Drei Dichter ihres Lebens. Casanova - Stendhal - Tolstoi - Stefan Zweig - E-Book

Drei Dichter ihres Lebens. Casanova - Stendhal - Tolstoi E-Book

Zweig Stefan

0,0
1,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Stefan Zweigs Buch 'Drei Dichter ihres Lebens. Casanova - Stendhal - Tolstoi' bietet einen faszinierenden Einblick in das Leben und Schaffen von drei bedeutenden Schriftstellern des 18. und 19. Jahrhunderts. Zweig präsentiert in seinem Werk eine detaillierte Darstellung der Persönlichkeiten von Casanova, Stendhal und Tolstoi und beleuchtet ihre Werke in einem feinfühligen literarischen Stil. Durch seine tiefgründige Analyse der Lebensumstände und Werke der Dichter gelingt es Zweig, ein fesselndes Porträt der drei Genies zu zeichnen und ihre literarischen Beiträge in einen historischen Kontext zu setzen. Dieses Buch ist nicht nur eine Biografie, sondern auch eine literarische Betrachtung der Werke und ihrer Bedeutung.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Zweig Stefan

Drei Dichter ihres Lebens. Casanova - Stendhal - Tolstoi

Dritter Teil des Zyklus: Die Baumeister der Welt. Versuch einer Typologie des Geistes
 
EAN 8596547770855
DigiCat, 2023 Contact: [email protected]

Inhaltsverzeichnis

Einleitung
Casanova
Bildnis des jungen Casanova
Die Abenteurer
Bildung und Begabung
Philosophie der Oberflächlichkeit
Homo eroticus
Die Jahre im Dunkel
Bildnis des alten Casanova
Genie der Selbstdarstellung
Stendhal
Lügenlust und Wahrheitsfreude
Bildnis
Film seines Lebens
Ein Ich und die Welt
Der Künstler
De voluptate psychologica
Selbstdarstellung
Gegenwart der Gestalt
Tolstoi
Vorklang
Bildnis
Vitalität und ihr Widerspiel
Der Künstler
Selbstdarstellung
Krise und Verwandlung
Der künstliche Christ
Die Lehre und ihr Widersinn
Der Kampf um Verwirklichung
Ein Tag aus dem Leben Tolstois
Entscheidung und Verklärung
Die Flucht zu Gott
Ausklang
Fußnote
Maxim Gorki
dankbarst und verehrungsvoll

Einleitung

Inhaltsverzeichnis

»The proper study of mankind is man.« Pope

Innerhalb der darstellenden Reihe ›Die Baumeister der Welt‹, mit der ich versuche, den schöpferischen Geistwillen in seinen entscheidenden Typen und diese Typen wiederum durch Gestalten zu veranschaulichen, bedeutet dieser dritte Band gleichzeitig Gegenspiel und Ergänzung der vorangegangenen. ›Der Kampf mit dem Dämon‹ zeigte Hölderlin, Kleist und Nietzsche als dreifach abgewandelte Wesensform der von dämonischer Macht getriebenen tragödischen Natur, die ebenso über sich selbst wie über die reale Welt hinaus dem Unendlichen entgegenwirkt. Die ›Drei Meister‹ veranschaulichten Balzac, Dickens und Dostojewski als Typen der epischen Weltgestalter, die im Kosmos ihres Romans eine zweite Wirklichkeit neben die schon vorhandene setzen. Der Weg der ›Drei Dichter ihres Lebens‹ führt nun nicht wie bei jenen ins Unendliche hinaus und nicht wie bei diesen in die reale Welt, sondern einzig in sich selbst zurück. Nicht den Makrokosmos abzubilden, die Fülle des Daseins, sondern den Mikrokosmos des eigenen Ich zur Welt zu entfalten, empfinden sie unbewußt als entscheidende Aufgabe ihrer Kunst: keine Wirklichkeit ist ihnen wichtiger als jene der eigenen Existenz. Indes also der weltschöpferische Dichter, der extroverte, wie ihn die Psychologie nennt, der weltzugewandte, sein Ich im Objektiven seiner Darstellung bis zur Unauffindbarkeit auflöst (am vollendetsten Shakespeare, der menschlich zum Mythos gewordene), wird der subjektiv Fühlende, der introverte, sich selbst zugewandte, alles Weltliche in seinem Ich enden lassen und vor allem Gestalter seines eigenen Lebens sein. Welche Form er auch wähle, Drama, Epos, Lyrik und Autobiographie, immer wird er unbewußt sein Ich in jedes Werk als Medium und Mitte hineingestalten, mit jeder Darstellung stellt er vor allem sich selber dar. Diesen Typus des selbstbeschäftigten subjektivistischen Künstlers und seine entscheidende Kunstform, die Autobiographie, an drei Gestalten, Casanova, Stendhal, Tolstoi, darzutun, bedeutet den Versuch und das Problem dieser dritten Folge.

Casanova, Stendhal, Tolstoi, diese drei Namen, ich weiß es, sie passen im ersten Zuklang mehr überraschend als überzeugend zusammen, und man wird sich zunächst das Wertniveau nicht erdenken können, auf dem sich ein lockerer, amoralischer Filou und zweifelhafter Künstler wie Casanova mit einem heroischen Ethiker, einem so vollkommenen Gestalter wie Tolstoi begegnet. Tatsächlich meint auch diesmal Beisammensein in einem Buche nicht Nebeneinandersein auf derselben geistigen Ebene; im Gegenteil, diese drei Namen symbolisieren drei Stufen, ein Übereinander also, eine immer erhöhte Wesensform gleicher Gattung, sie repräsentieren, ich wiederhole es, nicht drei gleichwertige Formen, sondern drei aufsteigende Stufen ebenderselben schöpferischen Funktion: der Selbstdarstellung. Casanova repräsentiert selbstverständlich nur die erste, die niederste, die primitive Stufe, nämlich die naive Selbstdarstellung, wo ein Mensch noch Leben mit äußerem sinnlichen und faktischen Erleben gleichsetzt und unbefangen Ablauf und Ereignisse dieses seines Daseins berichtet, ohne sie zu werten, ohne sich selbst zu durchforschen. Mit Stendhal erreicht die Selbstdarstellung schon eine höhere Stufe, die psychologische. Ihr genügt nicht mehr der bloße Bericht, das simple curriculum vitae, sondern das Ich ist auf sich selber neugierig geworden, es beobachtet den Mechanismus seines eigenen Antriebes, es sucht die Motive seiner Handlungen und Unterlassungen, die Dramatik im Seelenraum. Damit beginnt eine neue Perspektive, das Zweiaugensehen des Ich, als Subjekt und Objekt, die Doppelbiographie des Innen und Außen. Der Beobachtende beobachtet sich selber, der Fühlende untersucht sein Gefühl, – nicht nur das weltliche, sondern auch das psychische Leben ist bildnerisch in den Blickraum getreten. Im Typus Tolstoi erreicht diese seelische Selbstschau dann ihre höchste Stufe dadurch, daß sie gleichzeitig auch ethisch-religiöse Selbstdarstellung wird. Der exakte Beobachter schildert sein Leben, der präzise Psychologe die ausgelösten Reflexe des Gefühls: darüber hinaus aber betrachtet ein neues Element der Selbstschau, nämlich das unerbittliche Auge des Gewissens, jedes Wort auf seine Wahrheit, jede Gesinnung auf ihre Reinheit, jedes Gefühl auf seine fortwirkende Gewalt: die Selbstdarstellung ist über die neugierige Selbstdurchforschung hinaus moralische Selbstprüfung, ein Selbstgericht geworden. Indem er sich darstellt, fragt der Künstler nicht bloß mehr nach Art und Form, sondern auch nach Sinn und Wert seiner irdischen Manifestation.

Dieser Typus des selbstdarstellenden Künstlers weiß jede Kunstform mit seinem Ich zu erfüllen, aber nur in einer erfüllt er sich ganz: in der Autobiographie, im umfassenden Epos des eigenen Ich. Jeder unter ihnen strebt ihr unbewußt zu, wenige vermögen sie zu erreichen, erweist sich doch von allen Kunstformen die Selbstbiographie als die seltenst gelungene, weil verantwortungsvollste aller Kunstgattungen. Selten wird sie versucht (kaum ein Dutzend geistwesentlicher Werke zählt die unermeßliche Weltliteratur), selten auch versucht sich an ihr psychologische Betrachtung, denn sie müßte unverweigerlich aus der geradgängigen literarischen Zone bis ins tiefste Labyrinth der Seelenwissenschaft hinabsteigen. Auch hier maßt sich selbstverständlich Verwegenheit nicht an, im Engpaß einer Vorrede die Möglichkeiten und Grenzen irdischer Selbstdarstellung bloß annähernd abzutasten: nur das Thematische des Problems sei zum Einklang mit einigen Andeutungen präludiert.

Unbefangen betrachtet, müßte Selbstdarstellung als die spontanste und leichteste Aufgabe eines jeden Künstlers erscheinen. Denn wessen Leben kennt der Gestalter besser als sein eigenes? Jedwedes Geschehnis dieser Existenz ist ihm gewärtig, das Geheimste bewußt, das Verborgenste von innen offenbar – so brauchte er, um »die« Wahrheit seines Daseins und Gewesenseins zu berichten, keine andere Anstrengung, als das Gedächtnis aufzublättern und die Lebensfakten abzuschreiben – ein Akt also, kaum mühevoller, als im Theater den Vorhang über schon gestaltetem Schauspiel aufzuziehen, die abschließende vierte Wand zwischen sich und der Welt zu entfernen. Und noch mehr! Sowenig Photographie malerisches Talent erfordert, weil ein phantasieloses, bloß mechanisches Einfangen einer schon geordneten Wirklichkeit, scheint die Kunst der Selbstdarstellung eigentlich gar keinen Künstler zu bedingen, nur einen rechtschaffenen Registrator; prinzipiell vermag ja auch jeder Beliebige sein eigener Selbstbiograph zu werden und seine Fährnisse und Schicksale literarisch zu gestalten.

Aber die Geschichte belehrt uns, daß niemals einem gewöhnlichen Selbstdarsteller mehr gelungen ist, als bloße Zeugnisleistung über Tatsachen, die ihm der pure Zufall verstattete, mitzuerleben; das innere Seelenbild aus sich selbst zu erschaffen, fordert dagegen immer den geübten, schauensmächtigen Künstler, und selbst unter ihnen wurden nur wenige diesem äußersten und verantwortungsvollsten Versuche vollendet gerecht. Denn kein Weg erweist sich als dermaßen ungangbar im Zwitterlicht zweifelhafter Irrlichtserinnerungen wie der Niederstieg eines Menschen von seiner offenbaren Oberfläche ins Schattenreich seiner Tiefen, aus seiner atmenden Gegenwart in seine überwachsene Vergangenheit. Wieviel Verwegenheit muß er aufbringen, um vorbei an seinen eigenen Abgründen, auf dem engen, glitschigen Gang zwischen Selbsttäuschung und willkürlichen Vergeßlichkeiten hinabzutasten in jene letzte Einsamkeit mit sich selbst, wo, wie bei Faustens Gang zu den Müttern, die Bilder des eigenen Lebens nur noch als Symbole ihres einstmaligen wirklichen Daseins »reglos ohne Leben« schweben! Welch heroischer Geduld und Selbstsicherheit wird er bedürfen, ehe er das erhabene Wort berechtigt auszusprechen vermag »Vidi cor meum«, »Ich habe mein eigenes Herz erkannt!« Und wie mühsam die Rückkehr vom Innersten dieses Innern dann wieder empor in die widerstrebende Welt der Gestaltung, von der Selbstschau zur Selbstdarstellung! An nichts vermag man die unermeßliche Schwierigkeit solchen Unterfangens deutlicher zu erweisen als an der Seltenheit ihres Gelingens: die zehn Finger der Hand zählen die Menschen schon nach, denen seelenplastisches Eigenbildnis in geschriebenem Worte gelungen, und selbst innerhalb dieser relativen Vollendungen, wieviel Lücken und Sprünge, wieviel künstliche Ergänzungen und Verkleisterungen! Gerade das Naheliegendste erweist sich in der Kunst immer als das Schwierigste, das scheinbar Leichte als die gewaltigste Aufgabe: keinen Menschen seiner Zeit und aller Zeiten hat der Künstler mehr Not, wahrhaftig zu gestalten, als sein eigenes Ich.

Was aber drängt dennoch von Geschlecht zu Geschlecht immer wieder neue Versucher zu dieser vollendet kaum lösbaren Aufgabe? Ein elementarer Antrieb zweifellos und tatsächlich dem Menschen zwanghaft zugeteilt: das eingeborene Verlangen nach Selbstverewigung. In Fließendes gestellt, von Vergängnis umschattet, zu Wandlung und Verwandlung bestimmt, fortgerissen von der unaufhaltsam strömenden Zeit, ein Molekül innerhalb von Milliarden, sucht jeder unwillkürlich (dank der Intuition der Unsterblichkeit) sein Einmal und Niemehrwieder in irgendeiner dauernden, ihn überdauernden Spur zu erhalten. Zeugen und Sichbezeugen, das meint im tiefsten Grunde eine und die gleiche urtümliche Funktion, ein und dasselbe identische Bestreben, wenigstens eine flüchtige Kerbe im beharrlich weiterwachsenden Stamme der Menschheit zu hinterlassen. Jede Selbstdarstellung bedeutet darum nur die intensivste Form eines solchen Sichbezeugen-Wollens, und ihre ersten Versuche entraten noch der Kunstform des Bildes, der Hilfe der Schrift; Steinblöcke über einem Grab geschichtet, Tafeln, die in ungelenken Keilen verschollene Taten rühmen, geritzte Holzrinden – in dieser quadernen Sprache redet die erste Selbstdarstellung einzelner Menschen zu uns durch den hohlen Raum von Jahrtausenden. Unerforschlich sind längst diese Taten geworden, unverständlich die Sprache jenes zerstäubten Geschlechts: aber unverkennbar spricht aus ihnen der Impuls, sich zu gestalten, zu erhalten und über den eigenen Atemzug eine Spur des Einen und Einzigen, der man gewesen, lebendigen Geschlechtern zu übermitteln. Dieser unbewußte, dumpfe Wille zur Selbstverewigung ist also der elementare Anlaß und Anbeginn jeder Selbstdarstellung.

Erst später, tausend und abermals Hunderte von Jahren später in einer bewußteren und wissenderen Menschheit gliedert ein zweiter Wille dem noch nackten und dumpfen Selbstbezeugungstriebe sich zu, das individuale Verlangen, sich als ein Ich zu erkennen, sich zu deuten um des Selbstwissens willen: die Selbstschau. Wenn ein Mensch, wie Augustinus so wundervoll sagt, »sich selbst zur Frage wird« und eine Antwort, die ihm und nur ihm allein gehörige Antwort sucht, wird er, um ihn deutlicher, übersichtlicher zu erkennen, den Weg seines Lebens wie eine Landkarte vor sich entrollen. Nicht den andern wird er sich erklären wollen, sondern zunächst sich selbst; hier beginnt eine Wegscheide (heute noch in jeder Selbstbiographie erkenntlich) zwischen Darstellung des Lebens oder des Erlebens, der Veranschaulichung für andere oder der Selbstveranschaulichung, der objektiv äußerlichen oder subjektiv innerlichen Autobiographie – Mitteilung oder Selbstmitteilung. Die eine Gruppe tendiert immer der Offenkundlichkeit zu, und die Beichte wird ihre eigentliche Formel, Beichte vor der Gemeinde oder Beichte im Buche; die andere ist monologisch gedacht und genügt sich meist im Tagebuch. Nur die wahrhaft komplexen Naturen wie Goethe, Stendhal, Tolstoi haben hier eine vollendete Synthese versucht und in beiden Formen sich verewigt.

Selbstschau aber, noch ist sie ein bloß vorbereitender, ein noch unbedenklicher Schritt: jede Wahrhaftigkeit hat es noch leicht, wahr zu bleiben, solange sie sich selber gehört. Erst mit ihrer Übermittlung beginnt die eigentliche Not und Qual des Künstlers, erst dann ist Heroismus der Aufrichtigkeit von jedem Selbstdarsteller gefordert. Denn gleich urtümlich, wie jener kommunikative Zwang uns drängt, das Einmalige unserer Person brüderlich allen mitzuteilen, waltet im Menschen ein Gegentrieb, der ebenso elementare Wille zur Selbstbewahrung, zur Selbstverschweigung: er spricht zu uns durch die Scham. Genau wie die Frau körperlich zur Hingabe durch Willen des Blutes strebt und durch Gegenwillen des wachen Gefühls sich selbst bewahren will, so ringt im Geistigen jener Beichtwille, uns der Welt anzuvertrauen, mit der Seelenscham, die uns rät, unser Geheimstes zu verschweigen. Denn der Eitelste selbst (und gerade er) empfindet sich nicht als vollkommen, nicht als dermaßen vollendet, wie er vor den andern erscheinen möchte: darum begehrt er, seine häßlichen Heimlichkeiten, seine Unzulänglichkeiten und Kleinlichkeiten mit sich sterben zu lassen, indes er gleichzeitig will, daß sein Bildnis unter den Menschen lebe. Scham also, sie ist die ewige Widersacherin jeder wahrhaften Selbstbiographie, denn sie sucht schmeichlerisch zu verleiten, uns nicht derart darzustellen, wie wir wirklich sind, sondern wie wir gesehen zu werden wünschen. Mit allen Tücken und Katzenklugheiten wird sie den zur Selbstehrlichkeit redlich bereiten Künstler verführen, sein Intimstes zu verbergen, sein Gefährliches zu verschatten, sein Diskretestes zu verdecken; unbewußt lehrt sie die bildnerische Hand, entstellende Kleinigkeiten (die allerwesentlichsten im psychologischen Sinne!) wegzulassen oder lügnerisch zu verschönen, durch geschickte Verteilung von Licht und Schatten charakteristische Züge ins Idealische umzuretuschieren. Aber wer ihrem schmeichlerischen Drängen schwächlich nachgibt, gelangt statt zur Selbstdarstellung unfehlbar zur Selbstapotheose oder Selbstverteidigung. Darum wird jede ehrliche Autobiographie statt eines bloßen und sorglosen Erzählens ein fortwährendes Auf-der-Hut-sein-Müssen vor dem Einbruch der Eitelkeit zur Voraussetzung fordern, eine erbitterte Defensive gegen die unaufhaltsame Tendenz der eigenen irdischen Natur, sich im Bildnis gegen die Welt gefällig zu adjustieren; gerade hier tut zur Künstlerehrlichkeit noch ein besonderer, ein unter Millionen immer nur einmaliger Mut not, eben weil hier niemand anderes die Wahrhaftigkeit kontrollieren und konfrontieren kann als das eigene Ich – Zeuge und Richter, Ankläger und Verteidiger in einer Person.

Für diesen unvermeidlichen Kampf gegen die Selbstbelügung gibt es kein vollkommenes Gerüstet-und Gepanzertsein. Denn wie in jedem Kriegshandwerk wird für stärkeren Küraß immer eine durchschlagskräftigere Kugel gefunden: und an jeder Wissenschaft des Herzens lernt gleichzeitig die Lüge mit. Sperrt ein Mensch ihr entschlossen die Türe zu, so wird sie sich schlangenhaft geschmeidig machen und durch die Ritzen kriechen. Durchforscht er psychologisch ihre Tücken und Findigkeiten, um sie zu parieren, so wird sie sich unfehlbar neue, geschicktere Finten und Paraden erlernen; wie ein Panther wird sie sich hinterlistig im Dunkel verstecken, um heimtückisch im ersten unbewachten Augenblick vorzuspringen: gerade also mit der Erkenntnisfähigkeit und psychologischen Nuancierung eines Menschen verfeinert und sublimiert sich seine Selbstbelügekunst. Solange einer nur grob und plump die Wahrheit handhabt, bleiben seine Lügen gleichfalls plump und leicht erkennbar; erst bei dem subtilen Erkenntnismenschen werden sie raffiniert und wieder nur dem Erkennenden erkenntlich, denn sie verkriechen sich in die verwirrendsten, verwegensten Täuscheformen, und ihre gefährlichste Maske ist immer die scheinbare Aufrichtigkeit. Wie Schlangen am liebsten unter Felsen und Gestein, so nisten die gefährlichsten Lügen am liebsten gerade im Schatten der großen, pathetischen, der scheinheroischen Geständnisse; man sei also in jeder Autobiographie gerade an jenen Stellen, wo sich der Erzähler am kühnsten, am überraschendsten entblößt und selbst attackiert, am sorgfältigsten auf der Hut, ob nicht gerade diese wilde Art der Beichte ein noch geheimeres Geständnis hinter ihrem lauten Sich-an-die-Brust-Schlagen zu verstecken sucht: es gibt ein Kraftmeiertum in der Selbstkonfession, das fast immer auf eine geheime Schwäche hindeutet. Denn zu dem Grundgeheimnis der Scham gehört, daß der Mensch lieber und leichter sein Grausigstes und Widerwärtigstes entblößt, als auch nur den winzigsten Wesenszug zu verraten, der ihn lächerlich machen könnte: die Furcht vor dem ironischen Lächeln ist immer und überall die gefährlichste Verführung in jeder Autobiographie. Selbst ein so ehrlich Wahrheitsgewillter wie Jean-Jacques Rousseau wird mit einer verdächtigen Gründlichkeit alle seine sexuellen Abwegigkeiten auspauken und reuig bekennen, er habe seine Kinder, er, der Verfasser des ›Émile‹, des berühmten Erziehungstraktates, im Findelhause verkommen lassen, aber in Wirklichkeit deckt dies scheinheroische Eingestehen nur das weit menschlichere, aber ihm schwierigere zu, daß er wahrscheinlich nie Kinder gehabt hat, weil er unfähig war, solche zu zeugen. Tolstoi wird sich lieber als Hurer, Mörder, Dieb, Ehebrecher in seiner Beichte anprangern, statt mit einer Zeile die Kleinlichkeit einzugestehen, daß er ein Leben lang Dostojewski, seinen großen Rivalen, verkannte und ungroßmütig behandelte. Sich hinter einem Geständnis zu verstecken, gerade im Bekennen sich zu verschweigen, ist der geschickteste, der täuscherischeste Trick der Selbstlüge inmitten der Selbstdarstellung. Gottfried Keller hat einmal grimmig eben um dieser Ablenkungsmanöver willen alle Autobiographieen ironisiert. »Der bekannte alle sieben Todsünden und verheimlichte, daß er an der linken Hand nur vier Finger habe; jener erzählt und beschreibt alle Leberflecken und Muttermälchen seines Rückens, allein daß ein falsches Zeugnis sein Gewissen drückt, verschweigt er wie das Grab. Wenn ich so alle miteinander vergleiche mit ihrer Aufrichtigkeit, die sie für kristallklar halten, so frage ich mich, gibt es einen aufrichtigen Menschen, und kann es ihn geben?«

Tatsächlich, absolute Wahrhaftigkeit von einem Menschen in seiner Selbstdarstellung (und überhaupt) zu verlangen, wäre so unsinnig wie eine absolute Gerechtigkeit, Freiheit und Vollendetheit innerhalb des irdischen Weltraums. Der leidenschaftlichste Vorsatz, der entschlossenste Wille, tatsachengetreu zu bleiben, wird ja von vornherein schon unmöglich durch die unleugbare Tatsache, daß wir überhaupt kein verläßliches Organ der Wahrheit besitzen, daß wir schon vor dem Einsetzen unserer Selbsterzählung von unserer Erinnerung bereits um die wirklichen Erlebnisbilder betrogen sind. Denn unser Gedächtnis ist keineswegs eine bureaukratisch wohlgeordnete Registratur, wo in festgelegter Schrift, historisch verläßlich und unabänderlich, Akt an Akt, alle Tatsachen unseres Lebens dokumentarisch hinterlegt sind; was wir Gedächtnis nennen, ist eingebaut in die Bahn unseres Bluts und von seinen Wellen überströmt, ein lebendiges Organ, allen Wandlungen und Verwandlungen unterworfen und durchaus kein Gefrierschrank, kein stabiler Konservierungs-Apparat, in dem jedes einstige Gefühl sein natürliches Wesen, seinen urtümlichen Duft, seine historisch gewesene Form behält. In diesem Fließenden und Durchströmten, das wir eilfertig in einen Namen fassen und Gedächtnis nennen, verschieben sich die Ereignisse wie Kiesel am Grunde eines Bachs, sie schleifen sich eins am andern ab bis zur Unkenntlichkeit. Sie passen sich an, sie ordnen sich um, sie nehmen in geheimnisvoller Mimikry Form und Farbe unseres Wunschwillens an. Nichts oder fast gar nichts bleibt unentstellt erhalten in diesem transformatorischen Element; jeder spätere Eindruck verschattet den früheren, jede Neu-Erinnerung lügt die ursprüngliche bis zur Unkenntlichkeit und oft Gegenteiligkeit um. Stendhal hat als erster diese Unredlichkeit des Gedächtnisses und die eigene Unfähigkeit zur absoluten historischen Treue einbekannt; sein Geständnis, daß er nicht mehr unterscheiden könne, ob das Bild, das er als »Übergang über den Großen Sankt Bernhard« in sich finde, wirklich Erinnerung an die selbsterlebte Situation sei oder Erinnerung bloß an eine später gesehene Kupferstich-Darstellung dieser Situation, darf als klassisches Beispiel gelten. Und Marcel Proust, sein Geisterbe, führt diese Umstimmungsfähigkeit des Gedächtnisses noch schlagender an dem Exempel durch, wie der Knabe die Schauspielerin Berma in einer ihrer berühmtesten Rollen erlebt. Noch ehe er sie gesehen hat, baut er sich aus der Phantasie ein Vorgefühl, dieses Vorgefühl löst sich vollkommen und verschmilzt in dem unmittelbaren Sinneseindruck; dieser Eindruck wird wiederum getrübt durch die Meinung seines Nachbars, am nächsten Tage abermals verwischt und entstellt durch die Kritik der Zeitung; und als er Jahre später die gleiche Künstlerin in derselben Rolle sieht, er ein anderer und sie eine andere seitdem, vermag schließlich seine Erinnerung nicht mehr festzustellen, was eigentlich der ursprüngliche »wahre« Eindruck gewesen. Das mag als Symbol gelten für die Unverläßlichkeit jeder Erinnerung: das Gedächtnis, dieser scheinbar unerschütterliche Pegel aller Wahrhaftigkeit, ist selbst schon Feind der Wahrheit, denn ehe ein Mensch sein Leben zu schildern anheben kann, war in ihm ein Organ bereits produzierend statt reproduzierend tätig, das Gedächtnis hat unaufgefordert selbst schon alle dichterischen Funktionen geübt, so da sind: Auslese des Wesentlichen, Verstärkung und Verschattung, organische Gruppierung. Dank dieser schöpferischen Phantasiekraft des Gedächtnisses wird also unwillkürlich jeder Darsteller eigentlich Dichter seines Lebens: dies hat der weiseste Mensch unserer neuen Welt gewußt, Goethe, und der Titel seiner Autobiographie mit dem heroischen Verzicht, ganz Wahrheit zu sein, dieser Titel ›Dichtung und Wahrheit‹ gilt für jede Selbstkonfession.

Kann derart keiner »die« Wahrheit, die absolute seines eigenen Daseins aussagen, und muß jeder Selbstbekenner zwanghaft bis zu einem gewissen Grade Dichter seines Lebens werden, so wird doch gerade die Anstrengung, wahr zu bleiben, das Höchstmaß ethischer Ehrlichkeit in jedem Bekenner herausfordern. Zweifellos ist die »Pseudokonfession«, wie sie Goethe nennt, das Beichten sub rosa, in der durchsichtigen Verhüllung des Romans oder des Gedichts, ungleich leichter und oftmals auch im künstlerischen Sinne eindringlicher als die Darstellung mit aufgezogenem Visier. Aber eben weil hier nicht nur Wahrheit gefordert ist, sondern die nackte Wahrheit, stellt die Selbstbiographie einen besonders heroischen Akt jedes Künstlers dar, denn nirgends wird der sittliche Umriß eines Menschen so vollkommen verräterisch wie in seinem Selbstverrat. Nur dem gereiften, dem seelisch wissenden Künstler kann sie gelingen; darum ist auch die psychologische Selbstdarstellung erst so spät in der Reihe der Künste erschienen: sie gehört einzig unserer, der neuen und der noch werdenden Zeit. Erst mußte das Wesen Mensch seine Kontinente entdeckt, seine Meere durchmessen, seine Sprache erlernt haben, ehe es den Blick wandte in das Weltall seines Innern. Das ganze Altertum ahnt noch nichts von diesen geheimnisvollen Wegen: seine Selbstschilderer, Cäsar und Plutarch, reihen nur Fakten und sachliche Geschehnisse aneinander und denken nicht daran, nur einen Zoll tief ihre Brust zu eröffnen. Bevor er seine Seele belauschen kann, muß der Mensch ihrer Gegenwart bewußt geworden sein, und diese Entdeckung beginnt wahrhaft erst mit dem Christentum: die ›Confessiones‹ des Augustinus eröffnen die innere Schau, doch ist der Blick des großen Bischofs im Bekennen weniger sich selbst zugewandt als vielmehr der Gemeinde, die er an dem Exempel seiner Wandlung zu bekehren, zu belehren hofft; sein Traktat will als Gemeindebeichte wirken, als vorbildliche Buße, also teleologisch, einem Zwecke zu und nicht sich selbst als Antwort und Sinn. Noch müssen Jahrhunderte hingehn, ehe Rousseau, dieser merkwürdig bahnbrechende, überall Tor und Riegel aufsprengende Mann, ein Selbstbildnis schafft um seiner selbst willen, selbst erstaunt und erschreckt von der Neuheit seines Unterfangens. »Ich plane ein Unternehmen«, hebt er an, »das kein Vorbild hat … ich will vor meinesgleichen einen Menschen in aller Wahrheit der Natur zeichnen, und dieser Mensch bin ich selbst.« Aber mit der Gutgläubigkeit jedes Anfängers vermeint er noch das »Ich als eine unteilbare Einheit, als etwas Kommensurables« und die »Wahrheit« als eine faßbare und tastbare, noch glaubt er naiv »mit dem Buche in der Hand, wenn die Posaune des Gerichts erschallt, vor den Richter treten zu können und sprechen zu dürfen: Dies bin ich gewesen«. Unser späteres Geschlecht hat nicht Rousseaus brave Gutgläubigkeit mehr, dafür ein volleres, ein kühneres Wissen um die Vieldeutigkeit und Geheimnistiefe der Seele: in immer feineren Zerspaltungen, in immer verwegeneren Analysen versucht seine selbstanatomische Neugier Nerv und Ader jedes Gefühls und Gedankens bloßzulegen. Stendhal, Hebbel, Kierkegaard, Tolstoi, Amiel, der tapfere Hans Jäger entdecken ungeahnte Reiche der Selbstwissenschaft durch ihre Selbstdarstellung, und ihre Nachfahren werden, inzwischen mit feineren Instrumenten von der Psychologie versehen, immer weiter, Schicht um Schicht, Raum um Raum vordringen in unsere neue Welt-Unendlichkeit: in die Tiefe des Menschen.

Das mag Trost bieten all jenen, die einen Niedergang der Kunst innerhalb einer technischen und wachgewordenen Welt unablässig verkündet hören. Die Kunst endet nie, sie wendet sich nur. Zweifellos mußte die mythische Bildnerkraft der Menschheit nachlassen: immer ist ja Phantasie am mächtigsten im Kindwesen, immer erfindet jedes Volk sich nur in seiner Lebensfrühe Mythos und Symbol. Aber für die schwindende Traumkraft tritt die klare und dokumentarische des Wissens ausgleichend hervor; man sieht diese schöpferische Versachlichung in unserm zeitgenössischen Roman, der heute deutlich am Wege ist, exakte Seelenwissenschaft zu werden, statt frei und verwegen zu fabulieren. Aber in dieser Bindung von Dichtung und Wissenschaft wird die Kunst durchaus nicht erdrückt, es erneuert sich nur ein uraltes geschwisterliches Band, denn als die Wissenschaft begann, bei Hesiod und Heraklit, war sie Dichtung noch, dunkeltöniges Wort und schwingende Hypothese; nun eint sich nach Tausenden Jahren der Trennung wieder der forschende Sinn dem schöpferischen an, statt Fabelwelten schildert die Dichtung nunmehr Magie unserer Menschlichkeiten. Nicht aus dem Unbekannten ihres Erdballs kann sie mehr ihre Kräfte ziehen, denn entdeckt sind alle Tropen und antarktischen Zonen, durchforscht alle Tiere und Wunder der Fauna und Flora bis an den amethystenen Grund aller Meere. Nirgends kann sich Mythos im Irdischen mehr, es sei denn an den Gestirnen, anranken in unserem ausgemessenen, um und um mit Namen und Zahl bezeichneten Erdball – so wird sich der ewig Erkenntnis wollende Sinn mehr und mehr nach innen wenden müssen, seinem eigenen Mysterium zu. Das internum aeternum, die innere Unendlichkeit, das seelische Weltall, eröffnet der Kunst noch unerschöpfliche Sphären: die Entdeckung ihrer Seele, die Selbsterkennung, wird die künftig immer kühner gelöste und doch unlösbare Aufgabe unserer wissend gewordenen Menschheit sein.

Salzburg, Ostern 1928

Casanova

Inhaltsverzeichnis

»Il me dit qu’il est un homme libre, citoyen du monde.« Muralt über Casanova in einem Brief

Casanova figuriert als Sonderfall, als einmaliger Glücksfall innerhalb der Weltliteratur, vor allem schon deshalb, weil dieser famose Scharlatan eigentlich genauso unberechtigt in das Pantheon des schöpferischen Geistes geraten ist wie Pontius ins Credo. Denn mit seinem dichterischen Adel steht’s nicht minder windig als mit jenem frech aus dem Alphabet zusammengeklitterten Chevalierstitel de Seingalt: seine paar Verse, hastig zwischen Bett und Spieltisch zu Ehren eines Dämchens hinimprovisiert, muffeln nach Moschus und akademischem Leim; um den ›Icosameron‹, Monstrum eines utopischen Romans, zu Ende zu lesen, brauchte man Lammsgeduld unter einem Eselsfell, und wenn unser guter Giacomo gar zu philosophieren anfängt, tut man gut, sich die Kinnbacken gegen Gähnkrampf zu sperren. Nein, er gehört so wenig zum dichterischen Adel, Casanova, wie in den Gotha, auch hier Parasit, Eindringling ohne Rechte und Rang. Aber ebenso verwegen, wie er’s zeitlebens zuwege bringt, als schäbiger Schauspielersohn, fortgejagter Priester, abgetakelter Soldat, anrüchiger Kartendreher und »fameux filou« (diesen Ehrentitel brandmarkt der Polizeileutnant von Paris in seiner Personsbeschreibung), bei Kaisern und Königen zu verkehren und schließlich in den Armen des letzten Edelmannes, des Prinzen de Ligne, zu sterben, hat sein nachschweifender Schatten sich unter die Unsterblichen eingedrängt, obzwar kleiner Schöngeist scheinbar nur, unus ex multis, Asche im Streuwind der Zeit. Aber – kurioses Faktum! – nicht er, sondern alle seine berühmten Landsleute und sublimen Poeten Arkadiens, der »göttliche« Metastasio, der edle Parini e tutti quanti sind Bibliotheksschutt und Philologenfutter geworden, indes sein Name, in ein respektvolles Lächeln gerundet, noch heute von allen Lippen schwebt. Und aller irdischen Wahrscheinlichkeit nach wird seine erotische Ilias noch Dauer und entzündete Leser finden, wenn längst ›La Gerusalemme liberata‹ und der ›Pastor fido‹ als würdige historische Antiquitäten ungelesen in den Bücherschränken stauben. Mit einem Coup hat der gerissene Glücksspieler alle Dichter Italiens seit Dante und Boccaccio überspielt.

Und noch toller: Für so unendlichen Gewinst wagt Casanova gar keinen Einsatz, er hat schlankweg die Unsterblichkeit um ihren Preis geprellt. Nie erahnt dieser Spielmensch die unsagbare Verantwortung des wirklichen Künstlers, jene finster ungesellige Fron tagtief unter der sinnlich warmen Welt im Bergwerk der Arbeit. Er weiß nichts von der angstvollen Lust alles Planens und der ihr tragisch gebundenen, einem ewigen Durst ähnlichen Gier des Vollendens, von der wortlos herrischen, immer unbefriedigten Forderung der Formen nach irdischer Gegenständlichkeit und jener der Ideen nach abgelöster sphärischer Schwebe. Er weiß nichts von Nächten, die durchwacht, von Tagen, die hingebracht werden müssen im dumpfen, sklavischen Feilwerk der Worte, bis endlich der Sinn rein und regenbogenhaft die Linse der Sprache durchstrahlt, nichts von der vielfältigen und doch unsichtbaren, von der unbelohnten, oft erst nach Menschenaltern erkenntlichen Werkarbeit des Dichters, nichts auch von seinem heroischen Verzicht auf Wärme und Weite des Daseins. Er, Casanova, hat, weiß Gott, das Leben sich immer nur leicht gemacht, kein Gran seiner Freude, kein Quentchen seiner Genießerei, keine Stunde seines Schlafes, keine Minute seiner Lust der strengen Göttin Unsterblichkeit geopfert: er rührt sein Lebtag keinen Finger arbeitend um den Ruhm, und doch fällt er ihm, dem Glücklichen, strömend in die Hände. Solange er noch einen Goldfuchs in der Tasche, einen Tropfen Öl in seiner Liebeslampe spürt, solange diesem Weltkind die Wirklichkeit noch gnädig ein paar Knöchelchen Spielzeug schenkt, denkt er nicht daran, Umgang zu haben mit dem strengäugigen Geist-Gespenst der Kunst und sich die Finger ernstlich mit Tinte zu beschmutzen. Erst hinausgeworfen aus allen Türen, ausgelacht von den Frauen, einsam, bettelhaft, impotent, selbst nur ein Schatten unwiederbringlicher Lebensfülle, erst dann flüchtet er, ein verschabter mürrischer Greis, in die Arbeit als Surrogat des Erlebens; und nur aus Nichtlust, aus Langeweile, aufgekratzt von Ärger wie ein zahnloser Köter von der Räude, macht er sich knurrend und murrend daran, dem abgestorbenen siebzigjährigen Casaneus-Casanova sein eigenes Leben zu erzählen.

Er erzählt sich sein Leben – dies seine ganze literarische Leistung – aber freilich, welch ein Leben! Fünf Romane, zwanzig Komödien, ein Schock Novellen und Episoden, eine traubige, überreife Fülle charmantester Situationen und Anekdoten, eingekeltert in eine einzige, strömende und überströmende Existenz: hier erscheint eben ein Leben, selbst schon füllig und rund, als vollendetes Kunstwerk ohne ordnende Beihilfe des Künstlers und Erfinders. Und so löst sich auf überzeugendste Weise jenes erst verwirrende Geheimnis seines Ruhmes – denn nicht, wie er sein Leben beschreibt und berichtet, zeigt Casanova als Genie, sondern wie er es gelebt. Das Dasein selbst ist dieses Weltkünstlers Werkstatt, Material und Form zugleich, und einzig diesem seinem wirklichen und ureigentlichen Kunstwerke hat er sich hingegeben mit der gleichen gestaltenden Inbrunst, die Dichter sonst an Vers und Prosa hinwenden, glühend entschlossen, jedem Augenblick, jeder noch ungewiß wartenden Möglichkeit den höchsten dramatischen Ausdruck aufzuprägen. Was ein anderer erfinden muß, hat er atmend erfahren, was ein anderer mit dem Geist, hat er mit seinem warmen wollüstigen Leib gestaltet, darum brauchen hier Feder und Phantasie die Wirklichkeit nachträglich nicht zeichnerisch auszuschmücken: genug daß sie Pausblatt sind einer schon dramatisch durchgeformten Existenz. Kein Dichter seiner Zeit (und kaum einer der späteren, wenn nicht Balzac) hat dermaßen viel erfunden an Variationen und Situationen, wie Casanova erlebte, und schon gar kein wirklicher Lebenslauf schwingt in so kühnen Kurven durch ein ganzes Jahrhundert hin. Versucht man, an reinem Geschehnisgehalt (nicht an geistiger Substanz und Erkenntnistiefe) etwa die Biographieen Goethes, Jean-Jacques Rousseaus und anderer Zeitgenossen mit der seinen zu vergleichen, wie geradspurig kanalisiert, wie arm an Abwechslung, wie eng im Raum, wie provinziell in der geselligen Sphäre erscheinen jene zielhaften und von schöpferischem Willen beherrschten Lebensläufe gegen diesen einen stromhaften und elementaren des Abenteurers, der Länder, Städte und Stände, Berufe, Welten und Weiber wechselt wie Wäsche an immer gleichem Leib, überall sofort heimathaft und von immer anderen Überraschungen bewillkommt – Dilettanten sie alle im Genießen wie jener Dilettant in der Gestaltung. Denn dies ist ja die ewige Tragik des Geistmenschen, daß gerade er, berufen und sehnsüchtig, alle Weite und Wollust des Daseins zu kennen, doch gebunden bleibt an seine Aufgabe, Sklave seiner Werkstatt, unfrei durch selbst auferlegte Pflichten, gefesselt an Ordnung und Erde. Jeder wahrhafte Künstler lebt die größere Hälfte seines Daseins in Einsamkeit und Zwiekampf mit seiner Schöpfung; nicht im Unmittelbaren, nur im schaffenden Spiegel wird ihm erlaubt, die ersehnte Vielfalt des Daseins zu erfahren – voll hingegeben an die unmittelbare Wirklichkeit; frei und verschwenderisch vermag nur der Unschöpferische, der reine Genießer zu sein, der das Leben lebt um des Lebens willen. Wer sich Ziele setzt, geht am Zufall vorbei: jeder Künstler gestaltet zumeist immer nur, was er versäumte zu erleben.

Den lockern Genießern aber, ihren Gegenspielern, ihnen mangelt fast immer die Macht, das vielfältig Erlebte auszuformen. Sie verlieren sich an den Augenblick, und damit geht dieser Augenblick allen andern verloren, indes der Künstler auch das geringste Erleben zu verewigen weiß. So klaffen die Enden auseinander, statt sich fruchtbar zu ergänzen: den einen fehlt der Wein, den andern der Becher. Unlösbare Paradoxie: die Tatmenschen und Genießer hätten mehr Erlebnis zu melden als alle Dichter, aber sie vermögen es nicht – die Schöpferischen wiederum müssen dichten, weil sie selten genug Geschehnis erlebten, um es zu berichten. Nur selten haben Dichter eine Biographie und selten wiederum die Menschen der wahrhaften Biographieen die Fähigkeit, sie zu schreiben.

Da ereignet sich nun jener herrliche und beinahe einzige Glücksfall Casanova: endlich erzählt einmal ein passionierter Genußmensch, der typische Augenblicksvielfraß und dazu noch vom Schicksal begnadet mit phantastischen Abenteuern, vom Geist mit dämonischem Gedächtnis, vom Charakter mit absoluter Hemmungslosigkeit, sein ungeheures Leben, erzählt es ohne moralische Beschönigung, ohne poetisierende Versüßlichung, ohne philosophische Verbrämung, sondern ganz sachlich, ganz wie es war, leidenschaftlich, gefährlich, verlumpt, rücksichtslos, amüsant, gemein, unanständig, frech, ludrig, immer aber spannungsvoll und unvermutet – und erzählt überdies nicht aus literarischem Ehrgeiz oder dogmatischer Prahlerei oder bußfertiger Reue oder exhibitionistisch gereizter Bekenntniswut, sondern ganz unbelastet und unbekümmert, wie ein Veteran am Wirtshaustisch mit der Pfeife im Mund ein paar knusperige und vielleicht brenzlige Abenteuer vorurteilslosen Zuhörern zum besten gibt. Hier dichtet nicht ein mühseliger Phantast und Erfinder, sondern aller Dichter Meister, das Leben selbst, das unübertreffbar einfallsreiche und phantastisch beflügelte; er aber, Casanova, hat nur der bescheidensten Anforderung des Künstlers zu genügen: das kaum Glaubwürdige glaubhaft zu machen. Dazu langt vollkommen trotz eines barocken Französisch seine Kunst und seine Kraft.[1] Aber nicht im Traum hat dieser zittrige, von der Gicht verwackelte Murrgreis in seiner Sinekure zu Dux daran gedacht, daß über diese Erinnerungen einstmals graubärtige Philologen und Historiker forschend sich beugen würden als den kostbarsten Palimpsest des achtzehnten Jahrhunderts, und so selbstgefällig er sich zu spiegeln liebte, der gute Giacomo, dies hätte er doch als groben Spaß seines verruchten Widersachers, des Herrn Haushofmeisters Feltkirchner, vermerkt, daß sich eine eigene Société Casanovienne hundertzwanzig Jahre nach seinem Tod in seiner ihm verbotenen Stadt Paris etablieren werde, eigens nur um jedes Zettelchen seiner Hand, jedes Datum zu überprüfen und den sorgfältig ausradierten Namen der so angenehm kompromittierten Damen auf die Spur zu kommen. Nehmen wir’s als Glück, daß dieser Eitle seinen Ruhm nicht ahnte und darum mit Ethos, Pathos und Psychologie haushälterisch blieb, denn nur das Absichtslose erreicht jene unbesorgte und darum elementare Aufrichtigkeit. Ganz lässig wie immer ist der alte Glücksspieler in Dux an seinen Schreibtisch als den letzten Hasardtisch seines Lebens getreten und hat als letzten Coup seine Memoiren dem Schicksal hingeschmissen: dann stand er auf, vorzeitig weggeholt, ehe er die Wirkung sah. Und wunderbar, gerade dieser letzte Wurf ging bis in die Unsterblichkeit: dort haust er nun unvertreibbar, der Exbibliothekarius von Dux, neben Herrn von Voltaire, seinem Widersacher, und andern großen Dichtern und wird noch viele Bücher über sich zu lesen haben, denn ein Jahrhundert nach seinem Tod sind wir noch nicht fertig geworden mit seinem Leben, und immer neu lockt das unerschöpfliche unsere Dichter, ihn neu zu dichten. Ja, er hat sein Spiel vortrefflich gewonnen, der alte »commediante in fortuna«, dieser unübertreffliche Schauspieler seines Glücks, und dagegen nützt nun kein Pathos mehr und kein Protest. Man kann ihn verachten, unsern verehrten Freund, wegen mangelnder Moral und geringen sittlichen Ernstes, man kann ihn widerlegen als Historiker und desavouieren als Künstler. Nur eines kann man nicht mehr, ihn wieder tot machen, denn trotz aller Dichter und Denker hat die Welt seitdem keinen romantischeren Roman als sein Leben erfunden und keine phantastischere Gestaltung als seine Gestalt.

Bildnis des jungen Casanova

Inhaltsverzeichnis

»Wissen Sie, Sie sind ein sehr schöner Mann.« Friedrich der Große, 1764 im Park von Sanssouci, plötzlich innehaltend und ihn betrachtend, zu Casanova

Theater in einer kleinen Residenzstadt: die Sängerin hat eben mit kühner Koloratur ihre Arie geendet, wie knatternder Hagel ist Beifall niedergeprasselt, jetzt aber, während der mählich einsetzenden Rezitative lockert sich allgemein die Aufmerksamkeit. Die Stutzer machen Besuche in den Logen, die Damen lorgnettieren, essen mit silbernen Löffeln die sublimen Gelati und den orangefarbenen Sorbet: beinahe unnötig, daß auf der Bühne indes Harlekin seine Lazzi mit einer pirouettierenden Colombine wirbelt. Da, mit einemmal wenden sich alle Blicke neugierig einem Fremden zu, der kühn und lässig zugleich mit der rechten Desinvoltura eines vornehmen Mannes verspätet das Parkett betritt, jedem unbekannt. Reichtum umrauscht die herkulische Gestalt, ein aschfarben geschorenes Samtkleid schlägt sich faltig auf über zierlich durchstickter Brokatweste, und kostbare Spitzen, goldene Litzen zeichnen von den Halsspangen des Brüsseler Jabots hinab bis zu den seidenen Strümpfen die dunkleren Linien des Prunkgewandes mit. Die Hand trägt wie achtlos einen weißfedrigen Paradehut, ein dünner, süßer Duft von Rosenöl oder neumodischer Pomade weht dem vornehmen Fremden nach, der jetzt an die Brüstung der ersten Reihe sich nachlässig hinrekelt, die ringgespickte Hand hochmütig auf den juwelenbeschlagenen Degen aus englischem Stahl gestützt. Als spüre er nicht das allgemeine Bemerktwerden, hebt er sein goldenes Lorgnon, um mit gespielter Gleichgültigkeit die Logen zu mustern. Von allen Sitzen und Bänken zischelt indes schon die Kleinstadtneugier: ein Fürst, ein reicher Ausländer? Köpfe drängen zusammen, ehrfurchtsvolles Flüstern deutet auf den diamantumringten Orden, der quer über die Brust an karmoisinrotem Bande schwingt (und den er derart mit glitzernden Steinen überwuchert hat, daß niemand mehr das erbärmliche päpstliche Sporenkreuz erkennt, billiger als Brombeeren). Die Sänger auf der Bühne spüren sofort das Nachlassen der Aufmerksamkeit, lockerer fließen die Rezitative, denn über Violine und Gamba hinweg spähen die vorgehuschten Tänzerinnen aus der Kulisse, ob da nicht ein Dukatenherzog herwehe für ergiebige Nacht.

Aber ehe die Hunderte im Saale die Charade dieses Fremden, das Rätsel seiner Herkunft, zu lösen vermögen, haben die Frauen in den Logen schon ein anderes bemerkt, mit Bestürzung fast: wie schön dieser fremde Mann ist, wie schön und wie sehr Mann. Mächtig von Wuchs, breit gequadert die Schultern, griffig die durchmuskelten fleischigen Hände, keine weichliche Linie in dem angespannten, stählern-männischen Leib, steht er da, den Nacken ein wenig gesenkt, wie ein Stier vor dem Ansturm. Von der Seite gesehen, dünkt dies Antlitz eine römische Münze, so messerscharf und metallen ist jede einzelne Linie von dem Kupfer dieses dunklen Hauptes abgeschrägt. Mit schönem Schwung wirft eine Stirne, um die jeder Dichter diesen Fremden beneiden dürfte, sich aus kastanienfarbenem zärtlich gelocktem Haar – ein frecher, kühner Haken springt die Nase vor, starkknochig das Kinn und unter dem Kinn wieder ein doppelnußgroßer wölbiger Adamsapfel (nach dem Weiberglauben die sicherste Bürgschaft tatkräftiger Männlichkeit): unverkennbar, jeder Zug in diesem Gesicht meint Vorstoß, Eroberung, Entschlossenheit. Einzig die Lippe, sehr rot und sinnlich, wölbt sich weich und feucht und zeigt wie Granatapfelfleisch die weißen Kerne der Zähne. Langsam wendet der schöne Mann jetzt das Profil den dunklen Schaukasten des Theaters entlang: unter den ebenmäßigen, sehr rund geschwungenen, buschigen Brauen flackert aus schwarzen Pupillen ein ungeduldiger Unruheblick, recht ein Jäger-und Beuteblick, bereit, mit einem Ruck adlerhaft auf ein Opfer zu stürzen. Aber noch flackert er nur, noch brennt er nicht ganz, bloß als tastendes Blinkfeuer streift er die Logen entlang und mustert an den Männern vorbei, wie etwas Käufliches das Warme, Nackte, Weiße in den schattigen Nestern: die Frauen. Er betrachtet sie eine nach der andern, wählerisch, kennerisch, und fühlt sich betrachtet; dabei lockert sich ein wenig die sinnliche Lippe auf, ein beginnender Hauch von Lächeln um den satten, südländischen Mund läßt zum erstenmal das breite, schneeweiße Tiergebiß blank vorleuchten. Noch gilt dies Lächeln keiner einzigen Frau, noch gilt es ihnen allen, dem Wesen Weib, das da nackt und heiß unter den Kleidern sich birgt. Aber jetzt hat er in einer Loge eine Bekannte erspäht: sofort sammelt sich der Blick, sofort überfließt ein samtiger und gleichzeitig glitzernder Glanz das eben noch frech fragende Auge, die linke Hand läßt den Degen, die rechte faßt nach dem schweren Federhut, und so tritt er heran, ein angedeutetes Wort des Erkennens auf den Lippen. Graziös beugt er den Muskelnacken zum Kuß über die dargebotene Hand und spricht sie höflichst an; aber man merkt am Zurückweichen und Verwirrtsein der Umschmeichelten, wie zärtlich schmelzend das Arioso der Stimme in sie eindringt, denn sie biegt sich verlegen zurück und stellt den Fremden ihren Begleitern vor: »Le chevalier de Seingalt.« – Verbeugungen, Zeremonien, Höflichkeiten, man bietet dem Gast einen Platz in der Loge, den er bescheiden zurückweist, und aus dem courtoisen Hin und Her faltet sich endlich Gespräch. Allmählich erhebt Casanova die Stimme, über die andern hinweg. Nach Schauspielerart läßt er die Vokale weich sich aussingen, die Konsonanten rhythmisch rollen, und immer sichtlicher spricht er über die Loge hinweg, laut und ostentativ; denn er will, daß die herangebeugten Nachbarn hören, wie geistvoll und gewandt er französisch, italienisch konversiert, wie geschickt er seinen Horaz zitiert. Scheinbar zufälligerweise hat er die Ringhand solcherart auf die Logenbrüstung gelegt, daß man von weither die kostbaren Spitzenmanschetten und vor allem den riesigen Solitär an seinem Finger funkeln sehen kann – jetzt bietet er aus diamantenbesetzter Dose den Kavalieren mexikanischen Schnupftabak an. »Mein Freund, der spanische Gesandte, hat ihn mir gestern durch den Kurier geschickt« (– man hört es bis in die Nachbarloge –); und da einer der Herren höflich das Miniaturbild auf der Dose bewundert, äußert er nachlässig, aber doch laut genug, damit sich’s im Saal verbreite: »Ein Präsent von meinem Freund und gnädigen Herrn, dem Kurfürsten von Köln.« Ganz absichtlos scheint er so zu plaudern, aber inmitten dieses Paradierens wirft der Bramarbas immer wieder einen raschen Raubvogelblick nach rechts und links, um die eigene Wirkung zu erspähen. Ja, alles beschäftigt sich mit ihm, er fühlt die Frauenneugier an sich hängen, spürt, daß er bemerkt ist, bewundert, geehrt, und das macht ihn noch kühner. Mit einer geschickten Wendung dreht er das Gespräch bis hinüber in die Nachbarloge, wo die Favoritin des Fürsten sitzt und – er fühlt es – wohlgefällig seinem echtpariser Französisch lauscht; und mit devoter Geste streut er, von einer schönen Frau erzählend, eine galante Artigkeit vor sie hin, die sie lächelnd quittiert. Und nun bleibt seinen Freunden nichts übrig, als den Chevalier der hohen Dame vorzustellen. Schon ist das Spiel gewonnen. Morgen mittag wird er mit den Vornehmsten der Stadt speisen, morgen abend wird er in irgendeinem der Paläste den Vorschlag zu einem kleinen Pharaospiel machen und seine Gastgeber plündern, morgen nachts wird er mit einer dieser funkelnden, unter ihren Kleidern nackten Frauen schlafen – und alles dies kraft seines kühnen, sicheren und energischen Auftretens, seines Siegerwillens und der männlich freien Schönheit seines braunen Gesichts, dem er alles dankt: das Lächeln der Frauen und den Solitär am Finger, die diamantene Uhrkette und die goldenen Litzen, den Kredit bei den Bankherren und die Freundschaft des Adels und herrlicher als dies: Freiheit in der unendlichen Vielfalt des Lebens.

Unterdessen hat sich die Primadonna bereit gemacht, die neue Arie zu beginnen. Nach einer tiefen Verbeugung, schon dringlich eingeladen von den durch seine weltmännische Konversation bezauberten Kavalieren, bereits zum Lever der Favoritin gnädigst bestellt, tritt Casanova wieder an seinen Platz zurück und läßt sich nieder, die Linke auf den Degen gestützt, das schöne braune Haupt vorgeneigt, um kennerisch dem Gesang zu lauschen. Hinter ihm zischelt von Loge zu Loge die gleiche indiskrete Frage und als Antwort zurück von Mund zu Mund: »Der Chevalier von Seingalt.« Mehr weiß niemand von ihm, nicht, woher er gekommen, nicht, was er treibt, nicht, wohin er geht, nur der Name summt und surrt durch den ganzen dunklen und neugierigen Saal und tanzt – unsichtbare, flirrende Lippenflamme – bis hinauf zur Bühne, zu den gleichfalls neugierigen Sängerinnen. Aber plötzlich lacht eine kleine venezianische Tänzerin auf. »Chevalier de Seingalt? Oh, dieser Schwindler! Das ist ja Casanova, der Sohn der Buranella, der kleine Abbate, der meiner Schwester vor fünf Jahren die Jungfernschaft abgeschwatzt hat, der Hofnarr des alten Bragadin, Aufschneider, Lump und Abenteurer.« Jedoch das muntere Mädchen scheint ihm seine Untaten nicht sonderlich übel zu nehmen, denn aus den Kulissen zwinkert sie ihm erkennerisch zu und führt die Fingerspitzen kokett an die Lippe. Er merkt’s und entsinnt sich: nur unbesorgt, sie wird ihm sein Spielchen mit den vornehmen Narren nicht stören und lieber heute nacht mit ihm schlafen.

Die Abenteurer

Inhaltsverzeichnis

»Weiß sie, daß dein einziges Vermögen die Dummheit der Menschen ist?« Casanova zum Falschspieler Croce

Vom Siebenjährigen Krieg bis zur Französischen Revolution, ein knappes Vierteljahrhundert dunstet Windstille über Europa, die großen Dynastieen Habsburg, Bourbon und Hohenzollern haben sich müde gekriegt. Die Bürger blasen Tabak behaglich in stillen Kringeln vor sich hin, die Soldaten pudern ihre Zöpfe und putzen die nutzlos gewordenen Gewehre, die geplagten Länder können endlich ein wenig verschnaufen. Aber die Fürsten langweilen sich ohne Krieg. Sie langweilen sich mörderisch, alle die deutschen und italienischen und sonstigen Duodezfürsten in ihren liliputanischen Residenzen, und möchten gern amüsiert sein. Gräßlich ennuyant haben es diese Armen, diese kleingroßen, scheingroßen Kurfürsten und Herzöge auf ihren noch kaltnassen, frischaufgebauten Rokokoschlössern trotz aller Lustgärten, Fontänen und Orangerieen, trotz Zwinger, Galerieen, Wildparks und Schatzkammern; mit den ihren Völkern blutig abgepreßten Geldern und von Pariser Tanzmeistern hurtig eingelernten Manieren äffen sie Trianon und Versailles nach und spielen große Residenz und roi soleil. Aus Langeweile werden sie sogar Kunstgönner und Schöngeister, korrespondieren mit Voltaire und Diderot, sammeln chinesisches Porzellan, mittelalterliche Münzen, barocke Bilder, bestellen sich französische Komödien, italienische Sänger und Tänzer, und nur der Herr in Weimar hat mit gutem Griff sich ein paar Deutsche, namens Schiller, Goethe und Herder, an seinen Hof geladen. Sonst aber wechseln nur Sauhatzen und Wasserpantomimen mit theatralischem Divertissement, denn immer, wenn die Welt müde wird, erzwingt sich die Spielwelt, das Theater, Mode und Tanz besondere Wichtigkeit, und so überbieten sich damals die Fürsten mit Geld und diplomatischen Aktionen, um einer dem andern die interessantesten Amüseure, die besten Tänzer, Musiker, Kastraten, Philosophen, Goldsucher, Kapaunenmäster und Orgelspieler abzujagen. Gluck und Händel, Metastasio und Hasse, das wird sich ebenso wechselseitig abgeluchst wie Kabbalisten und Kokotten, Feuerwerker und Sauhetzer, Textschreiber und Ballettmeister, will doch jeder dieser Duodezfürsten an seinem Höflein das Allerneueste, Allersuperbste, das Allermodischste haben, eigentlich mehr dem Siebenmeilen-Nachbar zum Ärger als sich selber zum Gewinn. Und nun haben sie glücklich Zeremonieenmeister und Zeremonieen, Steintheater und Opernsäle, Bühnen und Ballette, nun fehlt nur noch eines, um der Langeweile der Kleinstadt Schach zu bieten und der rettungslosen Monotonie der ewig gleichen sechzig Adelsgesichter den Anschein von wirklicher Gesellschaft zu geben: vornehme Visiten, interessante Gäste, kosmopolitische Fremde, ein paar Rosinen für den Sauerteig der kleinstädtischen Langeweile, ein wenig Wind von großer Welt in die Stickluft der Dreißigstraßenresidenz.

Dies hören von einem Hof, und, rutsch! schon sausen sie her, die Abenteurer in Hunderten von Masken und Verkleidungen, niemand weiß, aus welchem Windwinkel und Versteck. Aber über Nacht sind sie da, mit einem Reisewagen und englischen Kutschen kommen sie vorgefahren und mieten mit lockerer Hand gleich die nobelste Zimmerfront der vornehmsten Herberge. Sie tragen phantastische Uniformen irgendeiner hindostanischen oder mongolischen Armee und führen pompöse Namen, die in Wirklichkeit pierre de strass sind, falsche Edelsteine wie ihre Schuhschnallen. Sie sprechen alle Sprachen, behaupten, alle Fürsten und großen Leute zu kennen, sie haben angeblich in allen Armeen gedient und an allen Universitäten studiert. Ihre Taschen stecken voll Projekte, ihr Mundwerk klappert von kühnen Versprechen, sie planen Lotterieen und Extrasteuern, Staatsbündnisse und Fabriken, sie offerieren Weiber und Orden und Kastraten; und obwohl sie selbst keine zehn Goldstücke in der Tasche haben, flüstern sie jedem zu, sie wüßten das Geheimnis der Tinctura aurea. An jedem Hof spielen sie andere Künste, hier geheimnisvoll verbrämt als Freimaurer und Rosenkreuzer, dort bei einem geldgierigen Fürsten als wohlbewandert in der chymischen Küche und den Schriften des Theophrast. Bei einem wollüstigen Herrn offerieren sie sich als wackere Wucherer und bewährte Münzmischer, Zutreiber und reichassortierte Kuppler, bei einem Kriegsherrn als Spione, bei einem schöngeistigen Herrscher als Philosophen und Poetaster. Die Abergläubischen fangen sie mit Horoskopen, die Leichtgläubigen mit Projekten, die Spieler mit falschen Karten und die Ahnungslosen mit mondäner Vornehmheit –, all dies aber in den faltenrauschenden, undurchsichtigen Nimbus von Fremdartigkeit und Geheimnis gehüllt, unerkennbar und dadurch doppelt interessant. Wie Irrlichter plötzlich aufglänzend und ins Gefährliche führend, flackern und zucken sie in der trägen, brackigen Sumpfluft der Höfe hin und her, kommend und verschwindend im gespenstigen Lügentanz.