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Das Buch handelt vom Leben dreier Menschen: Eine junge Amerikanerin, ein kleiner indischer Junge und eine japanische Jugendliche. Was würde passieren, wenn plötzlich die Charakterzüge sich ins Gegenteil verkehren? Welche Auswirkungen hat das auf die Gesellschaft? Diese spannende Mischung aus Thriller, Sozialanalyse und einem Spritzer Philosophie wird Sie nicht mehr loslassen.
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Seitenzahl: 318
Veröffentlichungsjahr: 2019
I am the blank page before you
I am the fine idea you crave
I live and breathe under the moon
And when you cross the bridge I can't… find… you
Stay Awake
London Grammar
San Francisco / Amerika, Mai 2014
1 Ein lautes Geräusch schreckte sie aus ihrem Nachmittagsschlaf. Seit etwa zwei Wochen stieg sie jeden Tag pünktlich um drei Uhr ins ungemachte Bett, um exakt zwei Stunden später durch das schrille Läuten des Weckers aus ihren Tagträumen gerissen zu werden. Aufgrund von gelegentlichen schlechten Träumen – das schwarze Loch, der Fall ins Nichts, die Verfolgungsjagd – die ganze hässliche Palette, war sie oft sogar froh darüber geweckt zu werden. Doch heute nicht. In ihrem Traum erschien eine alte Schulfreundin: Mary. Sie hatte von Mary seit Jahren weder etwas gesehen noch gehört. So innig die Freundschaft damals auch gewesen war, so plötzlich endete sie als Mary damals, 1999 muss es gewesen sein, auf die Universität nach San Diego ging. Von einem auf den anderen Tag war sie weg gewesen. Ein Mensch mit dem sie seit sie denken konnte befreundet war. Eine geliebte Person so plötzlich zu verlieren war damals eine ganz neue und schreckliche Erfahrung für Fran. Warum sie plötzlich wieder von ihr träumte wusste sie nicht, aber es waren schöne Zeiten damals mit Mary. Mit ihr konnte man alles teilen. Ob sie seitdem wohl auch wieder einmal an Fran gedacht hatte?
Fran stieg aus Ihrem Bett und nahm die muffige Luft im abgedunkelten Schlafzimmer wahr. Sie sollte vielleicht lüften, aber da fiel ihr auf, dass das blaue Fenster zum Hof offen stand und der zugezogene Vorhang leicht im warmen Nachmittagswind wehte. In ihrem Kopf kehrte sie langsam zum Jetzt und Hier zurück und schaute nach links auf ihren Nachttisch. Der Wecker zeigte 4:37 PM. Nachdem sie den Alarm mit dem altmodischen Rädchen auf der Rückseite auf 6:30 AM des nächsten Tages gestellt hatte, wurde Fran klar, dass sie nicht vom Läuten des Weckers, sondern vom Bellen ihres Hundes geweckt worden war. Fran erhob sich aus dem Bett, stieß sich das Knie an jenem Nachttisch, fluchte, ging zum grünen Fenster und schaute hinaus in den Garten. Dort kläffte Barney tatsächlich etwas am Zaun an. Sein Nackenfell stand so hoch wie das ungemähte Gras im Garten und sein Schwanz zuckte als ob ihm alle paar Sekunden ein Blitz in die Spitze fuhr. Zuerst dachte sie es sei mal wieder das Kind aus der Martin Street welches Barney mehr als einmal mit Schlägen an die Zaunlatten geärgert hatte und ihm nun auf dem Weg von der Schule nach Hause etwas zu nah kam. Doch es war nur Mr. Baker auf der anderen Straßenseite und den konnte der deutsche Schäferhund eigentlich sehr gut leiden, warf er ihm doch gelegentlich Schalenreste aus seinem Gemüsegarten über den Zaun. Fran rieb sich mit der Linken ihr pochendes Knie und mit der Rechten ihre Schläfe. Nicht nur, dass Barney eine für seine Spezies eher seltene Vorliebe für Gemüseschalen hatte, jetzt bellte er schon seine Gönner an. Fran beschloss nachzusehen und trat ins Freie.
Eine Brise streichelte ihre nackten Beine und als sie den ersten Fuß auf das leicht feuchte Gras setzte, wich ihre Schläfrigkeit und machte einem warmen Gefühl in ihrem Bauch platz. Der Hund hatte aufgehört zu bellen und lag wieder friedlich in seiner Hütte als wäre nichts geschehen. Fran war sich jedoch sicher gewesen, dass sie ihn am hinteren Zaun wühlen gesehen hatte und tatsächlich, irgendwo zwischen all den von Rose wahllos verstreuten Spielsachen konnte sie seine Spuren sehen. „Ein schöner Tag, nicht wahr?“, rief jemand. Fran schreckte aus ihren Gedanken hoch, drehte sich nach rechts zur Straße und sah Mr. Baker von seinem Grundstück in ihre Richtung winken. „Ja, ganz wunderbar“, erwiderte sie geistesabwesend und schritt weiter in Richtung der Stelle nahe am Zaun. Als sie fast am Ziel war, erblickte Fran einen länglichen Gegenstand und wollte diesen schon als weiteres Spielzeug in Roses Sammelsurium abtun. Doch als sie sich wieder dem Haus zuwenden wollte, konnte sie sich gar nicht mehr daran erinnern etwas Derartiges gekauft bzw. geschenkt bekommen zu haben. Außerdem hatte Barney anscheinend ein großes Interesse für dieses Etwas gezeigt und der war ansonsten nur mit Futter oder der Hundeleine zum Spazieren gehen aus seiner Hütte zu locken.
Es war eine Sanduhr. Sehr schlicht. Konnte kaum größer als ihre Hand sein. An den Enden verstärkte dunkel lackiertes Holz den zerkratzten Glaskörper. Der Sand im Inneren war grünbeige und schien äußerst fein zu sein. Einige Körnchen gefielen ihr besonders, da sie in der Nachmittagssonne glitzerten und dem sonst eher schlichten Stück doch unbewusst eine gewisse Anmut verliehen. Sie griff danach, um es noch näher betrachten zu können, und fühlte eine plötzliche Leere in ihrem Körper. Fran ließ ihren Arm sinken. Die Schwermütigkeit war so unvermittelt über sie gekommen. Was tat sie hier überhaupt? Ein fremder Gegenstand in ihrem Garten musste ihr doch merkwürdig vorkommen. Schwachsinn. Das hier ist nur eine Sanduhr und keine Waffe. Sie führte das unwohle Gefühl im Magen auf ihre Schwangerschaft zurück und machte erneut Anstalten die Sanduhr an sich zu nehmen.
Von Nahem sah Fran, dass neben den Kratzern auch Schmutz den Blick ins Innere der Uhr trübte. Sie nahm den Zipfel ihres dunkelgrünen Kleides und rieb damit das Glas soweit sauber, dass sie den Sand genau betrachten konnte. Sollten das wirklich Sandkörner sein, die da so glitzerten? Oder waren das kleine Salzkristalle, die dem Glas von Innen feine Schlieren zufügten? Fran fuhr mit dem Daumen über die Sanduhr und stellte fest, dass sich die Kratzer auf der Außenseite befanden. Noch etwas fiel ihr auf: Der Sand sammelte sich fast ausschließlich in einer einzigen Kammer der Sanduhr. Die andere Kammer fasste zurzeit nur einige wenige Körnchen. Ohne sich darüber zu wundern, drehte Fran die Sanduhr um und stellte sie mit der leeren Kammer nach unten auf ihren Rasen.
2 Sofort begann der Sand durch die Verengung in der Mitte nach unten zu rieseln. Fasziniert beobachtete Fran dieses Schauspiel. Mit jedem Körnchen, das die untere Kammer füllte, wurde auch ihr Unbehagen größer. Als die Uhr nach etwa fünf Minuten - Fran kamen diese eher wie fünf Stunden vor - ihr Werk getan hatte, fühlte sie sich wieder ganz normal, nahm das Stundenglas vom Boden und stand auf. Ihr gestoßenes Knie knackte kurz, tat aber nun nicht mehr weh, sondern kribbelte wohlig warm. Sie wollte sich gerade wieder ins Haus begeben, aber als sie sich umdrehte stand Barney mit stehendem Nackenfell knurrend vor ihr, den Schwanz hatte er bedrohlich erhoben. Normalerweise war die Beziehung zwischen den beiden von Vertrauen und Zuneigung bestimmt. Fran wunderte dieses Verhalten jedoch nicht und sie erwiderte seine Reaktion mit einem Streicheln seines Kopfes und den sanften Worten: „Bist ein Guter. Nach dem Abendessen bekommst du eine große Portion Gemüseschalen.“
Mr. Baker hatte diese Szene neugierig beobachtet. Er stand jetzt an Fran´s Gartenzaun in seinem albernen Hawaiihemd und den ausgetretenen Flip Flops. „Er hat heute Mittag schon Schalen von mir bekommen. Ich glaube ihm geht es etwas zu gut, wenn er jetzt schon anfängt, seine Besitzer anzuknurren. Hoffentlich fängt er nicht irgendwann an die kleine Rose zu ärgern. Ist sie schon nach Hause gekommen?“ fragte er mit besorgter aber stets gütiger Stimme.
Frans Reaktion erfolgte prompt: „Gehen sie bitte zurück in ihren Garten und lassen ihre Finger von meiner kleinen Tochter. Überhaupt, was geht es sie eigentlich an wie viel wir Barney zu fressen geben.“ Sie ging zurück ins Haus mit der Sanduhr in der linken Hand. Mr. Baker sah ihr überrascht nach. Er war außerstande irgendetwas darauf zu erwidern. Er kratzte sich am Kinn und überlegte: In den ganzen zehn Jahren in denen er nun Nachbar der Colemans war, konnte er sich nicht erinnern die gute Fran in diesen Gemütszustand erlebt zu haben.
3 Draußen war es mittlerweile dunkel. In ihrer Küche angekommen machte sich Fran einen Pfefferminztee, verstaute die Sanduhr im Schrank hinter ihren unzähligen Teeschachteln (vielleicht könnte man das Ding ja mal als Eieruhr verwenden) und lehnte sich mit ihrer Teetasse an den Kühlschrank. Das leichte Surren in ihrem Rücken beruhigte sie. Die Küche war klassisch und doch einzigartig, da Fran viele der Holzschränke selbst lackiert und danach mit farbigen Blumenornamenten bemalt hatte. Das hatte sie einen ganzen Tag gekostet, aber das Ergebnis konnte sich wirklich sehen lassen. Man hätte den Schrank durchaus als kleines Kunstwerk verkaufen können. Alle Lampen konnten über Kippschalter einzeln betätigt werden und so wurde je nach Stimmung die passende Lichtatmosphäre geschaffen. Fran hatte sich heute für die tiefhängenden Lampen über der Spüle und dem Esstisch entschieden. Der ganze Raum leuchtete in einem warmen orange, während die Zimmerdecke dunkel blieb.
Sie erinnerte sich an ihre Zeit an der Kunstakademie. Nach den langweiligen Vorlesungen über Kunstgeschichte an den Vormittagen, liebte sie es mit ihren Mitstudenten die Pinsel und Leinwände zusammenzupacken, in den Park zu gehen und dort ganz ungezwungen zu malen. Sie liebte die Parks von San Francisco, denn dort war die Hippieära nie richtig zu Ende gegangen. Die Leute faulenzten im Gras, während sie den Liedern der Musiker im Park und auf der Straße lauschten. An manchen Tagen brachten sie nicht einen einzigen Pinselstrich auf die Leinwand, weil es einfach zu interessante Neuigkeiten mit ihren Freunden zu besprechen gab. Manchmal lagen sie auch nur in der Sonne und träumten. Wenn sie es jedoch schafften, dann war das ein äußerst kreativer und produktiver Prozess, bei dem sie sich gegenseitig ermutigten noch gewagtere Techniken und Stile zu verwenden. Heraus kamen dann meist imaginäre Orte und Personen. Die Freunde versprachen sich, diese Leute an ihren Stränden, Wäldern und Bergen irgendwann einmal zu besuchen, ohne zu wissen wo sie eigentlich genau suchen mussten. Dieser Vorgang konnte sich oft bis in die späten Abendstunden hinziehen. Dann sammelten sie sich in Frans Wohnung um weiter kreativ am Herd tätig zu sein und ferne Orte kulinarisch zu entdecken: Thai, Indisch, Französisch, Japanisch oder bodenständige amerikanische Gerichte neu interpretiert – es gab nichts was nicht probiert wurde und oft schmeckte es tatsächlich ausgesprochen gut. Fran kochte eigentlich selten in ihrer kleinen Studentenküche, aber wenn doch, dann nur mit ihren Freunden. Sie hasste es etwas allein tun zu müssen. Natürlich waren ihre Möglichkeiten in der kleinen Studentenbude begrenzt, aber sie waren zusammen, sie hatten Spaß. Nur das war wichtig. Für Fran mit ihrem offenen und herzlichen Charakter war es immer einfach gewesen neue Freunde zu finden.
4 Heute Abend kochte Fran wieder allein. Sie überlegte was sie für das Abendessen zubereiten sollte. Will mochte seine Steaks mit Zwiebeln und Bratkartoffeln. Der Inhalt des Kühlschranks und Frans Magen sprachen gegen dieses Gericht. Sie hatten noch einige Reste der letzten Tage übrig und so entschied sie sich für Sandwich. Rose würde begeistert sein. Knisternd wurde die Tüte mit dem Weißbrot geöffnet, Gurken, Salat, Käse und Schinken portioniert und zwischen den Brotscheiben aufgeschichtet. Jetzt fehlte nur noch ihre legendäre selbstgemachte Sandwichsoße. Sie liebte den würzigen Geruch und den leicht säuerlichen Geschmack. Als sie jedoch das Glas öffnete und ihre Nase hineinsteckte verzog sich ihr Gesicht. Sie vergewisserte sich mit dem handgeschriebenen Haltbarkeitsaufkleber, dass die Soße noch lange genießbar sein müsste. Trotzdem mochte sie den Geruch überhaupt nicht, stellte das Glas zurück in den Kühlschrank und entschied sich heute für Mayonnaise, die ansonsten aufgrund des übermäßig hohen Fettanteils nicht auf ihrem Teller landete.
Aus der Küchenschublade holte Fran das große Brotmesser und begann damit die Weißbrote in praktische Dreiecke zu teilen. Beim vierten Sandwich hörte sie ein zischendes Geräusch hinter sich. Sie drehte sich um und bemerkte gerade noch wie ein Insekt aus dem halbmondförmigen Lampenschirm floh. Als Fran das fünfte Sandwich teilen wollte färbte sich die obere Brothälfte langsam blutrot. Anfangs sehr kräftig und deckend, zog sich die Farbe nur noch als feines Äderchen durch das Brot je weiter sie von der Rinde entfernt war. Sie musste sich in den Finger geschnitten haben. Fasziniert betrachtete sie ihren linken Ringfinger. Ein winziger Hautfetzen schälte sich aus der Schnittwunde und heraus tropfte ihr Lebenssaft. Wie schön das aussah. Fran grinste gedankenverloren. Der Finger kribbelte leicht und spielte mit ihrem Knie nun eine wunderschöne Symphonie des Schmerzes. Sie genoss jeden einzelnen Ton. Als sie ihren Finger nach scheinbar endlosen Minuten unter fließend kaltes Wasser hielt, verklang die Musik langsam.
„Mama, ich bin wieder da,“ Rose kam durch die Haustür in den Flur. Die Mutter von Tommy Pickman aus der Nachbarschaft hatte die beiden nach dem Kindergarten abgeholt. Danach hatten sie den Nachmittag bei den Pickmans verbracht und mit Tommy Fangen, Verstecken und Blindman’s buff gespielt. Sie war ein aktives Mädchen, lächelte oft und vergaß selbst den schlimmsten Schmerz innerhalb von Sekunden, wenn eine willkommene Ablenkung auf sie wartete. Mit ihren blonden Löckchen und den saphirblauen Augen brachte sie jedes Erwachsenenherz zum Schmelzen und Rose war in einem Alter, in dem sie diesen Vorteil langsam zu verstehen und zu nutzen wusste. „Tommy und ich haben ganz viel gespielt,“ sagte Rose. „Wir waren ein bisschen verschwitzt und da hat uns Tommys Mama Eistee gemacht. Das war so lecker. Können wir das auch mal machen? Kann Tommy nicht mal zu uns kommen?“
Fran schnitt weiter ihr Sandwich und würdigte ihrer Tochter keines Blickes. Rose schaute am Rücken ihrer Mutter hoch und konnte nur erahnen was sie da mit ihren Händen zubereitete. Ihre Augen wurden größer und sie fragte noch einmal: „Mama?“ Nachdem immer noch keine Reaktion auf ihre Fragen oder gar ihre Anwesenheit kam, war Rose enttäuscht und traurig. Sie wollte ihrer Mama noch soviel über ihren Tag bei den Pickmans erzählen und normalerweise setzte sich Fran geduldig zu ihr und lauschte ihren Geschichten. Dann fiel ihr der neue Kaufladen ein, den ihre Großeltern letztes Wochenende als Geschenk mitgebracht hatten. Sofort vergaß Rose ihren Kummer und stürmte die Treppe hinauf in ihr Zimmer. Fran schnitt weiter. In der Küche war es ruhig, einzig der dumpfe Ton des Brotmessers auf dem Holzbrett durchschnitt die Stille.
5 Die junge Familie Will, Fran und Rose Coleman saß um den Esstisch. Fran hatte gerade die letzten Teller aufgetischt und ihr Ehemann schenkte sich ein Glas Pinot Noir ein. Für Rose gab es Kirschsaft, um für sie den optischen Schein zu wahren sie trinke dasselbe wie ihre Eltern. Jeder hatte drei Sandwich zu je sechs Dreiecken auf dem Teller liegen. Auch in diesem Punkt bekam Rose die gleiche Menge. Seit ihrem fünften Geburtstag spielte sie fast täglich mit Tommy und wenn sie dann nach Hause kam, hatte sie immer einen Bärenhunger.
Das Abendessen der Colemans war für gewöhnlich sehr monoton. Das Ehepaar Coleman schwieg sich an und stopfte dabei Essen in sich hinein. Einzig Rose war die ganze Zeit am Plappern, was ihren Eltern eigentlich ganz Recht war, denn so mussten sie nicht kommunizieren. Sobald Rose ihren Nachtisch aufgegessen hatte ging sie rauf zum Waschen. Das war dann die Zeit in der man im Esszimmer nur das Planschen der Kleinen aus dem Badezimmer hören konnte. Einer, meistens Will, erbarmte sich dann und schaltete den Fernseher ein. Danach ging einer, meistens Fran, nach oben und brachte Rose ins Bett. Oftmals kam sie gar nicht wieder, sondern ging ohne ihren Ehepartner ins Bett. An diesem Abend sollte es anders sein.
„Guten Appetit“ sagte Will und eröffnete damit das Essen. „Guten Appetit“ sagte auch Rose. Sie war ein gut erzogenes Mädchen. Fran sagte nichts. Nachdem Will die ersten Bissen runtergeschluckt und Rose bereits ein ganzes Dreieck verputzt hatte, bemerkte er wie lustlos Fran auf ihrem Brot herum kaute. Es sah fast so aus als hatte sie überhaupt keinen Hunger und aß nur, weil ihr Körper es befahl, nicht aber weil es ihr wirklich danach verlangte. Erst in diesem Moment bemerkte Will, dass die Brote irgendwie anders als sonst schmeckten.
„Das Essen ist schmackhaft aber…“
„Mayonnaise“, unterbrach ihn Fran.
„Hast Du nicht gesagt, dass…“, begann Will.
„Jaja, ich weiß was ich gesagt habe, aber mir war nun mal danach“, unterbrach ihn seine Frau.
Will dachte sich nichts dabei und schob es auf ihren Bauch, der immer größer und runder wurde. Eben jener hatte wohl immer mehr Lust auf Dinge, die er unter normalen Umständen überhaupt nicht gemocht hätte. Wer wusste schon zu welch sonderbaren Dingen schwangere Frauen imstande waren. Bald würde sie anfangen Gurken mit Senf zu essen. Auch dann müsste er ihr beipflichten, dass es ja wohl nichts Besseres für das Baby geben könnte und das nur, um den Schein zu wahren, alles sei normal mit ihr.
Fran unterbrach seine Gedanken. „Wie war die Arbeit mein Schatz?“
Will ging sofort in Alarmstellung. Sie fragte sonst nie danach. Wusste sie etwas? Hatte Gretchen etwas erzählt?
6 Er war jetzt bereits seit fast einem halben Jahr Manager bei Sternman & Sons, der größten Privatbank im Westen der USA. Zuvor hatte er über vier Jahre als Angestellter sein Dasein fristen müssen. Wie er es hasste seinen Vorgesetzten in den Arsch zu kriechen, ihnen Tag für Tag zu versichern, wie perfekt sie waren. „Das hört sich gut an, dass sollten wir prüfen.“ sagte er, obwohl er innerlich fast zerbrach. Der Vorschlag des Abteilungsleiters widersprach allem, was man ihm in Berkeley über Finanzwirtschaft gepredigt hatte.
Es hatte sich ausgezahlt. Sein Vorgesetzter hatte mit seinem waghalsigen Vorschlägen tatsächlich die ganze Investmentsparte der Bank in Gefahr gebracht. Es gab nur einen einzigen Mann, in dessen Hintern der Kopf von Will Coleman tiefer steckte als in dem seines direkten Vorgesetzten und das war Edward Sternman, Urgroßenkel des Gründers persönlich und seines Zeichens Leiter der Investmentabteilung bei Sternman & Sons. Ihm hatte Will die Risikogeschäfte seines Vorgesetzten auf einem Silbertablett serviert, als bereits glasklar war, dass die getätigten Investments nicht mal annähernd die von der Bank erwartete Rendite erwirtschaftete, sondern im Gegenteil, ein finanzielles Fiasko zu werden drohte. Edward Sternman war es dann auch, der den in Ungnade gefallenen Vorgesetzten vor die Tür setzte und Will von einem Tag auf den anderen zum Vorgesetzten von sechs Mitarbeitern machte.
Seit diesem Tag wussten eben jene Mitarbeiter was Stress im Investmentbanking wirklich bedeuten kann. Durch den angerichteten Schaden seines Vorgängers trieb er die Abteilung sprichwörtlich durch die Hölle. Freizeit, Spaß und jegliche Aktivität, die nicht direkt mit der Arbeit an sich zu tun hatte, wurden ausdrücklich untersagt. Ganz zu Schweigen von Wills Launen, die jeder Mitarbeiter täglich mindestens einmal durchleiden durfte. Er musste ihnen wie der Teufel persönlich vorkommen. Sein Erfolg gab ihm jedoch Recht – die Krise war genauso schnell überwunden, wie sie gekommen war und als Edward Sternman ihm vor allen anderen auf die Schultern klopfte und Will vollstes Vertrauen für die Bildung eines zweiten Teams aussprach, da hatte sich jeder seiner sechs Mitarbeiter aus dem Augenwinkel angesehen und alle hatten den gleichen Gedanken: Wenn Sternman nicht hier wäre würden wir ihn auf der Stelle windelweich prügeln.
Bei der Zusammenstellung des neuen Teams hatte Will freie Hand. Gretchen war eine der Ersten, die sich auf die freien Stellen bewarb. Sie kam in sein Büro und stellte sich vor. Ihr Händedruck war ungewöhnlich schwach. Er bemühte sich ihre große, attraktive Erscheinung und ihr glattes, blondes Haar nicht zu fixieren. Unter dem Anzug konnte er ihre Figur nur erahnen, aber wenn diese nur annähernd so atemberaubend war wie ihre äußere Erscheinung… Das folgende Gespräch führte Will nur oberflächlich. Fachlich war sie über jeden Zweifel erhaben, dass wusste er schon aus ihrem tadellosen Lebenslauf. Sie war alles was seine Frau nicht war: Gut gebildet, äußerst attraktiv und gut zehn Jahre jünger. Er liebte Fran, aber in letzter Zeit hatte sich die Beziehung abgekühlt. Ihr ständiges Geschwafel über ihre Kunst langweilte ihn zu Tode, vor allem wenn in der selben Zeit die sie verschwendete, doch so viel Geld an den Kapitalmärkten dieser Welt gemacht werden konnte.
Trotz Gretchens offensichtlichen Vorzügen, spürte er große Unsicherheit und Selbstzweifel in diesem Mädchen. Und genau diesen Umstand machte er sich zu nutze, indem er fast jeden Punkt in ihrem Lebenslauf nach Sinn und Zweck hinterfragte. „Sie wollen also bei uns im Investmentbanking starten. Das heißt mit anderen Worten, dass ihnen ihre Karriere also über ihre Familie und Freunde geht, ja?“ Je weiter das Gespräch fortschritt, umso mehr fühlte sie sich in die Ecke gedrängt bis sie sich aus lauter Verzweiflung entschied, eine Taktik anzuwenden, die schon bei ihrem Professor funktioniert hatte, als er ihr nicht das übliche A für ihre Abschlussarbeit geben wollte.
Gretchen schüttelte nur ihren Kopf. Die letzte Bewegung war so stark, dass ihr Haar von links nach rechts flog. Allerdings tat sie dies etwas zu gekünstelt und mit viel zu viel Schwung. Eine Strähne fiel in Gretchens makelloses Gesicht und sie fing an damit zu herumzuspielen und ihn mit einem merkwürdigen Blick anzustarren. Diese kleine Geste sagte Will sofort, dass er gewonnen hatte. Sie hatte sich auf sein Spiel eingelassen ohne es selbst zu wissen und Will gab ihr auch weiterhin das Gefühl, die Fäden in der Hand zu halten. Der Blowjob, den sie ihm anschließend gab, war unglaublich. Gretchen schien sich bei dieser Sache offenbar sehr sicher zu sein. Sie hatte Übung. Er fühlte sich erfrischt. Er fühlte sich jung. Er liebte es von solch einer attraktiven Frau begehrt zu werden (Obwohl er innerlich eigentlich wusste, dass die Zuneigung nicht aus reiner Nächstenliebe geschah, aber das würde er sich nie eingestehen). Natürlich bekam Gretchen eine Stelle in seinem Team. Alle Annäherungen ihrer männlichen Kollegen wies sie charmant und selbstsicher ab, da sie sich der Unterstützung des Chefs gewiss sein konnte. Den Tribut dafür hatte sie regelmäßig zu zahlen, was ihr aber nichts auszumachen schien. Fast wöchentlich trafen sie sich jetzt. Was mit einem harmlosen Blowjow begonnen hatte, wurde mit jedem Male wilder. Je öfter er sexuellen Frust bei seiner Ehefrau erlebte, desto mehr lebte er seine Fantasien mit Gretchen aus. Sie merkte wie sehr Will ihre sexuelle Zuneigung brauchte. Es brachte ihr keine große Lust, aber es war eben das notwendige Übel.
7 „Eigentlich war’s wie immer. Ein Millionendeal, geschätzte fünfzig Telefonate und fünf sinnlose Meetings – der ganz normale Wahnsinn eben. Und bei Dir?“
Fran wollte ihm unter keinen Umständen von ihrem Fund am Nachmittag erzählen und bohrte weiter: „Haben sich deine Mitarbeiter wieder nicht deinem Willen gebeugt?“
Will wollte gerade einen Bissen herunterschlucken und hätte dabei fast einen Hustenanfall bekommen, konnte sich aber im letzten Moment wieder fassen. Das war es. Sie musste etwas wissen. Gebeugt hatte sich heute nur Gretchen, aber nicht vor seinem Willen, sondern über seine Schreibtischplatte. Fran musste es ja irgendwann merken. Bisher ging er davon aus, dass sie die nachlassende sexuelle Aktivität in ihrer Ehe als vorübergehende Pause während ihrer Schwangerschaft akzeptieren würde. Doch Frauen haben diesen untrüglichen Instinkt, der ihnen mitteilte, wenn etwas nicht stimmte. „Nein, was meine Mitarbeiter betrifft war es heute sehr angenehm. Fast alle waren auswärts tätig und haben sich unsere Investitionsprojekte vor Ort angeschaut. So hatte ich wenigstens in diesem Punkt Zeit, mich einigen liegen gebliebenen Dingen zuzuwenden.“ Letzteres stimmte ja irgendwie auch.
Fran legte das Kinn auf ihre gefalteten Hände und setzte ein liebreizendes Lächeln auf. „Das ist schön. Hattest Du Spaß?“
Was ist nur mit ihr los? Will sie mich quälen oder hat sie einfach Freude daran, sich über mich lustig zu machen? Er wurde ärgerlich: „Hör mal, wenn du mich bloßstellen willst, dann sag es einfach. Ansonsten lass mich bitte einfach mein Abendessen genießen! Frag doch Rose über ihren Tag aus!“
Die Kleine setzte ihr Saftglas ab und sah ihn verständnislos an: „Papa?“-
„Nein, es interessiert mich wirklich wie dein Tag an der Arbeit war, Schatz. Du arbeitest so hart für unsere Familie und musst dort viel aushalten, während ich den ganzen Tag zu Hause sitze, Fernsehen schaue, schlafe und, na ja, ab und zu auch mal ein bisschen male. Die Lasten, die wir für Rose zu tragen haben sind so ungleich verteilt, findest Du nicht? Ich glaube, du solltest einen Gang zurückschalten. Geld haben wir seit du in der neuen Position bist genug, aber du bist seitdem auch immer so angespannt.“
Will stürzte den restlichen Inhalt seines Weinglases hinunter. Es beruhigte ihn ein wenig. Während er sich nachschenkte, entschied er das Spiel zunächst mitzuspielen: „Mir geht es wirklich gut, sorge dich nicht um mich. Die Arbeit läuft besser denn je und ich schaffe es ja auch irgendwie immer pünktlich zum Abendessen hier zu sein.“ (Dass er danach noch bis weit nach Mitternacht am Rechner saß, um Emails zu beantworten, band er nicht in seine Argumentation ein.)
„Schau dich doch nur an du Armer. Du machst einen ganz krummen Rücken, weil du immer vor diesem Rechner sitzen musst. Warte ich helfe dir. Du bekommst Fran´s Rückenmassage.“ Sie machte Anstalten sich von ihrem Stuhl zu erheben.
Wills aufgebaute Beherrschung zerriss. Auch er erhob sich vom Stuhl und stützte dabei die geballten Fäuste auf den Esstisch ab. „Das wirst du schön bleiben lassen. Ich habe einen professionellen Masseur, der mir jeden Mittwoch in der Mittagspause die Knochen richtet. Ich brauche deine Hilfe nicht.“
„Papa?“-
„Nun komm schon. Ich wette dein Masseur kann das nicht mit so viel Gefühl wie ich. Wenn du ein guter Junge bist, dann bekommt auch der kleine Will eine Massage,“ Fran grinste ihn an und leckte sich über die Lippen.
„Das reicht, nicht vor der Kleinen,“ brüllte Will.
„Papa? Mama?“
Fran reagierte, indem sie ihre Zunge weiter über ihren Mund fahren lies und mit der rechten Hand obszöne Gesten machte.
Will richtete sich weiter auf und stieß mit dem Kopf an die Hängelampe.
„Papa, alles in Ordnung?“-
„Ja! Verdammt noch mal. Mit mir ist alles in Ordnung. Aber deine Mutter hat heute wahrscheinlich einen Sonnenstich im Garten bekommen. Ich kann es mir nicht anders erklären.“
Je wütender er wurde, desto mehr breitete sich in Fran ein Hochgefühl aus. „Ich freue mich, dass du mich verstehst. Vielleicht sollten wir jetzt nach oben gehen!“
„Fran, es ist wirklich genug.“ Will schlug mit der Faust auf den Tisch.
„Papa?“-
„Ich habe Dich noch nie so erlebt. Ich erkenne Dich nicht wieder. Das ist nicht die Frau die ich vor fünf Jahren geheiratet habe.“
„Papa?“
„Vielleicht sind es die langen Tage und Nächte, die du hier ohne konkrete Aufgaben zu Hause verbringst. Ich glaube ich muss…“-
„PAPA!“, schrie Rose.
Will brüllte seine Tochter an. „Geh endlich nach oben ins Badezimmer und mach dich fürs Bett fertig.“
Rose war schockiert. So hatte sie weder Mama noch Papa jemals erlebt. Ihre Augen weitenden sich und sie fing an hemmungslos zu weinen. Rose stand abrupt von ihrem Stuhl auf, stieß diesen dabei um und rannte mit den Händen vor ihrem Gesicht die Treppe nach oben.
Fran sah ihren Mann mit einem unschuldigen Lächeln an. „Nun Liebling, sollen wir?“
Ahmedabad / Indien, Juni 2014
1 Es war heiß. Drückend heiß. Und trocken. So trocken, wie seit langem nicht mehr. Seit Monaten ließ der blaue Himmel nur spärlich ein paar Regentropfen auf den staubigen Boden in Ahmedabad fallen. Die Regensaison sollte schon bald beginnen und nichts sehnten die Bewohner zurzeit mehr herbei. Die Temperatur lag bei 35 Grad Celsius im Schatten. Hier war die niedrige Luftfeuchte tatsächlich ein Segen. Alle Bäume und Sträucher im Bundesstaat Gujarat waren ausgetrocknet und die Gefahr eines Buschfeuers stieg mit jeder Minute in der die Sonne erbarmungslos auf Land und Leute niederbrannte.
Auf dem großen Markt im Zentrum der Stadt war von dieser drückenden Stimmung nichts zu spüren. Er war voller Menschen und Händler mit Angeboten, die Schönheit, Reichtum und ein besseres Leben – davon hätten viele Einwohner gern ein Stück gehabt – verhießen. Die bunten Stände waren reich geschmückt und zusätzlich lockten die Standbesitzer mit lauter Stimme interessierte Käufer heran: „Bei mir gibt’s die besten Gewürze in ganz Gujarat!“ - „Keiner bietet bessere Qualität!“ - „Ich habe die niedrigsten Preise!“ - „Der Gesunde hat viele Wünsche, der Kranke nur einen. Kaufen Sie dieses Tonikum, dass allen Ihren Krankheiten Linderung verspricht!“ – „Kosten Sie, probieren Sie!“ – „Machen Sie mit dieser Tinktur ihren Sari neu, erhältlich in allen Farben des Regenbogens!“ Wenn man sich jedoch nicht auf einen bestimmten Stand konzentrierte, konnte man in dem lauten Geräuschwirrwarr gar nichts verstehen. Hinzu kam das Schreien der Esel, das Meckern der Ziegen, das Gackern der Hühner und sogar das Zischen von Schlangen war man bei genauem Hinhören zu erkennen. Der Markt war überregional bekannt und zog regelmäßig tausende Käufer aus den Dörfern der Umgebung in das wirtschaftliche und kulturelle Zentrum von Gujarat. Ein steter Strom von Hausfrauen mit riesigen Körben, die sie unglaublich geschickt auf ihren Köpfen balancierten, strömte vom Marktplatz auf die Bahnhöfe und in die völlig überfüllten Züge nach Hause in ihre Dörfer zu ihren Liebsten, um die Einkäufe zu Schmackhaftem oder Nützlichem weiter zu verarbeiten.
Aber nicht nur Hören und Sehen, auch der Geruchs- und Geschmackssinn wurde auf diesem Markt voll ausgereizt und manchmal auch an seine Grenzen gebracht. Die besten und teuersten Gewürze wurden in großen Säcken feil geboten: Chili, roter Curry, gelber Curry, grüner Curry, Curry gemahlen, Currypaste – ja Curry in allen denkbaren Farben und Konsistenzen, Cardamom, Nelken, Minze, Ingwer, Kurkuma und die ganze restliche Palette, die der indischen Küche seine unverwechselbare Identität gibt. Abseits der Stände roch es jedoch weniger angenehm nach Kuhdung, faulen Früchten und verwesenden Tierkadavern. Letztere waren einmal geschlachtete Hühner, deren Knochen und Knorpel zu dutzenden in den Hintergassen aufgestapelt wurden und regelmäßig von Hunden und Ratten nach verwertbaren Resten durchsucht wurden. Der nahe Fluss spülte Unmengen von Unrat und Fäkalien an seine Ufer. Zudem roch es nach beißend saurem Schweiß. Kein Schweiß der Hitze oder der harten Arbeit, nein, es war der Schweiß der Angst, der durch die verfallenen Hütten und Gassen der Slums von Ahmedabad zog, die ein zu Hause für fast eine halbe Million Bewohner der Stadt waren. Angst vor Raub, Gewalt, Abstieg in eine noch tiefere Kaste, Vergewaltigung und sogar Mord. In genau dieser Umgebung der Angst lebt der kleine Raudra seit er denken kann.
2 Früh am Morgen dieses Junitages machte sich der Junge auf den kilometerlangen Weg aus den Slums zum Markt von Ahmedabad. Die Nacht hatte er auf der Straße verbracht. Immer bereit sofort aus seinem Schlaf zu erwachen wie ein Kaninchen, das stets ein Auge während des Schlafes offen hielt, falls es angegriffen wurde.
Als er endlich sein Ziel erreicht hatte, waren die Stände schon mindestens eine Stunde geöffnet und das bunte Markttreiben war bereits im vollen Gange. Auch sein ausgemergelter Körper und Geist war mittlerweile vollständig erwacht, was sich durch ein dumpfes Hungergefühl in seiner Magengegend bemerkbar machte. Mit jeder Stufe des Wachseins wurde dieses Gefühl intensiver und schrecklicher bis es sich zu einem stechenden Schmerz entwickelte. Schmerz, dass war das einzige Gefühl das Raudra derzeit kannte. Er lebte in einer rein physischen Gefühlswelt. Psychische Emotionen kannte er nicht. „Am reichsten sind die Menschen, die auf das meiste verzichten können“, sagte eine indische Weisheit. Raudra hatte nichts und fühlte sich keineswegs reich – er konnte gut auf derartige Weisheiten verzichten.
Raudra musste er stehlen. Ja, er war ein Dieb, aber er kannte gar keinen anderen Weg, um zu überleben. Betteln kam für ihn nicht in Frage. Abgesehen von Schürfwunden und Narben im Gesicht fehlte ihm Nichts. Er hatte noch alle Gliedmaßen und würde neben den Krüppeln in den Slums einen schlechten Bettler abgeben. Die meisten reicheren Leute in der Stadt hatten keine einzige Rupie für die Armen übrig. Sie blieben reich und die Armen blieben arm. So war es eben. Karma.
Also wurde Raudra ein Dieb. Anfangs stahl er nur gelegentlich etwas zu Essen. Oft wurde er erwischt und kam einzig aufgrund seiner Jugend mit ein paar Prügeln davon. Diese Erfahrungen machten ihn jedoch nur stärker und er fing an auch wertvollere Objekte zu stehlen und immer besser in seinem Handwerk zu werden.
Dies war dann auch die Zeit, in der Raudra es sich endgültig mit seiner Ziehfamilie verdorben hatte. Seine Zieheltern behandelten ihn immer wie ihren eigenen Sohn und er wäre nie auf den Gedanken gekommen, dass dies nicht seine leibliche Familie sein könnte. Sicher, sie ließen den Jungen von früh bis spät auf dem Feld schuften und gaben ihm nur spärlich etwas zu essen, aber diese Strenge wurde ihm mit Liebe und Fürsorge an jedem einzelnen Tag in dieser Familie vergolten.
Er verstand sich blendend mit seinen Geschwistern und sie spielten wann immer sie einen Moment Freizeit vom harten Alltag hatten. Als sie jedoch merkten, dass sich ihr Bruder immer öfter auf dem Markt zum Stehlen herumtrieb, da wurden sie abweisend und erzählten den Eltern jedes noch so kleine Vergehen. Nach unzähligen Ermahnungen und Züchtigungen sahen diese schließlich keinen Ausweg mehr und sagten dem Jungen die Wahrheit. Raudra war sich sicher, dass seine Zieheltern wussten wer seine richtige Familie war und warum das Kind schon im Säuglingsalter weggegeben wurde. Doch wenn Raudra nach diesem Wissen fragte, wichen die Ersatzeltern jedes Mal aus. Rasend vor Wut brüllte er seine Zieheltern an und fragte immer wieder nach seiner wahren Herkunft. Als er seiner Mutter schließlich ins Gesicht spucken wollte, hatte der Vater genug und verbannte den Jungen aus Haus und Familie. Weinend, die Hände schützend vor die Augen gelegt, stand die Mutter da. Jene, die ihn seit er ein Baby war wie ihren eigenen Sohn groß gezogen hatte. Als Raudra das Zimmer verließ, drehte er sich nicht noch einmal um. Er ließ alles hinter sich - sein Leben, seine Familie, seine Versorgung. Fortan lebte er als Dieb auf den Straßen von Ahmedabad. Jedes Gefühl, jedes Vertrauen in Liebe und Geborgenheit verschwand aus ihm und sein Körper wurde nur noch zu einer physischen Hülle, die hauptsächlich durch Hunger und Durst verursachte Schmerzen an seinen Kopf sendete. Das war jetzt fünf Jahre her und mit jedem weiteren Jahr verlor Raudra ein Stück mehr vom Rest seiner Seele. Auch die kindliche Unschuld hatte er in jenen Tagen als Dieb verloren.
Er stieg auf einen kleinen Hügel, um den Markt überblicken zu können. Hier oben wehte ein angenehmes Lüftchen, sodass er klare Gedanken für sein weiteres Vorgehen fassen und dem Hunger für einen Moment entfliehen konnte. Der Markt war einfach riesig, die Möglichkeiten aber auch die Gefahren mannigfaltig. Bis zum Horizont konnte er schauen und sah immer noch die bunten Farben des Marktes. Einige Stände fielen ihm besonders ins Auge.
Da war zunächst der Fladenbrothändler. Das Naan war ganz frisch und dampfte noch in der Morgensonne. Raudra lief das Wasser im Mund zusammen. Er stellte sich vor, wie er ein Stück des Brotes abriss, es mit einem scharfen Curry in sich hinein stopfte und so dem Hunger in seinem Körper den Todesstoß versetzte. Das wäre super.
Er hatte den Gedanken noch nicht ganz zu Ende gedacht, da sah er schon zwei Stände weiter einen Händler, der leckeres Curryhünchen mit Gemüse anbot. Er konnte sich nicht erinnern wann er das letzte Mal so etwas Schmackhaftes erblickt hatte. Gar nicht zu sprechen von seinem gierigen Verlangen danach. Eine Schüssel von diesem Festmahl würde seinen Hunger sicher für mindestens mehrere Tage stillen. Das wäre wunderbar.
Dann fiel ihm ein, dass er ja gar keine Schüssel hatte und somit das eintopfartige Currygericht nicht hätte transportieren können. Er schaute nach Osten in Richtung des Stadtzentrums. Nach einer Weile erblickte er einen Händler, der sein Interesse erregte. Er bot farbenprächtige und nützliche Alltagskleidung an. Für die Frauen gab es die langen Saritücher, die hemdartigen Kamiz in Kombination mit den Salwarhosen und einigen sehr geschmackvollen Dupattatüchern. Für die Herren hatte der Händler praktische Dhoti, Lungi und Kurta im Angebot. Gelänge es ihm auch nur eines dieser prachtvollen Kleidungsstücke in die Hände zu bekommen, könnte er seine alte zerlumpte Kleidung wegwerfen und müsste in den kühlen Nächten nicht mehr frieren. Hätte er zwei oder mehr Stücke würde er diese weiterverkaufen und mit dem Erlös etwas zu Essen besorgen. Die restlichen Rupien würde er in seinen neuen Hemdtaschen verstauen. Immer wenn er Hunger hatte, könnte er dann etwas kaufen, ohne das Risiko des Stehlens eingehen zu müssen. Das wäre traumhaft.
Raudra war so auf die Ware des Händlers fixiert, dass er diesen erst jetzt betrachtete und sofort erkannte. Es war Fahim. Er war sehr aufmerksam und intelligent, konnte sich jedes noch so unbedeutende Detail und Gesicht merken. Fahim hatte ihn mehr als einmal beim Stehlen erwischt und sollte Raudra nur in seine Nähe kommen würde er ihn sofort erkennen und davonjagen. Zudem hatte er seinen Wachhund Taksheel dabei. Nach seiner letzten Aktion hatte ihm Fahim am Hemdzipfel noch erwischt. Raudra konnte fliehen, aber Fahim hatte ein Stück seines Hemdes und ließ seinen Hund daran schnuppern. Taksheel stand in Sachen Aufmerksamkeit seinem Herrn in nichts nach und merkte sich jeden Geruch. Der würde ihn schon meterweit aus all den Marktgerüchen heraus riechen können. Sowohl Fahim als auch Taksheel hätten kein Mitleid mit ihm gehabt und der Hund würde durch den Segen seines Herrn zubeißen. Fahim hatte seine eigene Familie zu ernähren und keine einzige Rupie für hungernde Mitmenschen zu vergeben.
Raudra hielt weiter nach einem möglichen Ziel Ausschau und wandte seinen Blick nach Westen in Richtung des Sabarmati Flusses. Dort, bei den hinteren Ständen, funkelte etwas in der Sonne. Der Junge schärfte seine Sinne und erblickte einen Schmuckstand. Seine Augen wurden groß. Er sah Ketten, Diademe, Ringe und Haarschmuck allerfeinster Güte. Nicht das Raudra von solchen Qualitäten etwas verstand, aber das Glitzern sprach für ihn eine eindeutige Sprache: Dieses Zeug musste unfassbar wertvoll sein. Er kam oft auf den Markt und sah auch gelegentlich Schmuckhändler, aber solche Stücke hatte er nie zuvor erblickt. Könnte er nur einen kleinen Teil davon stehlen, hätte er für alle Zeiten ausgesorgt. Die Frage an wen und wie er solch wertvolle Ware hätte weiterverkaufen sollen stellte sich ihm nicht – er sah nur das Funkeln in der Sonne. Er würde sich alles leisten können. Das wäre unvorstellbar.
Raudra war jetzt sehr aufgeregt. Er hatte es irgendwie schon den ganzen Morgen gespürt, heute war sein Tag. Heute würde er aus seinem Kreis aus Hunger und Schmerz ausbrechen. Er sollte Recht behalten. Sein Leben sollte sich heute jedoch auf eine ganz andere Weise ändern, als er es sich je hätte vorstellen können.
3 Raudra stieg von seinem Hügel herab und stürzte sich voller Vorfreude in das Marktgetümmel. Er war auf dem Weg zu dem Stand, der das X auf seiner Schatzkarte werden und damit zu einem neuen Leben führen sollte. Es war gar nicht so einfach, diesen zwischen den ganzen Buden und Gassen wieder zu finden. Er überlegte sich wie er es anstellen konnte ohne entdeckt zu werden. Sollte er einen Käufer anrempeln und ihm seine Ware in diesem Moment entwenden oder doch lieber den Händler ablenken? Nun erblickte Raudra etwas, dass er als persönliche Fügung für sein Vorhaben ansah: Eine Gruppe von circa ein Dutzend westlich aussehender Touristen stand um den Händler herum und kaufte kräftig ein. Man erkannte sie sofort als solche: Sonnenbrillen, Sonnenbrand im Nacken, lässige Kleidung und ein obligatorischer Touristenhut oder ein Cap als Kopfschutz vor der Sonne. Raudra meinte, eine Menge amerikanischer Dollar seine Besitzer wechseln zu sehen. Ein älteres Ehepaar fiel ihm besonders auf, da sie besonders viel kauften und anscheinend sehr leichtgläubig waren.
Als die kleine Handtasche der Dame nicht mehr ausreichte die Ware zu verstauen, wandte sie sich an ihren Mann, der den Rest in die Seitentasche seines Rucksacks legte und diesen auf den Boden neben seinen Füssen abstellte. Die Haupttasche des dunkelblauen Rucksacks war vermutlich mit Getränkeflaschen und Snacks gefüllt, da sich der Stoff von Außen in einer entsprechenden Form wölbte. Der Schmuck lag in der rechten Seitentasche, die mit einem Klettverschluss ausgestattet war. Das wars - Raudra´s Traum vom neuen Leben zerplatzte so schnell wie er gekommen war. Er kannte diese Verschlüsse und ein Öffnen der Tasche würde nur mit einem lautem „Ratsch“ einhergehen, das ihn sofort verraten hätte. Doch dann erinnerte er sich an das ausklappbare Rasiermesser, dass seit etwa einem Jahr ein treuer und nützlicher Begleiter seiner Beutezüge war. Manchmal diente es auch als Waffe, aber heute würde das Messer ein hervorragendes Werkzeug für seine Absichten sein.
Er machte sich keine Mühe dem Paar unauffällig näher zu kommen, weil gerade das Aufmerksamkeit erregen würde. Die Händler auf dem Markt waren darauf trainiert und halfen sich auch untereinander, falls jemand einen Jungen herumschleichen sah. Während die Alten weiter konzentriert den Stand nach Kostbarkeiten durchwühlten, stand Raudra neben dem Herren und reichte diesem etwa bis zum Bauch. Etwas fiel fast lautlos aus der Hemdtasche des Jungen auf den staubigen Boden. Er bückte sich danach, hob das Rasiermesser auf und machte sich daran die Seitentasche des Rucksacks zu bearbeiten. Wenn das Messer doch bloß nicht so in der Sonne funkeln würde. Doch seine Sorge war unbegründet, da der Schmuck auf den Tischen des Händlers alles im Umkreis überstrahlte. Es war schon fast zu einfach. Das Messer schnitt wie durch Butter und trennte die Seitentasche sauber vom Rest des billigen Stoffes ab. Er formte das Stück zu einem Säckchen und band es mit einem alten Strick aus seiner Hemdtasche zusammen. Das so entstandene Säckchen verschwand dann wiederum mit dem Messer in eben jener Hemdtasche und er machte sich genauso wieder davon wie er gekommen war – nur eben um einiges reicher.
Als er sich ein paar Meter vom Stand entfernt hatte, packte der alte Mann den Rucksack ohne ihn anzusehen. Durch die schweren Getränkeflaschen bemerkte er das fehlende Gewicht nicht und da er nun die linke Seitentasche befüllen wollte und die rechte Tasche an seinen Bauch gedrückt hielt, fiel ihm der Diebstahl zunächst nicht auf.