurant zur Wally.

***

Bernhard Wiesinger kennt das Zeremoniell schon. Zunächst muss jedes Paar den Establishing Shot en nature schießen. Also ohne störendes Fremdmaterial auf dem Foto, wie den überdrehten Ostgoten Klaus Brumel, der total ausgeflippt umherrennt, weil er vorher noch nie an einem See in den Bergen war. Seine ortsverwurzelten Skatbrüder werden staunen, wenn er von seinem mutigen Hochgebirgsabenteuer berichtet. Dann braucht jedes Paar noch eine Nachweispflicht, dass sie auch wirklich selbst anwesend waren und nicht eingekaufte Fotos verwenden. Alles schon vorgekommen. Bei der Wucht der Bilder wäre das auch ein durchaus naheliegender Verdacht. Hierzu stellt sich der eine Teil des Paares ans Boot und der andere Teil schießt das Beweisfoto. Meist muss er schießen. Zum Schluss kommen noch die Neidfotos für die bigotten Nachbarinnen. Die Frauen umarmen nach­einander einen der feschen Burschen, mit dem Riemen in der Hand. Das hat durchaus symbolische Kraft und wirkt mund­wässernd für alle alltagsgeschädigten Hausfrauen.

Irgendwann wird es dem Wiesinger zu bunt und er klatscht in die Hände.

»So, jetzt aber husch, husch an Bord, liebe Gäste, sonst fahren die Burschen noch ohne euch ab. Please go now on board or the boys drive without you.«

»Aye, aye Käpt’n«, brüllt Klaus Brumel, immer auf Zack und voll wach.

»Hodasmeisunfantoane«, erwidert das japanische Team laut und verständlich, bevor es Hals über Kopf an Bord stürmt.

Innerhalb von fünf Minuten ist alles an Bord. Es gibt Geschubse und Gezänke ob der besseren Plätze, die es nicht gibt. Der Wiesinger muss aber nicht eingreifen.

Dann geht alles ab wie auf der Gorch Fock, nur ohne Segel, dafür mit Gamsbart. Es folgen die Kommandos des Steuermannes.

»Achtung!« Die Galeerenruderer heben die Riemen senkrecht nach oben.

»Fertig!« Die Galeerenruderer legen die Riemen ins Wasser und richten diese aus.

Die Urlauber wissen jetzt schon, dass ihr Geld gut angelegt ist. Zucht, Ordnung und Gehorsam. Die deutschen Tugenden brechen sich Bahn. Die Frauen sehen erst das Szenario mit Neid und dann ihre Männer an. Wenn die mal so folgen würden wie diese Burschen hier. Es wird ein frommer Wunsch bleiben.

»Schlag 1/4!«, brüllt der Steuermann und es geht los mit einem Riemenzug alle vier Sekunden. Das ist die Anfahrgeschwindigkeit. Das Kommando Schlag 1/1 wäre die Rammgeschwindigkeit, wenn zum Beispiel, was aber äußerst unwahrscheinlich ist, die KÖNIG2 mit dem gemeinen Volk angreifen würde.

Auf dem Boot werden die Fotomotive immer spektakulärer. Tief eingebettet zwischen steil aufragenden Felswänden, smaragdgrün zu Füßen der imposanten Watzmann-Ostwand, trägt der Königssee die Bayerngaleere lautlos hinaus. Keiner sagt ein Wort, außer die beiden Russen. Sie quasseln leise, aber aufgeregt untereinander. Alle anderen sind in Ehrfurcht erstarrt ob der launigen Schönheit der Natur. Diese Ruhe. Man hört das synchrone Plätschern der sechs Riemen. Diese Stimmung sowie die Nähe zu den hohen Felswänden ist in der Tat beeindruckend und kann in seiner Mächtigkeit fotografisch nicht eingefangen werden. Und es wird noch besser, wenn nach und nach die Wallfahrtskirche Sankt Bartholomä immer deutlicher in der Ferne zu sehen ist. Die Urlauber dürfen aufstehen, um Fotos zu machen. Aus Sicherheitsgründen müssen sie aber am Platz bleiben. Es wäre nicht das erste Mal, dass ein vollkommen ins Entzücken geratener Tourist die Welt nur noch durch das Kameraobjektiv sieht, nicht aber die bedrohliche Bordkante. Man merkt sofort, wie kalt der Königssee mit seinen fast 200 Meter Tiefe ist, auch im Sommer: erfrischende 16 Grad oder umgerechnet 2,5 Zentimeter. Bisher sind immer nur tollpatschige Männer ins Wasser gefallen.

Gleichwohl, für die Fische ist dies eine richtige Pudelwohlfühl-Temperatur. Die Seerenken gedeihen prächtig und sind in den umliegenden Restaurants eine Delikatesse vom Feinsten. Meist serviert als Müllerin zu Kartoffeln mit Petersilie und brauner Butter, dem bayrischen Olivenöl, übergossen, oder als weithin riechbarer Steckerlfisch in den zahlreichen Sommer-Biergärten rund um den See.

***

Mittlerweile sind zwei Jahre vergangen. Und das ist gut so. Die Beziehung zwischen Rick und seiner Nachbarin Samantha war lange Zeit unterkühlt, abwartend. Besonders Samantha brauchte diese Zeit, sich mit der Situation anzufreunden, dass Rick an einer Anomalie leidet. Rick wohnt im Dachgeschoß eines vierstöckigen Altbaus im Münchner Edeldistrikt Lehel. Das großräumige Loft nennt er sein Wigwam. Seit 2004 weiß Rick, dass er links eine Biodatenlinse hat, ein Geburtsfehler. So jedenfalls die beschwichtigende Antwort auf quälende Fragen nach seinem humanoiden Ursprung. In der Tat, der Grund für diese besondere Fähigkeit, wie man den biologischen Augenfehler auch beschreiben könnte, bleibt fachlich unbeantwortet. Beide, also Samantha und Rick, wollen das so. Seine Brüder Chris und Rudi wollen es auch nicht genauer wissen.

Auf Wunsch von Samantha ging er zu seiner Hausärztin, um sich einem Crosscheck zu unterziehen: alles OK. Aber anders als sein Zwillingsbruder Chris hat Rick keine zwei blauen Augen. Das linke ist grün wegen dieser seltsamen Datenlinse, deren Bestandteil unter anderem gelbes Cadmiumsulfid ist. Daher hat sich das blaue Auge grün verfärbt. Die anderen medizinischen Untersuchungen haben nichts ergeben. Rick ist so normal wie seine Brüder Chris und Rudi. Aber ganz normal sind sie offensichtlich alle drei nicht. Sie sind Junggesellen und von unterschiedlichen Geistern beseelt. Rick ist ein Freigeist und Numeriker, Chris ein Forschergeist und Atom­physiker und Rudi ein Geschäftsmann mit Sportsgeist. Anscheinend sind diese Geister nicht besonders geeignet, nachhaltige Beziehungen einzu­gehen.

Rick hat bisher vergeblich versucht, durch mentale Kräfte den Betriebszustand seiner bionischen Datenlinse zu kontrollieren. In besonderen Zuständen physischer oder psychischer Erregtheit schaltet sich die Datenlinse unaufgefordert ein und liefert pausenlos Informationen von dem Objekt, das gerade im Fokus der Augenlinse ist. Dies passiert zum Beispiel immer dann, wenn er sich einen Joint gönnt. Und das ist alles andere als lustig. Seine Linse meldet dann den Batteriestatus aller Fern­bedienungen, die Restmenge Klopapier, die Temperatur im Eisfach, die maximale Belagerungsblockade seines Wig­wams, den Füllstand aller Flaschen in der Bar, die Entfernung zum nächsten Fluchtweg.

Heute Abend kommt Samantha, seine Nachbarin. Sie wollen gemeinsam das WM-Spiel Deutschland gegen Polen anschauen. Rick hat ein privates WM-Lotto erstellt.

Von dem Nachbarn aus dem zweiten Stock, Direktor Lührs, Prokurist in einem Baumarkt, hat er sich wieder entfremdet. Bei seinem ersten Date mit einer gewissen Gudrun ist Lührs bereits im Treppenhaus über sie hergefallen [Band 1 Farbspiel]. Das war vor zwei Jahren. Eine Anklage wegen versuchter Vergewaltigung konnte gerade noch verhindert werden. Gudrun rief noch im Treppenhaus die Polizei. Er wurde medizinisch als nicht zurechnungsfähig eingestuft. Seine Blut­probe war selbst für abgestumpfte Notärzte eine willkom­mene Abwechs­lung im täglichen Einerlei. im Blut und zusätzlich ein hoher THC-Pegel sind schon nichts Alltägliches, mehr aber, dass sein desolater Zustand dem Genuss von hochprozentigem Orangenlikör und Joints mit grünem Afghan geschuldet war. Nach der Untersuchung mussten die Ärzte den Behandlungsraum längere Zeit lüften. Lührs hat angegeben, dass er das Zeug von seinem Nachbarn Rick bekommen hätte und dieser ihm auch den beherzten Zugriff auf die Gudrun angeraten habe. Er sah sich mehr als Opfer und weniger als Täter. Der sollte Rick sein, wenn es nach Lührs gegangen wäre. Rick wurde zu diesen Anschuldigungen von Marshall Wegerich befragt. Aus Mangel an stichhaltigen Beweisen beließ man es bei einer formlosen Ermahnung. Gudrun nahm auch ihre Anzeige wieder zurück, nachdem sie vom schicksal­haften Zusammentreffen der beiden vor ihrem Besuch und von den unglücklichen Begleitumständen in Kenntnis gesetzt worden war. Der Burgfrieden war wiederhergestellt, einigermaßen. Man kam wieder auf die bewährten Anreden Arschloch und selber Arschloch zurück. Gudrun hat jede weitere Einladung ausgeschlagen, selbst als Lührs mit souffliertem Hummer in Champagnerjus an 200 Gramm Imperial Kaviar und einem 1992er MD-Sancerre einen spektakulären Lockvogel aufsteigen ließ.

Für das heutige Fußballspiel will Rick Brioche mit Lachstartar und Tempura-Scampi als Fingerfood vorbereiten. Trinken wie üblich Sauvignon Blanc. Fünf Flaschen hat er noch schnell von Jess aus dem Café Magnifique geholt. Für das Lachstartar nimmt er einen kurz angeräucherten norwegischen Lachs, in feinste Würfelchen geschnitten. Dünn gehobelte Tropea-Zwiebeln hat er gestern schon angeschwitzt und karamellisiert. Jetzt nur noch den Lachs und die Zwiebeln mit Frischkäse verbinden. Kaltstellen. Fertig.

***

Die Bayerngaleere nähert sich der beeindruckenden Echowand. Es ist die erste Station der Tour. Das Boot muss an einer bestimmten Stelle zum Stehen kommen und stehenbleiben. Das hört sich einfacher an, als es in der Praxis ist. Reine Übungssache. Routine also. Dank dieser klappt es auch dieses Mal ganz gut, auch wegen der klaren Kommandos des Steuermanns und der Disziplin der sechs Ruderer. Zudem erschweren heute keine relevanten Unterwasserströmungen die Positionierung des Bootes.

Die Gäste erkennen die zunehmende Anspannung der Crew vor allem am Trompeten-Hansi. Der Schaffner Hans schleckt seit fünf Minuten vermehrt am Mundstück, nimmt dieses wiederholt in den Mund und bläst ständig fauchend hinein, sodass sich seine Backen aufblasen wie beim gemeinen Wasserfrosch. Er wird dabei mehrfach fotografiert von den Japanern. Sie sehen darin eine bayrische Tai-Chi-Qi-Gong-Prozedur. Ihrer Meinung nach ähnelt das hochkonzentrierte Trompetenschattenblasen der fünften Grundübung mit dem Titel den Affen abwehren und passt wie die Faust aufs Auge zur praktizierten sechsten Grundübung Rudern inmitten eines Bergsees. Die japanischen Gäste kichern, gestikulieren und wispern aufgeregt untereinander. Sie wundern sich, warum die kniefreien Bajuwaren die Übung sechs vor Übung fünf machen. Das ist sehr ungewöhnlich, um nicht zu sagen falsch. Von den dadurch freiwerdenden Kräften merkt der Schaffner Hans allerdings nichts. Er ist schon im mentalen Tunnel. Es darf auf keinen Fall schiefgehen, sonst ist der Ärger groß, das Honorar klein und das Trinkgeld weg. Vielleicht ein paar Euro von den Japanern für sein Trompeten-Tai-Chi. Sollten dann noch die Deutschen das heutige Gruppenspiel verlieren … ist gleich auf den ganzen Tag geschissen.

Bis vor zwei Jahren war das Schauspiel Das Echo vom Königssee noch ein problemloser Akt, auch mit Trompete statt mit Böllerschuss. Eigentlich ist es ja ein Hörspiel. Etwas übertrieben hat man dabei aber immer schon etwas, zum Beispiel das siebenfache Echo vom Königssee. Das hat nachweislich noch keiner gehört, außer der Trompeten-Hansi hat hie und da noch mal unauffällig nachgeblasen.

Seit 2004 ist das plötzlich anders: Das Echo ist nicht sicher. Warum, darüber streiten sich die Bauern, die Bürgermeisterei, das Fremdenverkehrsamt und die Gelehrten. Jede Sparte hat so ihre eigene Sicht der Dinge, je nachdem, ob man näher an der Natur ist, oder am Geld, oder am Hirn. Für die naturnahen Bauern ist es glasklar. Irgendwer oder irgendwas hat den Watzmann verärgert. Er grollt auch neuerdings ab und zu, weithin hörbar. Das ist ein weiterer ungeklärter Effekt, der alle rund um den Königssee sehr beunruhigt.

Hierzulande genießen Bauernregeln mehr Vertrauen als die Tagesschau. Meist geht es dabei ums Wetter

»Abendrot, Schönwetterbot«

oder um bürgernahe Rituale

»Wenn sich das Jahr dem Ende neigt, der Landmann auf die Landfrau steigt«

Seit einem Jahr haben sich neue Bauernregeln dazu­gesellt:

»Wenn der Watzmann grollt, er das Echo holt«

»Wenn das Echo nicht mehr hallt, wird der Winter lang und kalt«

Der Bürgermeister beschimpfte die ausführenden Organe der Unfähigkeit. Er hat eine Musikschule für Echobläser gefordert, war aber am Veto der Gemeinderäte gescheitert. Die Scheibenwischerbewegung war eine eindeutige Geste, was die Räte von dieser Idee und vom Bürgermeister selbst hielten. Das Fremdenverkehrsamt forderte den Einsatz von Wissenschaft und Technik, um dem Problem zu Leibe zu rücken. Gelehrte gibt es nicht in der Gegend, nur geleerte Bierkrüge, davon aber viele.

Für den Pfarrer von St. Bartholomä ist der Fluch des Echos ein Segen. So viele Sonntagsbesucher hatte er in den Jahren zuvor nie, egal was so passiert ist. Begonnen hat es mit einem nächtlichen Tsunami in der Nacht des 18. August 2004. Seither wurden die Bewohner um den Königssee katholischer, sprich spendierfreudiger. Die Kollekte ist zu einem guten Geschäft geworden. Der Messwein kommt wieder aus der Toskana. Und der Messner kann gar nicht so viele Wachskerzen nachbestellen wie verbraucht werden. Der Boden um den kleinen Büßer-Altar ist mit Wachs zugekleistert. Nicht selten werden aus Platzgründen oder aus Eigennützigkeit oder aus Gehässigkeit noch reuewürdige, halbe Kerzen der Nachbarschaft ausgeblasen, auf dem Boden entsorgt und durch eigene, reuewürdigere Kerzen ersetzt. Der Kerzenmüll ist mittlerweile zu einer Plage geworden, trotz zweifacher Preiserhöhung. Der Pfarrer bleibt unbeirrt bei seiner pietistischen Auslegung, also bei einer Strafe durch den Herrn selbst. Nur … warum ist der Herrgott auf einmal so sauer? Das weiß auch der Pfarrer nicht verhörsicher. Es ist eine Sache des Glaubens und der Hoffnung. Die Hoffnung ist seit mehreren Minuten auch der Begleiter der Crew der Bayern-Galeere. Das Boot hat sich bereits in Position gebracht. Die stahlblaue Echowand zeigt ihre majestätische Gestalt. Der Hansi schluckt trocken durch. Die Gäste sind in Ehrfrucht erstarrt. Einige schupsen sich mit dem Ellbogen und deuten auf den glupschäugigen Trompeter, der die Wand beschwörend ansieht.

Eigentlich ist das Echo-Hörspiel einfach erklärt und genauso einfach ausgeführt … normalerweise. Die Schallwelle der Trompete T breitet sich mit 344 Meter pro Sekunde in Richtung Echowand aus.

Diese ist genau 205 Meter entfernt. Von dort wird sie reflektiert Damit Echo1 das Boot mit maximaler Lautstärke trifft, muss die Wand im rechten Winkel zur Schallwelle liegen. Dann hört man das Echo1 nach 1,2 Sekunden. Es breitet sich noch ein Echo2 aus. Es nimmt einen Weg von 275 Metern und trifft nach 1,6 Sekunden Sekunden das Boot. Echo1 ist inzwischen schon auf dem Weg ans andere Ufer und wird von dort wieder zurückgeschickt. Nach 3,4 Sekunden kommt es als Echo3 wieder am Boot an.

Mehr Echo ging selbst in den besten Zeiten nicht, egal wie gefüllt der Wachskerzenständer oder die Sonntags­kollekte waren.

Bereits als Kind hat man gelernt, abzuschätzen, wie weit ein Gewitter entfernt ist. Nach dem Blitz die Sekunden zählen, bis der Donner kracht. Nach drei Sekunden ist das Gewitter ungefähr einen Kilometer entfernt. Natürlich musste man schon in jungen Jahren bis drei zählen können. Kam der Kracher bei 1, 2, 3, wurde es höchste Zeit, mit dem Baden aufzuhören und nach Hause zu radeln. Das hat Mutter Christiane ihren Kindern Rudi, Chris und Rick ständig eingetrichtert. Etwas aus der Kategorie Rudelschutz.

***

Im Café Magnifique ist das heutige WM-Gruppenspiel natürlich Thema Nummer eins. Während des vierwöchigen Turniers hat Jess, die Chefin des Cafés, das Musikprogramm geändert. Statt der üblichen französischen Chansons laufen seit drei Tagen Pop-Chart-Classics, … und wenn es geht, unter Berücksichtigung der Nationen, die sich gerade ein Match mit Deutschland liefern. Beim heutigen Gegner Polen ist Jess nicht so richtig fündig geworden. Deshalb bleibt es bei bekannter Kult-Pop-Musik aus Deutschland. Stefan Waggershausen seufzt Hallo Engel.

Jess hat die Snacks von französischen Canapés auf ein­heimische Kost umgestellt. Die Gäste aus aller Welt sollen neben fußballerischer Spielkunst auch bayrische Kulinarik miterleben dürfen. Jess nennt ihre Speisenauswahl Bavarian Tapas, neben den Minibrötchen gibt es kleine Schälchen mit bayrischen Spezialitäten in Miniaturausführung, Spanferkel mit Kartoffelknödel, Zander auf Champagnerkraut, Nürnberger Bratwürstchen und als gastro­nomisches Abenteuer, Lüngerl mit Semmelknödel. Alles zu einem Einheitspreis von 6,50 Euro pro Schälchen und 3,50 Euro für ein Minibrötchen. Die Dolls United sind dran mit Eine Insel mit zwei Bergen.

Samantha sitzt mit Rebecca an einem der hinteren Tische. Sie kennen sich schon seit vielen Jahren. Besonders intensiv wurde ihre Freundschaft, seit Rebecca vermutlich Samantha, ganz sicher aber Samanthas Freund Rick, das Leben gerettet hat. Den damaligen Täter Philip Noser hat man zu 25 Jahren Haft wegen zweifachen Mordes und Mordversuchs verurteilt. Das, von seinem Verteidiger geforderte, psychiatrische Gutachten ergab keine eindeutig belegbare Schizophrenie. Dazu war Nosers Stolz einfach zu groß, um sich als Verrückter abstempeln zu lassen. Ganz im Gegenteil. Er hat den gesamten Gerichtssaal noch mal eindringlich vor der bevorstehenden Pandemie mit Millionen von Toten gewarnt. Der Richter hat sofort fünf Tabletten geschluckt und zitternd ein halbes Glas Wasser getrunken, die andere Hälfte hat er verschüttet.

Ja, er konnte sehr überzeugend auftreten, der ehemalige Doktorand des Kosmologie-Instituts.

***

Rebecca Jones ist die Assistentin von Kommissar Hubert Piotrowski von der Soko München. Vor zwei Jahren haben sie den Doppelmörder Philip Noser zur Strecke gebracht. Es war ein spektakulärer Fall, der heute noch Thema vieler Stammtisch-Diskussionen ist. Rebecca ist im Münchner Umfeld und darüber hinaus bekannt geworden, auch weil ihre homosexuelle Ausrichtung und ihr attraktives Aussehen viel Stoff für Spekulationen bieten, vor allem in Boulevardzeitungen. Ihr Chef, Kommissar Piotrowski, hat das mit gemischten Gefühlen mitverfolgt. Zwar gefällt ihm ganz gut, Chef dieser sympathischen Persönlichkeit zu sein, aber nicht, dass er dadurch in den Hintergrund gedrängt wird. Selbst sein Chef, der Dezer­natsleiter Dr. Julius Pauli, fragt auffällig oft, was Rebecca gerade macht, wo sie ist und wie es ihr geht. Und, er solle bloß aufpassen, dass sie nicht abgeworben wird.

»Jawoll Chef, ich habe alles im Griff, keine Sorge. Rebecca geht es gut, aber ich leide an einer leichten Magen-Darm-Verstimmung, nur, falls das jemanden interessiert.«

»Sie müssen wieder heiraten, Pio, damit Sie abends etwas Vernünftiges zu essen bekommen.«

»Aha, was gab’s denn gestern bei ihnen, Chef?«

»Mensch, hör bloß auf Pio. Fischauflauf-Kasserole an Sauerampfer-Minz-Pesto und mit Sauce Béarnaise. Eine solche Pampe, furchtbar. Bruno hat gleich die Flucht ergriffen und sich im Garten versteckt. Meist hilft er mir ja brav aus der Patsche. Also, wenn Sie wieder heiraten, Pio, dann schaffen Sie sich gleich einen großen Hund dazu an. Gassi-gehen-müssen und einen Mitesser-in-der-Not-haben sind zwei wertvolle Hilfen. Glauben Sie einem erfahrenen Ehemann.«

»Danke für den Tipp, Chef. Ich gehe heute Abend in den Müllerbräu, bayrische Küche, wissen’s?«

»Oh Gott, eine Schweinshaxe mit Kartoffelsalat, das wär was, darf ich Sie begleiten, Pio?«

»Freilich, ich hab um 19 Uhr einen Tisch mit Rebecca. Wenn Sie das nicht stört.«

»Nein, warum? Dann ruf ich gleich Juliane an, dass sie die Taube in Limetten-Ingwer-Sud morgen machen soll. Morgen wird mir schon was einfallen. Und Taube mag er eigentlich ganz gern, der Bruno.«

***

Die Bayerngaleere steht schon ein paar Minuten vor der Echowand. Einige Gäste blättern im Programmheft. Erster Halt Echowand, Das weltberühmte Echo vom Königssee.

Mit beschwörendem Blick starrt der Schaffner Hansi auf die schroffe Wand aus Dachsteinkalk und fingert unruhig an den drei Périnet-Ventilen seiner B-Trompete. Der Hansi hat das Trompetenspielen schon vor über 25 Jahren gelernt und intensiv praktiziert, zum Beispiel auf Dorffesten mit der Lederhosen-Boy-Group Watz-ab, bei Volksfesten im Spielmannszug, auf Hochzeiten und seit einigen Jahren eben auch als Echobläser an Sonn- und Feiertagen.

Aller Anfang ist schwer, besonders beim Erlernen des Trompetenspiels. Der Ton entsteht über die Lippen­schwingung des Bläsers, die eine stehende Welle erzeugt, also eine Resonanz seiner Lippenschwingung mit der Luftsäule im Trompetenrohr. Wichtig ist die Kontrolle der Atemführung mittels Zwerchfell und Bauchmuskulatur, aber den wahren Unterschied machen der Unterlippen­herabzieher, der Mundwinkelheber, der Mundwinkel­herunterzieher und, man glaubt es kaum, die Lach­muskulatur. Weniger wichtig ist das Sichtbare, also der Trompetermuskel, der die Wangen aufbläst, aber, je nach Trompetertyp, ganz lustig aussieht.

Der Schaffner Hansi hat einen gut trainierten Unterlippen­herabzieher und auch der Mundwinkelheber ist nicht von schlechten Eltern. Die neuronale Steuerung für die diversen Herabzieher und Heber ist bereits in seinem Stammhirn abgespeichert. Er muss folglich nicht mehr Denken beim Blasen. Das ist zu fortgeschrittener Stunde auf Dorf- und Volksfesten eine unabdingbare Voraussetzung. Also wozu jetzt die Nervosität und die Aufregung?

Auch die Primadonna ist zur Vorstellung gekommen. Sie lässt den Gebirgssee funkeln und Hansis Trompete blitzen. Es ist mucksmäuschenstill. Mensch und Natur halten den Atem an, bis auf den Schaffner Hansi. Er befeuchtet seine Lippen, gibt einen wohldosierten Impuls auf den Muskelnerv des Mundwinkelherabziehers, drückt diese Formation auf das Mundstück seiner Trompete und bläst ordentlich die Backen auf. Hoffentlich hält das der 250 Millionen Jahre alte Dachsteinkalk aus.

… Dann …

»Tätärä-tätä« in B-Dur und mit Perkussion und in kurzem Stakkato und Trompete absetzen und …

Alle schauen die Wand an. Nichts. Gar nichts. Sehen wird man nichts, das ist normal. Aber hören tut man auch nichts. Wenn man nach 1,2 Sekunden nichts hört, dann hört man auch später nichts mehr. Da ist die Physik humorlos.

Hansi bläst noch mal nach: »Tätärä-tätä.«

Wieder nichts. Einige Gäste meinen tatsächlich, das Echo ist doch noch gekommen, zwar erst nach 15 Sekunden, aber immerhin … Vielleicht ein Umweg über Österreich?

»Ja, jetzt blas halt mal g’scheid eini, du Depp!« Die Nerven beim Neckermann-Bernhard liegen blank.

»Ja blas halt selber nei, wenn’st es besser kannst, du Gschaftlhuber!«

Die Stimmung an Board wird aufgeheizter, bedrohlich. Rote Köpfe, zitternde Gamsbärte. Die Touristen sehen sich verunsichert an. Einige sind geradezu eingeschüchtert. Das Boot ist nicht so groß, um sich verstecken oder in Deckung gehen zu können. Wenn gut gefütterte Burschen in Lederhosen in ein Scharmützel geraten, dann ist das eine äußerst bedrohliche Situation. Schlichten wäre die falsche Entscheidung.

»Alfons, mach mal eine Kehre. Wir fahren noch mal an. Auf geht’s. Zack, zack.«

Bernhard Wiesinger will es noch mal probieren. Er denkt, dass es ein Positionierungsproblem ist. Ja, vielleicht.

»Das geht nicht mehr, Bernhard. Schau hinter, da kommt schon die KÖNIG1. Wir müssen den Platz räumen, und zwar jetzt, sonst sind wir die Fahrlizenz los.« Alfons Watzlawik ist der Steuermann und verantwortlich für die Sicherheit und den Fahrplan.

»Achtung!« Die Galeerenruderer heben die Riemen senkrecht nach oben.

»Fertig!« Die Galeerenruderer legen die Riemen ins Wasser und richten diese aus.

»Schlag 1/3!« brüllt der Steuermann und die Galeere bewegt sich zügig mit 1 Schlag alle 3 Sekunden weiter.

»Das ist Meuterei!«

Bernhard ist außer sich. Die Gäste haben mittlerweile mitbekommen, dass da etwas schiefgelaufen ist. Nicht alle, wie die zwei Paare von Mütterchen Russland. Die Männer sind seit Beginn der Fahrt mit sich selbst beschäftigt und nehmen in regelmäßigen Abständen einen Schluck aus einer Wodkaflasche. Sie scheinen kein besonderes Interesse an den Highlights der Bootsfahrt zu haben. Es sind zwei russische Bären mit dicken schwarzen Augenbrauen und Ganzkörperbehaarung, die man tunlichst nicht verärgern sollte. Es hat den Anschein, sie seien aus anderen Gründen in der Gegend und gönnen ihren G-zhas einen Samstagsevent. Die zwei Frauen haben dicke rote Lippen und sehen auch sonst nicht so aus, als ob sie ein begründetes Veto vortragen könnten, beziehungsweise überhaupt ein Bemerkungsrecht in ihrer Gruppe hätten. Glück für den Neckermann-Bernhard. Die japanische Reisegruppe ist sich nicht sicher, ob das prospektkonform war. Sie blättern in der englischen Beschreibung, die aber an diesem Punkt unklar ist: Enjoy the echo wall. Die Wand war ja da, oder? Sie verlieren sich in hektischem Getuschel, das niemand an Bord versteht.

Bleiben noch die sechs deutschen Paare. Bernhard kneift die Augen zusammen und versucht deren Stimmungsbild zu erfühlen. Um eine Eskalation im Keim zu ersticken, gibt er jedem Paar einen Gutschein für zwei Glas Taittinger beim abendlichen Dinner-Event. Die Damen sind entzückt. Die Männer hadern. Sie wollen nicht zum Dinner-Event. Besser wäre, der Bernhard würde ein charmantes Damenprogramm organisieren, als Ausgleich für den Echoausfall. Das Männerprogramm steht bereits: Bier, Chips, Fußball. Sie müssen hinterher unbedingt mit dem Bernhard reden. Kein Echo, kein Fußball … So geht es auch nicht.

***

Rudis Mannschaft hat mittlerweile gefrühstückt. Die meisten seiner Wandergäste haben nur Aspirin mit viel Wasser getrunken. Dann auf’s Klo. Da es auf der Hütte nur eine Toilette gibt, bildet sich eine Warteschlange, die krampfhaft dumme Sprüche klopft. So früh lachen kann aber im Moment noch keiner, auch, weil es eine babylonische Gruppe ist. Acht Männer und vier Sprachen: Deutsch, Russisch, Griechisch und noch eine andere. Es könnte Syrisch oder Armenisch sein. Das ist dem Ostgoten Adalbrecht Lebegut aus Neuss aber egal, er erzählt Witze am laufenden Band. Der Russe sieht genervt zum Armenier, oder ist es doch ein Syrer?

Die Toilette verströmt mittlerweile einen Gestank, dass selbst die natürliche Geruchserblindung nicht mehr ausreicht, einen normalen Gesichtsausdruck zu bewahren. Dabei waren der Russe und der Armenier, der auch ein Syrer sein könnte, noch gar nicht an der Reihe.

Man stellt sich den Beruf Hüttenwirt romantischer vor, als er in der Realität ist. Tröstend ist der Umstand, dass er gestern billigen Schnaps für teuer Geld verkaufen konnte, und davon viel. Geld soll sprichwörtlich nicht stinken. Das kann er heute früh nicht bestätigen. Diejenigen, die das dampfende Methan-Inferno verlassen, erleiden fast einen Sauerstoffschock, als sie ins Freie stolpern.

Rudi lässt das alles kalt. Er verstaut seinen geliebten Kaffee, den er heiß und mit fünf Stück Zucker in seiner Thermoskanne bei sich hat. Er sitzt auf der Bank vor der Hütte und packt noch eine Ladung isotonischer Getränke und Powerbar-Riegel ein. Er hat schließlich die Aufsichts- und Fürsorgepflicht für seine Gäste, egal aus welchem Loch sie gekrochen kommen.

»Wenn ihr so weit seid, stellt euch bitte in einer Reihe auf, damit wir keinen vergessen. Wir brechen dann auf.«

Rudi erspart sich die Übersetzung, die er eh nicht weiß. Als seine Truppe vor der Hütte steht, fühlt er sich unweigerlich an den Asterix-Band Die Legionäre erinnert. »Mein Gott, und ich bin ihr Chef«, murmelt er, muss leicht schmunzeln und schwingt seinen Profi-Tourenrucksack vom Typ ALLPA 28L um die Schulter. Davon verkauft er pro Saison etwa 200 Stück für 150 Euro in seinem Sportgeschäft. Das teure Stück ist etwas übertrieben für die heutige Tour, aber es ist billige Werbung. In der Regel kaufen nach der Tour die Russen einen ALLPA28L, schon deshalb, weil er extrem teuer ist. Die Ostgoten wollen auch einen, aber für 25 Euro. Rudi zeigt dann einen rosaroten Schulranzen mit Miss-Piggy-Muster. Der Unterschied ist so schnell erklärt, ohne viel Worte.

Schon am Sonntag war seine Mittwoch-Tour mit fünf deutschen Touristen bereits überbucht. Die Empfehlung der Bergwacht ist, die Watzmann-Überschreitung mit maximal vier Personen durchzuführen. Einer mehr oder weniger sollte kein Problem sein, denkt sich Rudi. Immerhin kennt er die Tour besser als seine Hosentasche. Am Dienstag kamen noch ein Russe, ein Armenier, der auch ein Syrer sein konnte, und ein Grieche in Rudis Büro.

Das provisorische Büro hat ihm das Fremdenverkehrsamt zur Verfügung gestellt. Geschäftstüchtig, wie er ist, hat Rudi das Büro in einen Verkaufsraum »Rudis Bergwelt« umgewandelt. Rudi soll den Rückgang an Touristen ausgleichen, die wegen der nachhaltigen Echopleite nicht mehr ins Tal kommen. Hierzu hat er attraktive Bergtouren in verschiedenen Schwierigkeitsgraden vorbereitet. Die Tour am Mittwoch ist eine anspruchsvolle, aber ungefährliche Tour und geht über den Watzmann. Die drei Osteuropäer waren erst sehr enttäuscht, dann bedrohlich sauer, dann extrem spendierfreudig, nachdem Rudi erklärt hatte, dass die Tour schon voll ist. Der Russe legte brutto für netto 1000 Euro auf den Tisch. Einen Beleg wollte er nicht. Jetzt ist Rudi erstens kein Unmensch und verglichen mit dem FIFA-Schmiergeld ist das zweitens praktisch Nichts. Und für Nichts kann man schon mal jemandem einen Gefallen tun. Also hat Rudi die Tour kurzentschlossen von fünf auf acht Mann aufgestockt, ohne zu ahnen, welche Probleme er damit an der Backe haben würde. Weshalb die drei Männer nicht die identische Tour ein paar Tage später buchen wollten, ist Rudi schon merkwürdig vorgekommen. Aber er hat sich nichts dabei gedacht. Warum auch? Irgendwie wollte er dem Russen auch nicht widersprechen. Vielleicht, weil er eine instinktive Angst vor bulligen, dunkelhaarigen Männern kyrillischer Sprache hat, deren Haare büschelweise aus dem Hemd quellen.

Mit »spassiva« verabschiedet sich der Russe mitsamt seiner Begleitung.

»Ja, auch viel Spaß«, rief ihnen Rudi hinterher.

Kräftig genug schauen sie alle drei aus. Also kein Problem. Dagegen sieht seine Fünfermannschaft aus wie eine Physiogruppe zur Behandlung von Muskelschwund. Rudi steckt das Trinkgeld der Ostgruppe weg. Er muss sich noch überlegen, wie er seine Verdopplung der vorgeschriebenen Gruppenstärke plausibel erklären könnte, sollte er gefragt werden. »Unterwegs zugelaufen, oder …«, legt sich Rudi eine Ausrede zurecht.

Die Watzmann-Überschreitung ist eine sehr lange Gratüberschreitung über die Mittelspitze. Am Hocheck ist für viele Bergsteiger der letztmögliche Point of Return erreicht. Meist sind es vorlaute Ostgoten, die noch am Vorabend den Eindruck erweckt haben, sie seien schon auf allen Acht­tausender dieser Welt vor der Gipfelhütte gesessen, bei einer wohlverdienten Brotzeit. Jetzt stehen sie vor einem, nur zum Teil mit Drahtseilen gesicherten, sehr luftigen Steig hinauf zur Watzmann-Mittelspitze mit einer Höhe von 2713 Meter. Für Warmduscher ist das ein echter Hose-voll-Blick. Die lockeren Sprüche lassen nach, der Mumm auch. Jetzt braucht es eine Ausrede.

Überaschenderweise kapitulieren die muskel­bepackten Osteuropäer, und zwar alle drei, der Russe, der Grieche und der Armenier, der auch ein Syrer sein könnte.

»Opasno, slishkom opasno«, ruft Dimitrij zu Rudi.

»Nix gut hier, Gospodin, gähen zurik s Migayel a takzhe Ioánnis.«

An die Namen kann er sich noch so lala erinnern, als sie bei ihm im Büro waren: Dimitrij, der Russe, Ioánnis, der Grieche, und Migayel, der Armenier, der auch ein Syrer sein könnte.

»Ja, was seid denn ihr für Waschlappen, für russische?«

Rudi ist perplex und zunächst von der Situation über­fordert. Was soll er jetzt machen?

»Synechizo, ik gähän met Rudi.« Der Grieche will jetzt doch mit Rudi weitergehen. Die Putschfront bröckelt schnell. Es geht ab wie seinerzeit in Babylon. Ein gotterbärmliches Kauderwelsch. Die Wandergruppe versteht kein Wort und auch nicht, was hier abgeht. Rudi schon. »Genau, Johannes, bleib bei mir. Zur Belohnung gibt es auf der Hütte Ouzo und extra dicke Bohnen.«

Er unterstützt die Gegenrevolte mit schlagkräftigen Argumenten.

»Ty idesh’s nami!« Dimitrij schnauzt den Griechen laut an, worauf dieser erkennbar eingeschüchtert seine Absicht, bei Rudi zu bleiben, wieder korrigiert.

Verstehen tut aber keiner ein Wort. Auch Rudi nicht. Dennoch scheint die Lage klar zu sein. Die drei Männer gehen nicht weiter. Der Ostgote Lebegut wittert seine Chance, hier abzubiegen und sich mit den Osteuropäern zu verbünden.

»Rudi, ich geh mit Johannis, Mikael und Dimitrij.«

»Das kommt nicht in Frage, Adalbrecht!«, schnauzt ihn Rudi an. »Du bleibst gefälligst bei der Truppe.«

»Ich kann aber nicht mehr, Rudi. Mir ist kotzübel und mein Magen rebelliert auch.«

So, jetzt ist Führung gefragt. Die drei aus Osteuropa kann er vermutlich kaum umstimmen. Er kennt weder deren Hintergründe noch kann er bei diesem Kauder­welsch eine zielführende Besprechung abhalten.

»Dimitrij, Mikael, Johannis, Adalbrecht! Ihr kommt mal zu mir. Ihr anderen wartet hier. Bin gleich wieder bei euch.« Rudi macht verständliche Handbewegungen und teilt die Gruppe auf, in zwei Vierergruppen:

3+1 Putschisten und 4 Linientreue.

Er wendet sich an die Putschistengruppe.

»Dimitrij, du bist offensichtlich der Anführer. Verstehst du, was ich sage?«

»Rudi, muss du langsaam räden, dann kann verstähn.«

»Also gut. Ihr geht zurück. Gleiche Weg. OK?«

Rudi redet laut und langsam.

»Ladno! OK!« Dimitrij will es offensichtlich schnell machen.

»Aber ihr nehmt Adalbrecht mit. Kapitowski?«

Der Blick von Dimitrij wird düster.

»Wir kennen nix helfen für Adalbrekt.«

»Mit Adalbrecht oder hierbleiben. Kapitowski?«, Rudi bleibt hart.

Die drei Männer gehen ein paar Meter zur Seite und diskutieren mehrere Minuten. Dann kommen sie wieder zurück zu Rudi und Adalbrecht.

»Ladno! OK!« Dimitrij ist einverstanden.

Rudi dreht sich zu Adalbrecht Lebegut um.

»Also, Adalbrecht, pass auf. Ihr geht einfach den Weg zurück zur Hütte und meldet euch dort beim Wirt. Er soll mich dann anfunken. Meine Nummer hat er. Aber, wenn es später als 16 Uhr wird, dann bleibt ihr auf der Hütte und geht erst morgen runter. Ist das klar?«

»Klar Rudi. Ich übernehme die Bergführerfunktion. Die werden schon spuren, die drei.«

»Gut, OK, Adalbrecht.« Rudi sieht den Ostgoten verzweifelt an. Dieses dämliche Gequassel. »Wird schon schiefgehen, Adalbrecht. Sei bloß vorsichtig.«

Rudi geht zurück zu der Bergsteigergruppe. »So, und wir gehen jetzt weiter. Keine Angst. Es sieht schlimmer aus, als es ist.«

Rudi hat jetzt die vorgeschriebene Gruppenstärke von vier Mann. Also gar nicht so schlecht, dieses kuriose Intermezzo. Ihm ist nicht so bange wegen der drei Osteuropäer, aber mehr um Adalbrecht. Er hätte jede Wette verloren, dass er bei ihm bleiben würde, statt mit diesen Männern zu gehen. Selbst wenn er etwas Schiss vor dem Klettersteig hatte.

»Hört ihr das?«, Rudi hebt die Hand. »Das ist der Trompeter für das Echo am Königssee.«

»Wo bleibt denn das Echo, Rudi? Hört man das hier oben nicht?«

»Anscheinend nicht, Werner. Das hört man nur auf dem See.«

Rudi kennt das Echo gar nicht mehr. Seit er hier seine Wanderungen anbietet, hat er es bewusst noch nie gehört. Er sieht zum See hinunter, als ob dieser ihm seine Frage beant­worten könnte. Die Gruppe geht langsam entlang des Grates mit atemberaubenden Blicken in die Tiefe. Man muss schon schwindelfrei sein oder man darf einfach nicht nach unten sehen. Nach drei Stunden gehen Sie über die imposante Watzmann-Ostwand mit herrlichem Blick auf den Königssee. Eineinhalb Stunden später erreichen sie die Südspitze auf 2713 Meter Höhe inmitten des Nationalparks. Rudi sieht auf die Uhr, 16h 20, und wundert sich:

»Warum, zum Teufel, ruft denn der Hüttenwirt nicht an? Sie müssten doch längst dort angekommen sein?«

***

Bernhard Wiesinger ist inzwischen zurück in seinem Büro im Fremdenverkehrsamt angekommen. Er kocht vor Wut. Seinen Trachtenjanker wirft er ins Eck und lässt sich auf seinen Bürostuhl fallen. Dann legt er den Kopf in seine Hände, die er auf dem Schreibtisch abgestützt hat.

»So eine Scheiße. Dieses verdammte Echo«, brummelt er wutschnaubend vor sich hin. Dann greift er zum Telefonhörer und wählt die Nummer vom Bürgermeister, Joseph Maria Heide.

Joseph ist ein Duz-Freund von ihm. Eigentlich hat er nur Duz-Freunde, bis auf den Pfarrer.

»Sekretariat Heide, was kann ich für Sie tun?«, piepst es aus dem Hörer.

»Du kannst mich zum Joseph durchstellen, Amelie. Ich bin’s, der Bernhard.«

»In welcher Angelegenheit darf ich den Bürgermeister stören?«

»Das werd ich ihm schon flüstern. Und sag ihm einen schönen Gruß von mir, dass ich entweder jetzt mit ihm rede oder dass ich in fünf Minuten vorbeikomme, wenn ihm das lieber ist.«

»Wenn er dann noch da ist. Es ja schon sechs. Ich stell Sie mal durch«

»Hier Heide, was kann ich für Sie tun?«

»Sepp, was red’st jetzt da g’schwolln daher. Hat dir deine Vorzimmermaus nicht g’sagt, wer dran ist?«

Der Bürgermeister, CSU-Mitglied auf Platz 1 der Kreisliste, ist jetzt schon voll bedient. Er heißt Joseph Maria Heide, ein wohlklingender Name. Da kann er es nicht ausstehen, wenn man ihn vulgär mit Sepp anspricht, Duz-Freund hin oder her. Hans und Sepp heißt ein jeder Depp, hat ihn sein Volksschullehrer immer gehänselt beziehungsweise geseppelt. Seine Mitschüler haben ihn immer »HeMaare!« gerufen, die bayrische Verhässlichung von Maria. Er hat viel mitmachen müssen, damit er jetzt einen so wohlklingenden Namen hat. Nur berühmte Männer der deutschen Geschichte hatten den Zusatzvornamen Maria.

»Jetzt reg dich mal ab, Bernhard. Was willst so spät noch?«

»Spät. Dass ich net lach. Aber pass auf, Sepp. Das mit dem Echo geht nicht mehr so weiter. Wir können nicht hunderttausend Prospekte drucken und mit dem Echo werben, das es nicht mehr gibt, zumindest nicht immer. Heut war wieder so ein Tag. Ich kann die Regressansprüche nur noch mit Tricks abwenden.«

»Ja Kruzifix, Bernhard, was ist denn da los? Gibt’s denn bei dir koan mit Hirn, der dir sagen kann, was du falsch machst?«

»Vorsicht, Sepp. Dünnes Eis, sag ich nur. Ganz dünnes Eis. Auf dem Ohr hör ich ganz schlecht.«

»Ja vielleicht hörst du deshalb s’Echo nimmer!«

»So Sepp, jetzt reicht’s aber. Am Samstag komm ich in die Bürgermeisterei und dann möchte ich die anderen Gemeinderäte am Tisch sitzen sehen, sonst geh ich an die Presse. Dann ist aber Schluss mit lustig. Und deine Wiederwahl kannst du dir ans Hirschgeweih hängen. Darauf kannst du dich verlassen.«

Draußen hört man plötzlich dumpfes, unheimliches Grollen, das anscheinend vom Watzmann rüberkommt.

»Hörst du dös, Sepp? Auch das macht inzwischen jedem Einheimischen Angst. Welche Erklärungen hast du denn hierfür?«

»Ja, ich bin kein Astrologe, Bernhard. Was weiß denn ich, welcher Depp da rumgrollt? Also gut, dann reden wir am Samstag über die Themen. Aber eins kann ich dir jetzt schon sagen, der Pfarrer hat nichts dagegen, wenn es unter der Woche mal grollt. Verstehst?«

»Ja, das werden wir dann schon sehen. Auf alle Fälle können wir nicht dasitzen und nichts tun, wenn die Touristen mittlerweile in Größenordnungen ausbleiben.«

***

Rudi ist mit seiner Vier-Mann-Gruppe wieder heile im Tal angekommen. Sie warten auf den kleinen Hotelbus, der sie zum Hotel Watzmann fährt. Sie haben das laute Grollen auch gehört. Am Fuße des Watzmann war es sehr laut.

»Das ist vermutlich eine kleine Gewitterzelle hinter der Gebirgswand.« Rudis kleine Notlüge glaubt ihm keiner. Wie sich Donner anhört, wissen alle. Und das war kein Donner. Ganz bestimmt nicht.

Als der Bus kommt, sind alle froh, von hier wegzukommen. Es ist unheimlich geworden, am Fuß dieses massiven Berges. Rudi hat auch einen beklemmenden Druck in der Magengegend. Er öffnet seine Thermoskanne und nimmt den letzten Schluck Kaffee. Der gesüßte Kaffee wärmt ihn von innen und das bedrückende Gefühl im Magen lässt für einen Moment nach. Den Hüttenwirt hat er schon angerufen. Dort ist keiner der vier Männer angekommen. Vielleicht sind sie gleich runter ins Tal? Das wird sich herausstellen, wenn sie im Hotel Watzmann angekommen sind. Adalbrecht hat dort sein Zimmer. Wo die drei Osteuropäer abgestiegen sind, weiß er nicht. Er hat sich nur ihre Namen auf einem Schmierzettel notiert, sonst nichts. Zur Tour angemeldet hat er sie jedenfalls nicht. Das ist bestimmt illegal. Seine Hand zittert, als er den Kaffee erneut zum Mund führt.

Vom Beifahrersitz aus kann er bereits die Beleuchtung des Hotels sehen. Der Bus hält auf dem hoteleigenen Parkplatz direkt vor der Eingangstür. Neben der Tür prangen zwei überdimensionale Werbeplakate. Das linke zeigt die deutsche Fußballmannschaft mit dem Hinweis, dass alle Spiele in der Wirtstube zur Wally live auf Leinwand übertragen werden. Das rechte zeigt ein Johannisfeuer mit einer Perchtenfratze und dem Hinweis:

Jeden SamstagJohannisfeuer

Karten an der Rezeption erhältlich

Die vier Männer nehmen ihre Rucksäcke vom Gepäckhalter und steigen aus. Rudi geht die Reihe ab und bedankt sich für die Disziplin und den Mut, diese anspruchsvolle Überschreitung des Watzmann mitgemacht zu haben. Er macht die Verabschiedung etwas schneller als sonst. Die vier Männer haben vom Verschwinden der anderen vier nichts mitbekommen. Sie wollen nur in die Dusche, dann zum Essen und dann ins Bett. Sie müssen morgen früh sehr zeitig abreisen. Rudi geht zu Hanna an die Rezeption.

»Hanna, kannst du mal schauen, ob der Lebegut schon da ist? Die Zimmernummer weiß ich leider nicht.«

Hanna sieht im Gästebuch nach. »Lebegut, Lebegut, ach, hier ist er ja. Zimmer 317.«

Rudi sieht auf das Schlüsselbrett an der Wand. Der Schlüssel 317 hängt noch am Brett.

»Danke Hanna. Er ist offensichtlich noch nicht da?«

Er dreht sich um und schleicht mit schlechtem Gewissen aus dem Hotel. »Verdammt, verdammt, verdammt«, flucht er so laut, dass es alle in der Lobby hören können. Wie kann ihm so ein Anfängerfehler unterlaufen? Aber was wird aus der Geschichte noch werden? Wenn Adalbrecht nicht im Spiel wäre, könnte er es einfach auf sich beruhen lassen, oder?

Wer würde schon danach fragen? Woher sind die drei Gestalten eigentlich gekommen? Vielleicht sind sie überhaupt nicht registriert, weder im Tal noch in einem Hotel. Dann wird es vermutlich auch keinen geben, der sie vermisst.

Viele Fragen hämmern in Rudis Hirn. Erst erpressen sie ihn mit 1000 Euro, dass er sie mit auf die Tour nimmt. Und dann biegen sie genau dort ab, wo die eigentliche Tour beginnt. Er hatte von Anfang an ein schlechtes Gefühl. Aber das nützt ihm jetzt herzlich wenig und auch der Staatsanwalt würde das nur schmunzelnd zur Kenntnis nehmen. So weit gehen seine Gedanken.

Donnerstag - 15.06.2006

»Bergwacht Berchtesgaden, Hiergeist.«

Rudi hat eine schlaflose Nacht hinter sich. Um 10 Uhr abends hat er noch mal im Hotel Watzmann angerufen, um Adalbrecht Lebegut zu sprechen. »Herr Lebegut ist nicht im Zimmer«, war die schreckliche Antwort. Er ist noch nicht zurückgekommen.

Rudi muss etwas unternehmen. Deshalb hat er seinen Kollegen Bertram Hiergeist von der Bergwacht angerufen.

»Servus Bertram. Da ist der Fox Rudi.«

»Ja Servus Rudi. Hat der Watzmann deine Berg­wanderer gefressen?«