37,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 37,99 €
Dreimal schwarzer Kater (Roussillon-Krimi 1): Mordshitze im Roussillon: Inspecteur Gilles Sebag befindet sich in der schönsten Sommerlethargie. Bis zwei rätselhafte Vermisstenfälle und eine Leiche ihn aus der Idylle mit seiner Frau Claire reißen. Bald findet Gilles sich in Ermittlungen ungeahnten Ausmaßes wieder. Der Inspecteur muss sich nun auch noch mit einem extra eingeflogenen profilneurotischen Kollegen aus Paris rumschlagen. Die gemütlichen Abende mit kühlem Wein am heimischen Pool sind genauso dahin wie die Harmonie mit Claire – und im sommerlich ausgestorbenen Perpignan ist jede Form der Ermittlung einfach nur schweißtreibend. *** Wetterleuchten im Roussillon (Roussillon-Krimi 2): Inspecteur Gilles Sebag ist gerade aus den Sommerferien zurück, als die Leiche eines Rentners gefunden wird. Offenbar wurde er vom Mitglied einer aus dem Algerienkrieg bekannten Geheimarmee ermordet. Es stellt sich schnell heraus, dass eine 50 Jahre alte Rechnung beglichen wurde. Dann gibt es einen weiteren Toten, der auch in den Algerienkrieg involviert war, und die Sache wird so politisch, dass Gilles aufpassen muss, mit wem er spricht. Als schließlich seine Tochter in den Fall verwickelt wird, muss Gilles sich entscheiden: Karriere oder der heißgeliebte Familienfrieden? *** Rabenschwarzer Winter (Roussillon-Krimi 3): Inspecteur Gilles Sebag kommt gerade in Weihnachtsstimmung, als er entdeckt, dass seine Frau Claire ihn betrügt. Seine Welt bricht zusammen. Mit viel Whiskey versucht er in durchwachten Nächten darüber hinwegzukommen. Zusätzlich führt ihn auch sein nächster Fall in menschliche Abgründe. Eine erschlagene Frau, ein Mann, der sich aus dem Fenster stürzt, ein weiterer, der droht, sich in die Luft zu jagen ... Gilles findet schnell heraus, dass die Morde zusammenhängen: Es handelt sich bei allen um Eifersuchtsdramen. Wer ist der Psychopath, der hier die Fäden in der Hand zu halten scheint? Woher hat er sein Wissen über die untreuen Partner? Gilles muss das beschauliche Perpignan vor einem moralischen Rachefeldzug bewahren - und gleichzeitig seine Ehe retten. *** Frühling lässt sein schwarzes Band (Roussillon-Krimi 4): Karfreitag in Perpignan. Siebenhundert »Büßer« defilieren wie jedes Jahr seit dem 15. Jahrhundert in ihren traditionellen Gewändern durch die Gassen. Plötzlich bricht Panik aus. Als wieder Ruhe einkehrt, liegt einer der Gläubigen blutüberströmt am Boden. Er wurde offenbar erdolcht. Gleichzeitig wurde ein Juweliergeschäft ausgeraubt. Hängen die beiden Fälle zusammen? Lieutenant Sebag, der eigentlich mit seinem pubertierenden Sohn kämpft, ermittelt in den mediterranen Gassen der Stadt und stößt dabei auf die verschwiegene Seite einer französischen Legende.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Veröffentlichungsjahr: 2025
Dreimal schwarzer Kater // Wetterleuchten im Roussillon // Rabenschwarzer Winter // Frühling lässt sein schwarzes Band
PHILIPPE GEORGET wurde 1963 geboren. Nach mehreren Jahren als Journalist für Rundfunk und Fernsehen hat er 2001 seine Familie in einen Campingbus gepackt, um einmal mit ihr das Mittelmeer zu umrunden. Seit seiner Rückkehr lebt er als Autor mit Frau und Kindern in der Nähe von Perpignan und läuft leidenschaftlich gern Marathon. Für seine Krimis hat er in Frankreich mehrere Preise gewonnen.
Dreimal schwarzer Kater (Roussillon-Krimi 1):
Mordshitze im Roussillon: Inspecteur Gilles Sebag befindet sich in der schönsten Sommerlethargie. Bis zwei rätselhafte Vermisstenfälle und eine Leiche ihn aus der Idylle mit seiner Frau Claire reißen. Bald findet Gilles sich in Ermittlungen ungeahnten Ausmaßes wieder. Der Inspecteur muss sich nun auch noch mit einem extra eingeflogenen profilneurotischen Kollegen aus Paris rumschlagen. Die gemütlichen Abende mit kühlem Wein am heimischen Pool sind genauso dahin wie die Harmonie mit Claire – und im sommerlich ausgestorbenen Perpignan ist jede Form der Ermittlung einfach nur schweißtreibend.
***
Wetterleuchten im Roussillon (Roussillon-Krimi 2):
Inspecteur Gilles Sebag ist gerade aus den Sommerferien zurück, als die Leiche eines Rentners gefunden wird. Offenbar wurde er vom Mitglied einer aus dem Algerienkrieg bekannten Geheimarmee ermordet. Es stellt sich schnell heraus, dass eine 50 Jahre alte Rechnung beglichen wurde. Dann gibt es einen weiteren Toten, der auch in den Algerienkrieg involviert war, und die Sache wird so politisch, dass Gilles aufpassen muss, mit wem er spricht. Als schließlich seine Tochter in den Fall verwickelt wird, muss Gilles sich entscheiden: Karriere oder der heißgeliebte Familienfrieden?
***
Rabenschwarzer Winter (Roussillon-Krimi 3):
Inspecteur Gilles Sebag kommt gerade in Weihnachtsstimmung, als er entdeckt, dass seine Frau Claire ihn betrügt. Seine Welt bricht zusammen. Mit viel Whiskey versucht er in durchwachten Nächten darüber hinwegzukommen. Zusätzlich führt ihn auch sein nächster Fall in menschliche Abgründe. Eine erschlagene Frau, ein Mann, der sich aus dem Fenster stürzt, ein weiterer, der droht, sich in die Luft zu jagen ... Gilles findet schnell heraus, dass die Morde zusammenhängen: Es handelt sich bei allen um Eifersuchtsdramen. Wer ist der Psychopath, der hier die Fäden in der Hand zu halten scheint? Woher hat er sein Wissen über die untreuen Partner? Gilles muss das beschauliche Perpignan vor einem moralischen Rachefeldzug bewahren - und gleichzeitig seine Ehe retten.
***
Frühling lässt sein schwarzes Band (Roussillon-Krimi 4):
Karfreitag in Perpignan. Siebenhundert »Büßer« defilieren wie jedes Jahr seit dem 15. Jahrhundert in ihren traditionellen Gewändern durch die Gassen. Plötzlich bricht Panik aus. Als wieder Ruhe einkehrt, liegt einer der Gläubigen blutüberströmt am Boden. Er wurde offenbar erdolcht. Gleichzeitig wurde ein Juweliergeschäft ausgeraubt. Hängen die beiden Fälle zusammen? Lieutenant Sebag, der eigentlich mit seinem pubertierenden Sohn kämpft, ermittelt in den mediterranen Gassen der Stadt und stößt dabei auf die verschwiegene Seite einer französischen Legende.
Philippe Georget
Die Roussillon-Krimis Band 1-4
Ullstein
Besuchen Sie uns im Internet:www.ullstein.de
Sonderausgabe im Ullstein E-BookOktober 2024© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2024Wir behalten uns die Nutzung unserer Inhalte für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG ausdrücklich vor.E-Book powered by pepyrusISBN 978-3-8437-3507-0
Dreimal schwarzer Kater
Deutsche Erstausgabe im Ullstein Taschenbuch1. Auflage Mai 2014© für die deutsche Ausgabe Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2013© Éditions Jigal, 2009 unter dem Originaltitel L’été tous les chats s’ennuientALL RIGHTS RESERVEDUmschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, MünchenTitelabbildung: © Michaa Krakowiak / getty images (Häuser mit Landschaft); © FinePic®, München (Himmel)
Wetterleuchten im Roussillon
© für die deutsche Ausgabe Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2015© 2012 Editions SIGALTitel der französischen Originalausgabe: Les violents de l’automneWir behalten uns die Nutzung unserer Inhalte für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG ausdrücklich vor.Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, MünchenTitelabbildung: FinePic®, München
Rabenschwarzer Winter
© für die deutsche Ausgabe Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2016© 2015 Éditions Jigal, All rights reservedTitel der französischen Originalausgabe: Méfaits d’hiverWir behalten uns die Nutzung unserer Inhalte für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG ausdrücklich vor.Umschlaggestaltung: ZERO Media GmbH, MünchenTitelabbildung: © FinePic®, München
Frühling lässt sein schwarzes Band
Deutsche Erstausgabe im Ullstein Taschenbuch1. Auflage April 2023© für die deutsche Ausgabe Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2023© Editions JIGAL, 2019All rights reservedDie französische Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel Une ritournelle ne fait pas le printemps Umschlaggestaltung: zero-media.net, MünchenTitelabbildung: © FinePic®, München
Emojis werden bereitgestellt von openmoji.org unter der Lizenz CC BY-SA 4.0.
Auf einigen Lesegeräten erzeugt das Öffnen dieses E-Books in der aktuellen Formatversion EPUB3 einen Warnhinweis, der auf ein nicht unterstütztes Dateiformat hinweist und vor Darstellungs- und Systemfehlern warnt. Das Öffnen dieses E-Books stellt demgegenüber auf sämtlichen Lesegeräten keine Gefahr dar und ist unbedenklich. Bitte ignorieren Sie etwaige Warnhinweise und wenden sich bei Fragen vertrauensvoll an unseren Verlag! Wir wünschen viel Lesevergnügen.
Hinweis zu UrheberrechtenSämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken, deshalb ist die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass sich die Ullstein Buchverlage GmbH die Inhalte Dritter nicht zu eigen macht, für die Inhalte nicht verantwortlich ist und keine Haftung übernimmt.
Titelei
Das Buch
Titelseite
Impressum
Dreimal schwarzer Kater
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
27
28
29
30
31
32
33
34
35
36
37
38
39
40
41
42
Epilog
Wetterleuchten im Roussillon
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
27
28
29
30
31
32
33
34
35
36
37
38
39
40
41
42
43
Bibliographie
Anmerkung des Autors
Rabenschwarzer Winter
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
27
28
29
30
31
32
33
34
35
36
37
38
39
40
41
42
43
44
45
46
47
48
49
Epilog
Danksagung
Frühling lässt sein schwarzes Band
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
27
28
29
30
31
32
33
34
35
36
37
38
Epilog
Anhang
Anmerkungen
Social Media
Vorablesen.de
Cover
Titelseite
Inhalt
Dreimal schwarzer Kater
Robert wachte um vier Uhr auf. Wie jeden Tag seit über vierzig Jahren.
Es war für ihn weder eine bewusste Entscheidung noch ein Zwang. Es war einfach so. Winterzeit, Sommerzeit, ganz egal: Um vier Uhr wachte er auf und stieg gleich darauf aus dem Bett.
Er schenkte sich eine Tasse kalten Kaffee ein, gab einen Schuss Milch hinzu und schob dann das Kreuzworträtsel beiseite, um die Tasse auf dem Tischchen abzustellen.
Robert hatte sein ganzes Leben lang als Schlosser in einer Firma für Landmaschinen in der Nähe von Gien im Département Loiret gearbeitet. Er hatte immer genau um vier Uhr dreißig abgestempelt, und niemals war er auch nur eine Minute zu spät gekommen. Er hatte gute Beurteilungen, wurde von seinen Vorgesetzten geschätzt, war nicht in der Gewerkschaft und dazu umgänglich. Ein vorbildlicher Arbeiter. Betriebsbedingt entlassen, als er sich der Fünfundfünfzig näherte.
Er setzte sich auf die schmale Bank und verzog das Gesicht, als er das kalte, bittere Gebräu hinunterschluckte. Er hätte es noch einmal aufwärmen können, aber dazu war er zu träge. Außerdem durfte er ohnehin keinen Zucker dazutun, da konnte er den Kaffee ebenso hinunterkippen, ohne sich lange damit aufzuhalten. Er hatte es auch eine Zeitlang mal mit Tee probiert, doch das hatte er als schlimmere Strafe empfunden.
Obwohl er nicht mehr berufstätig war, hatte Robert seine innere Uhr nicht umstellen können. Dieses frühmorgendliche Aufstehen hatte Solange, seine Frau, zur Verzweiflung gebracht. So hatte er zu Beginn seiner unfreiwilligen Rente versucht, liegen zu bleiben, zumindest bis sechs Uhr. Aber er wälzte sich im Bett herum und verwickelte sich so sehr in den Laken, dass seine Frau ihm letztendlich wieder erlaubte, aufzustehen, sobald er aufwachte. Und dann ging Solange schließlich von ihm. Innerhalb weniger Monate. Knochenkrebs.
Robert schüttete den letzten Rest Kaffee ins Spülbecken und wusch die Tasse ab. Die Wasserpumpe surrte in ihrem Kasten unter der Bank. Er stellte die Tasse auf das Abtropfgestell und verließ den Wohnwagen.
Es war Mitte Juni, und auf dem Campingplatz Lauriers Roses in Argelès war noch nicht viel Betrieb. Nur ein paar Pensionäre wie Robert und eine Handvoll Touristen aus dem Ausland. Die Niederländer trafen immer als Erste ein, gefolgt von den Deutschen. Robert ging geradewegs zu den Toiletten. Gestern hatte er die zweite Kabine von links benutzt. Heute würde er die dritte nehmen. Es war Mittwoch.
Er urinierte langsam und genüsslich in eine saubere Schüssel. Das Häuschen war von einem zarten Lavendelduft erfüllt. Das hatte Robert an Lauriers Roses sofort gefallen: wie sauber die Toiletten waren. Sie wurden regelmäßig gereinigt, und das vor allem auch noch ein letztes Mal recht spät am Abend. Robert wusste es zu schätzen, wenn er nicht schon am frühen Morgen den Gestank von Pisse und Scheiße der anderen Camper einatmen musste.
Bis zum letzten Tropfen auf dem glatten und immer noch makellos reinen Innenrand der Schüssel kostete Robert es aus. Als er die Kabine verließ, sah er auf die Uhr. Vier Uhr neunzehn. Wie am Abend zuvor wusch er sich die Hände am neunzehnten Waschbecken in der scheinbar endlosen Reihe. Anschließend trocknete er sich die Hände an seiner Hose ab. Er war bereit für seinen täglichen Spaziergang.
Er ahnte bereits, dass es der beschwerlichste seines Lebens sein würde.
Der weiße Kies auf dem Hauptweg knirschte unter den Ledersohlen seiner Sandalen. Normalerweise mochte Robert dieses leise, zarte Geräusch, doch an diesem Morgen schenkte er ihm keine Beachtung.
Robert und Solange hatten Lauriers Roses 1976 entdeckt. Davor hatten sie meist irgendwo in der freien Wildbahn gecampt, wenn sie nicht einfach in ihrem alten Citroën Dyane schliefen. Die Geburt ihres ersten Sohnes Paul hatte sie aber dazu bewegt, sich nach etwas mit mehr Komfort umzusehen. Dann waren Gérard und Florence dazugekommen. Die Kinder hatten sich beim Campen mit anderen Kindern angefreundet und freuten sich, sie dort jeden Sommer wiederzusehen. Auch Robert und Solange hatten so ihre Gewohnheiten entwickelt. Die Eltern besagter Freunde waren ebenfalls zu Freunden geworden, und zwischen Boule-Spielen, Grillen und diversen Runden Belote vergingen die Ferien wie im Flug.
Robert ging noch einmal an seinem Wohnwagen vorbei, um nachzusehen, ob er auch die Tür ordentlich verschlossen hatte. Ein Tick von ihm. Zu Lebzeiten seiner Frau hatte er sich zurückgehalten. Aber Solange war nicht mehr da.
Er drehte am Türknauf. Nichts rührte sich, die Tür war verschlossen. Natürlich.
Robert war stolz auf ihren Standort, der am besten angelegte auf dem gesamten Campingplatz. Zwei Vordächer schlossen aneinander an und verbanden den Wohnwagen mit einer Holzveranda, die von einem Steingrill gesäumt wurde, von Robert 1995, im Jahr seiner Entlassung, selbst konstruiert. Das Ganze wurde von einem Pinienholzzaun eingefriedet, an dem ein Dutzend Blumentöpfe angebracht waren. Solange hatte sich immer um die Blumen gekümmert, und im ersten Sommer nach ihrem Tod waren die Töpfe leer geblieben. Dann hatte Robert die Tradition fortgeführt. Den Zaun mit Blumen auszustaffieren erschien ihm sinnvoller, als ein Grab damit zu schmücken.
An den Holzpfosten begann die grüne Farbe unter dem Einfluss von Sonne und Salz abzublättern. Robert hatte vorgehabt, die Pfosten neu zu streichen, aber er bezweifelte, dass er es diesen Sommer schaffen würde.
Er mietete den Stellplatz ganzjährig. Am Anfang seiner Rente verbrachten Solange und er beinahe sieben Monate im Jahr in Argelès. Doch nun ermüdete ihn die Hochsaison. Er war fünfundsechzig und erschöpft. Er würde den Sommer lieber an der Loire verbringen, aber dies war die einzige Zeit, in der seine Kinder und Enkelkinder mit ihm Urlaub machen konnten.
Mit schweren, gedämpften Schritten überquerte er den Campingplatz.
Ein Lichtstrahl schien unter der Tür eines benachbarten Wohnwagens mit deutschem Nummernschild hindurch. Darin wohnte ein Paar um die sechzig herum, er groß und mit ziemlich schütterem Haar, sie klein, stämmig und mit Dauerwelle. Beim Einparkmanöver hatten sie sich heftig angeschrien. Robert hatte zuerst gelacht, doch dann hatte ihn ein merkwürdiges Gefühl überkommen. Seitdem er allein lebte, fehlten ihm solche Streitereien.
Neben den Deutschen, im Zelt der jungen Niederländerin, war weder ein Laut zu hören noch ein Licht zu sehen.
Robert gelangte zur kleinen Pforte, die an den Strand führte. Sie war verschlossen, aber er besaß einen Schlüssel. Charles und Andrée, die Betreiber des Campingplatzes, kannten seine morgendlichen Gewohnheiten und hatten ihm schon vor langer Zeit einen nachmachen lassen. Über die Jahre hatten sie sich aneinander gewöhnt. Robert half den beiden während der Nebensaison hin und wieder bei der Instandhaltung des Platzes. Eine Kleinigkeit hier, ein Handgriff dort. Ein Waschbecken, das verstopft war, ein Stück Rasen, das ausgebessert werden musste, ein Zaun, der wieder aufgerichtet werden sollte. Robert werkelte gern, und in seinem Wohnwagen gab es für ihn nicht viel zu tun. Charles und er plauderten während der Arbeit, das vertrieb die Zeit. Außerdem – auch wenn meist das Gegenteil behauptet wurde – vertrauten sich Männer einander viel eher an, wenn sie dabei vor einem tropfenden Wasserhahn und nicht vor einem Glas Anisette saßen. Nur Charles gegenüber hatte Robert seine Hilflosigkeit nach Solanges Tod eingestehen können.
Einmal hatte er sogar geweint.
Er nahm den Weg durch das Naturschutzgebiet Mas Larrieu. Die Vögel waren sich seiner Qualen nicht bewusst und sangen ihre ewige Hymne an das Leben. Unter ihrem Gezwitscher konnte man bereits das Meeresrauschen hören.
Der Meereswind erhob sich sanft und trug in seinem Schlepptau einen wilden Duft nach Jod und der Ferne herüber. Der Weg führte brav zwischen zwei Holzpfosten hindurch, die den Sand eindämmen und die Touristen lotsen sollten. Zu beiden Seiten reckten blühende Feigenkakteen ihre Micky-Maus-Ohren in die Höhe.
Je näher man dem Strand kam, umso mühsamer wurde das Vorankommen, und im Sand wurden Roberts Schritte schwerfälliger. Der Pensionär ging so nah wie möglich an der Abzäunung entlang, um die Füße auf die mageren Grasbüschel dort setzen zu können. Als er an einem Schilfwäldchen vorbeikam, zögerte er kurz. Schließlich entschied er sich, zuerst bis ans Wasser zu gehen.
Noch ein paar Dutzend Meter und dann gelangte er an den Strand. Der Wind war hier stärker und die Gerüche intensiver. An diesem Morgen herrschte heftiger Seegang. Am Horizont dämmerte es bereits. Das Leben würde weitergehen. Unerschütterlich.
Robert ging bis an die Küstenlinie, wo die Wellen auf immer anderer Höhe den Strand berührten. Er betrachtete die dunklen Wassermassen und die weißen Kämme. Kein Meer würde seinen Körper jemals wieder tragen, klagte er innerlich. Eine enorme Einsamkeit, eine vollkommene Verzweiflung übermannte ihn. Seine Knie gaben unter der Last nach und zwangen ihn, sich in den feuchten Sand sinken zu lassen.
Wie gern hätte er die Zeit um ein paar Stunden zurückgedreht. Nur ein paar Stunden …
Gedanken stürzten auf ihn ein, ohne dass er sie wirklich zu fassen bekam. Eine ihn mitreißende Welle, die über die Felsen hinwegspülte. Solange, Florence … die einzigen Frauen seines Lebens. Bruchstücke glücklicher Ferien tauchten auf, wurden jedoch sogleich von Bildern voll Zorn und Blut hinweggefegt. In seinem Schädel tobte ein Sturm. Robert wusste, dass dieser Sturm sich erst legen würde, wenn er starb. Und zwar so bald wie möglich …
Lange saß er niedergeschlagen da. Als er den Kopf hob, zerriss ein roter Streifen den Horizont. Schon bald wäre die Sonne da. Die ersten Kinder würden am Strand herumlaufen, voller Lachen, voller Leben … Nur mit Mühe entschloss er sich, weiterzugehen.
Er dachte daran, sich wieder hinzulegen. Sich wie ein kleines Kind unter der Bettdecke zu verkriechen. So weit weg war die Kindheit, und Robert fühlte sich so alt. Angeblich wurde man eines Tages wieder zum Kind. Wenn es nur wahr wäre, man vor dem Tod die Freude und die Unschuld wiederfinden konnte …
Doch die Stunde der Freiheit hatte nicht für ihn geschlagen.
Zurück am Schilfwäldchen, bildete Robert sich ein, ein Scharren zu hören. Ein merkwürdiges Scharren. Er näherte sich vorsichtig den hohen Gewächsen und folgte der Fährte abgebrochener Halme. Und dort, auf einer winzigen Lichtung, die im tödlichen Kampf zweier Gestalten entstanden war, entdeckte er den blutigen Leichnam der jungen Niederländerin.
Eine leichte Brise erfrischte seinen vor Schweiß zerfließenden Oberkörper.
Mit einem Blick konnte er die gesamte Ebene des Roussillon bis hin zum blauen Mittelmeer erfassen. Im Norden sanken die Hügel der Corbières sanft von den Gipfeln hinab bis zum Étang de Leucate; im Süden hinter den Albères versteckte sich Spanien vor seinen geblendeten Augen.
Die Sonne löschte die verschiedenen Grüntöne aus, ließ aber die roten Ziegeldächer leuchten. Jedes Jahr stahl die Urbanisierung den Weinbergen und Obstplantagen einige Dutzend Hektar Land, und die Wohnsiedlungen überschwemmten langsam die Ebene. Sie umringten und überfluteten die Dörfer und ließen von ihrer Vergangenheit nicht mehr erkennen als die Zacken der romanischen Kirchtürme, die aus ihrer Silhouette emporragten. Seit fünfzig Jahren wuchs die Bevölkerung immer mehr an, und die Neuankömmlinge auf der Suche nach einem entschleunigten Lebensstil mussten irgendwo untergebracht werden.
Gilles Sebag kam nur schwer wieder zu Atem. Nachdem er vor einer Dreiviertelstunde von der mittelalterlichen Burg in Castelnou losmarschiert war, hatte er mit kleinen Schritten den Pfad zur Kapelle Sant-Marti de la Roca erklommen. Gegen Ende stieg der Weg immer steiler an, und Gilles hatte eine Pause einlegen müssen. Bisher hatte er es immer in einem Rutsch geschafft.
Von der felsigen Bergspitze aus, auf der er sich ausruhte, konnte er die Têt nicht sehen, ihren Verlauf jedoch dank der Dörfer, die bis nach Perpignan an ihr Ufer grenzten, ohne weiteres verfolgen. Jedes dieser Dörfer kannte er beim Namen. Und doch war auch er vor einigen Jahren ein Neuankömmling gewesen, einer dieser aus dem Norden Hinzugezogenen, die die Katalanen mit einer Mischung aus Sympathie, Stolz und Resignation empfingen. Glücklicherweise hatte er eine Arbeit. Einen Beruf, der ihn zwar nur noch mäßig begeisterte, ihm aber am Monatsende ein ausreichendes Gehalt einbrachte.
Er griff seine Trinkflasche und nahm zwei kleine Schlucke. Das Wasser war schon warm. Ein wenig goss er sich auch über den Kopf. Das Wasser rann ihm den Nacken hinunter und lief ihm dann über den Rücken.
Gilles fröstelte.
Das Lärmen menschlicher Tätigkeiten drang schwach wie ein anhaltendes Summen an sein Ohr. Nur das Brummen der Cessna, mit der die Feuerwehrleute ununterbrochen das Gebirgsmassiv überflogen, war darunter auszumachen.
Er dachte wieder an Léo, seinen Sohn.
An diesem Morgen war der Bengel geschickt einem Abschiedskuss vor der Schule entkommen. Kaum hatte das Auto angehalten, da war er schon blitzschnell ausgestiegen und hatte nur noch etwas Unverständliches über die Schulter hinweg gesagt, das wahrscheinlich »tschüs« oder »bis heute Abend« heißen sollte. Dieses Manöver führte er jetzt schon seit über einem Monat durch. Es war sein Alter, er war in der Seconde, der zehnten Klasse am Lycée. Er gehörte nun zu den Großen. Da hatte man keine Lust mehr, seinem alten Herren vor seinen Freunden auch nur irgendeine Art von Zuneigung zu zeigen. So war das Leben. Gilles versuchte sich darin, das Ganze gelassen zu sehen. Es war ihm immer bewusst gewesen, dass die Zeit der Zärtlichkeiten begrenzt war. Mit Léo ebenso wie mit Séverine. Und er hatte jede Sekunde davon ausgekostet, die beiden an sich gedrückt und dabei die Augen geschlossen, um ihren Duft in sich aufzunehmen. Er erinnerte sich noch daran, es war gar nicht so lange her, wie Léo ihm die Arme um die Taille legte und ihm einen Augenblick lang den Kopf an die Brust drückte, bevor er auf den Schulhof verschwand. Diese Zeit war längst vergangen. Endgültig. Der Sohnemann hatte einen Flaum am Kinn und näherte sich den eins achtzig. In ein paar Monaten, vielleicht sogar schon in ein paar Wochen, würde er seinen Vater überragen.
Und trotzdem. Gilles fühlte eine Leere in sich. Einen Mangel. Spürte ihn körperlich. Es wäre nicht härter gewesen, das Rauchen aufzugeben.
Er stand auf, dehnte die Arme und schüttelte die Beine aus. Sein Rücken fühlte sich steif und empfindlich an. Ein bisschen mehr als sonst.
Er musste sich aufraffen, wieder hinabzugehen, aufs Neue in die Turbulenzen der Welt einzutauchen. Und auch wenn es momentan im Büro nicht viel zu tun gab, konnte er nicht den ganzen Tag wegbleiben.
Er streifte sein T-Shirt über und steuerte auf die Kapelle Sant-Marti de la Roca zu. Einen kleinen Aufschub gönnte er sich noch.
Die Kapelle war offen, und Gilles trat ein. Drinnen herrschte Stille.
Er nahm die Schirmmütze ab und hielt sie zwischen seinen gefalteten Händen vor dem Bauch. Er ging an den Bankreihen entlang. Durch eine quadratische Öffnung an der Ostwand betrachtete er den Gipfel des Pic du Canigou. Der heilige Berg der Katalanen wollte in seinen Falten noch die Überreste des Winters aufbewahren. Der Frühling war erst spät eingetroffen, und Ende Juni leistete der Schnee noch Widerstand. Er setzte sich in den Nischen fest und hob so die Unebenheiten hervor. So weiß geädert unter der Sonne wirkte der Pic du Canigou majestätischer denn je.
Es war Zeit zu gehen.
Gilles Sebag hatte keine Lust zu arbeiten. Er ertrug die Routine seines Berufs immer weniger.
Draußen zwang ihn die Helligkeit dazu, die Augen zu schließen.
Er trank noch einen letzten Schluck und steckte die Wasserflasche in die Außentasche seines Rucksacks. Anschließend stellte er seine Stoppuhr. In einer knappen halben Stunde wäre er wieder bei seinem Auto. Dann noch zwanzig Minuten bis nach Perpignan. Und noch eine Viertelstunde, um in den Umkleiden des Universitätsstadions zu duschen.
Gegen elf Uhr dreißig wäre er auf dem Revier.
Sie trieb zwischen Bewusstsein und Dämmerzustand, ohne an ein Ufer zu gelangen. Eine tiefe Schläfrigkeit schien sie zu lähmen, und ihre steifen Glieder schlossen jegliche Bewegung aus. Sie hatte es nicht eilig: Es würde nicht mehr lange dauern, bis es Tag wurde.
Sie spürte, wie ihr die Träume sanft entglitten. Schon blieben ihr nur noch flüchtige Eindrücke. Wärme, ein wenig Zärtlichkeit, Güte. Weit entfernt von dem, so vermutete sie, was sie bei ihrem Erwachen erwartete. Kein Ton drang zu ihr durch. Kein Bild. Da war nur Leere. Nacht. Stille. Sie existierte nur durch einen sich immer wieder verflüchtigenden Gedanken.
Je mehr sich die Kälte in ihrem Körper ausbreitete, umso stärker spürte sie die Schmerzen. Alles tat ihr weh. Die Beine, die Arme, der Kopf. Auch der Rücken.
Ihre Arme und Beine – das begann sie zu begreifen – waren fest gefesselt, die Hand- und Fußgelenke hinter dem Rücken zusammengebunden. Sie konnte sich nicht bewegen. Es gelang ihr lediglich, hin und wieder den schweren, fiebrigen Kopf zu heben. Ihr Gesicht schien zur Hälfte in einer modrig riechenden Matratze zu versinken.
Sie musste sich auf ein ziemlich bizarres Spiel eingelassen haben, an dessen Regeln sie sich nicht erinnern konnte.
Außer der feuchten Matratze spürte sie noch etwas anderes auf ihrem Gesicht. Etwas Stoffartiges. Genauer gesagt spürte sie es auf ihren Augen. Man hatte sie ihr verbunden. Jetzt verstand sie, dass der Tag nicht anbrechen würde. Vielleicht nie wieder. Es war nicht Nacht, es war das Entsetzen. Sie versuchte, gegen die unheimliche Angst anzukämpfen, die von ihr Besitz ergriff.
Das hier war kein Spiel.
Nachdem es ihr kaum gelungen war, aus dem Nebel aufzutauchen, der ihr Bewusstsein und ihren Körper betäubte, wünschte sie sich jetzt, sie würde erneut wegdämmern. Vielleicht gelänge es ihr, an einem anderen Ort wieder aufzuwachen, zum Beispiel im behaglichen Komfort des Zimmers einer Freundin. Doch ihr Verstand wurde immer klarer, angestachelt von den stechenden Schmerzen, die ihren ganzen Körper durchfuhren. In ihrem Kopf nahm ein Wort Gestalt an, ein unmögliches, unbegreifliches Wort. Sie wollte es nicht zulassen.
Sie versuchte, sich zu erinnern, aber da war nichts Deutliches. Nur das Gefühl, wie sie im Auto mit dem Kopf an der Scheibe eingeschlafen war, sanft hin- und hergeschaukelt auf den Kurven einer Landstraße. War das eine neue Erinnerung, oder lag sie schon weit zurück? Als Kind hatte sie sich gern im Auto vom Schlaf einlullen lassen, wenn sie nach einem glücklich bei ihren Großeltern verbrachten Sonntag nach Hause fuhren. Sie sah das Licht der Scheinwerfer vor sich, die die schwarze Nacht auf dem Land in Holland durchbrachen. Sie erinnerte sich an das Surren des Motors und an die ruhigen Stimmen ihrer Eltern. Dieses Mal war sie jedoch nicht auf der Rückbank eingeschlafen, sondern auf dem Beifahrersitz. Zumindest diese Erinnerung war klar und deutlich.
Sie litt, aber sie erinnerte sich an keine Gewalt. Sie vertiefte sich in die Signale ihres Körpers. Es schmerzte vor allem dort, wo die Fesseln saßen. Sie horchte in ihre durch die immer unbequemer werdende Position steifen Gliedmaßen hinein. Dann unternahm sie gedanklich eine Überprüfung ihres Kopfes. Hier fühlte sich der Schmerz wie eine Migräne an, nicht wie durch einen Aufprall ausgelöst. Sie war nicht geschlagen worden. Sie wanderte hinunter zwischen ihre Beine. An dieser intimen Stelle tat ihr nichts weh, nicht der kleinste Anflug eines Brennens war zu spüren. Sie war nicht vergewaltigt worden.
Das Wort drängte sich ihr plötzlich auf. Es gab keinen Zweifel: eine Entführung. Sie war entführt worden.
Aber warum?
Sie bewegte leicht den Kopf, rieb das Gesicht auf der Matratze, um dieses verfluchte Tuch abzustreifen, das das Tageslicht vor ihr verbarg. Dann erstarrte sie. Erinnerungen an Fernsehkrimis kamen ihr in den Sinn. Wenn die Entführer ihrer Geisel die Augen verbunden hatten, dann nur, damit sie sie nicht wiedererkannte. Nachdem sie sie freigelassen hatten.
Sie wollten sie also freilassen.
Nur wann?
Das war gerade nicht wichtig. Sie hatte einen Hoffnungsschimmer entdeckt. Einen Lichtstrahl. Es handelte sich also doch um eine Art Spiel. Ein grausames Spiel. Als das würde sie es betrachten. Sie war bereit, voller Hingabe mitzuspielen. Sie würde die Regeln lernen und sie genauestens befolgen.
Alles würde gut ausgehen.
Spätestens in ein paar Tagen wäre sie wieder zu Hause. Sie würde in ihre kleine Wohnung in Amsterdam zurückkehren und ihre Eltern fest in den Arm nehmen.
Gerade als sie diese ermutigenden Gedanken halblaut aussprach, hörte sie, wie ein Schlüssel im Schloss gedreht wurde.
Wer hatte sie nur entführen können? Sie hatte eine Ahnung, stieß den Gedanken jedoch entsetzt von sich.
Die Tür quietschte, und Ingrids Tränen verloren sich im groben Stofftuch auf ihren Augen.
»Kannst du mir bitte einen Gefallen tun, Gilles?«
Jacques Molina sah betont auf seine Uhr, als er merkte, dass sein Kollege zögerte. Es war ziemlich spät, um bei der Arbeit anzukommen.
»Natürlich revanchiere ich mich auch dafür«, beharrte er.
Jacques Molina und Gilles Sebag waren seit vier Jahren ein Team. Sie teilten sich das Büro und ermittelten oft gemeinsam, sie verstanden sich gut, waren aber nicht befreundet. Dazu waren sie viel zu verschieden. Sie unterstützten und respektierten einander. Und sie waren beide der Meinung, dass das gar nicht so schlecht war.
»Was kann ich für dich tun?«
»Es war gerade eine junge Frau da, die behauptet, ihr Mann sei verschwunden. Die Angelegenheit scheint … interessant, aber ich muss unbedingt los. Bin in Eile, eine wichtige Verabredung heute Mittag. Ich wäre dir unendlich dankbar, wenn du sie mir warmhalten könntest.«
»Wie meinst du das, ›warmhalten‹?«
Jacques zwinkerte ihm verschwörerisch zu.
»Ich hatte gerade mal genug Zeit, die Eckdaten ihrer Aussage aufzunehmen. Vielleicht kannst du an den Details feilen und mir dann sagen, was du davon hältst. Ich verfolge das Ganze dann später weiter.«
Gilles stieß einen langen Seufzer aus.
»Kein Problem, ich kümmere mich drum.«
Sein Kollege war begeistert.
»Wusste ich’s doch, dass ich auf dich zählen kann. Wir unterschreiben beide den Bericht, als hätten wir uns gemeinsam den ganzen Vormittag damit beschäftigt, so wie immer.«
»Wie immer«, entgegnete Gilles matt.
Er war nicht besonders stolz auf sich. Nicht besonders stolz auf sie beide.
»Na los, hau schon ab, du kommst zu spät.«
»Danke. Bis später.«
Jacques hatte schon auf dem Absatz kehrtgemacht und war fast aus der Tür. Gilles rief ihm hinterher:
»Brünett oder blond?«
Jacques wedelte mit dem Arm und antwortete, ohne sich umzudrehen:
»Die Verabredung blond, die Aussage brünett.«
»Also, Sie heißen Sylvie Lopez, geborene Navarro. Sie sind vierundzwanzig und wohnen in der Rue du Vilar in Perpignan. Sie arbeiten als Putzkraft in einem Unternehmen für Industriereinigung. Sie sind seit … drei Jahren verheiratet, und ihre Tochter wurde vergangenen Januar geboren.«
Inspecteur Gilles Sebag sah von den Notizen seines Kollegen auf und betrachtete die junge Frau. Sie hatte tatsächlich braunes Haar, einen Bubikopf wie die Stummfilmschauspielerin Louise Brooks. Ihr hübsches trauriges Gesichtchen wurde von großen dunklen Augen erhellt. Müden, feuchten Augen. Er begriff, was Jacques unter einer »interessanten Angelegenheit« verstand.
»Ihr Mann heißt José und ist Taxifahrer. Er ist seit zwei Tagen nicht nach Hause gekommen. Stimmt das so weit?«
Sie bestätigte seine Worte mit einem schüchternen Nicken.
»Erzählen Sie mir alles«, fuhr er fort. »Wann Sie ihn zuletzt gesehen haben, was Sie zueinander gesagt haben, wann Sie begonnen haben, sich Sorgen zu machen, und so weiter.«
Die junge Frau strich sich mit der rechten Hand den Rock glatt und stürzte sich in ihren Bericht.
»Ich habe ihn Dienstagmittag das letzte Mal gesehen. Ich wollte gerade los zur Arbeit, und er musste auch los. Wir arbeiten beide nachmittags und abends. Oder besser gesagt, ich arbeite so und er hat sich an meine Zeiten angepasst. Bei seinem Beruf ist das leichter, verstehen Sie, er ist selbständiger Taxifahrer und kann seine Schicht frei einteilen.«
Sie zog an einem Faden ihres Rocksaums und redete weiter.
»Ich bin gegen halb elf nach Hause gekommen, nachdem ich die Kleine von meinen Eltern abgeholt hatte. Ich habe sie ins Bett gebracht und Essen gemacht und dabei ferngesehen. José kommt normalerweise gegen halb zwölf nach Hause. Er wartet auf den letzten Zug am Bahnhof von Perpignan.«
Sie hob leicht den Blick und sah Gilles von unten aus an. Er sagte nichts. Machte keine Geste. Zeugen mussten von sich aus erzählen.
»Um Mitternacht war er immer noch nicht zurück. Ich habe mir gesagt: Das sind gute Nachrichten, sein letzter Kunde hat eine lange Fahrt verlangt. Um diese Uhrzeit gilt schon der Nachttarif, und lange Fahrten bringen da viel ein, verstehen Sie? José fährt noch nicht lange Taxi, da ist das nicht so leicht. Das Auto muss noch abbezahlt werden, die Lizenz, das Benzin, das ist wirklich hart. Na ja, meine Eltern helfen uns auch aus …«
Er gestattete es sich, ihr ermutigend zuzunicken. Ein Minimum an Entgegenkommen. Sie hatte einen Exkurs zu ihrer finanziellen und familiären Lage begonnen. Nun musste sie selbst entscheiden, ob sie ihn sofort beenden wollte.
»Um Mitternacht habe ich dann beschlossen zu essen. Ich darf nicht zu spät ins Bett gehen. Die Kleine wacht morgens immer gegen sechs auf, und sie weint nachts oft mehrmals, da sieht es mit dem Schlaf schlecht aus, verstehen Sie?«
Das verstand er sehr gut, und er signalisierte ihr das mit einem Blinzeln.
Sie redete nicht sofort weiter, sondern klappte ihren Rocksaum um, als wollte sie seine Beschaffenheit überprüfen. Pausen konnten genau wie Abschweifungen sehr bedeutsam sein.
»Jenny, das ist die Kleine, sie heißt Jennifer, aber wir nennen sie Jenny, jedenfalls hat sie in der Nacht überhaupt nicht geweint, und sie ist später als sonst aufgewacht, erst kurz vor sieben. Das ist erst ein- oder zweimal passiert, seitdem sie auf der Welt ist.«
Sie schien stolz auf ihre Tochter zu sein. So stolz sogar, dass sie es wagte, die Untersuchung ihres Rocksaums zu unterbrechen und den Inspecteur anzusehen. Er lächelte sie an. Er erinnerte sich noch gut an die ersten Wochen mit Léo, und wie der Schlaf und die Mahlzeiten eines Säuglings die Höhen und Tiefen eines Haushalts bestimmen konnten.
»Ich … ich habe mich um die Kleine gekümmert«, fuhr die junge Frau fort, »habe ihr ihr Fläschchen gegeben. Und weil José immer noch nicht zurück war, habe ich ihn auf dem Handy angerufen. Aber es ging nur die Mailbox ran.«
»Wie spät war es, als Sie ihn angerufen haben?«
»Ähm, das weiß ich nicht mehr so genau. Vielleicht acht oder neun Uhr.«
Gilles richtete sich auf, stützte die Ellenbogen auf den Tisch und hielt die gefalteten Hände vor sein Kinn. Er fragte, als handelte es sich um eine Selbstverständlichkeit:
»Und Sie haben ihm eine Nachricht hinterlassen?«
»Ja … Nein«, stammelte sie. »Also, nicht sofort. Ich musste putzen und bügeln. Ich habe ein paar Dinge erledigt und mit Jenny gespielt.«
»Sie haben sich keine Sorgen gemacht?«
»Eigentlich nicht … Noch nicht.«
Gilles versuchte sich vorzustellen, wie es bei ihm ausgesehen hätte, wäre er eines Abends nicht nach Hause gekommen. Claire hätte nicht bis zum nächsten Morgen mit einem Anruf gewartet. Sie hätte ihn noch am selben Abend angerufen und ihm Nachrichten hinterlassen. Wahrscheinlich hätte sie vor Sorge schlecht geschlafen. Polizist war ein gefährlicher Beruf, aber noch gefährlicher war Taxifahren. Die Straße hat mehr Leute auf dem Gewissen als Kleinkriminelle.
Man konnte das Paar hier jedoch nicht mit Claire und ihm vergleichen. Er selbst wäre niemals eine ganze Nacht lang fortgeblieben, ohne seiner Frau Bescheid zu geben.
»Wann haben Sie begonnen, sich Sorgen zu machen?«
Die Frage schien das Vertrauen, das sich zwischen ihnen aufgebaut hatte, zu zerschlagen. Sylvie Lopez senkte wieder den Kopf und studierte weiter ihren Rocksaum.
»Also, äh, im Laufe des Vormittags. Ich hatte es noch mal auf dem Handy versucht, eine Nachricht hinterlassen, und als er sich dann immer noch nicht gemeldet hat, da habe ich mir dann Sorgen gemacht.«
»Und was haben Sie da gedacht?«
Gilles Sebag wollte die junge Frau nicht drängen. Er hielt nichts davon, Zeugen unter Druck zu setzen.
»Ich erinnere mich nicht genau«, erklärte Sylvie Lopez nach kurzem Zögern. »Ich stand etwas dumm da: Es war schon spät, und ich musste los zur Arbeit.«
»Sie haben sich also im Grunde nur deswegen Sorgen gemacht.«
Sie ließ abrupt von ihrem Rocksaum ab und strich den Rock wieder glatt.
»Im Grunde ja.«
Gilles betrachtete sie. Er wartete ein paar Sekunden ab, ob sie ihn wieder ansehen würde. Er ließ seine Stimme so warm wie möglich klingen und nahm seinen verständnisvollsten Tonfall an. Auch wenn er bisher nicht indiskret gewesen war, musste er nun doch deutlicher nachfragen.
»Es war nicht das erste Mal, dass er außer Haus übernachtete?«
Das Kinn der jungen Frau begann zu zittern. Sie sah ihn mit vor Scham glänzenden dunklen Augen an.
»Es war nicht das erste Mal, nicht wahr?«, fragte er noch einmal.
»Nein«, gab sie mit einem Hauchen zu.
Tränen traten der jungen Frau in die Augen und liefen ihr langsam über die eingefallenen Wangen. Sie schniefte. Gilles öffnete seine oberste Schublade und holte eine Packung Taschentücher hervor. Die letzte. Er musste neue kaufen. Die Verwaltung stellte kostenlos Munition zur Verfügung, hatte aber keine Taschentücher vorgesehen. Dabei waren sie im Alltag viel nützlicher.
Sylvie Lopez putzte sich ausgiebig die Nase. Gilles wartete, bis sie fertig war.
»Hat Ihr Mann eine Geliebte?«
Sylvie zuckte zusammen. Sie nahm Anstoß an dem Begriff. Als richtete Gilles einen Scheinwerfer auf eine Situation, die sie bisher verleugnet hatte. Solange man die Dinge und die Menschen nicht beim Namen nannte, verhalf man ihnen auch nicht zu ihrer Existenz. Und man verhinderte, dass sie zu viel Einfluss auf einen nahmen.
»Nein … Ich glaube nicht, dass man das so sagen kann.«
Sie suchte nach den richtigen Worten und hätte ihre Gedanken gern ausformuliert, aber sie musste zunächst einmal ein wenig Licht ins Dunkel bringen und anfangen, den Tatsachen ins Auge zu sehen.
»Ich glaube, dass er ein paar … flüchtige Affären gehabt hat, nichts von Bedeutung. Ich glaube nicht, dass er eine, äh, wie soll ich sagen, eine längere Beziehung gehabt hat. Das hätte ich bemerkt.«
Sie wischte sich mit dem Taschentuch über die Augen. Ihre Wimperntusche war zerlaufen und hatte Spuren auf ihren Wangen hinterlassen. Es gelang ihr nicht, alles wegzuwischen. Gilles wäre gern aufgestanden, um ihr zu helfen.
»Haben Sie mit Ihrem Mann über seine … Affären gesprochen?«, erkundigte er sich.
Sie schüttelte den Kopf. Gilles bemühte sich nicht, seine Überraschung zu verbergen.
»Sie scheinen keine Probleme zu haben, die Situation zu akzeptieren.«
Sie zuckte mit den Schultern.
»Wozu hätten wir darüber reden sollen?«
Sie schnäuzte sich nochmals, und da Gilles schwieg, fühlte sie sich gezwungen, die Situation weiter zu erläutern.
»Ich denke, dass Männer manchmal andere Bedürfnisse haben als Frauen. Und außerdem glaube ich, dass es ihm ein bisschen Angst eingejagt hat, Vater zu werden. Vielleicht musste er versuchen, sich zu beruhigen, keine Ahnung. Haben Sie Kinder?«
Er hütete sich davor zu antworten.
»Und wenn er dann nach Hause kam und nett zu mir war, nett zu uns war, dann hatte ich doch keinen Grund mehr, mich zu beklagen, oder?«
Gilles fand Sylvie Lopez und ihre einer vergangenen Ära entstammende Naivität rührend. So wie sie es beschrieb, klang es wie etwas vollkommen Gewöhnliches. Ihr Ehemann war wirklich der König der Idioten, fand Gilles. Eine Frau wie sie, die verließ man nicht. Er kritzelte ein paar Stichworte in sein Notizheft. Ein kleines blaues Schreibheft mit großen Kästchen. Seine Notizen wären wertvoll, wenn er später die Aussage so wortgetreu wie möglich aufschreiben musste.
»Weshalb denken Sie, dass Ihr Mann nicht einfach zwei Nächte hintereinander woanders übernachtet hat?«
»Als ich nichts von ihm hörte, habe ich ein paar seiner Kollegen angerufen. Ich kenne zwei oder drei, die mal zu uns nach Hause gekommen sind. Ich habe gesagt, dass die Kleine krank wäre und ich ihn dringend sprechen muss, er aber sein Handy verloren hat. Aber den ganzen Mittwoch über hat ihn niemand gesehen.«
Gilles wog ab, was er sagen sollte, damit er sie nicht verletzte.
»Möglicherweise, wenn ich das so sagen darf, hat er auch den ganzen Tag ›übernachtet‹.«
Sie schüttelte energisch den Kopf. Eine Haarsträhne verklebte sich in ihrer feuchten Wimperntusche.
»Das halten Sie für unmöglich?«, hakte er nach.
»Er hätte doch angerufen, sich nach der Kleinen erkundigt …«
»Vielleicht hatte er Angst.«
Ihre großen dunklen Augen wurden noch größer, wie zwei schwarze Murmeln.
»Angst wovor?«
»Vor Ihnen.«
»Aber wieso? Ich fordere doch nichts von ihm.«
»Sie hätten ihm keine Szene gemacht? Und Sie hätten ihn wieder gehen lassen, ohne etwas zu sagen?«
Ihre beiden dunklen Murmelaugen hielten seinen Blick fest. Sie wollte ihn überzeugen.
»Wozu hätte ich ihm eine Szene machen sollen? Dann hätten wir ihn vielleicht für immer verloren. Und außerdem, wenn er uns endgültig verlassen wollen würde, dann könnte er doch nach Hause kommen und es uns sagen, oder?«
»Selbst die hartgesottensten Männer sind manchmal feige«, bemerkte Gilles ironisch. »Vielleicht hat er sich nicht getraut, es Ihnen zu sagen?«
Sie dachte ein paar Augenblicke über sein Argument nach, fegte es dann jedoch mit einer energischen Kopfbewegung fort.
»Nein, das glaube ich nicht, wirklich. Sie müssen mir glauben, Monsieur l’Inspecteur, ihm ist etwas zugestoßen. Ich weiß es, ich kann es spüren. Etwas Schlimmes.«
Nach dem Mittagessen las Gilles noch einmal die Vermisstenanzeige durch, die Sylvie Lopez aufgegeben hatte. Sie hatten sie gemeinsam mit einer knappen Personenbeschreibung Josés vervollständigt: um die dreißig Jahre alt, 1,75 m groß, stämmig, dunkle Augen, dichte braune Haare und Augenbrauen, ein Muttermal im Nacken. Sie hatten die Kleidung festgehalten, die er am Tag seines Verschwindens getragen hatte – eine leichte hellbraune Hose und ein himmelblaues Hemd. Dann hatte Gilles das Protokoll von der jungen Frau unterzeichnen lassen und sie mit ein paar beruhigenden Worten, die sie nicht im Geringsten beruhigen konnten, nach Hause geschickt.
Er war ratlos.
Die Besorgnis der jungen Ehefrau hatte ihn schließlich angesteckt. Es gelang ihm nicht, ihre tiefschwarz glänzenden sanften Augen und ihren flehenden Blick aus seinem Kopf zu vertreiben. Was brachte ihn dazu, diese Angelegenheit weiter zu verfolgen? Seine Intuition, die sagte, dass sich hinter dem Verschwinden tatsächlich etwas Furchtbares verbarg, oder die Sympathie, die er für die junge Frau empfand?
Er wählte gerade die Handynummer des vermissten Ehemanns, als sein Telefon auf dem Schreibtisch klingelte. Es war Commissaire Castello. Sein Chef.
»Ah, Sebag, na endlich … Kommen Sie bitte in mein Büro.«
Gilles hatte es zwar bereits an Castellos Tonfall erkannt, doch der Commissaire wurde noch deutlicher:
»Sofort.«
Das Büro des Commissaires befand sich im dritten Stock, direkt über seinem eigenen. Er eilte die Treppe hinauf. Die Tür stand offen, aber er wartete brav im Türrahmen.
»Herein«, forderte Castello ihn auf, »und schließen Sie bitte die Tür.«
Gilles kam seiner Bitte nach. Da er Vorwürfe aufgrund seiner morgendlichen Abwesenheit befürchtete, versuchte er seinem Chef zuvorzukommen.
»Und, wie läuft das Training? Sind Sie in Form?«
Der Inspecteur und der Commissaire waren sich mehrmals auf Wettläufen begegnet. Auf der Startlinie. Gilles, der jünger und trainierter war, lief weit vorneweg. Aber Castello machte trotz seiner guten fünfzig Jahre Fortschritte. Er wollte unbedingt eines Tages einen Marathon laufen, Paris oder New York, in ein oder zwei Jahren. Gilles überschüttete ihn mit Ratschlägen und Ermunterungen. Er selbst konnte drei Marathonläufe vorweisen.
Castello ließ sich nicht von der Frage seines Untergebenen ablenken.
»Sagen Sie, Gilles, ich habe Sie heute Vormittag nicht antreffen können.«
»Brauchten Sie mich?«, wich er aus.
»Ja, ich hatte ein Telefonat mit Capitaine Marceau, dem Zollverantwortlichen, Sie wissen schon, wegen dieser Zigarettenschmuggelgeschichte.«
»Geht es voran in dem Fall?«
»Schleppend, aber Marceau hat trotzdem vor, eine Razzia in einer Lagerhalle in der Nähe des Marché Saint-Charles und in einigen Kneipen in Perpignan durchzuführen. Da werden sie uns wahrscheinlich brauchen.«
Nach einigen erfolgreichen Beschlagnahmungen im Frühjahr hatte der Zoll festgestellt, dass eine kleine Bande lokaler Übeltäter dabei war, ein regelrechtes Netzwerk für illegalen Zigarettenhandel auf die Beine zu stellen. Dabei profitierten sie von den enormen Preisunterschieden dies- und jenseits der Pyrenäen.
»Ist es nicht ein bisschen früh für eine Razzia?«, fragte Gilles.
»Wahrscheinlich. Aber die Préfecture setzt uns unter Druck. Die Regierung will schnelle Ergebnisse.«
Es war ein politisch sensibles Thema. Seit der Preiserhöhung für Zigaretten in Frankreich zu Beginn des neuen Jahrtausends schlossen die Bureaux de Tabac im Roussillon einer nach dem anderen, während die Verkäufe im Grenzort Le Perthus sich verdoppelten. Die Hauptschuldigen waren dabei allerdings nicht die Schwarzhändler, sondern die Privatpersonen, die sich in Spanien eindeckten. Zwanzig Euro Ersparnis pro Stange, da war die Fahrt schnell getilgt. Weil sie unmöglich alle Raucher anhalten konnten, wollte die Préfecture ein Exempel statuieren, indem sie den Schmuggel stoppte.
»Wenn die Zölle zu schnell handeln, dann wird es womöglich ein Schlag ins Wasser«, bemerkte Gilles.
»Ich weiß, das habe ich Marceau auch gesagt. Aber wenn die Politik sich einmischt …«
»Dann muss man sich ein bisschen Mühe geben, ist es das?«
»So könnte man es ausdrücken«, gab Castello lächelnd zurück.
Gilles nickte unwillig. Wenn sich die Politiker ernsthaft des Problems annehmen wollten, würde es genügen, die Steuerpolitik der zwei Staaten aufeinander abzustimmen. Der Schmuggel hätte sofort ein Ende. Dann könnten sich die Zollbehörden auf gefährlichere Mauscheleien konzentrieren und die Polizei auf echte Kriminalität. Die man nicht durch eine simple Verordnung des Ministeriums beilegen konnte. Diebstahl, Überfälle, brennende Autos. Was die Leute wirklich betraf.
»Marceau teilte mir mit, dass unser Minister von der Gelegenheit profitieren und für eine Presseaktion herkommen will«, fügte Castello hinzu.
»Ich kann mir schon vorstellen, wie das abläuft«, murrte Gilles. »Wir stellen mal eben ein großes Zelt auf, in Zusammenarbeit mit dem Zoll und vielleicht sogar der Gendarmerie. Wir wirbeln ordentlich Staub auf, nehmen eine Handvoll Schwarzhändler fest und beschlagnahmen ein paar Stangen Zigaretten. Und was dabei wichtig ist, das sind nicht die Ergebnisse des Unterfangens, sondern die Medienwirksamkeit.«
»Na, na! Mit dieser Art von Einstellung werden Sie aber nicht Karriere machen.«
Gilles unterdrückte ein Auflachen. Seine Karriere, darunter hatte er schon vor langer Zeit einen Schlussstrich gezogen. Oder besser gesagt, man hatte ihn dazu gezwungen, das zu tun.
»Bereuen Sie heute nicht Ihre Entscheidung von damals?«, fragte ihn der Commissaire plötzlich.
Gilles verschränkte unruhig die Arme. Er hatte keine Lust, darüber zu reden. Castello strich sich über den leicht ergrauten Bart. Er war etwas lang geraten. Ebenso seine Haare. Sie reichten dem Commissaire schon bis in den Nacken. Er nahm einen Stift und stellte ihn in einen Tontopf, den Gilles nur zu gut kannte. Er hatte den gleichen erhalten, als er an der Ronde Cérétane teilgenommen hatte, einem berühmten Laufwettkampf des Départements.
»Ich hatte bisher noch nicht die Gelegenheit, es Ihnen zu sagen, aber ich finde, dass es eine mutige Entscheidung war.«
Diese Bemerkung überraschte Gilles. Es war das erste Mal, dass ihm jemand dazu gratulierte. Bisher hatte er eher den Eindruck gehabt, man würde ihn wie einen Ausgestoßenen betrachten. Von einem Tag auf den anderen war aus einem jungen, vielversprechenden Polizisten ein nicht sonderlich ambitioniert wirkender Kollege geworden. Und das musste nicht einmal ausgesprochen werden.
Der Commissaire fuhr mit ernsthaftem Tonfall fort:
»Als ich die Dinge endlich begriffen habe, war es zu spät.«
Castello lebte von seiner Frau getrennt. Sie hatte sich geweigert, ihm nach Perpignan zu folgen, da sie lieber in Paris bleiben wollte. Das Scheidungsverfahren lief, so viel hatte Gilles erahnen zu können geglaubt. Der Commissaire hatte zwei ältere Söhne, der eine studierte Medizin, der andere war am Lycée in der Abschlussklasse. Castello hatte bisher nie durchblicken lassen, dass die Einsamkeit und die Entfernung ihm zu schaffen machten: Ein wenig wie ein Vater war ein Chef es einem schuldig, stark und ohne Gemütszustand zu sein. Gilles vertrat ebenfalls diese Meinung und war nicht darauf aus, noch weitere Vertraulichkeiten anzuregen.
»Ihre Kinder sind jetzt groß«, fuhr Castello fort, »da habe ich an eine kleine Beförderung für Sie gedacht.«
»Gott bewahre!« Gilles erschrak.
Der Commissaire runzelte die Stirn. Seine Augenbrauen waren erstaunlich braun geblieben, während sein Bart und seine Haare ergraut waren.
»Sie wissen, dass ich Sie faktisch als Koordinator der Inspecteurs betrachte. Koordinator und Chef, das ist in der Praxis dasselbe, offiziell aber sehr unterschiedlich. Und das Gehalt ist auch nicht das gleiche.«
Gilles wich Castellos Blick aus. Er wollte diesen Posten und die damit einhergehende Verantwortung nicht. Aber er hatte kein Argument parat, das in den Augen seines Chefs Bestand hätte.
»Ich … Mir gefällt es sehr gut so, wie es ist.«
Castello kratzte sich flüchtig an der Nasenspitze.
»Denken Sie darüber nach. Ihre Kinder sind bald in dem Alter, in dem sie studieren, und dann werden Sie sehen, dass das Gehalt eines einfachen Inspecteurs nicht mehr ausreicht.«
»Léo ist erst in der zehnten Klasse. Und meine Frau arbeitet auch.«
»Die Zeit vergeht immer schneller, als man denkt. Und bis Ihr Sohn seinen Schulabschluss macht, wäre die Stelle schon vergeben.«
Gilles nickte, um Ernsthaftigkeit bemüht.
»Ich verspreche Ihnen, darüber nachzudenken«, willigte er ein.
Der Commissaire begnügte sich mit dieser Antwort, doch Gilles wusste, dass er verstimmt war. Seine nächste Frage bestätigte es ihm.
»Wo waren Sie denn eigentlich heute Vormittag?«
»Unterwegs mit Molina, ähm, eine interessante Angelegenheit, glaube ich zumindest.«
»Ich höre.«
Gilles war sich bewusst, dass er sich auf dünnes Eis begab.
»Ein Taxifahrer, der auf mysteriöse Art und Weise verschwunden ist.«
»Auf mysteriöse Art und Weise? Na, so was. Schon lange?«
Er überschlug es schnell im Kopf. Sylvie Lopez hatte ihren Mann seit Dienstagmorgen nicht gesehen. Zwei Tage Abwesenheit reichten aus, um eine Gattin zu beunruhigen, nicht, um die Routine eines Polizisten durcheinanderzubringen.
»Seit mehr als zweiundsiebzig Stunden«, übertrieb er.
»Soso. Ich nehme an, dass Sie eine Suche im Interesse der Familien eingeleitet haben?«
Das Gesetz bot der Polizei mehrere Handlungsmöglichkeiten. Die Suche im Interesse der Familien beschränkte sich auf eine behördliche Untersuchung innerhalb des jeweiligen Départements. Eine Art Minimaldienstleistung. Für Volljährige war das die gängigste Vorgehensweise.
»Das wollte ich gerade tun, als Sie mich angerufen haben. Ich habe mich auch gefragt, ob ich den Vermissten in die Datei der gesuchten Personen eintragen lassen soll.«
»Jetzt schon?«
Castello legte mechanisch zwei gestreckte Finger an die Lippen.
»Zweiundsiebzig Stunden sind schon ziemlich lang«, fuhr er fort, »wahrscheinlich ein bisschen zu lang für eine simple Affäre.«
»Das fanden Molina und ich auch. Dahinter könnte noch etwas anderes stecken.«
»Was denn?«
»Ich bin nicht sicher. Es gibt tatsächlich ein paar Details, die nicht zu einem Durchbrennen oder einem einfachen Ehebruch passen.«
Gilles zögerte. Je größer die Lüge, umso glaubwürdiger, pflegte Jacques zu sagen.
»Den ersten Ergebnissen unserer Ermittlungen nach zu urteilen fuhr der Taxifahrer ziemlich viel zwischen Spanien und Frankreich hin und her.«
»Glauben Sie, dass er in Zigarettenschmuggel verwickelt ist?«
»Ich bin natürlich nicht sicher, aber das Ganze macht einen merkwürdigen Eindruck auf mich«, antwortete Gilles.
»Ihr Instinkt?«
Castello war ein überzeugter Anhänger des Instinkts. Gilles sprach lieber von Intuition, aber alles weiblich Konnotierte schien ganz und gar nicht gut beim Commissaire anzukommen.
»Ja, vielleicht … Irgendetwas stimmt bei dieser Sache nicht.«
Er log nicht gern. Die Gewohnheit in diesem Bereich hatte ihm ein gewisses Talent beschert, jedoch keinerlei Trost.
»Handeln Sie, wie Sie es für richtig halten«, gestand Castello ihm zu.
Er legte erneut die Finger an die Lippen.
»Hätten Sie eine Zigarette?«, fragte er unvermittelt.
»Ich dachte, Sie hätten aufgehört.«
»Ja, wie jede Woche«, grummelte der Commissaire. »Und wie jede Woche habe ich am nächsten Tag wieder angefangen.«
Gilles ließ eine Zigarette aus seiner Schachtel hervorlugen und hielt sie ihm hin. Castello griff nach der Packung und las laut das Etikett.
»Fumar puede matar. Sie kaufen Ihre Zigaretten also auch in Le Perthus?«
»Ich fahre gelegentlich dorthin, wie jeder andere auch. Ich rauche nicht viel.«
Castello legte die Schachtel auf seinen Schreibtisch und hielt sich die Zigarette an die Lippen. Gilles holte ein Feuerzeug hervor und hielt ihm die Flamme hin.
»Wie das Sprichwort sagt: Kein Rauch ohne Flamme.«
Der Commissaire bedachte ihn mit einem sparsamen Lächeln. Er schloss die Augen und zog lang und genüsslich an seiner Zigarette. Der Rauch hüllte sein Gesicht in einen bläulichen Dunst.
»Wie gut das tut, dieses verdammte Laster«, bemerkte er, als er die Augen wieder öffnete. »Und sogar noch besser nach ein paar Tagen Enthaltsamkeit. Und trotzdem … Man sollte nie abhängig von seinen schlechten Angewohnheiten sein. Oder von seinen Entscheidungen.«
Langsam inhalierte er ein weiteres Mal.
»Ich habe es Ihnen schon einmal gesagt, und ich sage es noch einmal: Ich respektiere die Entscheidung, die Sie vor ein paar Jahren getroffen haben. Sie sind ein guter Polizist, Gilles, aber ein guter Polizist ist nichts ohne ein Minimum an Ansporn.«
Gilles legte das Feuerzeug neben die Zigarettenschachtel auf den Schreibtisch.
»Ich lasse es Ihnen hier, Chef. Ich habe Dutzende dieser Feuerzeuge. Die geben sie einem in Le Perthus umsonst mit.«
»Wenn Sie sich für eine Sache einsetzen, dann sind Sie der Beste, Gilles, aber auch nur dann.«
»Was für ein Glück, dass sie einem in Spanien die Feuerzeuge dazugeben, sonst hätten wir womöglich auch noch Feuerzeugschmuggel am Hals …«
Gilles unterbrach sich. Castello kratzte sich an der Nase und biss sich gleichzeitig auf die Lippe. Das war ein sehr schlechtes Zeichen.
»Ich habe immer an Ihren Instinkt geglaubt, und ich hoffe, dass ich das weiterhin tun kann. Ich wünsche mir bald handfeste Beweise, was dieses ›mysteriöse‹ Verschwinden des Taxifahrers angeht.«
Gilles nickte zustimmend. Er drehte sich um und ging Richtung Tür. Castello hielt ihn auf.
»Noch eine letzte Sache, Sebag.«
»Ja, Monsieur.«
»Wenn ich sage bald, dann meine ich vor morgen Abend. Verstanden?«
Bei Gilles Sebag zu Hause war alles seltsam still. Er ging ins Wohnzimmer. Die Fenstertür stand offen.
Er wohnte in Saint-Estève, einem nahegelegenen Vorort von Perpignan. Das Haus war in U-Form angelegt und zur Terrasse und zum Pool nach Süden ausgerichtet. Auf der Ostseite befanden sich das Arbeitszimmer und das Schlafzimmer der Eltern mit angrenzendem Bad; im Westen lagen die Kinderzimmer und ein großes Badezimmer. Dazwischen lag der Gemeinschaftsbereich: ein großes Wohnzimmer mit amerikanischer, offener Küche. Das Haus verfügte auch über eine Garage, doch Gilles hatte sie so unterteilt, dass sie als Waschküche und als Fitnessraum diente.
Er trat auf die Terrasse. Niemand in Sicht. Das Wasser im Pool kräuselte sich unter der leichten Brise. Einige Aprikosenbaumblätter trieben auf der Oberfläche. Er ging wieder ins Haus.
Drinnen öffnete er die Bar, nahm die Flasche Pastis heraus und gab ein paar Tropfen in ein großes Glas. Er fügte drei Eiswürfel hinzu und rundete das Ganze mit Leitungswasser ab. Er trank einen Schluck. Der Drink war noch zu warm.
Er rief:
»Claire!«
Keine Antwort. Er rief nochmals.
»Claire!«
Eine helle Stimme erreichte ihn vom anderen Ende des Hauses.
»Sie ist nicht da, Papa. Ich bin allein zu Hause.«
Er ging durch den Westflügel – das Wort klang so prunkvoll, das gefiel ihm – bis zu Séverines Zimmer. Er klopfte, wartete aber ihr »Herein!« nicht ab. Seine Tochter saß an ihrem Schreibtisch und erledigte ihre Hausaufgaben. Er konnte nur ihren braunen Wuschelkopf sehen.
Er drückte ihr einen Kuss auf den Nacken.
»Ist Maman nicht da?«
»Nein, sie hat eine Schulkonferenz.«
»Eine Schulkonferenz? So kurz vor den Ferien?«
»Du hast recht, es ist keine Schulkonferenz. Ich glaube, es ist eher eine Disziplinarkonferenz, irgendwie so was.«
»Ach so. Und Léo?«
»Papa … Der ist beim Basketball in Perpignan. Wie jeden Donnerstag.«
»Stimmt ja. Muss ich ihn abholen, oder ist er mit seinem Roller gefahren?«
»Er hat den Roller genommen.«
Gilles wusste nicht, ob er erleichtert sein sollte, dass er nicht noch einmal losmusste, oder ob er Angst um seinen Sohn haben sollte, der mit seinem grauenvollen Gefährt auf den Straßen unterwegs war. Gilles hatte ihm keinen Roller kaufen wollen, aber am Ende eines erbitterten Kampfes hatte er Claires Drängen nachgeben müssen. Man wird von seiner eigenen Frau immer noch am besten verraten. Oder besser gesagt von ihren Reizen. Er sah noch vor sich, wie Claire sich eines Abends in einer großzügig ausgeschnittenen Bluse zu ihm herunterbeugte. Sie hatte sich auf seinen Schoß gesetzt, und es war ihr schließlich gelungen, ihm sein Einverständnis abzuringen. Wer konnte da noch behaupten, Männer wären das stärkere Geschlecht?
Séverine widmete sich wieder ihren Hausaufgaben. Sie war in der Cinquième, der siebten Klasse. Eine gute Schülerin, um die man sich keine Sorgen machen musste. Gilles legte ihr die Hände auf die schmalen Schultern und beugte sich über ihr Heft.
»Hast du am letzten Tag vor den Ferien noch Hausaufgaben auf?«
»Nein, eigentlich nicht, aber das Thema interessiert mich: Karl der Große und das Fränkische Reich.«
»O ja, Karl der Große, die missi dominici, die Gesandtschaften, der Frieden von Aachen, die Krönung im Jahre 800 …«
»Du kennst dich ja richtig gut aus!«
»Na und ob. Wer bei der Polizei hat denn noch nicht von der Affäre Dominici gehört?«
Séverine entfuhr ein kurzes, kristallklares Lachen. Ein bezauberndes Lachen. Einige Wochen zuvor hatten sie zusammen eine Dokumentation über diesen alten Mordfall gesehen. Gilles schloss die Augen. Er wusste, dass seine Tochter nicht immer über seine Witzeleien lachte.
Bevor er sich zum Gehen wandte, sah er sich in ihrem Zimmer um. Ein paar Stofftiere warteten artig auf dem Bett. Ein Bär, ein Hase und eine Katze. Die letzten Zeugen einer dahinschwindenden Kindheit. An den Wänden schrien Poster aktueller Sänger bereits den inneren Tumult der Jugend in die Welt hinaus. Zumindest konnte er sich über die Vorliebe seiner Tochter für eine bestimmte Art französischer Chansons mit Inhalt freuen, die er zur gleichen Zeit wie sie entdeckte. Bei Léo sah das schon anders aus. Der Junior begeisterte sich nur für Sport und Rap, zwei Gebiete, auf denen sich Gilles seiner Kulturlosigkeit rühmte.
Leise schloss er die Tür.
Mit dem Glas in der Hand ging er in die Waschküche. Er holte die feuchte Wäsche aus der Maschine. Claire hatte am Morgen eine Ladung angeworfen, ehe sie zur Arbeit gegangen war. Er hängte die Kleider im Garten auf. Die Tramontana wehte sanft, und die Sonne brannte trotz des anbrechenden Abends noch. Schon in einer knappen Stunde würde er alles wieder von der Leine nehmen können. Die Arbeiten im Haushalt waren ihm nicht zuwider, im Gegenteil: Die sorgfältigen, repetitiven Handgriffe kurbelten seine Gedanken an. Er hatte sich an die Aufgaben gewöhnt, als er sich nach Séverines Geburt dafür entschieden hatte, Elternzeit zu nehmen und nur halbtags zu arbeiten, um mehr Zeit mit seinen Kindern verbringen zu können.
Diese berühmt-berüchtigte berufliche Entscheidung, die man ihn teuer hatte bezahlen lassen.
Obwohl Polizisten rein gesetzlich nicht von dieser Regelung ausgeschlossen wurden. Jeder hatte das Recht auf Umstellung seiner Arbeitszeit während der ersten drei Lebensjahre seines jüngsten Kindes, und niemand hatte sich im Kommissariat von Chartres, wo er damals arbeitete, dagegen sperren können. Seine Entscheidung hatte jedoch sowohl Enttäuschung als auch Missfallen hervorgerufen. Ein Mann, der seine Kinder der Arbeit vorzog, gehörte anscheinend nicht zu den Sitten und Gebräuchen der französischen Polizei.
Das Vorankommen seiner beruflichen Laufbahn hatte sich dadurch spürbar verlangsamt. Nach seiner Versetzung nach Perpignan hatte er wieder in Vollzeit angefangen, aber sein Name blieb wahrscheinlich auf irgendeiner schwarzen Liste in einer geheimen Akte des Innenministeriums. Um ihn herum hatte es Beförderungen gehagelt, nur er war übergangen worden. Bis zur Ernennung Castellos vor drei Jahren. Gilles hatte endlich eine Gehaltserhöhung bekommen, und, was noch wichtiger war, er hatte das Vertrauen seiner Vorgesetzten zurückerlangt. Das machte die tägliche Arbeit angenehmer, doch für den Rest war es zu spät. Heute spielte sich sein Leben außerhalb des Kommissariats ab, und sein Ehrgeiz beschränkte sich darauf, seinen Beruf nicht zu schlecht auszuüben, ohne sich dabei das Leben unnütz zu verkomplizieren.
Er angelte einen BH aus dem Wäschekorb, den er nicht kannte. Rosa. Klein. Es dauerte eine Weile, bis er begriff, dass er Séverine gehörte. Ihr erster BH. Er erinnerte sich noch an einen Sommer, in dem sie ihr Bikinioberteil partout nicht ausziehen wollte. Sie hatte es selbst zur Schule unter ihrem T-Shirt getragen. Da musste sie sieben oder acht gewesen sein.
Als wäre es gestern gewesen.
Er erwischte noch einen BH, diesmal größer und mit Spitzenbesatz. Der gehörte Claire. Seine Tochter hatte noch eine Weile vor sich, bevor sie die weiblichen Kurven ihrer Mutter annahm. Da sollte sich die Natur ruhig noch etwas Zeit lassen. Er hängte die beiden BHs an unterschiedlichen Enden der Leine auf, um niemanden vor den Kopf zu stoßen.
Den ganzen Nachmittag hatte er mit Jacques durcharbeiten müssen. Mit seinem Instinkt-Schwachsinn hatte er sie in die Scheiße geritten. Am Verschwinden des Taxifahrers war wahrscheinlich rein gar nichts Mysteriöses. Wenn der Boss das erfuhr, würde er ziemlich wütend werden. Sollte es ihnen zumindest gelingen, den untreuen Gatten bis morgen Abend in den ehelichen Haushalt zurückzubringen, könnten sie den Schaden noch in Grenzen halten.
Um ganz sicherzugehen, hatte auch Jacques Molina eine Nachricht auf der Mailbox von Lopez hinterlassen, während Gilles ein Krankenhaus nach dem anderen in Perpignan sowie die größeren Kliniken des Départements abtelefonierte. Er hatte sogar bei der psychiatrischen Einrichtung in Thuir angerufen, jedoch ohne Erfolg. Sie hatten das Nummernschild des Taxis bei den Polizeistreifen durchgegeben, ebenso bei der Stadt. Keine Spur des Wagens auf den Straßen von Perpignan. Gegen Ende des Nachmittags hatten sie das Kennzeichen an die Gendarmerie des Départements weitergeleitet. Jacques war zu Sylvie Lopez in die Arbeit gefahren, um nochmals mit ihr zu reden. Sie hatte ihm ein Foto ihres Manns gegeben, das sie in ihrem Portemonnaie mit sich trug. Währenddessen war Gilles selbst zum Bahnhof und an den Flughafen gefahren und hatte Lopez’ Kollegen befragt. Niemand hatte ihn gesehen. Weder heute noch am Tag zuvor. Es sah so aus, als hätte er seine letzte Fahrt am Dienstag gegen neunzehn Uhr unternommen, und nicht wie seine Frau vermutete um dreiundzwanzig Uhr. Schließlich hatten Jacques und Gilles mit dem Foto von Lopez bewaffnet gemeinsam die am Bahnhof gelegenen Hotels abgeklappert, falls der Taxifahrer dort seine Eroberungen mit hingenommen haben sollte.
Vergeblich.