Drei Tage im August - Anne Stern - E-Book
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Drei Tage im August E-Book

Anne Stern

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Beschreibung

Eine Chocolaterie als Zuflucht in dunklen Zeiten.

Berlin, 5. August 1936: Die Schwermut ist Elfies steter Begleiter, Zuversicht findet sie in ihrer Arbeit in der Chocolaterie Sawade, einem Hort zarter Zaubereien aus Nougat und Schokolade, feinstem Marzipan und edlen Aromen. Hier gelingt es Elfie und ihren Nachbarn, sich ihre Menschlichkeit in unmenschlichen Zeiten zu erhalten. Dann kommt Elfie dem Geheimnis einer besonderen Praline und der Geschichte einer verbotenen Liebe auf die Spur. Doch wird sie es wagen, auch ihrer eigenen Sehnsucht zu folgen? 

Bestsellerautorin Anne Stern erzählt die berührende Geschichte einer besonderen Frau, die nicht wie andere ist – ein ausnehmend schöner Roman, voll zarter Sinnlichkeit und außergewöhnlicher Figuren.


 

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Seitenzahl: 396

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Über das Buch

Elfie ringt stets darum, ihre Schwermut zu verbergen, denn sie empfindet oft nicht wie andere. Allein bei ihrer Arbeit in der Chocolaterie Sawade findet sie Zuflucht. Doch während sich Berlin bei den Olympischen Spiele im Sommer 1936 noch einmal als weltoffene Stadt zeigt, erleben Elfie und ihre Nachbarn immer mehr Gewalt und Ausgrenzung, wie der jüdische Buchhändler Franz Marcus, der doch nur die passenden Leser für seine Bücher finden will. Durch die alte Madame Conte und ihre Geschichte einer verbotenen Liebe begibt sich Elfie auf die Suche nach der verschollenen Rezeptur einer einzigartigen Praline. Bis sie sich fragen muss, ob sie es wagen soll, ihrer eigenen Sehnsucht zu folgen – denn was wäre das Leben ohne das Schöne, das doch immer mit dem Willen zum Überleben verbunden ist?

Über Anne Stern

Anne Stern, geboren 1982, ist Historikerin und promovierte Germanistin. Mit ihrem Mann und ihren drei Kindern lebt sie in Berlin. Sie arbeitete als Lehrerin und in der Lehrerbildung und schrieb zunächst erfolgreich als Selfpublisherin. Ihre Romane um die Hebamme „Fräulein Gold“ wurden zu Spiegel-Bestsellern. Während ihrer Recherchen stieß Anne Stern auf die Berliner Pralinenmanufaktur "Sawade" und die bewegte Historie der Prachtallee Unter den Linden, und schon bald ging es für sie nicht mehr nur um einen Konfektladen, sondern um eine Geschichte von der Kraft der Phantasie und der Schönheit in dunklen Zeiten – und um eine außergewöhnliche Frau.

„Drei Tage im August“ ist Anne Sterns erster Roman bei Aufbau.

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Anne Stern

Drei Tage im August

Roman

Übersicht

Cover

Titel

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Inhaltsverzeichnis

Titelinformationen

Informationen zum Buch

Newsletter

Prolog — London, Oktober 1938

1. — Berlin, 5. August 1936, Dienstagmorgen, acht Uhr

2. — 5. August 1936, Dienstagmorgen, halb neun

3.

4. — 5. August 1936, Dienstagmorgen, kurz vor neun

5. — 5. August 1936, Dienstagmorgen, halb zehn

6. — 5. August 1936, Dienstag, elf Uhr

7. — 5. August 1936, Dienstag, halb zwölf

8.

9. — 5. August 1936, Dienstag, Viertel vor zwölf

10. — 5. August 1936, Dienstag, zehn vor zwölf

11. — 5. August 1936, Dienstag, zwölf Uhr

12. — 5. August 1936, Dienstag, vier Uhr

13. — 5. August 1936, Dienstag, Viertel vor fünf

14.

15. — 5. August 1936, Dienstagabend, halb sechs

16.

17. — 5. August 1936, Dienstagabend, neun Uhr

18. — 6. August 1936, Mittwochmorgen, sieben Uhr

19. — 6. August 1936, Mittwochmorgen, Viertel nach sieben

20. — 6. August 1936, Mittwoch, zwei Uhr

21.

22. — 6. August 1936, Mittwoch, halb drei

23. — 6. August 1936, Mittwoch, kurz nach drei

24. — 6. August 1936, Mittwoch, vier Uhr

25. — 6. August 1936, Mittwoch, fünf Uhr

26. — 6. August 1936, Mittwochabend, Viertel vor acht

27.

28. — 7. August 1936, Donnerstagmorgen, halb neun

29. — 7. August 1936, Donnerstag, zwölf Uhr

30. — 7. August 1936, Donnerstag, vier Uhr

31. — 7. August 1936, Donnerstagabend, neun Uhr

32. — 7. August 1936, Donnerstagabend, zwanzig vor zehn

33. — 8. August 1936, Freitagmorgen, kurz vor neun

34.

Epilog — London, Dezember 1940

Nachwort

Dank

Impressum

Wer von diesem Roman begeistert ist, liest auch ...

»Blamier mich nicht, mein schönes Kind,

Und grüß mich nicht Unter den Linden.«

Heinrich Heine, Briefe aus Berlin, 1824

»There is nothing better than a friend,

unless it is a friend with chocolate.«

Unbekannt

Prolog

London, Oktober 1938

Der Postbote in der Uniformjacke der Royal Mail klopft an die Vordertür des alten Reihenhauses aus rotem Backstein. Niemand öffnet. Er schiebt sich die Mütze aus der Stirn, hebt das eng verschnürte Päckchen auf und geht um das Häuschen herum, das am Ende einer langen Häuserreihe steht. Der winzige Garten, eigentlich mehr ein Hof, wirkt verwildert und ist an vielen Stellen von Unkraut überwuchert. Buntes, glänzend nasses Laub quietscht unter seinen Sohlen. Trotz des herbstlichen Wetters, das hier in London jedes Jahr wieder abwechselnd aus Nieselregen und Nebel besteht, blühen ein paar letzte Hortensien.

Dieser Deutsche, der hier seit Kurzem zur Untermiete bei der alten Mrs. Smith im Souterrain wohnt, ist vielleicht kein Gärtner, denkt der Postbote, aber wenigstens räumt er ab und zu das Laub vom Weg und beschneidet die Büsche ringsum, was mehr ist, als die old Lady je getan hat. Besonders glücklich wirkt er allerdings nicht, wie er da tagein, tagaus über den Rasen stapft – wie ein Tier in einem Käfig, das vergessen hat, was Freiheit ist.

Doch jetzt ist niemand zu sehen, und so legt der Bote das Päckchen auf den Tisch aus Gusseisen neben ein aufgeschlagenes Buch, dessen Seiten im Herbstwind flattern. Verstohlen klappt er es zu. Briefe aus Berlin, ein deutscher Titel, steht in abgewetzten Goldlettern auf dem alten Einband.

Alle paar Wochen bekommt dieser Mr. Marcus so ein Paket aus Deutschland, aus dem immer ein zarter Duft dringt, und obwohl der Postbote nur zu gern wüsste, was genau darin ist, würde er doch niemals das Briefgeheimnis seiner Neugier opfern. Kurz betrachtet er die rote Briefmarke – sie zeigt einen jungen Mann, der mit einer lodernden Fackel und einem Lorbeerzweig in den Händen vor einem großen Säulentor steht. Ein Wagen, von vier Pferden gezogen, krönt das Tor. Der Postbote wendet sich ab und geht pfeifend durch den Garten zurück zu seinem Dienstfahrrad, das er, fällt ihm nun auf, in einer Pfütze abgestellt hat. Er ist sportbegeistert und hätte verdammt gern gesehen, wie die olympische Fackel vor zwei Jahren in Berlin entzündet wurde. Heute ärgert er sich, dass er damals nicht genug gespart hatte für einen Trip an die Spree. Die nächste Olympiade soll in zwei Jahren in Tokio stattfinden, und Japan, nun, das ist für einen kleinen Briefträger der Royal Mail ebenso unerreichbar wie der Mond.

Achselzuckend schwingt er sich auf sein Rad und tritt in die Pedale, damit heute noch alle Bewohner des East End ihre Briefe und Pakete bekommen, die hier jeden Tag aus aller Welt eintreffen. Sie wehen den Duft ferner Länder wie einen Gruß an ihn in seine lederne Umhängetasche. Und heute, denkt er und schnuppert an seinen Händen, riecht die weite Welt wie feinste Schokolade.

1.

Berlin, 5. August 1936, Dienstagmorgen, acht Uhr

Elfie steht vor der Tür der Chocolaterie und sucht den Schlüssel. Es ist immer dasselbe – in die Rocktasche greifen, das Schlüsselbund fassen, jedoch nicht herausholen, noch nicht. Erst blind mit den Fingern unter den vielen Schlüsseln am Ring den einen finden, der ins Türschloss gehört. Den Schlüssel hervorziehen und nicht hinsehen, wenn sie ihn ins Schloss steckt. Furchtsam wartet sie auf die nächste Sekunde – passt er? Wenn ja, wird heute ein guter Tag. Wenn nicht … Elfies Leben ist voller Omen, voller gleichmäßiger, sich immer von Neuem wiederholender Rituale. Doch heute hakt es sofort, als sie den Schlüssel herumdrehen will, und obwohl sie es noch einen Moment lang, mit letzter Hoffnung, weiterversucht, ahnt sie schon, dass sie gescheitert ist.

Dann also alles von vorn. Elfie kennt die Widrigkeiten ihrer eigenen kleinen Welt und weiß, dass es kein anderes Mittel gegen sie gibt als weitermachen, von vorn anfangen. Den Schlüsselbund zurück in die Tasche, die Hand hineinschieben, die Schlüssel anhand des Barts abtasten, mit den Fingerspitzen sortieren. Da ist der kleine Silberschlüssel für die Kassenlade drinnen, daneben der klobige, knochenartige für die Kellertür, da, endlich, der kühle, besonders Gezackte mit dem kurzen Querschnitt, der sich so leicht mit ihrem eigenen Hausschlüssel am Ring verwechseln lässt. Elfie greift zu, zieht den Schlüssel wie ein unwilliges Tierchen aus seiner Höhle, schiebt ihn ins Schloss und atmet auf, als sie spürt, wie er diesmal hineingleitet, widerstandslos wie ein Messer in Butter, und sich ohne Mühe drehen lässt.

Zweiter Versuch, denkt Elfie und wagt weiterzuatmen, das geht gerade noch, ist nur in wenigen Fällen ein schlechtes Zeichen. Zweiter Versuch, das heißt, es kann trotzdem noch ein normaler Tag werden. Ein Tag, den man nicht lieben muss, von dem man nichts erwarten darf, aber den man auch nicht zu fürchten braucht – vorerst. Es gab andere Tage, ja, es gibt sie immer wieder, auch jetzt noch. Tage, an denen sie morgens nicht aufstehen kann, sosehr der Wecker auch zetert und schrillt, Tage, deren schwarzer Schlund sie schon vor Sonnenaufgang zu verschlingen droht. Doch sie sind selten geworden, Elfie hält sie in Schach. Sie hat im Laufe der Zeit die Fähigkeit erlernt, ihren Gedankenstrom zu unterbrechen, wann immer er sie niederzureißen droht, hält sie ihn auch jetzt einfach an und verbietet den unheilvollen Stimmen in ihr, ihre Macht zu entfalten.

Das Glöckchen bimmelt sein Willkommen, die Scheibe klirrt leise, als sie hineinschlüpft und die Tür sogleich von innen schließt und verriegelt. Elfie ist jeden Morgen die Erste im Laden. Das ist beinahe ein Wunder. Oft liegt sie nachts wach, kämpft sich durch die Minuten und Stunden, in denen die Zeit bis zum Morgengrauen zäh verrinnt, ehe sie erst mit den frühen, noch schüchternen Lichtstrahlen einschläft, die durch die Wolkendecke dieser wechselhaften Augusttage in ihr Zimmer fallen. Dennoch schafft sie es, pünktlich zu sein, sie hat ein System, das ihr gute Dienste leistet – wenn nur die Müdigkeit nicht wäre. Elfie wünscht sich oft, einschlafen zu können wie ein müdes Kind, behaglich und geborgen von der Wärme der Bettdecke und dem schummrigen Abendlicht. Doch sie war niemals dieses Kind, sie hat schon immer mit der Rastlosigkeit gekämpft, die abends an sie heranschleicht und sie packt, und eine ihrer frühesten Erinnerungen ist das verzweifelte Herumwälzen im Bett und die Furcht, von Großmama erwischt und gerügt zu werden. Immer waren sie beide allein, seit ihre Mutter auf und davon ging und Elfie zurückließ. Seitdem hat Großmama Elfie aufgezogen. Und alles, was sie tat, konnte Großmamas Zorn auf sich ziehen, der schnell kam wie ein Unwetter, fast immer zu schnell für Elfie, um ihn kommen zu sehen und in Deckung zu gehen. Manchmal versuchte sie es dennoch, kniff fest die Augen zu und schlüpfte unter das Bett, um dort für einen Moment Zuflucht zu suchen. Doch geholfen hat es meistens nichts.

Manchmal hat Elfie Angst, ihr schlechter Schlaf sei vielleicht eines der vielen Zeichen dafür, dass sie seltsam ist – ein böses Wort, das von ihrer Großmutter stammt und das Elfie auch nach dem Tod der alten Frau mit sich herumträgt wie einen Feldstein, der an ihre Knöchel gebunden ist. Ihre Merkwürdigkeit, zusammen mit ihrer verdammten Träumerei, waren der Hauptvorwurf unter vielen kleinen Spitzen, die ihre Großmutter ständig vorbrachte. Seltsam, das bedeutete eigentlich verkehrt, und verträumt hieß, nicht lebenstüchtig zu sein, nicht patent – ein schreckliches Urteil für ein Mädchen, besonders für eines wie Elfie, der man ihre Verdrehtheit schon drei Meilen gegen den Wind ansah, sagte Großmama.

Heute ist Elfie fast vierzig Jahre alt, sie hat ein paar kleine Falten um die Augen, die nicht mehr mit dem Lachen verschwinden, breite Hüften, die den alten schwarzen Rock spannen lassen, und sie trägt Verantwortung als Prokuristin des Pralinengeschäfts Unter den Linden. Aber die Stimme ihrer Großmutter, wenn sie schimpft, die hört sie noch immer, als würde die alte Frau direkt neben ihr stehen und nicht in einem Grab auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof liegen. Dann ist Elfie wieder klein, trägt Zöpfe und fürchtet sich vor der Panik, die sie ihr Leben lang jäh überfällt und zu lähmen droht. Doch Elfie ist nicht mehr das Kind von damals. Sie hat heute ihre Mittel, gegen solche Heimsuchungen anzugehen, und sie lässt die Dumpfheit nie die Oberhand gewinnen.

Im Laden ist es schummrig, ein müdes, gemütliches Licht, das warm auf dem dunkel glänzenden Holztresen liegt. Durch einen Spalt in den Läden dringt ein Lichtschimmer, und Elfie sieht darin die Staubkörner tanzen. Manchmal denkt sie, dass die Wände des Ladens nur durch die Pralinenschachteln aufrecht gehalten werden, ein Mauerwerk aus Pappmaché und Schokolade. Fein säuberlich aufgereiht und gestapelt, stehen sie überall mit ihren zarten Mustern und breiten Schärpen, den Seidenschleifen und ordentlich beschrifteten Schildern aus Büttenpapier. Es ist, als habe die Schönheit der Welt, nach der sich Elfie sehnt, die sie überall sucht, hier im Laden alle Kraft zusammengenommen, nur um ihr zu gefallen. Alles glänzt hoffnungsvoll, eine tröstliche Symmetrie, von der man niemals die Augen abwenden möchte. Und diese ganze Pracht ist ihr Werk!

Elfie nimmt eine der Schachteln zur Hand, sie ist oval, die Pappe mit Seidenpapier bespannt. Zartrosa Nelken auf grünschwarzem Grund, ein feiner goldener Rand zieht sich um den Deckel. Sie klappt die Schachtel auf, betrachtet zärtlich die Trüffel, die darin auf raschelndem Papier liegen wie kleine Vogeleier in einem Nest. Das Innere des Deckels ziert Goldschrift. Elfie weiß genau, was dort steht, vor diesen bekannten Buchstaben fürchtet sie sich nicht. Und sie sieht die Worte so gern an. Der Name des Pralinengeschäfts bedeutet für viele eine Verheißung, für sie selbst aber ist er ein Zuhause.

Über allem hier drinnen liegt der Duft nach Schokolade, wie feiner Puder hängt er in der Luft. Er tränkt den Raum, schaukelt über dem Parkett, legt sich weich in Elfies Nase. Süß und herb, ein Versprechen, ein Aufruf zur Zuversicht, und ja, zum kleinen Ungehorsam, weil die Versuchung in jeder Lade lauert.

Sie schnuppert, während sie ihre Kostümjacke auszieht und den Sitz ihrer geblümten Bluse im Spiegel hinter dem Tresen prüft. Der Stoff ist ein wenig zerknittert, und ihr Haar – nun, sie kann es noch so oft hochbinden, immer hängt doch eine Strähne heraus und verrät die morgendliche Eile. Kurz ist sie in Versuchung, ihre Hand in die Kiste mit den Pralinen zweiter Wahl zu stecken, die für eben diesen Zweck unter dem Holztresen versteckt steht. Doch sie entscheidet sich dagegen. Es bringt Glück, die erste Praline des Tages so lange wie möglich hinauszuzögern. So greift sie stattdessen nach einer weißen Trägerschürze und bindet sie um. Etwas zu eng in der Taille, gerüscht an den Schultern. Mit beiden Händen streicht sie ihr Haar zurecht, dicht ist es und wellig. Die silbernen Fäden sieht man im Dunkelblond noch kaum. Elfie findet trotz allem, dass ihr Haar das Beste an ihr ist, obwohl Großmama sich schon damals, vor vielen Jahren, jeden Morgen beklagte, kein noch so grobzinkiger Kamm könne den Kampf mit Elfies Borsten aufnehmen.

Ein Blick zur Uhr sagt ihr, dass sie eine Viertelstunde Zeit hat, bis sie die Ladentür öffnen muss. Elfie genießt es jeden Morgen, hier ganz allein und für sich in der Stille zu stehen, wenn niemand etwas von ihr will. Im Rücken spürt sie die hohen Regale mit den Stapeln von Pralinenschachteln, Tütchen mit kandierten Früchten und Holzkistchen, gefüllt bis zum Rand mit Marquis-Konfekt. An der Wand gegenüber hängt das gerahmte Wappen für Hoflieferanten, eine ziselierte Tuschezeichnung mit dem preußischen Adler, mit Kronen und Putten und einer breiten Schärpe, worauf Fabrik feinster Confitüren geschrieben steht. Auf dem langen Holztisch neben Elfies Händen ruht die schwere Registrierkasse mit der goldenen Kurbel, eine Königin auf ihrem Thron.

Elfie geht nach hinten zum Tresor, findet das kleine Schlüsselchen jetzt auf Anhieb, holt Bargeld heraus, verschließt den Geldschrank sorgfältig. Sie befüllt die hölzerne Lade der Kasse vorn im Geschäft mit den Münzen und Scheinen, notiert im schwarzledernen Rechnungsbüchlein die Summe des Wechselgelds. Dann nimmt sie das Bestellbuch, in Leinen gebunden, und schlägt es auf. Seit sie gestern den Laden verließ, sind noch einige Bestellungen eingegangen. Elfie fährt mit den Fingern die Zeilen entlang, wo Trude mit ihrer runden, kindlichen Schrift notiert hat, was heute und morgen verschickt oder geliefert werden soll. Unter jede Seite hat sie außerdem diesen kleinen Kringel gezeichnet, mit dem sie alles unterschreibt – ein geschwungenes T, aus dem eine winzige Blüte wächst.

Elfie liest langsam, Wort für Wort, und ist froh, dass sie Trudes Handschrift so gut kennt und die knappen Sätze ihr zufliegen. Herrn Rittmeister Wickel, Lützowufer 3. Ein Pfund gemischtes Konfekt, 1 Karton Katzenzungen, 1 halbes Pfund englisches Karamell, à 50 Pfennig Porto. Elfie nickt. Der Herr ist Stammkunde und bestellt jede Woche dasselbe. Frau Baronin von der Leyen, Krefeld. Ein Pfund Pralinen erste Wahl, 2 Packungen Orangenstäbchen, 1 Tafel Pfefferminzschokolade – Lieferung ins Hotel Adlon. Die Baronin ist das Porto vom letzten Mal noch schuldig, Elfie macht einen Kringel hinter den Eintrag, damit diesmal jemand den Boten bezahlt. Herr Issa El Hamady. 3 große Kisten Konfekt für Dienstagnachmittag, Lola holt ab. Frau von Ahnenfeld, durch Prinzessin Cecilie von Preußen. 2 Pfund Marquis, 12 Mark. Bote!

Elfie lässt das Buch sinken. Sie spürt die Erleichterung, die sich in ihr ausbreitet, wie immer, wenn sie die Bestellungen prüft. Diese vertrauten Worte zu lesen fühlt sich an wie ein zartes Versprechen, dass doch noch alles gut werden kann. Die Firma hat das Straucheln nach der Krise 1929 gerade so überstanden. Sie ist noch wacklig auf den Beinen wie eine frisch Genesene, aber Elfie will nach vorn sehen. Alles andere, findet sie, während sie mit der Handfläche genau dreimal über den Leineneinband streicht, bevor sie das Buch zurücklegt, wäre ja sinnlos.

Noch zehn Minuten, sagt die Uhr an der Wand mahnend.

Elfies Blick fällt durchs Fenster nach draußen. Über den Lindenbäumen wehen die Hakenkreuze. Es sind mehr Fahnen als sonst, und die Straße, ja die ganze Stadt gleicht einem Hexenkessel, seit vor vier Tagen die Olympischen Spiele eröffnet wurden. Das Olympische Komitee wohnt im Adlon, nur ein paar Gehminuten vom Laden entfernt am Pariser Platz, Elfie ist dort gestern auf dem Weg zum Friseur vorbeigeschlendert und hat zusammen mit den anderen Neugierigen gegafft. Dicht an dicht standen die Schaulustigen, obwohl Schauer angekündigt waren. Ein einziges Gewimmel aus schwarzen Melonen, Schirmen und hellen Hüten, so viele Menschen, dass Elfie am liebsten wieder Reißaus genommen hätte. Doch sie hat sich gezwungen, einen Moment stehen zu bleiben und ihre Stadt zu betrachten. Auf der Straße schoben sich die lackierten Automobile und offenen Coupés, die Fahrer schwitzend und schimpfend, weil nichts voranging, wie eine schwarze Schneckenspur die Linden entlang. Zwei Doppeldeckerbusse mit der Persil-Werbung auf dem breiten Maul waren im Gewühl stecken geblieben, die Leute standen darin wie Sardinen in der Büchse und staunten. Und das große, teure Hotel war gespickt mit den kleinen roten Fahnen, schwarze Kreuze auf weißem Grund, die die gesamte Fassade zierten. Am Eingang hingen lange, schleppende Flaggen aller Herren Länder – eine Seltenheit in diesen Tagen, da Hitlers Tausendjähriges Reich anscheinend über alles andere erhaben ist.

Elfie hat weder eine Ahnung vom Sport noch von der Politik. Aber dass dieser August aus der Stadt, die in den vergangenen Jahren merkwürdig stillgehalten hat, einen Zirkus macht, das spürt sie. Und dass die Olympiade mehr Besucher nach Berlin schwemmt, nachdem in letzter Zeit die Touristen ausgeblieben sind, besonders die Amerikaner, das bemerkt sie auch. Aber ihr soll es recht sein. Je mehr Flaneure auf den Straßen, je mehr betuchte Gäste im Adlon, desto häufiger gehen Bestellungen ein, desto größer wird der Hunger auf erlesene, handgemachte Süßigkeiten. Ihre kleine Chocolaterie ist bekannt in der Allee, ja in der ganzen Stadt. Sogar aus dem Ausland bestellt man bei ihr, aus Paris, aus London, aus Odessa. All die Telegramme und Telefonate, die Gespräche im Laden und Briefe drehen sich um das eine, das Elfie nach all den Jahren immer noch mehr am Herzen liegt als alles andere. Um Pralinen, knirschenden Krokant und bittersüße Trüffel.

Noch fünf Minuten allein, denkt Elfie und beginnt die Regentropfen auf der Scheibe zu zählen.

2.

5. August 1936, Dienstagmorgen, halb neun

Wie so oft, wenn sich das Flattern unter seinen Rippen ankündigt, ist es das Gefühl der Einbände der Bücher unter seinen Händen, das Franz Marcus beruhigt. Er streicht mit dem Daumen über den Rücken mit den darauf geprägten Goldbuchstaben, als liebkose er ein Lebewesen, klappt das Buch auf, legt seine Nase einen Moment zwischen die Seiten und atmet den trockenen, warmen Geruch ein. Papier, Leim, Bindfäden. Mürbe Pappe. Und Worte, Worte aus schwarzer Druckertinte. Sie sind es, die ihm trotz allem jeden Morgen den Mut geben, aufzustehen, den Ladenschlüssel zu nehmen und die Buchhandlung aufzusperren.

Franz hebt den Blick und lässt ihn über die Regale wandern, die an allen Wänden vom Boden bis zur Decke reichen. Dicht an dicht stehen darin die Bücher, sie lehnen ihre Rücken aneinander und finden Halt und Trost in der Gegenwart der anderen. Der ganze Raum besteht nur aus Holzbrettern und Papier, er ist vollgestopft mit Zeitungen und Magazinen, mit historischen Wälzern, medizinischen Abhandlungen, Liebesromanen, politischen Traktaten und Abenteuergeschichten. All diese Geschichten scheinen leise, ganz leise zu wispern und zu flüstern, sie weben Franz jeden Tag aufs Neue ein in ihr silbriges Netz, spinnen ihre Worte um ihn herum, schaukeln ihn sacht und trösten ihn. Nur sie, scheint ihm, halten ihn aufrecht. Ist er es ihnen da nicht schuldig, um sie zu kämpfen, sie zu beschützen gegen das, was sich dort draußen zusammenballt? Doch manchmal fehlt ihm die Kraft. Ein Zündholz, denkt er dann, nur eines, und all das Weben und Spinnen, das Flüstern und Knistern, der Duft von Papier und die unzähligen Geschichten wären in Minuten lichterloh verbrannt. Dann könnte er gehen, sich umdrehen und gehen, und müsste endlich keine Angst mehr davor haben, alles zu verlieren.

Doch natürlich ist das Unsinn. An dem Buchladen hängt seine Existenz. Seit dem Tod seines Bruders Simon vor acht Jahren hat er darum gekämpft, das Geschäft zu erhalten, hat die Stammkunden gehätschelt und die Touristen auf den Linden versucht zu bezirzen, damit sie durch die schmale Tür treten und ihm etwas abkaufen. Er hat sich und sein Geschäft immer wieder neu erfunden, hat Postkarten ins Sortiment genommen und kleine Andenken an den Besuch in der Hauptstadt, hat die Wände des Ladens dekoriert mit bunten Plakaten. Und vor ein paar Jahren, sogar noch nach dem Schwarzen Freitag, hat er Geld in die Hand genommen, das er eigentlich nicht besaß, um das Geschäft zu renovieren, und eine Leseecke eingerichtet mit Bauhausstühlen und Wandleuchten von Wilhelm Wagenfeld, dessen klare Formen er sehr bewundert. Er hat sich sein eigenes kleines Himmelreich geschaffen – und das soll er aufgeben? Diesem braunen Pack überlassen, das ihn seit einigen Jahren terrorisiert? Ihn und seine Stadt.

Franz ist in Berlin geboren, sein Urgroßvater kam einst als Händler hierher, als die Juden in der Stadt endlich geduldet, ja nach dem preußischen Edikt von 1812 sogar zum Bleiben ermutigt wurden, und dieses Fleckchen hier auf der prächtigen, etwas behäbigen Allee ist ihm lieb und teuer. Es ist seine Heimat, dieses Geschäft seiner Familie. Sie halten es seit dem 19. Jahrhundert – und sie alle, die Mendelssohns, die Einsteins, die Liebermanns, leben seit Urzeiten hier an der Spree. Soll das alles etwa nichts mehr zählen, nur weil zwischendurch ein Fanatiker die Geschicke des Landes lenkt, der die Juden hasst wie kein Zweiter?

Franz glaubt nicht mehr an dieses Zwischendurch und schon gar nicht an ein Wunder. Er hat die Hoffnung aufgegeben, dass der Spuk einfach vorüberziehen wird. Er weiß, dass viele diese Hoffnung hegen wie ein wärmendes Flämmchen an einem dunklen Tag. Doch die Anzeichen, dass es noch schlimmer werden wird, sind deutlich genug. Niemand von ihnen ist mehr sicher.

Franz streicht sich müde über die Augen. Er sollte das Land verlassen, so schnell er kann. Seit Wochen überlegt er hin und her, macht Pläne, sucht Dokumente zusammen, hat sogar ein Affidavit für England ergattern können, das ihm ein Bekannter ausgestellt hat, der in London lebt – aber ohne Geld geht gar nichts. Will ein Jude das Deutsche Reich verlassen, muss er eine hohe Reichsfluchtsteuer zahlen. Die Nationalsozialisten wollen sie am liebsten aus dem Land haben, ihr Geld allerdings, das nehmen sie ihnen vorher noch ab. Sie ziehen Flüchtlinge aus bis aufs Hemd.

Eine Chance gibt es. Franz fröstelt, wenn er an morgen denkt – an das Treffen mit dem Unbekannten. Der Besucher hat sich vor zwei Wochen angekündigt, hat telegrafiert, dass er im Adlon unterkommen werde und ihn, Franz Marcus, dort im Wintergarten erwarte. Am Mittwochnachmittag, um Punkt drei Uhr. Franz spürt beim Gedanken daran schon wieder das Flattern in seinem Magen, so sehr fürchtet und erhofft er sich gleichzeitig dieses Treffen. Er muss klug vorgehen, darf seinen letzten, seinen einzigen Trumpf erst ganz zum Schluss ausspielen. Gleichzeitig schämt er sich in Grund und Boden, dass er auch nur darüber nachdenkt, auf die Forderung dieses fremden Mannes einzugehen und alles zu verraten, woran er glaubt – die Schönheit, die Freundschaft, seine Loyalität.

Die Morgensonne scheint von draußen herein und wirft einen schmalen Lichtkegel auf die abgetretenen Dielen. Unzählige Menschen sind hier ein und aus gegangen, und beinahe niemand hat den Laden verlassen ohne eine neue Geschichte im Gepäck. Wie kann er, der Geschichtenverkäufer der Linden, sie alle im Stich lassen?

Jemand klopft draußen an die Scheibe, und Franz zuckt zusammen. Es ist nur Kalle, der Lieferjunge. Kalle fährt mit seinem Fahrrad durch die Stadt und bringt bestellte Bücher zu den Kunden nach Hause, jeden Tag, weil Franz seinen Laden nicht verlassen kann.

Er öffnet, und der Junge kommt herein, wie immer in einer Wolke aus Zigarettenrauch. Immerhin hat er seine Fluppe gerade noch draußen in den Rinnstein in eine Pfütze geworfen, bevor er den Laden betritt. Das war immer schon eisernes Gesetz bei den Gebrüdern Marcus – hier drinnen wird nicht geraucht. Den Geruch bekommt man aus den Buchseiten nicht heraus, wenn er sich erst einmal festgesetzt hat.

»Morgen, Chef«, sagt Kalle und kratzt sich unter der Mütze. »Da draußen ist der Teufel los. Alle völlig verrückt jeworden.«

Franz späht auf die Straße. Es sieht eigentlich ruhig aus, findet er, auch wenn er jedes Mal auf Neue zusammenzuckt, wenn er sieht, was sie aus der Allee gemacht haben. Die alten Bäume, die im Weg standen, wurden gefällt. Mit aller Gewalt haben sie aus der altehrwürdigen Straße eine Paradeallee für Olympia gemacht, mit riesigen Pilastern aus Aluminium und Pappe, die Hakenkreuzornamente tragen, und einem wahren Flaggenmeer. Dazwischen stehen die alten Laternen mit den geschliffenen Glaszylindern wie bestellt und nicht abgeholt.

»Ick musste durch Charlottenburg, am Stadion vorbei«, erklärt Kalle und lässt seine Zahnlücke blitzen, als er laut pfeift, »Junge, da steppt der Bär!«

Franz nickt und betrachtet Kalle. Jetzt erst bemerkt er etwas Seltsames in seinem Gesicht.

»Was hast du denn am Auge, Junge?«

Kalles Hand schießt hoch, als wolle er das Veilchen verbergen, dann lässt er sie wieder sinken. Unter den vielen Sommersprossen wird er bleich. Aber seine Stimme ist gelangweilt.

»Nix weiter, Chef«, leiert er. »Kleene Rauferei.«

»Bist du sicher?«

»Todsicher, Herr Marcus. Alles paletti.«

Franz glaubt ihm kein Wort. Die rot glühenden Ohrspitzen unter den strubbeligen Haaren sprechen Bände.

»Bist du zufällig mit Hitlerjungen aneinandergeraten?«

Kalle hebt die Schultern und lässt sie wieder sinken, sein Gesicht ist plötzlich offen wie das eines Kindes, seine Stimme trotzig.

»Kann sein. Hat aber nix zu bedeuten. Diese Kanalljen können mich gernhaben.«

»Was wollten sie denn?«

»Na, mich einschüchtern. Wie letztes Mal ooch schon.«

Franz reibt sich die Stirn, er hat plötzlich Kopfschmerzen, und das Flattern meldet sich wieder.

»Du solltest nicht mehr für mich arbeiten, Kalle«, sagt er und sieht den jungen Mann eindringlich an. Der presst die Lippen aufeinander und schüttelt den Kopf.

»Wie oft ham wa darüber schon jeredet, Chef?«, fragte er. »Mich können die nicht einschüchtern!«

Zum ersten Mal sieht Franz jedoch in seinen Augen die Zweifel. Er weiß, dass Kalle loyal ist, und auch, dass er das Geld braucht. Zwar hat er noch andere Einkünfte als Packer, als Laufbursche und als Gehilfe auf Baustellen, doch das Herumradeln in der Stadt macht ihm Spaß, und er, Franz, bezahlt ihn, so gut er kann. Aber der Ring schließt sich enger um die Juden in der Stadt und auch um jene, die ihnen nicht die Freundschaft aufkündigen, sondern zu ihnen halten. Die weiter für sie arbeiten, weiter mit ihnen sprechen. Sie weiter als Menschen behandeln.

Franz schluckt. Er nickt Kalle zu und reicht ihm die Liste mit den Bestellungen, damit er die Bücher zusammensuchen und in seine Fahrradkiste draußen stapeln kann. Aber innerlich wappnet er sich. Er spürt, dass er dem fröhlichen Jungen Lebewohl sagen muss. Wenn nicht heute, dann bald. Vielleicht, wenn morgen alles klappt, erübrigt sich das – und dieser Gedanke löst noch mehr Nervenflattern in ihm aus.

Er geht zur Ladentür und öffnet sie, tritt hinaus und sieht in die aufgebockte Kiste mit Büchern, die er zum halben Preis anbietet, weil sie Eselsohren haben oder einen Riss im Einband. Mit zwei Fingern fischt er ein paar Lindenblätter heraus, die von den kleinen Bäumen auf dem Mittelstreifen der Allee herübergeweht wurden, und hebt den Blick.

Die Regierung hat die Stadt herausgeputzt, hat allen Schmutz, alle Hässlichkeit unter ein bisschen Tünche verborgen. Hat verleumderische Plakate abhängen lassen, hat Potemkinsche Dörfer aus Kunst, Musik, Theater, Tanz und Vergnügen errichtet – und hier auf der Prachtallee der Berliner hat man anstelle der Gefällten Hunderte neue Lindenbäumchen gepflanzt, deren Blätter noch zart sind wie Seidenpapier. Und dazwischen die vielen roten Flaggen mit schwarzen Hakenkreuzen darauf.

Ein Zeitungsjunge läuft vorbei, unter seinem Arm klemmt ein Stapel der Morgenpost. Franz sieht die Schlagzeile, einen Bericht über Helene Mayer, die olympische Amazone, wie die Reporter sie nennen. Ausgerechnet eine jüdische Fechterin holt die Silbermedaille für das deutsche Vaterland, und wäre es nicht so traurig, hätte Franz gern gelacht.

Er wirft einen letzten Blick auf die sonnengefleckte Allee mit dem feucht glänzenden Asphalt, atmet tief die frische Morgenluft ein und ertappt sich dabei, nach Fräulein Schneemann Ausschau zu halten, der Verkäuferin in der Chocolaterie drei Türen weiter. Er nennt sie in Gedanken Trude, dabei sind sie nicht per Du. Ihre braunen Affenschaukeln tanzen immer so schwungvoll, wenn sie ihm winkt, und bei der Vorstellung spürt er den düsteren Gedanken zum Trotz ein kleines Glück in der Brust. Franz kommt es auf einmal so vor, als dufteten die Linden noch stärker als zuvor, wenn er an sie denkt. Doch ihr blaues Kleid ist nicht zu entdecken, es ist zu früh.

Er tritt zurück in den dämmrigen Laden, schließt die Tür und schüttelt über sich selbst den Kopf. Immerhin ist er fast fünfzig, Witwer seit über zehn Jahren und nicht gerade der Typ, auf den die Frauen fliegen mit seinen kleinen runden Brillengläsern und den ausgebeulten Pullundern. Ein älterer, schüchterner Buchhändler mit Existenzsorgen. Mehrfach hat er schon Briefe erhalten, worin man ihn in trockenstem Beamtendeutsch auffordert, den Betrieb schleunigst in die Hände einer geeigneten arischen Person zu überführen. Sonst werde man ihn in Kürze aus der Reichsschrifttumskammer ausschließen und sein Geschäft liquidieren.

Franz hat jedes einzelne Schreiben ordentlich in eine Schublade seines Sekretärs abgelegt und diese mit einem kleinen silbernen Schlüssel verschlossen, als könne das Gift, das von den schreibmaschinenbeschriebenen Seiten ausgeht, dort hinter Schloss und Riegel weniger Schaden anrichten. Doch es ist aus den Briefen längst in sein Hirn und sein Herz gekrochen und macht sich dort breit, und er liegt nächtelang wach und wägt seine Möglichkeiten ab. Wieder wandern seine Gedanken zu dem Treffen morgen, aber er kann einfach nicht an Wunder glauben. Selbst wenn er Erfolg haben sollte – die Zwangssteuer würde ihn bis aufs Blut schröpfen, und welches Land nimmt einen armen Schlucker wie ihn auf, der nichts kann als Bücher abstauben und Schiller und Heine zitieren?

Was sonst bleibt ihm übrig? Hierbleiben und kämpfen? Er hat keine Kraft mehr zum Kämpfen, und ohnehin ist es ein Streit mit Windmühlen, wobei er, anders als Don Quijote, nicht einmal ein Schwert besitzt, sondern nur bedrucktes Papier als Waffe hat und einen Berliner Lausejungen als Sancho Panza, dem er bald wird kündigen müssen.

Das alles sind nicht gerade Umstände, die sein armes Herz zu Höhenflügen verleiten könnten. Und trotzdem, denkt er – und erneut fällt ihm der schwingende blaue Rock Trude Schneemanns ein. So ein verregneter Sommermorgen in Berlin, in dessen Luft man schon den Abschied spürt und die letzte Gelegenheit für lange Zeit, der macht eben leichtsinnig.

Als er ein leises Keckern hinter sich hört, meint er erst, Kalle hätte einen Scherz gemacht, doch dann fällt es ihm wieder ein. Willis Äffchen!

»Chef?«, fragt Kalle, der auf einer Leiter steht und Bücher sortiert, und deutet mit offenem Mund auf den kleinen Affen, der hoch oben auf einem Bücherregal sitzt und auf sie heruntergrinst. »Wissen Sie, dass Sie ’n Klabautermann haben?«

»Das ist doch Zinnober, der Affe von Spree-Willi«, sagt Franz und lächelt. »Der Alte spürte wohl, dass es mit ihm zu Ende ging, und einen Tag vor seinem Tod brachte er mir den Kleinen hierher. Sagte, ich solle eine Weile auf ihn aufpassen, er fühle sich nicht wohl und wolle nicht, dass Zinnober Hunger leiden muss, wenn er sich nicht um ihn kümmern könne.« Er seufzt. »Ein paar Tage, sagte Willi, mehr nicht. Aber nun scheint es, als müssten Zinnober und ich uns an den Gedanken einer gemeinsamen Junggesellenbude gewöhnen.«

Die kleine Glocke über der Tür bimmelt. Es ist ein Paar, ein wenig in die Jahre gekommen. Franz und Kalle tauschen einen Blick. Eindeutig keine Berliner, sondern von außerhalb. Eine dünne Frau mit schlecht sitzendem Kostüm und falschen blonden Haaren, die mit beiden Händen ihre Tasche umklammert, der Mann in einer klaffenden Anzugjacke über dem Spitzbauch. Er sieht sich betont interessiert um und dreht einen lächerlich flachen Strohhut zwischen den Händen, eine richtige Kreissäge. Die hellen Segelschuhe wollen so gar nicht zu seiner unathletischen Erscheinung und zum Wetter passen, und die wenigen verbliebenen Haarsträhnen hat er mit zu viel Pomade über die Glatze gekämmt. Franz fasst sich unwillkürlich in seine eigenen dichten Locken. Fast weiß sind sie, aber wenigstens muss er ihnen keine Gewalt antun, um seinen Schädel zu bedecken, denn sie sind voll und kräftig wie früher.

»Guten Tag«, begrüßt er die Neuankömmlinge und zwingt sich zu einem höflichen Lächeln, »womit kann ich dienen?«

»Good morning«, sagt der Mann, und Franz ist überrascht – Amerikaner also? Hier, in seiner kleinen, düsteren Buchhandlung?

Er kramt mühsam sein Englisch hervor. »We have some books in English … Sir«, sagt er und ist stolz, dass ihm die korrekte Anrede noch eingefallen ist.

Der Kunde schüttelt den Kopf. »Do you have postcards?«

»Of course!«

Die Herrschaften suchen also nichts zum Lesen, sie brauchen nur ein Souvenir. Franz führt sie beide zum Postkartenständer in der Ecke des Ladens. Doch die Auswahl – ein paar historische Ansichten der Linden, Tiermotive aus dem Berliner Zoo wie die zigarettenrauchende Schimpansendame Missie oder den Gorilla Bobby und das Brandenburger Tor – scheint ihnen nicht zuzusagen.

»Olympia?«, fragt die Frau, als könne Franz sie besser verstehen, wenn sie nicht in ganzen Sätzen mit ihm spricht. »Sports?« Sie macht eine Handbewegung, als hielte sie einen Degen, und Franz muss sich ein Lachen verbeißen. Er schüttelt bedauernd den Kopf.

»Sorry, Madam«, sagt er. »No Olympia here.«

Sie sieht ihn aus betrübten Hundeaugen an. Der Mann schnalzt mit der Zunge und tippt sich an die Stirn, als sei er ein grüßender Matrose. Franz deutet eine Verneigung an.

An der Tür dreht sich der Kunde noch einmal um.

»Jew?«, fragt er und deutet mit einem dicken Finger auf Franz, als sei er ein Außerirdischer bei seinem ersten Besuch auf diesem Planeten und nehme Kontakt mit den seltsamen Erdlingen auf.

Franz spürt, wie ihm die Röte ins Gesicht steigt, doch er bemüht sich um eine unbewegte Miene und nickt. Aus den Augenwinkeln sieht er, wie sich Kalle oben auf der Leiter anspannt und die Stirn runzelt. Er hofft, dass der Junge die Klappe hält.

»Good!«, sagt der Mann begeistert und strahlt. »Jews may work here in Germany then, obviously!« Er beugt sich vertraulich zu Franz herüber, als vertraue er ihm ein Geheimnis an. »We were told that Hitler wouldn’t allow it anymore, but that’s just nonsense then.«

»Yes«, sagt Franz leise. »Just nonsense.«

Die beiden Amerikaner treten auf die Straße, und Franz sieht ihnen nach. Sie stehen einen Moment unsicher im Sonnenlicht, dann laufen sie, mit für ein glückliches Liebespaar zu großem Abstand zueinander, in Richtung Pariser Platz. Vermutlich wollen sie das Adlon sehen, auch wenn Franz sicher ist, dass sie nicht dort übernachten, sondern für die Zeit ihres Aufenthalts in einer billigeren Unterkunft wohnen, vielleicht nebenan im Metropol.

»Komische Leute«, sagt Kalle und kommt, die Arme voll Bücher, die Leiter herab. »Wat wolln die hier?«

»Was erleben«, sagt Franz müde. »Und sich davon überzeugen, wie nett wir es hier haben in Deutschland. Dann können sie nach Hause fahren und allen erzählen, dass die Geschichten über Hitler nur Gräuelmärchen sind.«

»Och, Chef«, sagte Kalle und legt die Bücher auf dem Kassentisch ab. Er hebt die Hände und weiß dann offenbar nicht, was er noch sagen soll.

»Ist schon gut«, sagt Franz und wischt seine letzten Worte mit einer raschen Geste aus der Luft, »los, an die Arbeit.«

Er hat selbst gehört, wie bitter, ja verzweifelt er klingt, und er will Kalle nicht mit seinen Sorgen behelligen. Der Junge steckt seinetwegen schon genug ein. Außerdem sind solche Reden, wie er sie hier führt, gefährlich, auch für den, der zuhört. Zersetzend.

Mit dem Kinn deutet er auf den Bücherstapel.

»Wenn du die alle ausgeliefert hast, hast du frei für den Rest des Tages. Fahr ins Wannseebad, kauf dir ein Eis, genieß die letzten Sommertage – trotz Regen.«

»Jebongt«, sagte Kalle, greift sich die Bücher und verlässt den Laden. Draußen parkt das Fahrrad mit der eingebauten Kiste vorn dran. Und schon tritt der Lieferjunge kräftig in die Pedale, pfeift durchdringend zum Abschied und rollt davon.

Franz sieht ihm nach. Wie unbeschwert der junge Mann auf dem Sattel sitzt und sich in den langsam dichter werdenden Verkehr der Allee einfädelt, als sei seine Existenz auf diesem Pflaster, in dieser Stadt ebenso selbstverständlich wie die der Lindenbäume, der grau-weißen Tauben und schwankenden Omnibusse. Als sei sein Schicksal mit Berlin untrennbar verwoben und keine Macht der Welt könne ihn aufhalten.

Seltsam, denkt Franz und sucht mit einer Hand Halt an einem Bücherregal, er kann sich nicht erinnern, je so jung gewesen zu sein, so voller Zuversicht und Selbstsicherheit. Aber vielleicht hat er nur vergessen, was es heißt, zwanzig zu sein und das Leben wie einen ausgerollten Teppich vor sich liegen zu sehen, der nur auf einen wartet.

Unter seinen Schuhen mit den abgelaufenen Sohlen liegt ein alter Perser, ein Kelim mit einem ehemals hübschen Muster, das von den vielen Absätzen im Laufe der Zeit unkenntlich geworden ist. Vor vielen Jahren hat er ihn gekauft, als er weit jünger war als Kalle. Als Simon und er voller Tatendrang waren, voller Begeisterung für das Geschäft, das sie übernehmen und zu neuem Ruhm führen wollten. Als sie von dem kargen Lohn, den sie als Buchbinder heimbrachten, beim Teppichhändler Karimi in der Charlottenstraße diesen Kelim kauften.

Nun liegt er hier, dünn wie Papier, nur noch ein Geist seiner früheren Farbenpracht. Franz beschließt, dass er diesen Tag, der ihm so voller Schwere scheint, nicht ohne eine ordentliche Portion Mokkanüsse überstehen kann, deren herbes Aroma er liebt. Und dass er in der Mittagspause, wenn er den Laden für eine halbe Stunde schließt, hinüber zum Pralinengeschäft gehen wird und sich die Zuversicht und das nötige kleine Glück eben für eine Mark fünfzig bei Fräulein Schneemann erkaufen wird, wenn es ihm schon nicht mehr zufliegen will.

3.

Wir waren immer schon hier.

Jedenfalls behaupten wir das gern, auch wenn natürlich alles irgendwann seinen Anfang hat, mag er auch noch so zufällig sein, noch so sehr im Dunkeln bleiben. Unser Anfang liegt schon so lange zurück, dass niemand, wir nicht und erst recht kein Mensch, sich daran erinnert, also können wir ebenso gut sagen: Uns gab es schon immer.

Und was wäre das alles hier denn auch, diese Allee, diese Geschichte, ohne uns? Wenn wir finden, dass jedes Ding einen Anfang haben muss, dann ist unserer wohl irgendwo in der Vergangenheit der Preußen zu suchen, als die Prachtallee der Linden nichts war als ein sandiger Feldweg. Überhaupt – der Sand, dieses bröselige, halb feuchte, halb trockene Element, auf das die Stadt gebaut ist! Die Böden hier waren stets durchzogen vom Lehm, von der sich unterirdisch ausbreitenden Nässe, und das Berliner Tal nichts weiter als ein Sumpf. Schlickig und in sich selbst versickernd, so dass nichts darin wuchs, nichts Bleibendes entstand, vielmehr alles immer wieder in die Tiefe hinabgezogen wurde – Bäume, Wurzeln und Fundamente.

Die Menschen aber, besonders die Fürsten, gieren nach dem Bleibenden, nach dem, was Bestand hat und sie selbst überdauert, wenn ihre eigene kurze Lebensspanne sich zum Ende neigt. Und einer dieser Fürsten, erzählt man sich, hat uns pflanzen lassen, hat verfügt, noch bevor der Weg zur Straße ausgebaut war, dass wir seinen täglichen Ritt beschatten sollten mit unseren Blätterkronen. Hat aufschreiben lassen, man möge Kuhlen graben und junge Setzlinge hineinpflanzen. Mit guter Erde solle man sie füllen, befahl er, damit wir hochwachsen und gedeihen könnten zu Ehren seiner Regentschaft.

Doch auch er konnte nicht verhindern, dass man uns von seinem schönen Schloss immer mehr verdrängte, fort in Richtung Westen, weil weiter oben hinter der Hundebrücke mächtige Wallanlagen gebaut wurden. Das Berliner Volk brauchte Gräben, brauchte Bastionen gegen die Feinde, mit denen man hier in dem ersten großen und dann gleich dreißig Jahre währenden Krieg Bekanntschaft gemacht hatte. Und da war kein Platz für uns, für unsere lieblichen, sanften Stämme, für säuselndes Blattwerk und Lindenduft. Klobige Steine wurden herbeigeschleppt und aufgebaut und wieder noch mehr Sand aufgeschüttet, von dem es ja mehr als genug gab.

So standen wir dann weiter unten, da, wo später die Universität gegründet wurde. Da störten wir nicht den Krieg, da durften wir unsere Wurzeln in den Boden graben und uns festhalten, durften bleiben und die Straße bis hinunter zum Brandenburger Tor säumen, als sei der Reiterweg der Könige und später sogar der Kaiser nichts weiter als ein Laubengang in einem schönen Garten.

Am Ende haben die Gräben, die Burgwälle und die vielen Soldaten nichts gegen die Zerstörungskraft des Krieges genutzt, der später kam. Dieser Krieg, der letzte, den wir sahen, ließ sich nicht mit Wällen aufhalten. Er kam nicht übers Land, sondern von oben, was der Kurfürst nicht hatte ahnen können, aber die späteren Feldherren der Stadt, die schon. Sie haben den Hass der Feinde geschürt, haben uns den Bomben anheimgegeben. Deutsche Generäle haben die Welt mit Krieg überzogen und dafür gesorgt, dass wir, die Allee und die Menschen, die darüber gingen, ausgelöscht wurden in einem Feuersturm. Das Pflaster haben die Granaten zu Kratern aufgerissen, die prächtigen Gebäude starrten wie zerhackte Zahnreihen in den leeren Himmel, und unsere Stämme, unsere Äste, unsere jungen grünen Blätter und Triebe verbrannten zu Asche. Alles wurde Wüste.

Und doch stehen wir heute noch immer hier. Wir weichen nicht, wir krallen unsere Wurzeln wieder tief hinein in die Erde. Diktatoren kamen und gingen, Gebäude und Mauern um uns herum wurden gesprengt, verfielen, wurden neu aufgebaut, wurden vergessen. Hunde schmiegen sich an uns, Dekorateure schlingen jedes Jahr grelle Lichterketten in unsere kahlen Winterzweige. Touristen trinken, an unsere Stämme gelehnt, Kaffee aus Plastikbechern und essen billiges Gebäck dazu. Baustaub legt sich auf unsere Blätter, vergilbtes Papier bleibt, vom Wind fortgetragen, in unseren Zweigen hängen.

Doch im Frühling ist die Straße erfüllt von unserem Duft, und die Bänke auf der Promenade sind dunkel gefleckt vom Schatten, den wir spenden. Manchmal hebt ein Kind eins unserer herzförmigen Blätter auf und zeichnet mit dem Finger die Adern darin nach. Wir bleiben. Wir bleiben! Wir waren immer schon da, ohne uns wäre hier nichts, wäre das nur eine Straße unter tausend anderen. Nicht die Linden, nicht wir. Wir und die Allee, das ist ein und dasselbe.

Wir waren immer schon hier.

4.

5. August 1936, Dienstagmorgen, kurz vor neun

Elfie steht hinter der Glasscheibe der Ladentür und denkt an den Tod. Vielleicht liegt es an der Sache mit den Schlüsseln, dass die dunklen Gedanken heute trotz ihrer guten Vorsätze viel eher an sie herantreten als sonst? Als habe Elfie ihnen durch ihren kleinen Fehler am Morgen eine Schleuse geöffnet, selbst wenn es nur ein winziger Augenblick der Unachtsamkeit war. Hatte sie nicht vorhin noch gehofft, der Tag könne trotz allem gut werden?

Der alte Spree-Willi ist gestorben, seine Leierkastenlieder orgeln nicht länger über die Linden. Elfie hasst jede Art von Veränderung. Und Beerdigungen auch – zu viele Leute und zu viele Gefühle, die man sonst geflissentlich für sich behält, am Grab dann aber jäh zur Schau stellen soll. Wenn einer gestorben ist, dann heulen alle Menschen plötzlich hemmungslos, und Elfie, die nicht einmal bei der Beisetzung ihrer Großmama weinen konnte, steht daneben wie eine Holzfigur. Ihr fällt die Beerdigung von Herrn Ziemkiewicz, dem früheren Besitzer der Chocolaterie, vor drei Jahren ein. Das war 1933, im selben Jahr, in dem Hitler Reichskanzler wurde. Der neue Inhaber Georg Hanemann, ein Unternehmer aus dem Rheinland, lässt sich selten blicken, er vertraut Elfie aus irgendeinem Grund blind. Weshalb nur?, fragt sie sich und versucht vergeblich, sich die Falten aus der Schürze zu streichen. Wie ein Echo im Kopf hört sie Großmamas Stimme, die ihr scharf sagt, sie solle den Kopf hoch tragen und ihr Licht nicht unter den Scheffel stellen. Und warum auch? Aus der Nachbarschaft hört Elfie immer wieder, wie gut sie ihre Arbeit macht. Exzellent sogar, denn sie ruht nicht eher, bis alles, wirklich alles makellos ist. Niemand kann wie sie Ordnung halten, sagen die Leute, niemand auch nur annähernd Elfies Perfektion erreichen, wenn sie Pralinen drapiert – und die Wirtschaftsbücher sind eine Augenweide, seitdem sie sich darum kümmert. Warum nur glaubt Elfie den Stimmen der anderen nicht? Warum ist da immer die viel lautere Stimme in ihrem Kopf, die hämisch flüstert, Elfie sei zu nichts nutze, sei falsch und dumm, sei hässlich und für nichts gut genug?

Dennoch würde alles laufen wie am Schnürchen – wäre da nur nicht die neue Schokoladenverordnung des Reichs. Das Ernährungsministerium behält seit drei Jahren einen Gutteil der Schokoladenerzeugnisse ein, und in manchen Wochen verzweifelt Elfie beinahe, weil der Nachschub ihres Schokoladenlieferanten auf sich warten lässt – damit stockt immer wieder die Pralinenfabrikation. Doch Elfie macht weiter. Es liegt vielleicht nicht in ihrer Natur, aber sie hat gelernt weiterzumachen, immer und immer weiter, mit erhobenem Kopf, wie Großmama verlangte, und mit Händen, die niemals ruhen. Solange sie nicht innehält, kann sie die dunklen Gedanken auf Abstand halten, gerade weit genug, um zu überleben. Manchmal denkt Elfie, dass sie eher eine Maschine ist als ein Mensch, und in dieser Vorstellung findet sie seltsamerweise Trost.

Zur Beruhigung zählt sie langsam die Schokoladeneier in der Auslage auf der Theke, jedes einzelne liebevoll in Goldpapier gewickelt, das kaum Falten schlägt. Sie zählt, die Fingerspitze auf jedes Ei gerichtet und die Zahlen halblaut murmelnd, und kommt bis 87. Eine ungerade Zahl bringt kein Glück. Hastig kramt sie in einer Schachtel unter dem Tisch, in der noch mehr Eier liegen, und bestückt die Auslage, bis genau hundert Schokoladeneier miteinander um die Wette leuchten. Goldene, pralle Rundheit, so weit das Auge reicht, und wieder der Schokoladenduft, der sie tröstlich einhüllt. Die Schönheit der Dinge setzt dem Chaos, das so oft in ihr tobt, ein Gegengewicht, es bewahrt sie davor, die Stimme ihrer Großmutter allzu laut zu hören, wenn sie ihr in ihrer Erinnerung schon wieder sagt, wie nichtsnutzig sie sei, wie verdreht und seltsam. Elfie atmet ein und aus.