Drei Songs später - Lola Renn - E-Book

Drei Songs später E-Book

Lola Renn

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Beschreibung

Ein junges Mädchen droht unterzugehen, zu ersticken: an den Anforderungen der Schule, ihres cholerischen Vaters und der Fügsamkeit ihrer Mutter. Doch dann nimmt sie all ihre Kraft zusammen und springt in ein selbstbestimmtes Leben – gegen alle Widerstände...

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LOLA RENN

drei songs später

Impressum

Vollständige eBook-Ausgabe der Buchausgabe

bloomoon, München 2013

© 2013 bloomoon, ein Imprint der arsEdition GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten

Text: Lola Renn

Umschlaggestaltung: Grafisches Atelier arsEdition, Romy Pohl, unter Verwendung einer Fotografie von © Nika Fadul »The Dance«/​gettyimages

Umsetzung eBook: Zeilenwert GmbH

ISBN eBook 978-3-8458-0151-3

ISBN Printausgabe 978-3-7607-9913-1

www.bloomoon-verlag.de

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

Inhaltsübersicht

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Epilog

Die Songs

1

Ich hab schon wieder Nasenbluten. Es tropft wie blöd aufs Buch, aufs Pult, in meine Hand. Scheiße. Sarah kramt nach Taschentüchern. Ich mache die Augen zu und versuche, mich auf was Schönes zu konzentrieren, letztes Mal hat das geholfen.

Eine große Tasse heiße Schokolade steht vor mir, es duftet und ich sehe, wie die Sahne schmilzt. Dann ist plötzlich alles weiß und leer. Ich mache die Augen auf. Nur Gekrissel.

Ich habe Angst.

»Herr Biesing!«, ruft Sarah.

In meinen Ohren saust es.

»Ich glaube, es ist besser, du setzt dich auf den Boden«, sagt Herr Biesing neben mir. »Meinst du, das kriegen wir hin?«

Ich nicke. Sie helfen mir auf und lehnen mich gegen die Heizung. Jemand streichelt meinen Arm. Ich fühle, wie das Blut läuft, aber meine Hände sind eiskalt und total verkrampft, ich kann sie nicht heben. Mir ist schlecht.

»Zeta?«, fragt Sarah.

Ihre Stimme ist ganz weit weg.

»Ich glaube, sie ist ohnmächtig.«

»Mm«, mache ich.

Ich versuche, die Augen zu öffnen, aber es geht nicht, sie sind zu schwer. Jemand fasst meine Hand.

»Hey, Zeta.«

Micha ist an meiner Seite.

»Wir sollten sie hinlegen.«

»Aber dann blutet’s doch noch mehr«, sagt Sarah.

»Mist.«

»Ich rufe ihre Eltern an«, sagt Herr Biesing.

Ich bin hundert Meter tief unter Wasser und versuche, an die Oberfläche zu schwimmen. Endlich kriege ich die Augen auf. Sarah und Micha knien vor mir, sie halten meine blutigen Hände. Boah, dass die sich nicht ekeln.

»Sie bekommt wieder Farbe, oder?«, fragt Herr Biesing.

»Ja«, sagt Sarah.

»Ich ruf trotzdem an.«

Vorsichtig schüttele ich den Kopf.

»Geht schon«, bekomme ich raus.

Herr Biesing kniet sich zu uns auf den Boden.

»Ich weiß nicht«, sagt er.

»Wirklich.«

»Wir warten noch fünf Minuten, okay? Wenn’s dann nicht besser ist, fährst du mit dem Taxi nach Hause.«

»Okay.«

Sarah und Micha tauen meine Hände auf, holen mich zurück. Jetzt seh ich auch, dass die ganze Klasse guckt. Ist mir egal.

Herr Biesing steht auf und sagt: »Where were we?«

»Kommst du mit aufs Klo?«, frage ich Sarah.

»Klar.«

Wir waschen das Blut ab. Ich seh gruselig aus.

Auf wackligen Beinen geh ich in die Eingangshalle und zieh mir eine Cola am Automaten. Ich hock mich auf die Heizung am Fenster und schau zu, wie der Wind mit den Kastanienblättern spielt.

»Hey.«

Micha setzt sich neben mich.

»Besser?«, fragt er.

Ich nicke.

»Warum kriegst’n du so oft Nasenbluten?«

»Weiß nicht. Passiert einfach.«

»Warum bist du nicht nach Hause?«

»Ich bleibe lieber.«

Mein Vater hat heute frei und hängt wahrscheinlich den ganzen Tag im Wohnzimmer rum. Keine Lust, ihn jetzt schon zu sehen.

Micha hebt eine Kastanie vom Boden auf und rollt sie zwischen seinen Händen.

»Wie war Mathe bei dir?«, frage ich.

»Hab ein leeres Blatt abgegeben.«

»Echt? Ich hab überlegt, ob ich einfach aufsteh und geh.«

»Warum hast du’s nicht gemacht?«

Ich zucke mit den Schultern. Micha holt aus und wirft die Kastanie gegen den Getränkeautomaten. Es knallt. Ein paar Achtklässler, die hier heimlich rauchen, drehen sich zu uns um.

»Vielleicht geh ich ab am Ende vom Jahr«, sagt Micha.

Ich gucke.

»Echt?«

»M-hm. Mir reicht’s.«

»Und was machst du dann?«

»’ne Lehre.«

»In was?«

»Keine Ahnung.«

Oh Mann, wenn Micha geht, wird’s hier noch unerträglicher.

Ich wickele meine Arme um mich. Er sieht mich an.

Ich würde gerne meinen Kopf an seine Schulter legen, aber ich tu’s nicht.

2

Beim Abendessen ist miese Stimmung. Mein Vater quetscht mich über die Mathearbeit aus, und ich erzähle, was alles schiefgelaufen ist. Er ist ziemlich sauer. Als er aufsteht, um den Korkenzieher für die erste Flasche Wein zu holen, rempelt er mit Wucht gegen meinen Stuhl.

»Kannst du nicht Platz machen?«, fährt er mich an.

Ma duckt sich und rührt im Honigglas, als hätte sie was ganz

Interessantes darin entdeckt. Hinter mir wühlt mein Vater in einer Schublade.

»Warum ist das Ding nicht hier?«, fragt er.

Ma springt auf und hilft suchen.

»Wozu hebst du all diese Korken und Gummibänder auf?«, motzt er.

Gute Frage. Mich würde auch interessieren, warum er alte Zeitungen im Flur stapelt und wozu er zwanzig ausgefranste Zahnbürsten braucht.

Er räumt die Schublade aus, wirft die Korken und Gummibänder auf den Boden. Ma huscht in der Küche herum und sammelt sie wieder ein. Ich dreh mich weg. Ich kann es nicht ausstehen, wenn sie so untertänig ist. Mein Blick fällt auf das Marmeladenregal über dem Tisch, da liegt der Korkenzieher zwischen dem Salz und einer Niveadose.

»Papa?«

Ich zeige auf das Regal.

»Da gehört er aber nicht hin«, mufft er.

Wie immer füllt er drei Gläser. Ich werde meins nicht anrühren, und er wird sich opfern, damit der schöne Wein nicht verkommt.

»Auf dich, meine Süße«, sagt er zu Ma. »Deine Mutter ist die Seele der Familie«, sagt er zu mir.

Den Spruch bringt er gerne nach ’nem Wutanfall. Ma strahlt dann sofort wieder, und alles ist vergessen. Mich nannte er früher den »Sonnenschein der Familie«, aber das ist schon ziemlich lange her.

Wir essen eine Weile ohne zu reden. Nach jedem Bissen spüle ich mit heißem Kakao nach, mein Mund ist ganz trocken. Ich schmiere die zweite Scheibe Brot, als mein Vater brummt:

»Ich bin am Ende meiner Weisheit. Warum schlägt die Nachhilfe nicht an? Kannst du mir das erklären?«

Mein Lieblingsthema. Wie immer beim Essen. Ich räuspere mich.

»Meine Noten würden bestimmt besser werden, wenn ich endlich auf ein musisches Gymnasium oder eine Schule mit einem Tanzleistungskurs könnte.«

Schweigen am Tisch.

»Ich versteh nicht, warum ich nicht wechseln darf.«

»Weil so ein Tanz-Kunst-Englisch-Firlefanz-Abitur nichts wert ist«, sagt mein Vater.

»Vielleicht nicht, wenn man Wissenschaftler werden will, aber das hab ich ja nicht vor.«

Mein Vater streut sich eine dicke Schicht Pfeffer aufs Käsebrot.

»Ein musisches Abitur ist zu leicht, das nimmt keiner ernst«, sagt er.

»Ich nehm doch lieber Fächer, in denen ich gut bin, als dass ich so ein unglaublich wertvolles Matheabi mache, das ich nicht schaffe.«

»Da hat sie recht«, sagt Ma.

Mein Vater wird laut. »Sie ist ja nicht dumm«, sagt er. »Sie hat nur keine Disziplin. Wenn sie sich Mühe geben würde, wären ihre Noten nicht so armselig.«

»Ich hab Disziplin.«

»Ach ja? Führt die auch zu irgendwelchen sichtbaren Ergebnissen?«

Ich weiß, dass es keine gute Idee ist, aber ich kann’s mir nicht verkneifen: Ich stehe auf, mache eine Preparation und lege eine perfekte dreifache Drehung hin.

»Bitteschön. Kannst du wahrscheinlich nicht«, sage ich und setze mich wieder hin.

Mein Vater brüllt: »Das muss ich auch nicht können! Und dir wird es nichts nützen. Mach dir doch keine Illusionen, du bist zu alt, um Tänzerin zu werden. Du wirst nie gut genug sein!«

Mir schießen Tränen in die Augen. Was weiß mein Vater schon darüber?

Ich laufe aus der Küche, durch den langen Flur in mein Zimmer, schlage die Tür zu und gebe ihr einen Tritt. Die Gummisohle meines Schuhs hinterlässt einen fetten schwarzen Abdruck auf dem lilanen Lack. Ich hasse Lila.

3

Die Wut ist ein Knoten in meinem Bauch, er zieht sich immer fester zusammen und tut weh. Ich gehe zum Bücherregal, nehme das Buch über die Royal Ballet School heraus und werfe mich aufs Bett. Das hier ist mein Gegengift, mein Traum. Die Royal Ballet School ist ein Internat für Kinder und Jugendliche, die Tänzer werden wollen. Sie wohnen in einer riesigen alten Villa außerhalb von London und trainieren jeden Tag, stundenlang. Was Besseres kann ich mir nicht vorstellen.

Als ich zwölf war, wollte ich dort vortanzen, aber meine Eltern fanden, ein Internat käme nicht infrage. Jetzt bin ich fast sechzehn, und es ist zu spät fürs Ballett, mit drei Tanzstunden die Woche kann man nicht Ballerina werden. Plan B ist, dass ich nach der Schule eine Ausbildung für modernen Bühnentanz mache. Meine Lehrerin meint, das könnte klappen.

Ich rolle mich vom Bett und hüpfe ein bisschen auf der Stelle, damit ich nicht einfriere.

Der Heizkörper in meinem Zimmer ist letzten Winter kaputtgegangen, und meine Eltern sind noch nicht dazu gekommen, ihn zu reparieren. Ich lege eine alte Decke aufs Fensterbrett, damit es nicht so zieht.

Schon komisch. Zeit, mein Zimmer heimlich umzubauen, als ich in einem Ferienlager war, die hatten sie. Sie haben mein Hochbett rausgeworfen, meine Urwaldvorhänge weggeschmissen, die Tür lila gestrichen und einen riesigen Schreibtisch vors Fenster gestellt. Ich dachte, mich trifft der Schlag, als ich nach Hause kam. Wird Zeit, dass ich was ändere.

»Zeta?«

Ma steht vor der Tür, ich hab sie gar nicht gehört im Flur.

»Was ist?«, frage ich.

»Kann ich reinkommen?«

Ich öffne einen Spaltbreit. Ma schaut mich ängstlich an.

»Papi ist verärgert darüber, dass du einfach weggelaufen bist.

Er erwartet eine Entschuldigung von dir.«

»Und du bist die Botin, oder was?«

»Mach es doch nicht noch schlimmer.«

Sie fummelt an ihrem Kragen rum.

»Ich entschuldige mich nicht«, sage ich.

»Zeta, bitte… «

Ich kann ihren flehenden Ton nicht ab.

»Vergiss es«, sage ich und drücke die Tür wieder zu.

4

Es sind drei Leute– Erwachsene, die ich noch nie gesehen hab – in meinem Zimmer. Sie schauen sich alles an, blättern in meinen Büchern, heben meine Klamotten hoch und lassen sie wieder fallen.

Was machen die hier? Wie kommen die dazu, hier rumzuschnüffeln? Ich bin total aufgebracht.

»He!«, rufe ich. »Sie können doch nicht einfach so hier reinplatzen!«

Die Leute beachten mich nicht. Die Frau geht zu meinem Schreibtisch, macht die Schubladen auf und leert sie aus.

»Könnten Sie bitte gehen?«, sage ich.

Keine Reaktion. Einer der Männer setzt sich auf mein Bett.

»Ich will, dass Sie jetzt gehen!«, brülle ich. »Hauen Sie ab!« Plötzlich ist es dunkel, und ich kann die Leute nicht mehr sehen. Erst denke ich, sie haben sich versteckt, dann geht mir auf, dass ich geträumt habe. Ich sitze im Bett, mein Schlafanzugoberteil ist nass geschwitzt, und mein Herz rast wie verrückt.

»Ich will, dass Sie jetzt gehen!«, brülle ich. »Hauen Sie ab!«

Plötzlich ist es dunkel, und ich kann die Leute nicht mehr sehen.

Erst denke ich, sie haben sich versteckt, dann geht mir auf, dass ich geträumt habe. Ich sitze im Bett, mein Schlaf anzugoberteil ist nass geschwitzt, und mein Herz rast wie verrückt.

5

»Findest du, das passt zusammen?«

Sarah hält sich eine abgerissene Felljacke an ihr verfilztes Wollkleid.

Ich nicke. In vier Minuten geht unser Bus.

»Oder ist der Mantel besser?«, fragt sie.

»Nee, sieht gut aus.«

»Wirklich?«

»Ja-ha. Können wir jetzt?«

»Gleich.«

Sie fängt an, sich zu kämmen.

»Ich geh schon mal vor«, sage ich.

Sarah wohnt über mir. Seit der fünften Klasse fahren wir zusammen zur Schule. Und seit sie im Sixties-Fieber ist, kommen wir zu spät. Sie will aussehen, als wär sie aus ’nem alten Film geklettert, weil sie meint, in den Sechzigern war alles besser. Sie sammelt seltsame Klamotten von damals und hört Platten von Garage-Bands aus der ganzen Welt. Neuerdings schreibt sie nicht mehr das echte Datum auf Klassenarbeiten, sondern Tag und Monat von jetzt und dann 1966, laut Sarah das beste Jahr von allen. Hat wohl jeder seine Macke.

Neben Englisch ist Kunst das einzige Fach in der Schule, das ich wirklich mag. Frau Rudolph macht keine besonders originellen Sachen mit uns, aber ich sitze einfach gern ein paar Stunden über einem Bild und vergesse die Zeit.