Drei Krimis Spezialband 1023 - Uwe Erichsen - E-Book

Drei Krimis Spezialband 1023 E-Book

Uwe Erichsen

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  • Herausgeber: Alfredbooks
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2022
Beschreibung

Kriminalromane der Sonderklasse - hart, actionreich und überraschend in der Auflösung. Ermittler auf den Spuren skrupelloser Verbrecher. Spannende Romane in einem Buch: Ideal als Urlaubslektüre. Dieses Buch enthält folgende Krimis: Uwe Erichsen: Lockvogel. flieg! Alfred Bekker: Tot und blond Glenn Stirling: Die falsche Dame Uwe Erichsen wurde durch den Bestseller "Die Katze" (verfilmt mit Götz George) bekannt. Er schrieb außerdem zahlreiche Drehbücher ("Tatort", "Der Fahnder" u.a.m.). Alfred Bekker ist ein bekannter Autor von Fantasy-Romanen, Krimis und Jugendbüchern. Neben seinen großen Bucherfolgen schrieb er zahlreiche Romane für Spannungsserien wie Ren Dhark, Jerry Cotton, Cotton reloaded, Kommissar X, John Sinclair und Jessica Bannister. Er veröffentlichte auch unter den Namen Neal Chadwick, Henry Rohmer, Conny Walden, Sidney Gardner, Jonas Herlin, Adrian Leschek, John Devlin, Brian Carisi, Robert Gruber und Janet Farell.

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Seitenzahl: 426

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Alfred Bekker & Uwe Erichsen & Glenn Stirling

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Inhaltsverzeichnis

Drei Krimis Spezialband 1023

Copyright

Lockvogel, flieg!

Copyright

I

II

III

IV

V

VI

VII

VIII

IX

X

XI

XII

XIII

XIV

Tot und blond

Copyright

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Die falsche Dame

Drei Krimis Spezialband 1023

Alfred Bekker, Uwe Erichsen, Glenn Stirling

Kriminalromane der Sonderklasse - hart, actionreich und überraschend in der Auflösung. Ermittler auf den Spuren skrupelloser Verbrecher. Spannende Romane in einem Buch: Ideal als Urlaubslektüre. Dieses Buch enthält folgende Krimis:

Uwe Erichsen: Lockvogel. flieg!

Alfred Bekker: Tot und blond

Glenn Stirling: Die falsche Dame

Uwe Erichsen wurde durch den Bestseller "Die Katze" (verfilmt mit Götz George) bekannt. Er schrieb außerdem zahlreiche Drehbücher ("Tatort", "Der Fahnder" u.a.m.).

Alfred Bekker ist ein bekannter Autor von Fantasy-Romanen, Krimis und Jugendbüchern. Neben seinen großen Bucherfolgen schrieb er zahlreiche Romane für Spannungsserien wie Ren Dhark, Jerry Cotton, Cotton reloaded, Kommissar X, John Sinclair und Jessica Bannister. Er veröffentlichte auch unter den Namen Neal Chadwick, Henry Rohmer, Conny Walden, Sidney Gardner, Jonas Herlin, Adrian Leschek, John Devlin, Brian Carisi, Robert Gruber und Janet Farell.

Copyright

Ein CassiopeiaPress Buch: ALFREDBOOKS, CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books und BEKKERpublishing sind Imprints von Alfred Bekker

© by Authors

© Cover: A.PANADERO

© dieser Ausgabe 2022 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen in Arrangement mit der Edition Bärenklau, herausgegeben von Jörg Martin Munsonius.

Alle Rechte vorbehalten.

www.AlfredBekker.de

[email protected]

Lockvogel, flieg!

Krimi von Uwe Erichsen

Der Umfang dieses Buchs entspricht 157 Taschenbuchseiten.

Hans-Walter Heinen - genannt der Hai - ist der Boss auf dem Kiez und an allem beteiligt, was kriminell und illegal ist. Er sitzt in U-Haft, aber alle Zeugen, die gegen ihn aussagen könnten, sterben nacheinander. Der Hai schien den Soko-Ermittlern Roth und Gräfe immer Schritt voraus zu sein. Gab es im Polizeipräsidium einen Maulwurf? Als Roth erfährt, dass nach seiner ehemaligen Lebensgefährtin Sigrid Wolf, die für den ermordeten Journalisten Hilmar Blume gearbeitet hatte und nach seinem Tod untergetaucht war, gefahndet wird, ist ihm klar, dass sie sich als letzte mögliche Zeugin in Lebensgefahr befindet. Er macht sich auf die Suche nach ihr – und die Gangster heften sich an seine Fersen ...

Copyright

Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books und BEKKERpublishing sind Imprints von Alfred Bekker

© by Author

© Cover nach einem Motiv von Darksouls1/Pixabay mit Steve Mayer, 2017

© dieser Ausgabe 2017 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen in Arrangement mit der Edition Bärenklau, herausgegeben von Jörg Martin Munsonius.

Alle Rechte vorbehalten.

www.AlfredBekker.de

[email protected]

I

Roth lockerte den Druck der Hand, die sich um den Pistolengriff krampfte. Prickelnd kehrte das Blut in die Fingerspitzen zurück. Mit der Linken wischte er den Schweiß aus seinen Augen. Er atmete flach, mit weit geöffnetem Mund. Staub, der aus dem abgetretenen Sisalläufer stieg, kratzte in seinem Hals. Er schloss den Mund und presste die Lippen zusammen und kämpfte gegen den Hustenreiz an, der unerträglich zu werden drohte.

Wo blieb Gräfe?

Das Tuten eines Hafenschleppers durchdrang die Wände. Hinter einer der dünnen Türen rülpste jemand. Sonst war kein Laut zu hören.

Roth schob sich ein Stück weiter vor. Er spürte die raue Wand durch den leichten Stoff seines Jacketts. Vorsichtig spähte er in den schmalen, langen Flur. Seit zehn Minuten war niemand mehr die Treppe heraufgekommen, keiner der Gäste dieses schäbigen Hafenhotels hatte sein Zimmer verlassen.

Roth zuckte zusammen, als er am anderen Gangende eine schwache Bewegung wahrnahm. Dann erkannte er Volker Gräfes runden Lockenkopf, und er atmete auf. Gräfe war unten geblieben, um die Verstärkung zu erwarten und die Kollegen einzuweisen. Ihre Handfunkgeräte konnten sie innerhalb des Hauses nicht benutzen. Die Gefahr, dass ein Peilton oder eine scheppernde Lautsprecherstimme ihre Zielperson zu früh aufschreckte, war einfach zu groß.

Gräfe hob eine Hand, streckte dann den Arm und setzte sich in Bewegung.

Jürgen Roth kam hinter der Gangbiegung hervor. Der kahle Flur bot keine Deckung. Wie sein Kollege Volker Gräfe hielt er die Pistole schussbereit in der angewinkelten Hand. Schritt für Schritt näherten sie sich der Tür mit der verblassten Nummer 26.

Hinter der Tür sollte sich Dieter Nelles aufhalten, der Mann, der für Hans-Walter Heinen die Drecksarbeit machte.

Heinen, der Hai, wie er voller Angst oder Respekt genannt wurde.

Heinen, der König vom Kiez, ohne den nichts lief in der Stadt.

Selbst jetzt nicht, obwohl er seit acht Monaten in U-Haft saß. Gelassen verfolgte er, wie ein Anklagepunkt nach dem anderen fallen gelassen werden musste, weil Zeugen ihr Erinnerungsvermögen oder ihr Leben verloren.

Wie zuletzt Clemens Adolphi, jahrzehntelang Heinens Buchhalter und Steuerexperte und die letzte Hoffnung der Staatsanwaltschaft, gegen Heinen wenigstens eine solide Anklage wegen Steuerhinterziehung zimmern zu können.

Bis auch er vor zwei Tagen ums Leben kam.

Kurz bevor Adolphi in der Garage seines Hauses bei lebendigem Leib verbrannte, wollten zwei Zeugen unabhängig voneinander Dieter Nelles in der Umgebung der unauffälligen Reihenhaussiedlung draußen in Eidelstedt erkannt haben.

Seit Monaten wurde nach Dieter Nelles gefahndet. Er sollte der Mann sein, der jeden aus dem Weg räumte, der dem Hai gefährlich werden konnte. Und der sich in diesem heruntergekommenen Hotel am Hafen verkroch, seit sich das Netz enger um ihn zusammenzog.

Der Hinweis, dass sich Nelles hier versteckte, war vor knapp vierzig Minuten beim Landesfahndungskommando eingegangen. Volker Gräfe hatte darauf bestanden, sofort zuzugreifen und nicht einmal Rüdiger Tondorf, den Leiter der Sonderkommission, die gegen das organisierte Verbrechen in der Hansestadt ermittelte, zu informieren.

Gräfe war von der Idee besessen, dass es eine undichte Stelle im Polizeipräsidium geben musste. Nicht, dass er ausgerechnet Tondorf, seinen unmittelbaren Vorgesetzten, für einen linken Hund hielt, aber Tondorf besaß weder Mut noch genug Fantasie, um auch einmal neben dem ausgetretenen Dienstweg zu wandeln. Getreulich berichtete er über jedes Ermittlungsdetail nach oben, meldete jede geplante Aktion die ganze Flöte hinauf, wo es irgendwo ein Leck geben musste. Anders war es nach Gräfes Meinung nicht zu erklären, dass Heinen auf jede Maßnahme, die gegen ihn eingeleitet wurde, rechtzeitig reagieren konnte.

Alle Ermittlungen der Sonderkommission Heinen, wie sie intern genannt wurde, verliefen im Sande. Es stand bereits fest, dass die Kommission in Kürze wegen der ausbleibenden Erfolge aufgelöst werden würde.

Umso verbissener hatten Gräfe und Roth reagiert, als sie die Chance sahen, Nelles zu bekommen.

Der alte Mann, der unten in der Absteige den Dienst eines Portiers versah, hatte zwar keinen Zahn mehr im Mund, aber seine Augen waren noch scharf. Ohne zu zögern, hatte er Nelles Fahndungsfoto aus einem ganzen Bündel Galgenvogelporträts herausgepickt und versichert, dass sich der Gesuchte in Zimmer 26 aufhalte, und zwar allein bis auf die Gesellschaft einer Flasche Cognac und zweier Frikadellenbrötchen, die er sich am frühen Abend von ihm, dem Portier, hatte besorgen lassen.

Sie pressten sich links und rechts neben der Tür an die Wand. Der Schweiß brannte in Roths Augen, seine Handfläche war feucht, aber es war zu spät, um sie jetzt noch einmal abzuwischen. Hinter der Tür knarrten die ausgeleierten Federn einer Matratze. Unten im Eingang lachte eine der Nutten, die ihre Freier hier hereinschleppten, dann klackten die spitzen Absätze auf den Stufen.

Gräfe machte ein besorgtes Gesicht. Wieso hatten die Kollegen sie nicht am Betreten des Hauses gehindert?

Roth atmete flach, weil er fürchtete, seine Atemstöße könnten durch das dünne Holz dringen. Das Türschloss befand sich zu seiner Linken. Nach dem Trainingsprogramm des MEK, an dem sie in regelmäßigen Abständen teilnahmen, fiel ihm die Aufgabe zu, das Schloss einzutreten.

Mit einer halben Körperdrehung auf dem linken Absatz einen Schritt in den Gang hinein, dabei das rechte Bein anziehen und den Fuß gegen das Türblatt abschießen, genau unterhalb des Schlosses, das sich dann rechts von ihm befinden würde.

Gräfe nickte ihm zu und packte den Pistolengriff mit beiden Händen.

Roth löste sich von der Wand. Eine Diele knackte leise unter seinem Fuß. Er hob das Bein, bis es seine Brust berührte, dann stieß er den Fuß gegen die Tür.

Mit einem berstenden Knall sprang das Schließblech aus dem Rahmen. Die Tür flog in den Raum und krachte gegen die Wand.

»Polizei! Keine Bewegung!«, schrie Roth und hechtete über die Schwelle.

Es war dunkel im Zimmer. Nur das hohe Rechteck des einzigen Fensters hob sich schwach gegen die Dunkelheit an.

Das Bettgestell knackte laut. Vor dem Fenster erschien der Umriss einer Gestalt. Roth fuhr herum, er streckte die Arme. Mit beiden Händen umklammerte er den Pistolengriff. In dem Moment flackerte auf der anderen Straßenseite die Leuchtreklame über dem Pirandello Club auf, eilig kletterte die Schrift an der Fassade hinauf.

»Polizei!«, brüllte Roth. »Keine Bewegung! - Mach Licht, Volker, Licht!«

Er gab einen Warnschuss ab, doch die Gestalt vor dem Fenster, vom Neonlicht rot überhaucht wie vom Widerschein lodernder Flammen, bewegte sich mit erschreckender Geschmeidigkeit.

Roth erkannte den blassen Umriss des Gesichts vor dem roten Hintergrund, er sah den länglichen Gegenstand drohend in der Hand des anderen, bevor er mit dem Umriss der Gestalt verschmolz. Ein Gedanke schoss durch Roths Kopf. Nach unzähligen Verhaftungen, davon allein achtzehn im laufenden Jahr, bei denen er die entsicherte Waffe in der Hand gehalten hatte, freilich ohne sie ein einziges Mal zu benutzen, war jetzt der Moment gekommen. Der Moment, in dem es nur darum ging, wer zuerst schoss und traf.

Roth drückte ab. Zweimal ruckte die schwere Selbstladepistole in seiner Faust.

Im selben Moment flammte endlich das Deckenlicht auf.

Roth hielt die Arme immer noch gestreckt, die Mündung auf den Mann gerichtet, den die Wucht der Einschläge gegen die Wand neben dem Fenster geschleudert hatte. Einen endlos scheinenden Augenblick verharrte er dort, wie von Pfeilen gegen die Wand geheftet, bevor er langsam zu Boden rutschte. Auf der fleckigen, gelben Tapete erschien eine blutige Spur.

Roth starrte in die brechenden Augen im schmalen dunklen Gesicht.

Das Gesicht. Es war zu schmal, zu dunkel. Und es wies nicht die geringste Ähnlichkeit mit dem Gesicht auf dem Polizeifoto auf, das in seiner Tasche steckte.

Roth spürte eine jähe Schwäche in den Knien, eine aufsteigende Übelkeit. Die Finger des Sterbenden gaben endlich den runden Gegenstand frei, der im Dunkeln so bedrohlich ausgesehen hatte. Die noch halbvolle Mineralwasserflasche kollerte über den Boden, verspritzte ihren Inhalt über Roths Füße.

Er schrie gellend auf, als Gräfe ihn am Arm berührte.

»Nein! Nein!«

»Reiß dich zusammen!«, brüllte Gräfe.

Gräfe schüttelte ihn, bis seine Zähne klirrten. Mit der freien Hand riss er das Handfunkgerät aus der Tasche und schaltete es ein.

»Sigma drei, kommen!«, sagte er drängend. »Kommen, Sigma drei! Wir brauchen einen Arzt hier!«

Der Lautsprecher blieb stumm.

»Die haben ihre Geräte noch abgeschaltet! Rühr dich hier nicht weg!«

Roth nickte benommen. Gräfe lief aus dem engen Hotelzimmer.

Roth, der den Anblick der brechenden Augen nicht ertragen konnte, wich in den Flur zurück. Gräfe stand an der Treppe und beugte sich über das Geländer.

»Hermann! Rainer! Hört denn niemand? Verdammt ...«

Das Quietschen des Türschlosses hinter Jürgen Roth klang verstohlen, heimlich. Er drehte sich um.

Die Zimmertür auf der anderen Gangseite öffnete sich. Im Rahmen erschien eine gedrungene Gestalt mit dichten blonden Haaren auf dem breiten Schädel. Augen, dunkelbraun unter struppigen Brauen, weit aufgerissen, starrten ihn an.

Nelles!

Roth war unfähig, sich zu bewegen, die Pistole, die schwer an seiner herabhängenden Hand zog, hochzureißen. Der Schock dauerte an.

Auch Nelles hielt eine Waffe in der Faust, einen Revolver, aber er benutzte ihn nicht. Noch nicht. Das Fenster des Zimmers, aus dem er kam, ging in den Hof hinaus. Der Instinkt des Gejagten hatte ihm verraten, dass er dort nicht hinauskonnte. Dort hätten ihn die Fahnder des Sonderkommandos in Empfang genommen.

Er hechtete in den Flur, rammte Roth mit der gewölbten Schulter und rannte auf die Gangbiegung zu.

Roth prallte gegen den Türrahmen. Ein scharfer Schmerz schoss durch seinen Arm.

Gräfes Kopf ruckte herum. Auch er erkannte Nelles sofort. Sein Arm flog in die Höhe.

Aber Roth stand genau in der Schusslinie.

»Runter!«, brüllte Gräfe mit sich überschlagender Stimme. »Runter!«

Nur noch drei, vier lange Sätze trennten Nelles von der Gangbiegung. Roth starrte hinter dem fliehenden Killer her, bis Gräfe einen Warnschuss in die Decke jagte und Nelles sich im Lauf herumwarf und aus der Bewegung heraus feuerte.

Roths Instinkte erwachten, verdrängten den lähmenden Schock. Er warf sich lang auf den Boden. Roth hörte das Pfeifen der Kugeln, als Gräfe über ihn hinweg feuerte.

Nelles verschwand hinter der Ecke. Gräfe rannte durch den Flur, sprang über Roths Beine. Hinter dem Knick klirrte Glas, als Nelles durch das geschlossene Fenster am Ende des kürzeren Flurstücks sprang.

Gräfes Gesicht war kalkweiß, als er den Portier an der Jacke heraufschleifte, ihn vor sich her durch den Flur trieb und ihn dann in das Zimmer schleuderte, in dem noch der Pulverdampf waberte.

Der alte Mann begann zu zittern, als er den Toten erblickte, der wie eine Puppe am Boden hockte. Der Kopf war ihm auf die Schulter gefallen.

Gräfe deutete auf den Toten, während von draußen das Wimmern der ersterbenden Sirenen hereindrang und Schritte die Treppe heraufpolterten.

»Wer ist das?«, schrie Gräfe nah am Ohr des Alten.

Im Seesack, der am Kopfende des Bettes stand, fand Roth das Heuerbuch. Er schlug es auf.

»Jadallah al Ahmal«, las er mit kratzender Stimme. Das Blut pochte hinter seiner Stirn. »Seemann aus Tunis ...« Er ließ das Heuerbuch fallen. »Warum stand er nicht still? Warum hat er sich bewegt?«

»Er sprach kein Wort deutsch«, stammelte der Alte.

»Seine Reederei hat ihn geschickt. Sie bezahlt das Zimmer, bis ...«

»Wie kommt er hier rein?«, brüllte Gräfe. »Wie kommt er in dieses verdammte Zimmer? Was haben Sie uns erzählt?« Gräfe stieß den alten Mann gegen die Wand und zerrte das Polizeifoto von Nelles aus der Tasche. Er hielt es dem Alten vor die Augen. »Sie haben gesagt, dieser Mann sei in diesem Zimmer!«

Der Portier schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht, ich weiß es nicht ...«

»Lass ihn«, sagte Roth. »Es hat keinen Zweck.«

II

Dieter Nelles blieb ruhig auf dem breiten Bett liegen, als er hörte, wie ein Schlüssel ins Schloss der Wohnungstür gesteckt wurde. Nur seine Rechte glitt unter die Tagesdecke und zog den Revolver darunter hervor.

Zwischen den angezogenen Knien her zielte er auf die Zimmertür, die langsam in den Raum schwang.

Bernd Makowski blieb in der Tür stehen. Sein ausdrucksloses Gesicht vermochte den Ärger, den er bei Nelles' Anblick empfand, nur unvollkommen zu verbergen. Nelles' Schuhsohlen hatten große schmutzige Abdrücke auf der neuen Tagesdecke hinterlassen.

»Du versaust mir das Bett«, sagte er.

Ohne die auf ihn gerichtete Waffe zu beachten, machte er einen Schritt in das Zimmer hinein, in dem es durchdringend nach frischer Farbe roch.

Nelles zog mit dem Daumen den Hammer zurück, und Makowski blieb wieder stehen. Seine Nasenlöcher blähten sich unter stoßweisen Atemzügen.

Makowski besaß die perfekte Athletenfigur. Seit Heinen, der Hai, ihn zu seinem Vertrauten gemacht hatte, hüllte er die breiten Schultern und die kräftigen Arme in gut geschnittene Sakkos und bei gegebenem Anlass auch in feine Nadelstreifenjacketts. Seinen Spitznamen, Bernd, der Macker, hatte er längst abgelegt, obwohl er nach wie vor dem alten Gewerbe nachging, wenn auch auf einem höheren Niveau als vor zwei, drei Jahren, als seine Hühner noch am Hans-Albers-Platz an der Mauer standen.

»Woher weißt du von dieser Wohnung?«, fragte er.

Nelles grinste Makowski über den Revolverlauf hinweg tückisch an. »Ich habe Freunde auf dem Kiez«, sagte er. »Hast du daran nicht gedacht?«

»Was willst du damit sagen?«

»Bin ich abgeschrieben?« Lauernd sah Nelles den anderen von unten herauf an.

»Wie kommst du darauf?«

»Weil mich jemand linken wollte.«

»Was du dir einbildest! Jemand hat dich erkannt, wie du dich da unten rumgetrieben hast ...«

Makowski verstummte, als Nelles sich jäh im Bett aufrichtete. Nelles' schmaler, scharfer Mund verzerrte sich.

»Jemand hat mir die schärfsten Bullen auf den Hals gehetzt, die auf dem Kiez rumlaufen! Willst du mir erzählen, dass das Zufall war? Bekomme ich keinen Schutz mehr vom Boss, nach allem, was ich für ihn getan habe?«

»Sei vernünftig«, sagte Makowski. »Steck erst mal die Kanone weg!«

»Wo ist deine?«

Makowski schlug sein Jackett zurück und griff mit der linken Hand hinter sich, um die flache Pistole aus der Gürtelhalfter zu ziehen. Er legte sie auf die zierliche Kommode vor dem Fenster.

Nelles steckte den Revolver ein und rollte vom Bett, wobei er darauf achtete, Makowski nicht zu nahe zu kommen.

»Na, was war mit dem Schutz?«, fragte Nelles herausfordernd. »Wieso funktioniert der ausgerechnet bei mir nicht? Zwei Tage nach der Sache mit Adolphi ...«

»Sei still!«, befahl Makowski scharf.

»Schon gut, schon gut!« Nelles lachte. »Ein Glück, dass mich dieses rote Reklamelicht nervös machte. Und dass ich das Zimmer mit diesem Kanaken getauscht hab'.« Er grinste gefühllos. »Der sprach kein lausiges Wort deutsch«, sagte er dann, immer noch staunend. »Der dachte wahrscheinlich, ich gehöre zu dem Saftladen.«

Nelles sah sich um.

Makowski deutete in die Diele.

»Gehen wir nach nebenan«, schlug er vor.

Auch im Wohnraum roch es nach frischer Farbe. Teppichboden, Fenstervorhänge, die Couch und der senffarbene Sessel, der niedrige Couchtisch und die Videoanlage waren funkelnagelneu.

»Deine Hühner haben's gut«, stellte Nelles fest. »Schöne Bude.«

»Man muss was tun für die Kundschaft. Es läuft entweder da, wo's billig ist, oder oben in der Luxusetage. Alles andere ist Mist. Diese Nacht kannst du von mir aus hier schlafen, wenn du dir die Schuhe ausziehst, bevor du ins Bett gehst. Morgen um elf bist du raus. Die Mädchen kommen am Nachmittag.«

Dieter Nelles wirbelte auf dem Absatz herum. Seine Finger grüben sich in Makowskis Jackenaufschläge.

»Du vergisst wohl, wer den Müll für dich und deinen Boss wegräumt! Damit ihr ungestört abkassieren könnt, du und dein Boss!« Nelles keuchte. »Ihr könnt mich nicht einfach abbraten, nur weil ihr mich nicht mehr braucht!«

Makowski ließ die Arme herabhängen, auch als Nelles ihn heftig gegen die Wand stieß.

»Bist du fertig?«, fragte er beherrscht. »Was willst du eigentlich?«

»Ich will mit dem Boss sprechen!« Nelles machte eine heftige Bewegung, als Makowski zu einer Antwort ansetzte. »Ich weiß, dass er Haftverschonung kriegt, komm mir also nicht mit irgendwelchem Quatsch, dass er verhindert ist!«

»Er bekommt Haftverschonung! Das bedeutet aber nicht, dass er sich mit dir treffen kann!«

»Weil ich heiß bin, ich weiß. Aber er kann hierherkommen! Ist doch 'ne feine Adresse. Unten der Zahnarzt und der Heilpraktiker, darüber das Finanzierungsbüro, und hier oben die Nutten!«

Makowski hob die Hände und schob sie zwischen Nelles' Arme. »Ich sage es ihm.«

»Ich bleibe hier, bis er kommt.« Nelles deutete auf das Telefon. »Wenn die Freier anrufen, sage ich ihnen, dass sie von mir bedient werden, wenn sie Wert darauf legen.«

»Geh nicht an den Apparat«, warnte Makowski. »Überspann den Bogen nicht.«

»Denk du auch daran. Sonst werde ich weiter über die Frage nachdenken, wer den Bullen den Tipp gegeben hat! Aber zum Glück bin ich nicht nachtragend.«

Makowski zog sein Jackett zurecht und ging zur Tür. Nelles folgte ihm.

»Der Kühlschrank ist leer«, sagte er. »Ich brauche Brötchen, Käse, etwas Obst, ein paar Teebeutel.«

Makowski nickte. »Sonst noch was?«

»Und eine Flasche Cognac. Deine Kanone kannst du mitnehmen, wenn du mir die Sachen bringst. Denk dran - du und kein anderer.«

Nelles zerrte den Revolver heraus und zog den Lauf über die Wand. Das Korn riss eine tiefe Kerbe in die helle Strukturtapete und den darunterliegenden Putz.

Makowskis Gesicht wurde weiß, die Kiefermuskeln zeichneten sich scharf unter der glatten Haut ab.

»Blut hinterlässt immer so hässliche Flecken«, sagte Nelles. »So'n Kratzer lässt sich leicht reparieren, wenn's nicht mehr werden.«

»Du bist und bleibst die Ratte aus der Gosse«, sagte Makowski beherrscht, als er die Wohnungstür öffnete.

»Weißt du, was dein Problem ist?«, fragte Nelles. »Dass du nicht mehr der kleine Macker bist, der du mal warst. Damals hattest du nichts als ein paar Hühner und die Rolex an der Hand.«

»Und was hast du?«

»Ich bin frei, Macker! Eine Ratte hat nichts als ihr Leben. Nichts Überflüssiges, verstehst du? Und jetzt verschwinde! Aber lass den Schlüssel hier!«

Nelles grinste überlegen, als Makowski ihm den Schlüssel des Apartments zuwarf.

*

Kriminaloberrat Otto Peikert warf Roths Bericht auf die Seite seines Schreibtisches. Er brauchte ihn nicht zu lesen. Was Roth geschrieben hatte, unterschied sich nicht von dem, was er gestern bei der Vernehmung vor dem Staatsanwalt und vor Kriminalhauptkommissar Tondorf, seinem unmittelbaren Vorgesetzten, ausgesagt hatte.

»Ich habe heute Morgen schon mit dem Staatsanwalt gesprochen«, sagte Peikert. »Es wird nicht zu einem förmlichen Strafverfahren gegen Sie kommen. Aber um die Eröffnung eines Disziplinarverfahrens werden Sie nicht herumkommen. Sie nicht, und Gräfe ebenfalls nicht. Dort wird unweigerlich von Neuem die Frage auftauchen, die Sie und Gräfe auch gestern nicht beantworten wollten oder nicht beantworten konnten — warum Sie den Leiter der Sonderkommission Heinen nicht über Ihren Einsatz informiert haben!«

Weil Volker Gräfe nicht von der Überzeugung abzubringen ist, dass es eine sehr intensive illegale Verbindung zwischen hohen Amtsträgern der Polizei und den Drahtziehern der kriminellen Szene gibt. Korruption, Herr Oberrat.

Peikert beugte sich plötzlich vor. Er war ein untersetzter Mann, dem meistens ein freundliches, unverbindliches Lächeln im Gesicht klebte. Jetzt verschwand sein Lächeln, die Augen blickten kühl und scharf.

»Warum wollen Sie nicht darüber sprechen? Jetzt? Was Sie mir hier sagen, wird nie außerhalb dieser vier Wände wiederholt werden, wenn Sie es nicht wollen!«

Ich will nicht als der Mann dastehen, der sein eigenes Nest beschmutzt. Und ich will weder mein eigenes Leben noch das meines Freundes in Gefahr bringen. Es hat schon zu viele Tote gegeben, Herr Oberrat. Gräfe hat eine Frau und zwei Kinder.

Es war schon schlimm genug, dass Gräfe sich selbst um Kopf und Kragen redete.

Peikert schlug mit der Hand auf den Tisch.

»Mann, Roth, laufen Sie nicht wie das personifizierte schlechte Gewissen herum! Sie sind Polizeibeamter, und Sie werden es bleiben, dafür stehe ich ein. Ihnen ist passiert, was jedem von uns jederzeit auch passieren kann!«

Aber mir ist es passiert.

Er hatte einen Menschen erschossen. Einen Unbeteiligten. Er war gezeichnet. In der Halle ging man ihm aus dem Weg, im Aufzug sahen sie an ihm vorbei.

Peikert lehnte sich zurück. Das unverbindliche Lächeln erschien wieder in dem flachen Gesicht mit der eingedrückten Nase, die den ehemaligen Boxer verriet. Irgendwo hatte Roth einmal die alten Plakate gesehen, auf denen Peikerts Name stand. Bevor er von der Schutzpolizei zur Kripo wechselte, hatte er in der Boxstaffel der Polizei geboxt. Er war ein gefürchteter Mittelgewichtler gewesen, davon wussten nicht nur die älteren Kollegen zu erzählen.

»Ihnen ist sicher klar, dass ich Sie von der Soko Heinen abziehen muss, Gräfe natürlich ebenfalls. Sie kehren beide bis auf Weiteres in ihre alten Abteilungen zurück, und bis zum Abschluss des Disziplinarverfahrens versehen Sie ausschließlich Innendienst. Das ist die Bedingung, um eine Suspendierung bis zur Klärung eventueller Dienstvergehen zu vermeiden.«

Peikert sah Roth an, als ob er Fragen oder Einwände erwartete, doch Roth schwieg. Er hatte nicht die Kraft, zu kämpfen. Im Übrigen hätte er auch nicht gewusst, gegen wen, wofür oder worum er hätte kämpfen können.

»Ich nehme an, dass in den nächsten Tagen noch Fragen auftauchen werden, es ist also sinnvoll, wenn Sie sich zur Verfügung halten. Danach machen Sie am besten Urlaub. Sie hatten dieses Jahr noch keinen, soviel ich weiß?«

Roth schüttelte den Kopf.

»Das trifft sich also gut. Spannen Sie aus, suchen Sie Abstand. Ich möchte Sie übrigens nicht im Betrugsdezernat bei der Bearbeitung von Bagatelldelikten versauern lassen. Ein Mann mit Ihrer Erfahrung kann seine Fähigkeiten an anderer Stelle besser entfalten. Ich denke an eine Tätigkeit als Sachverständiger im Erkennungsdienst, in der Aus- und Fortbildung oder in der Logistik. Denken Sie über mein Angebot nach, aber lassen Sie sich Zeit. Erst der Urlaub, dann sehen wir weiter.«

Roth fühlte sich benommen, als er aufstand. Er hatte mit seiner Suspendierung gerechnet, sie unbewusst vielleicht sogar erhofft, stattdessen wurde ihm nach Jahren des Stillstands noch einmal die Aussicht auf eine Karriere eröffnet.

»Und vergessen Sie nie - wir stehen alle hinter Ihnen«, sagte Peikert, bevor Roth den Raum verließ.

*

Hans-Walter Heinen war auch körperlich ein mächtiger Mann. Seine Rückkehr in seine Büroräume hoch oben im 19. Stock der Alsterresidenz geschah mit der Wucht eines Panzervorstoßes.

Trotz der sommerlichen Temperaturen trug er seinen pelzgefütterten Ledermantel mit dem Lammfellkragen, was Makowski daran erinnerte, dass es Winter und lausig kalt gewesen war, als man den Boss abgeholt hatte.

Heinen schleuderte den Mantel auf die helle Ledercouch in seinem Arbeitszimmer, bevor er sich umwandte und Makowski ansah. Von den Blumen auf dem Glastisch nahm er keine Notiz.

»Wo steckt Valeria?«, fragte er ungeduldig.

»Sie ist schon unterwegs«, versicherte Makowski schnell. »Es kam alles so plötzlich ...«

»Hast du den Sekt kalt gestellt?«

»Natürlich«, antwortete Makowski, ohne das Gesicht zu verziehen.

Mit einem kleinen Räuspern machte sich Volprecht bemerkbar. Der weißhaarige Anwalt hatte Heinen persönlich am Untersuchungsgefängnis abgeholt.

»Haftverschonung ist kein Grund zum Feiern«, mahnte er.

Heinen fuhr herum. Sein fleischiges Gesicht mit den tiefen Falten verriet versteckte Grausamkeit, die auch der breite, zu einem starren Lächeln verzogene Mund nicht zu mildern vermochte.

»Ich gehe nie wieder rein, nie wieder, verstehen Sie?« Seine Stimme kam wie ein tiefes Grollen aus der breiten Brust, die selbst einen abgebrühten Mann wie Bernd Makowski frösteln ließ.

»Wir dürfen auch die Möglichkeit einer Strafhaft nicht von vornherein ausschließen«, sagte der Anwalt unbeirrt.

Heinen wischte sich mit dem Handrücken über die Lippen, eine Geste, die mehr als Nervosität verriet.

»Ich dachte, es sei alles erledigt? Adolphis Unfall ...« Er sah Makowski an. »Wann ist die Beisetzung?«

»Morgen Vormittag um elf«, antwortete Makowski.

»Besorg mir einen Kranz!«

»Ja, Chef.«

»Den größten, den sie je gemacht haben, verstanden?« Heinen wandte sich an Volprecht. »In welcher Form können wir für die Witwe sorgen?«

»Ich bin der Ansicht, Adolphi hat genug verdient, um Rücklagen geschaffen zu haben. Und dann hat sie ja noch die Rente ...«

Heinens Gesicht lief rot an. »Adolphi hat 28 Jahre seines Lebens für mich gearbeitet! Achtundzwanzig Jahre! Er hätte mich nie freiwillig verraten. Aber er ist alt geworden, und er hatte Angst vor dem Gefängnis. Irgendwann hätte der Staatsanwalt ihn rumgekriegt. Er war mein Freund!«

Auch Bernd Makowski kannte den Hai nun schon seit mehr als zehn Jahren, aber dennoch hätte er sich beinahe verwundert die Augen gerieben. Der meint, was er sagt, stellte er verwundert fest.

»Ich wünsche, dass Sie sich mit ihr in Verbindung setzen«, sagte Heinen schroff. »Ich will, dass sie gut versorgt wird!«

»Wie Sie wünschen«, meinte Volprecht.

Heinen richtete den Blick erneut auf Makowski. »Warum erfahre ich nicht von dir, was mit Nelles passiert ist? Im Untersuchungsgefängnis wussten sie alle Bescheid. Nur ich nicht.«

Makowski rollte unbehaglich die Schultern. »Ich bin noch nicht dazu gekommen, Chef«, sagte er. »Es hätte ihn beinahe erwischt ...«

Heinen nickte ungeduldig. »Das weiß ich! Ich will wissen, wie das passieren konnte!«

Makowski hob die Schultern. »Er traut keinem«, sagte er vorsichtig. »Deshalb besteht er darauf, sich seinen Unterschlupf jeweils selbst auszusuchen.«

»Wem traut er nicht?«, fragte Heinen. »Dir nicht?«

»Mag sein. Er will Sie sprechen. Sie persönlich.«

»Er wird also ebenfalls zu einem Problem«, stellte Volprecht, der Anwalt, beinahe zufrieden fest. Er sah Heinen an, sein zerfurchtes Gesicht mit dem sorgfältig frisierten weißen Haar glich einer zersplitterten Tonmaske.

»Was ist los, Konrad?«, fragte Heinen.

Volprecht zog überrascht die Brauen hoch. Es geschah nur selten, dass Heinen ihn mit dem Vornamen anredete. Volprecht war nie dahintergekommen, wann der Hai zu der vertraulichen Anredeform überging. Ob er damit eine menschliche Beziehung herstellen wollte oder eine neue Teufelei plante.

»Ich weiß nicht, was Sie meinen«, antwortete er deshalb reserviert.

»Irgendetwas bereitet Ihnen Sorgen«, stellte Heinen fest. »Sehen Sie mich schon hinter Gittern? Endgültig, meine ich?«

»Da ist noch die Freundin des Journalisten«, sagte Volprecht.

»Nelles bildet sich ein, dass sie ihn erkannt hätte«, ergänzte Makowski.

»Sowie die Polizei Nelles einsackt, wird sie ihn ihr gegenüberstellen«, fuhr der Anwalt fort. Heinen ließ sich langsam hinter seinem Schreibtisch nieder, wobei er Volprecht unentwegt anstarrte. Der Anwalt hielt dem Blick der kleinen scharfen Augen nur mit Mühe stand.

»Ich dachte, das Problem sei längst erledigt?« Heinens Stimme klang jetzt flach.

»Ein gelöstes Problem reißt meistens ein oder mehrere neue auf«, sagte Volprecht.

»Verschonen Sie mich mit Ihrer Philosophie! Was für Probleme denn noch? Himmel, Blume hat es längst erwischt, und die Frau hat nie ein Sterbenswörtchen davon gesagt, dass sie jemanden gesehen hätte! Oder haben Sie etwas übersehen, Herr Volprecht?«

»Nein, ich habe nichts übersehen. Aber die Freundin ist untergetaucht.«

»Na und?«

»Warum wohl?«

»Warum, warum!«, grollte Heinen. »Machen wir hier ein Quiz?«

»Die Tatsache, dass sie untergetaucht ist und ihre Spuren sehr sorgfältig verwischt hat, beweist doch, dass sie mehr weiß, als sie bisher zugegeben hat. Und dass ihr bewusst ist, was dieses Wissen bedeutet. Schließlich hat sie lange genug mit Blume zusammengelebt. Niemand kann mit Sicherheit sagen, dass er nicht doch noch über Aufzeichnungen verfügte, von denen wir nichts wissen. Es geht doch nicht um Nelles«, schloss der Anwalt. »Begreifen Sie das denn nicht?«

Dumpfes Schweigen breitete sich aus, das nur von einem schrillen Quietschen unterbrochen wurde, als Makowski eins der Fenster öffnete. Er musste an das Aufsehen zurückdenken, das der brutale Mord an dem angesehenen Journalisten erregt hatte.

Hilmar Blume war ein leidenschaftlicher Segler gewesen. Nelles hatte ihn in dem kleinen Jachthafen oben bei Ovelgönne ertränkt, kurz bevor Blume mit Sigrid Wolf, seiner Freundin, zu einem zweitägigen Segeltörn in die Nordsee aufbrechen konnte. Sigrid war noch einmal zum Clubparkplatz zurückgegangen, weil sie ihre Sonnencreme in Blumes Wagen vergessen hatte. Ihre Aussage war klar und nicht zu erschüttern gewesen - sie habe nichts und niemanden in der Nähe des Bootes gesehen.

Und jetzt hatte es plötzlich den Anschein, als sei sie ein raffiniertes Luder, das genau wusste, wann es zu schweigen hatte - und warum.

Jahrelang war Blume verbissen der Frage nachgegangen, weshalb Polizei und Justiz nie ernsthaft etwas gegen Heinen ausrichten konnten. Seine anklagenden Berichte hatten wie Stachel gewirkt, die sich tiefer und tiefer in Heinens Fleisch gruben. Bis Heinen keine Wahl mehr blieb, als sich durch einen Gewaltakt von dem hartnäckig bohrenden Schmerz zu befreien.

Dank der besonderen Verbindungen, über die Heinen verfügte und deren Vorhandensein Blume so verbissen nachzuweisen versucht hatte, waren keinerlei Aufzeichnungen, die dem Hai hätten gefährlich werden können, im Nachlass des Journalisten gefunden worden. Es war, als hätte Blume niemals Material besessen, um seine Anklagen zu untermauern.

Langsam schwang Heinen mit seinem Sessel herum. Er sah Makowski an, der am offenen Fenster stand und gierig die Luft einatmete, die hier oben kühl war und frisch schmeckte.

»Was meinst du, Bernd?«, fragte Heinen.

Makowski wusste, dass der Hai jetzt eine ernstgemeinte Antwort von ihm erwartete, auch wenn er seinen Vorschlag, wie immer er lauten mochte, später zurückweisen würde, weil er Entscheidungen nur akzeptierte, wenn sie von ihm selbst kamen.

»Ich meine, dass Nelles überflüssig ist«, sagte er. »Er wird irgendwann durchdrehen. Dann ist er gefährlich.«

Heinen befeuchtete die aufgeworfenen Lippen, und seine Augen begannen zu glitzern. »Bist du bereit, den Job zu übernehmen?«, fragte er.

Makowski hielt dem Blick der glitzernden Augen stand. Er spürte einen kurzen Krampf zwischen den Schulterblättern, der jedoch sofort wieder wich. Er hatte immer gewusst, dass diese Frage einmal an ihn gerichtet werden würde, und er wusste auch, dass er dieser Frage eines Tages nicht mehr ausweichen konnte.

War dieser Tag jetzt gekommen?

Er stellte sich Nelles vor, wie er sich auf dem neuen Bett breitmachte, wie er die schmutzigen Füße auf die Tagesdecke stellte oder die Wände ruinierte. Die Einrichtung der Wohnung hatte ihn lockere 60000 gekostet. Die mussten erst mal wieder reingeholt werden. Und dann machte sich dieses Vieh darin breit ...

»Ja«, sagte er. Seine Stimme klang fest.

Heinen grinste kurz, bevor er den Blick von Makowski ließ und sich Volprecht zuwandte.

»Was schlagen Sie vor, Konrad?«, fragte er.

»Das ist nicht meine Abteilung, Herr Heinen«, antwortete er kühl.

»Aber Rechnungen schreiben, das fällt in Ihr Ressort.«

»Dafür bekommen Sie Gegenleistungen«, konterte der Anwalt. »Unternehmen Sie etwas wegen der Frau. Dieser Rat ist kostenlos. Und schieben Sie es nicht auf die lange Bank. Irgendeine Anklage wird zusammenkommen, die Staatsanwaltschaft kann nicht sämtliche Anklagepunkte fallen lassen, wenn sie nicht Gefahr laufen will, die Rechtsprechung in dieser Stadt auf den Kopf zu stellen. Ich möchte dann nicht mit Überraschungen rechnen müssen.«

Volprecht nahm seinen Aktenkoffer und wandte sich zum Gehen. An der Tür blieb er stehen und wandte sich noch einmal um.

»Verhalten Sie sich absolut unauffällig. Denken Sie an die Auflagen. Wenn man Sie nur beim Falschparken erwischt, sitzen Sie sofort wieder im Loch.«

»Ist das alles, Konrad?«, fragte Heinen sanft, weil der Anwalt immer noch zögerte. »Brauchen Sie etwas? Bares? Oder ein Mädchen?«

Volprecht schüttelte angewidert den Kopf. »Die beiden Beamten, die Nelles beinahe festgenommen hätten, gehören der Sonderkommission an, die gegen die organisierte Kriminalität eingerichtet wurde.«

»Die Soko Heinen«, sagte Heinen amüsiert. »Reden Sie doch Klartext!«

»So wird sie nur inoffiziell genannt«, beschwichtigte Volprecht.

»Ja, und?«

»Sie heißen Gräfe und Roth. Es ist aber vor allen Dingen Gräfe, der keine Ruhe gibt. Bei jeder Gelegenheit redet er von Verbindungen zwischen der Unterwelt und der Polizei. Er gibt einfach keine Ruhe ...«

»Wie waren die Namen?«

Makowski kam dem Anwalt zuvor. »Gräfe und Roth, die schärfsten Bullen vom Kiez.« Er grinste. »Roth hat aus Versehen einen Seemann umgelegt. Der ist fertig, kaputt, erledigt.«

»Sie sind Freunde, unzertrennlich«, sagte Volprecht.

Heinen betrachtete den weißhaarigen mit einem erstaunten Blick. »Nanu, Konrad, verlassen Sie jetzt doch Ihre Abteilung?«

»Ich habe nicht die Absicht, Herr Heinen, irgendwann wäre das Gerede auch Ihnen zu Ohren gekommen. Aber die beiden sind nicht wichtig genug, um eine unwiderrufliche Maßnahme zu rechtfertigen. Und damit die Öffentlichkeit aufs Neue gegen uns aufzubringen.«

»Ich soll ihn also reden lassen?«, vergewisserte sich Heinen.

»Sorgen Sie dafür, dass sie getrennt werden und keinen Schaden anrichten können. Diesen kleinen Gefallen wird Ihnen der Mann im Präsidium sicher gerne tun.«

Der Anwalt verließ den Raum.

»Diesen und noch mehr«, sagte Heinen leise zu sich selbst, während er den Telefonapparat zu sich heranzog. Er sah zu Makowski hinauf. »Ist dieser Anschluss überprüft worden?«, fragte er.

»Heute Morgen erst. Die Leitung ist absolut sauber.«

Heinen nahm den Hörer ab, aber er wählte noch nicht.

Makowski öffnete die Tür. Er wusste genau, dass der Hai jetzt allein sein wollte.

»Wenn Valeria kommt, schick sie sofort rein!«, rief Heinen ihm nach. Seine Stimme verriet den Ärger. Nachher würde sie ihm erzählen, dass sie sich unbedingt in irgendeiner Boutique hatte neu einkleiden müssen, für ihn. Aber auch Valeria musste wissen, dass es ihm nach acht Monaten verdammt egal war, ob ihr weißer Hintern in schwarzer oder roter Wäsche steckte.

Mit heftigen Bewegungen begann er zu wählen. Die Nummer hatte er im Kopf. Sie gehörte zu einem Büro im Polizeipräsidium ...

III

Roth zögerte einen Moment, bevor er die Tür zu seinem angestammten Büro im Betrugsdezernat aufstieß. Er wusste nicht mehr, wann er zuletzt hier gewesen war. Seit er der Soko Heinen zugeteilt worden war, hatte er sich meistens in der Fahndungsabteilung oder der Kriminalbereitschaft aufgehalten, wenn er nicht draußen gewesen war. Auf der Straße, in den Kneipen, Hotels, Bordellen, Bistros, die von Heinen oder seinen Strohmännern kontrolliert wurden. Immer in der Hoffnung, einen Tipp zu bekommen, einen Hinweis, der das Blatt wenden konnte.

Der letzte Hinweis hatte eine Katastrophe ausgelöst.

Roth trat über die Schwelle. Alles war genau so, wie es immer gewesen war. Der zerkratzte Schreibtisch mit den übervollen Ablagekörben stand aus einem unerfindlichen Grund in der dunkelsten Ecke des Raumes. Hinter seinem Drehsessel mit dem zerschlissenen Bezugsstoff breitete sich der Trichterfarn aus. Nachdem Helga, seine Frau, ihn verlassen hatte, war er zu Hause nicht mehr dazu gekommen, den Farn, der seine Lieblingspflanze war, regelmäßig zu wässern. Deshalb hatte er die Pflanze mit ins Büro genommen. Doch obwohl er auch hier nicht dazu kam, sich um sie zu kümmern, entfaltete sie sich hier wie in einem Gewächshaus und drohte, seinen Platz zu überwuchern.

Das Telefon auf seinem Schreibtisch begann zu rasseln. Er ignorierte das Geräusch und riss das Fenster auf, um die stickige Luft hinauszulassen.

Die Verbindungstür zum Nebenhaus wurde aufgerissen. Bettina Seifert, die Abteilungssekretärin, stieß einen erschreckten Laut aus, als sie ihn am Fenster bemerkte. Wie angewurzelt blieb sie im Rahmen stehen.

»Ich gehe schon ran«, sagte Roth. Doch als er die Hand nach dem Hörer ausstreckte, riss das Läuten ab. Roth hob die Schultern und versuchte ein Lächeln. »Hallo, Bettina«, sagte er.

»Oh, Tag, Jürgen, ich wusste gar nicht, dass du ... Wie geht's denn?« Sie wartete seine Antwort nicht ab. Sie deutete hinter sich. »Du, ich muss mich kümmern. Bis nachher, ja?«

Hastig zog sie sich in das Schreibzimmer zurück und schloss die Verbindungstür.

Roth setzte sich in den knarrenden Drehstuhl und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. Er wusste nicht, wie lange er so gesessen hatte, als er die Tür hörte. Er wandte erst den Kopf, als er Gräfes Stimme erkannte.

»War's schlimm?«, fragte Gräfe.

Gräfe zog einen Stuhl heran und setzte sich an die Schmalseite des Schreibtisches und stützte sein Kinn in die Hand.

»Peikert ist ganz vernünftig.«

»Er kann einen nur fallen lassen oder zu einem stehen. Dazwischen gibt es nichts. Mich hat er ganz schön durch die Mangel gedreht.« Gräfe steckte eine Zigarette zwischen seine Lippen und zündete sie an. »Seit gestern rauche ich wieder«, erklärte er achselzuckend. »Komm heute Abend mit zu uns. Monika freut sich.«

Roth schüttelte den Kopf.

»Jürgen, du darfst dich jetzt nicht hängen lassen! Natürlich schüttelt man so etwas nicht einfach ab. Aber es war doch nicht deine Schuld! Jeder hätte in der Situation geschossen!«

»Er war vierundzwanzig ...«

»Ein gottverdammter Unfall, Jürgen! Der Portier steckt nicht mit drin, das steht fest. Nelles muss das Zimmer von sich aus mit dem Sailor getauscht haben, ohne dem Portier Bescheid gesagt zu haben. Aus seiner Sicht ein toller Trick. Hörst du mir überhaupt zu, Mann?«

»Ein armer Teufel, den seine Reederei in diesem Schuppen untergebracht hat, weil sein Schiff auseinanderfiel und ins Trockendock musste. Und wird von einem deutschen Bullen abgeknallt, der seine fünf Sinne nicht beieinander hatte.«

»Was redest du da?«, fragte Gräfe flach.

Roth schwang auf seinem Stuhl herum, bis sein Gesicht im Schatten lag.

»Seit Helga weg ist, bin ich nicht mehr bei der Sache. Mit mir ist nichts mehr los, verstehst du das denn nicht? Ich hätte keinen Außendienst machen dürfen. Das ist es. Ich hätte meine Versetzung verlangen müssen.«

»Weißt du, was du da sagst? Denk mal nach! Dann wäre es meine Schuld! Ich bin dein Partner. Ich hätte doch etwas merken müssen! Du warst voll da, Jürgen! Ich weiß es! Verdammt, sieh mich an!«

Gräfe streckte ein Bein und stieß mit dem Fuß gegen Roths Stuhl. Der Stuhl fuhr gegen den Farn und drohte zu kippen. Roth klammerte sich an der Schreibtischplatte fest.

»Lass mich in Ruhe!«, fauchte Roth. »Ich habe abgedrückt, ich! Weil ich Angst hatte, verdammt, ich hatte Schiss!«

Gräfe verzog die Lippen zu einem Grinsen. »Na also! So einfach ist es. Du hattest Schiss. Hätte ich auch gehabt.« Gräfe drückte die Zigarette aus. »Heinen ist wieder draußen, wusstest du das?«

»Interessiert mich nicht mehr«, sagte Roth dumpf. »Lass mich allein.«

»Haftverschonung!«, sagte Gräfe, als hätte er Roths Aufforderung nicht gehört. »Damit räumt die Anklagebehörde ein, dass sie nicht mehr viel in der Hand hat. Allenfalls Steuerhinterziehung. Aber jetzt ist auch Adolphi tot, und da kann Heinen alle Schuld an eventuellen Unregelmäßigkeiten auf ihn schieben. Er zahlt die Steuer nach und steht mit blütenweißer Weste da. Besser als vor acht Monaten.«

»Wir gehören nicht mehr dazu«, sagte Roth.

»Ist dir eigentlich klar, dass er auch Nelles nicht mehr braucht? Der Kiez liegt ihm jetzt auch ohne offenen Terror zu Füßen. Wenn einem ganze Häuserzeilen gehören, fast alle Hotels, die großen Puffs, dann kann er machen was er will. Und er verdient immer noch an jeder Nummer, die für Geld auf dem Kiez geschoben wird. Über die Mieten. Wenn er einen Pächter ruiniert hat, schmeißt er ihn raus. Dafür kann er auch noch die Hilfe der Gerichte in Anspruch nehmen. Und der nächste Zuhälter wartet schon, um seine Hühner in die Bude zu setzen!«

»Hör auf!«

»Das Rauschgiftgeschäft betreibt er schon lange nicht mehr selbst, das hat er in Lizenz vergeben. Und hier im Präsidium hält einer die Hand über ihn.«

»Deine fixe Idee ...«

Roth unterbrach sich, weil die Tür geöffnet wurde und Tondorf seinen Kopf hereinschob.

Im Präsidium war man sich nicht einig, ob Kriminalhauptkommissar Rüdiger Tondorf der richtige Mann war, um gegen den König vom Kiez zu ermitteln.

Weil die Staatsanwaltschaft darauf bestanden hatte, die Leitung der Sonderkommission »Organisierte Kriminalität« nur einem Fachmann anzuvertrauen, war die Wahl auf Tondorf gefallen. Denn Tondorf verfügte über ein abgeschlossenes Studium der Wirtschaftswissenschaften. Mord, Raub, Diebstahl, Betrug, Rauschgifthandel und -konsum waren Symptome, nicht Ursachen der für die Stadt typischen Kriminalität. Und wenn es gelingen sollte, die Kriminalität wirksam zu bekämpfen oder wenigstens einzudämmen, so musste dies mit anderen Mitteln als der bisher geübten Praxis geschehen.

Doch in den eineinhalb Jahren ihres Bestehens hatten sich die Erwartungen, die in die Sonderkommission gesetzt worden waren, nicht erfüllt. Die meisten Kritiker waren der Ansicht, dass ein Fachmann für Wirtschaftsstrafsachen nicht über genügend Erfahrung verfügte, um einen Mann wie Heinen, um den es von Anfang an gegangen war, zur Strecke zu bringen.

Mit vorgeschobenem Kopf, als ob er jeden Moment mit einem Angriff rechnete, ging Tondorf auf die beiden Beamten zu. Unter seinem linken Arm klemmte eine Mappe, aus der blaue Formulare quollen.

»Hier habt ihr euch versteckt, ihr Geier!«, sagte er munter. »Abgeschlafft? Keine Lust mehr?«

Niemand ging auf Tondorfs munteren Ton ein. Roths Verhältnis zu ihm war ohnehin stets reserviert gewesen, weil er Tondorfs Versuche, seinen Leuten so etwas wie ein kameradschaftliches Verhältnis aufzudrängen, für Anbiederung als Folge mangelnder Autorität hielt.

Tondorf warf die Mappe auf Roths Tisch. »Ist noch ein Stuhl frei?«, fragte er.

Gräfe stand widerwillig auf. Tondorf schüttelte den Kopf und drückte Gräfe wieder auf seinen Platz.

»Bleiben Sie sitzen, bleiben Sie sitzen!« Er sah Roth an. »Wir wollen doch den Kopf nicht hängen lassen! Heinen hat nur Haftverschonung. Die Arbeit der Soko geht weiter.«

»Wir gehören nicht mehr dazu«, brummte Gräfe. »Mich hat Peikert abgeschoben, in die Geschäftsstelle ...«

»Das tut mir leid, Herr Gräfe, wirklich, ich habe alles versucht, Sie bei mir zu halten.«

»Hoffentlich haben Sie sich nicht übernommen, Herr Tondorf.«

Das Lächeln blieb wie vergessen in dem glatten Gesicht stehen, während in den Augen ein nichtssagender Ausdruck erschien. Roth warf seinem Freund einen warnenden Blick zu, den der jedoch ignorierte. Roth wusste, dass Gräfe kaum aufzuhalten war, wenn er in eine aufsässige Stimmung geriet.

Tondorf sah Roth an und deutete auf die Mappe. »Auf der Fahndungsliste der Soko stehen immer noch über dreißig Namen! Zeugen, Verdächtige, Beschuldigte, deren Aussagen uns weiterhelfen können. Aus Zeit- und Personalmangel haben wir die Suche nach diesen Personen zu sehr der polizeilichen Routine überlassen müssen. Bis Sie in Urlaub gehen, koordinieren Sie die Fahndung. Heinen soll wissen, dass wir an ihm dranbleiben!«

Roth schüttelte den Kopf. »Peikert hat mich abgezogen ...«

»Ich habe mit Herrn Peikert gesprochen. Er hat Sie zum Innendienst verdonnert. Bis Sie Ihren Urlaub antreten, stehen Sie mir noch zur Verfügung. Danach hat er wohl eine andere Verwendung für Sie vorgesehen. Er sähe Sie gern als Sachverständigen im Erkennungsdienst. Das ist eine große Chance für Sie, Herr Roth. Die haben Sie allerdings auch verdient.«

Roth wich Gräfes überraschtem Blick aus, indem er die Mappe zu sich heranzog.

Gräfe wandte sich an Tondorf. »Was soll das bringen, wenn Sie einen Kellner in die Mangel nehmen, der Heinen mal geholfen hat, bei der Sektsteuer zu schummeln?«

»Dieser Kellner, um bei Ihrem Beispiel zu bleiben, hat Beihilfe zur Steuerverkürzung in erheblichem Umfang geleistet. Jetzt betreibt er vielleicht ein kleines Geschäft auf Mallorca, und weil er das nicht verlieren will, ist er möglicherweise bereit, uns zu helfen.«

»Und was ist mit der ehemaligen Nutte, die jetzt vielleicht als biedere Hausfrau in Passau lebt? Was kann die Ihnen schon weiterhelfen!«

»Die Bewertung eventueller Aussagen überlassen Sie ruhig mir und dem Staatsanwalt, Herr Gräfe«, antwortete Tondorf. »Bei dieser Gelegenheit möchte ich Ihnen noch etwas sagen. Ich weiß, dass Sie nicht viel von mir halten. Sie streiten mir die Fähigkeit und Kompetenz ab, gegen das alltägliche Verbrechen auf dem von Ihnen und Ihresgleichen so mystifizierten Kiez anzugehen. Weil Sie ein Praktiker sind, der sich nicht vorstellen kann, dass es jemanden geben muss, der die Dinge vom Schreibtisch aus, von mir aus auch am Computer, in der Hand behält. Gut, Herr Gräfe, Sie haben ein Recht auf eigene Meinung. Aber lassen Sie sich eins gesagt sein - ich lasse mich nicht zum Narren halten. Und von Ihnen ganz bestimmt nicht.«

Einen Augenblick starrte Tondorf Gräfe böse an, dann strich er mit einer Hand über sein trockenes braunes Haar.

»Was macht Ihnen Kummer, Herr Hauptkommissar?«, fragte Gräfe. Der ironische Unterton trieb Tondorf die Röte ins Gesicht.

»Das wissen Sie ganz genau, Herr Gräfe! Sie hätten mich von Ihrer Absicht, Nelles festzunehmen, um jeden Preis informieren müssen! Und kommen Sie jetzt nicht mit der dummen Ausrede, es sei Gefahr im Verzug gewesen und Sie hätten keine Zeit mehr gehabt, mich anzurufen!«

Ein dünner Schweißfilm bedeckte Tondorfs Oberlippe, als Gräfe keine Anstalten machte, auf den Vorwurf einzugehen.

»Bilden Sie sich etwa ein, ich wüsste nichts von Ihrem Gerede über Korruption im Polizeiapparat?«, fragte er laut.

»Und? Wie stehen Sie dazu?«

»Ich halte mich an nachprüfbare Fakten, statt mich um Kopf und Kragen zu reden«, antwortete Tondorf abweisend.

Gräfe nickte höhnisch. »Deshalb werden Roth und ich getrennt. Roth wird hochgelobt, ich werde abgeschoben.«

Tondorf stand auf. »Darauf hatte ich nicht den geringsten Einfluss«, erklärte er steif. »Sie haben mich nicht informiert, als sie in das Hotel stürmten, und man hat mich nicht gefragt, als man personelle Konsequenzen zog. Das wundert Sie doch nicht, Herr Gräfe, oder?« Bevor er den Raum verließ, wandte er sich noch einmal an Roth. »Kümmern Sie sich um die Fahndungen, Herr Roth. Und sonst nichts. Das ist ein kollegialer Rat.«

»Du bist verrückt, ihn derart anzuscheißen!«, sagte Roth, als die Tür hinter Tondorf zufiel. »Warum tust du das?«

»Weil er eine Pflaume ist«, antwortete Gräfe mürrisch.

»Deine fixe Idee ... Glaubst du etwa, dass er etwas mit Heinen zu tun hat?«

Gräfe lachte trocken auf. »Du denkst zu klein, Jürgen. Du bist eben nur ein Kriminalhauptmeister, genau wie ich, und für uns ist sowieso nichts drin im großen Schmiergeldtopf. Für uns schmeißen sie vielleicht mal 'ne Runde Weiber, wenn wir drauf anspringen. Und Heinen schmiert auch keinen Kommissar, der fängt viel höher an. Und deshalb kommen wir alle nicht an ihn ran, da können wir rumrennen, wie wir wollen. Wir haben's ja getan ...«

»Dann verbrenn dir auch nicht den Mund«, sagte Roth.

Er sah Gräfe unvermittelt an. »Und hör auf, hinter jeder Maßnahme gleich ein Komplott zu wittern.«

»Ich war nur überrascht. Überrascht, es aus Tondorfs Mund zu hören ...«

»Und nicht aus meinem? Ich war noch nicht dazu gekommen, es dir zu sagen. Außerdem hat Peikert nur beiläufig darüber gesprochen, dass ich nicht im Betrugsdezernat bleiben soll. Erkennungsdienst, Aus- oder Fortbildung, oder Logistik. Ich soll darüber nachdenken.«

»Mann, du bist wirklich naiv, Jürgen. Hat er dir auch gesagt, dass du mit mir besser keinen privaten oder dienstlichen Umgang mehr pflegen sollst? Nein? Dann wird das sicher noch kommen. Irgendeinen Preis musst du bezahlen.«

»Jetzt flippst du bald ganz aus«, stellte Roth fest. »Sei vernünftig, Volker!«

»Ich soll vernünftig sein?« Gräfe sprang auf. »Ich werde vielleicht vernünftig, wenn du endlich wach wirst!«

Wütend stürmte er hinaus, und wütend schmetterte er die Tür ins Schloss.

Im Grunde wusste er, dass er Peikert und Tondorf dankbar sein musste, weil sie ihn mit einer sinnvollen Aufgabe betrauten. Er fürchtete sich vor dem Abend, dem kommenden Wochenende, und besonders vor dem Urlaub, den er gar nicht nehmen wollte.

Er begann das Material zu sichten, das Tondorf ihm gebracht hatte, aber er konnte sich nicht auf die Arbeit konzentrieren. Der sinnlose Streit mit Volker Gräfe beschäftigte ihn nachhaltiger, als er sich eingestehen wollte.

Stimmte es, dass man sie auseinanderbringen wollte?

Aber wer?

Und warum?

In einem hatte Gräfe jedenfalls recht. Was auch immer gegen Heinen unternommen wurde, ging schief. Wie zuletzt die Festnahme des Dieter Nelles, obwohl der kaltblütige Mörder einfach Glück gehabt hatte. Dieses Mal noch. Nelles würde der Polizei früher oder später ins Netz gehen, das stand fest.

Was Tondorf ihm aufgepackt hatte, waren nicht die wichtigsten, mit Sicherheit aber die schwierigeren Fälle, die immer wieder zurückgestellt wurden und so etwas wie den Bodensatz der Ermittlungsarbeit bildeten.

Auf den Fahndungslisten standen Dealer und Schläger, Zuhälter und Betrüger, Hehler und Schieber, die auf irgendeine Weise Heinens Umkreis zugerechnet wurden. Oder Kellner und Barmädchen, Geschäftsführer und Stripperinnen, Makler und ehemalige Prostituierte, die irgendwann einmal, direkt oder indirekt, für Heinen gearbeitet oder in einer geschäftlichen Beziehung zu ihm gestanden hatten. Ihre Aussagen, ob als Beschuldigte oder als Zeugen, sollten den Ermittlern einen tieferen Einblick in Heinens illegale Machenschaften ermöglichen.

Es war nicht anzunehmen, dass sich alle gesuchten Personen bewusst der Fahndung entzogen. Trotz Computerfahndung, trotz eines funktionierenden Meldesystems und ständig aktualisierter Fahndungslisten blieb es bei der Freizügigkeit eines modernen Industriestaates nicht aus, dass bei Orts- oder Wohnungswechseln Daten verloren gingen oder unvollständig nachgetragen wurden. Hinzu kam, dass Prostituierte, Stripgirls, Animiermädchen oder Bardamen häufig nicht unter ihren richtigen Namen auf dem Kiez arbeiteten, trotz scharfer Kontrollen durch die Inspektoren der Gesundheitsämter, der Gewerbeaufsicht und nicht zuletzt der AOK. Denn zu oft kam es vor, dass die Geschäftsführer zwielichtiger Unternehmungen die Versicherungsbeiträge ihrer Angestellten unterschlugen.

Bis zum Nachmittag hatte er sich eingearbeitet.

Er hatte einige Vorgänge aussortiert, weil sie überholt waren oder sich von selbst erledigt hatten, zu anderen hatte er ergänzende Informationen angefordert oder Routinemaßnahmen eingeleitet.

Kurz vor Dienstschluss warf ihm der Bote der Poststelle noch einen Hauspostbrief auf den Schreibtisch. Roth telefonierte gerade mit einem Polizeiposten auf der Nordseeinsel Amrum. Er vermutete, dass dort während der Sommersaison eine Serviererin arbeitete, die bereits zum vierten Mal einer gerichtlichen Zeugenvorlage nicht nachgekommen war.

Er klemmte den Hörer zwischen Schulter und Ohr fest, und während er darauf wartete, dass sich der Kollege am anderen Ende erneut meldete, zog er das Fahndungsformular aus dem Umschlag.

Er sah sofort, dass das Fahndungsersuchen vom Gericht kam, aber es musste innerhalb des Polizeipräsidiums an ihn weitergeleitet worden sein, weil es sonst nicht mit der Hauspost gekommen wäre. Das Gekritzel des letzten Absenders in der dafür vorgesehenen Spalte auf dem Umschlag konnte er nicht entziffern. Vermutlich hatten die Kollegen oder Tondorf selbst ihm das Formular zugeschickt, weil er vorübergehend für die Koordinierung der Fahndung innerhalb der Soko Heinen zuständig war.

Er faltete das Blatt auf.

Der Name traf ihn wie ein Fausthieb in den Magen.

Sigrid Wolf.

Langsam legte er den Telefonhörer auf, ohne die Antwort des Kollegen aus Amrum abzuwarten.

IV

Roth blieb im Wagen sitzen, nachdem er endlich eine Lücke für den Dienstwagen gefunden hatte. Er drehte die Seitenscheiben herab, um die kühle Luft hereinzulassen, die jetzt vom Hafen heraufstieg.

Wenn er den Kopf verdrehte, konnte er den Eingang des kleinen Ladens beobachten. Hin und wieder kam sie heraus, um einige Kleider auf dem Metallständer zu ordnen oder einer Kundin behilflich zu sein, die sich dann doch nicht für einen der bunten Fummel entscheiden konnte.

Es war Sommer, und die Touristen, die sich durch die engen Straßen rund um den Großneumarkt schoben, waren einfach zu bieder für die poppige Mode der kleinen Boutiquen.

Sie sah so unglaublich jung aus, jung, schmal und verletzlich. Martina Wolf. Tina, wie Sigrid ihre jüngere Schwester immer genannt hatte. Sigrid hatte oft von Tina gesprochen, obwohl die beiden einander kaum sahen und nicht viel gemeinsam hatten. Tina war elf Jahre jünger als Sigrid. Sie musste jetzt zweiundzwanzig oder dreiundzwanzig sein. Damals, als er mit Sigrid befreundet gewesen war, war Tina erst sechzehn gewesen, ein Kind noch, hatte noch bei ihren Eltern gelebt, während Sigrid längst eine eigene Wohnung gehabt hatte.

Er wandte den Blick von Tinas zierlicher Gestalt und starrte in den tiefer werdenden Schatten der engen Gasse. Warum ging er nicht einfach zu ihr, zeigte ihr seinen Ausweis und fragte sie, wo ihre Schwester sich aufhielt?

Als Erstes hatte er festgestellt, dass Sigrids Name im neuen Telefonbuch schon nicht mehr verzeichnet war. Im Melderegister wurde sie noch unter ihrer alten Anschrift in Harvestehude geführt. Er war sofort hinausgefahren, hatte aber nur festgestellt, dass in der Wohnung ein Lehrerehepaar wohnte, das den Namen der Vormieterin nie gehört hatte.

Irgendjemand suchte Sigrid.

Dieselbe Sigrid, die er vor sechs Jahren verlassen hatte, um Helga zu heiraten. Er hatte Helga geliebt. Aber ihre Liebe zu ihm war nicht stark genug gewesen, um die Belastung, die sein Beruf mit sich brachte, auszuhalten. Vor zwei Monaten hatte sie ihn verlassen. Einfach so. Sie hatte ihre Sachen in ein paar Kartons gestopft, in ihren Mini geladen und war davongefahren. Sie hatte ein kleines Apartment gleich am Wandsbeker Markt gemietet, wo sie bei einem Rechtsanwalt arbeitete.

Als er erneut zu der kleinen Boutique hinüberblickte, ließ Tina schon das Rollgitter herab, obwohl es noch nicht halb sieben war. Er angelte seine Jeansjacke vom Rücksitz und stieg aus.

Sie kam ein paar Minuten später aus dem Hauseingang neben dem Laden. Er folgte ihrem schwingenden Folklorerock zum Großneumarkt hinauf. Sie trug das helle Haar kurzgeschnitten. Ihr Gang war schwungvoll, fast wie der eines Jungen. Unwillkürlich musste er lächeln.

Am Großneumarkt steuerte sie eins der Lokale an, vor denen Tische mit langen Bänken im Freien standen. Sie warf ihre Umhängetasche mitten auf den Tisch und setzte sich ans Ende der Bank. Sie kramte in der geräumigen Tasche herum, bis sie ihre Zigaretten fand. Mit dem Feuerzeug hatte sie dann Schwierigkeiten.

»Nehmen Sie meins«, sagte er, stieg neben ihr über die Bank.

Sie nahm das Feuerzeug, ließ die Flamme aufleuchten und gab es ihm zurück, ohne ihn anzusehen. Bei der Kellnerin bestellte sie ein Glas Weißwein. Sie sah ihn immer noch nicht an, als er sich ihrer Bestellung anschloss.

»Sie sind Tina«, sagte er.

Endlich wandte sie den Kopf und bedachte ihn mit einem ernsthaft prüfenden Blick aus leicht schrägen Augen. Sie zog dabei die Nase kraus und schürzte die Lippen vor Anstrengung, weil sie ihn nicht in ihrem Gedächtnis fand.

»Woher kennen Sie mich? Stellen Sie mir nach? Wieso wissen Sie, dass ich hier bin?«

»Eine Menge Fragen auf einmal«, sagte er bedächtig, »ich habe Ihre Mutter angerufen, und die hat mir gesagt, wo Sie arbeiten.«

»Meine Mutter? Am Telefon? Sie sagt nicht jedem hergelaufenen ...«

Sie unterbrach sich, als die Kellnerin den Wein brachte, sah ihn stirnrunzelnd und ohne Freundlichkeit an.

»Nicht jedem hergelaufenen Kerl, das ist richtig«, sagte er. »Sie erinnerte sich an mich. Ich bin Jürgen Roth.«

Die Flügel ihrer Stupsnase weiteten sich, und die grün schillernden Augen betrachteten ihn plötzlich mit wachem Interesse.

»Sie sind der Bulle!«, stellte sie fest.

Ihre Stimme klang etwas atemlos. Ohne ihn aus den Augen zu lassen, nippte sie an ihrem Glas. Er fühlte sich gemustert und analysiert, und es irritierte ihn, dass er nicht wusste, wie und wo sie ihn einordnete. Als den Typ, der ihre Schwester sitzen gelassen hatte?

»Und was wollen Sie von mir?«, fragte sie schließlich.

»Sigrids Adresse«, sagte er beiläufig. Die hatte Frau Wolf ihm nämlich nicht gesagt. Weil sie sie nicht kannte, hatte sie behauptet, und Roth hatte ihr geglaubt.

»Und was wollen Sie jetzt wieder von Sigrid?«, fragte Tina.

»Sie wiedersehen«, antwortete er im gleichen beiläufigen Tonfall.

In ihren Augen erschien ein misstrauischer, feindseliger Ausdruck. »Warum?«, wollte sie wissen.

Roth sah sich um. Drüben war das Polizeirevier 4, in dem man ihn gut kannte. Noch hatte er nichts zu befürchten, noch hatte er sich nicht unkorrekt verhalten. Er konnte auch morgen noch zu Tondorf gehen und ihm erklären, dass er die gesuchte Sigrid Wolf kannte, sehr gut kannte, dass er lange bei ihr ein- und ausgegangen war, dass sie ihre freien Tage und Nächte miteinander verbracht und sogar gemeinsam in Urlaub gefahren waren.

»Gehen wir woanders hin«, sagte er unvermittelt.

»He, he! Ich gehe nicht einfach so mit einem ...«

»Hergelaufenen Kerl?«

»Mit einem Bullen.« Sie nippte an ihrem Wein.

Er nahm das Glas und schob es zurück, legte einen Geldschein auf den Tisch und fasste ihren Arm.

»Sigrid wird gesucht«, sagte er nah an ihrem Ohr. Ihr Haar roch nach irgendwelchen Blüten.

Sie sah ihn an, ihre Augen weiteten sich. »Im Mordfall Blume?« Sie flüsterte unwillkürlich.

»Natürlich handelt es sich um den Mordfall Blume«, antwortete er gepresst. »Aber nicht so, wie Sie denken! Kommen Sie jetzt!«

Es dämmerte bereits, als sie nebeneinander durch die Wallanlagen gingen. Tina hatte zunächst Abstand zu ihm gehalten und es vermieden, dass sie seine Schulter berührte. Jetzt schien es ihm, als ob sie seine Nähe suchte. Was an der einbrechenden Dunkelheit liegen mochte, und nicht daran, dass sie inzwischen Vertrauen zu ihm gefasst hatte. Denn ihre Stimme klang unverändert abweisend, sogar feindselig.

Sigrid hatte lange genug mit Blume zusammengelebt, um von der Brisanz seiner Arbeit zu wissen. In mehreren Artikelfolgen hatte der Journalist die Existenz einer organisierten Kriminalität nachzuweisen versucht und dabei scharfe Angriffe gegen Polizei und Justiz geführt. In dem Zusammenhang hatte er sich auch nicht gescheut, Heinen beim Namen zu nennen und ihn als das zu bezeichnen, was er war — einen Verbrecher. Er hatte Fakten veröffentlicht, die der Polizei entweder gar nicht bekannt waren oder die sie aus juristischen Gründen oder aus Gründen des Datenschutzes nicht gegen Heinen verwenden durfte.

Roth hatte Sigrids Aussage mit besonderer Sorgfalt studiert, nachdem die Ermittlungsakten der zuständigen Mordkommission bei der Soko Heinen gelandet waren.

Demnach war Sigrid nur wenige Meter von Blumes Boot entfernt gewesen, als er umgebracht wurde, aber sie hatte schlicht erklärt, nichts und niemanden gesehen zu haben. Und auch auf andere Weise konnte sie nichts zur Aufhellung der Tat beitragen. Sie konnte nicht einmal angeben, ob der Nachlass des Journalisten vollständig war, ob nach dem Mord etwa Aufzeichnungen verschwunden waren oder ob an anderer Stelle Notizen, Tonbandprotokolle oder Dokumente existierten.

Vermutlich hatte Blume sie auf den Fall der Fälle vorbereitet, und Sigrid war klug, das wusste Roth. Klug genug, sich an das zu halten, was Blume ihr eingeschärft haben mochte.

Nichts wissen.

Gar nichts.

Ein Prozess gegen Heinen oder Figuren aus seinem Umkreis konnte mühelos verschleppt werden, und keine Polizei der Welt wäre imstande gewesen, eine Zeugin auf Dauer zu schützen.