Dreimal Tote Tante - Krischan Koch - E-Book
SONDERANGEBOT

Dreimal Tote Tante E-Book

Krischan Koch

0,0
8,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 8,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Ein Mordsfrühling in Fredenbüll Der Frühling lässt nicht nur die Liebesgefühle der Fredenbüller in Wallung geraten, sondern bringt einige Aufregung in das verschlafene nordfriesische Örtchen: Im Jauchebecken von Schweinezüchter Schlotfeldt tauchen die Leichen zweier vermisster Frauen auf. Pensionswirtin Renate verschwindet nach dem abendlichen Landfrauentreffen und findet sich angekettet in einem dunklen Kellerverlies wieder. Für Dorfpolizist Thies Detlefsen ist klar: Ein wahnsinniger Frauenmörder geht um!

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 258

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Krischan Koch

Dreimal Tote Tante

Ein Küsten-Krimi

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

 

 

 

Für meine Tanten

Hanna, Else und Thea

 

 

 

»Irgendwann komme ich hier raus.«

Jussi Adler-Olsen, ›Erbarmen‹

1

Ihre silbrig violetten Fingernägel aus dem »Salon Alexandra« kratzen auf dem rostigen Eisen der Fußschellen. Ihre Hände zittern. Sie schiebt einen Fingernagel unter den eingerosteten Verschluss der eisernen Fußfessel. Das Metall lässt sich keinen Millimeter bewegen. Der Nagel des Zeigefingers bricht sofort ab. Beim zweiten Versuch mit dem Mittelfinger bleibt sie in dem Metall klemmen und versucht den Verschluss ein kleines Stückchen aufzuhebeln. Aber auch dieser Nagel bricht ab. Entsetzt blickt sie auf die Splitter, die jetzt in der Eisenfessel hängen. Erst gestern hat sie sich im »Salon Alexandra« schön machen lassen, neue Dauerwelle, neue Strähnchen und erstmals auch die Fingernägel. Die silbrig schillernden Nägel mit der schilfähnlichen Struktur, die alle Frauen in Fredenbüll haben. Und jetzt das! Es ist wirklich ein Jammer.

Sie hockt auf dem kalten feuchten Betonboden und starrt verzweifelt auf das schwere Fußeisen, das normalerweise bei der Schafschur oder beim Viehtransport eingesetzt wird. Die Fessel ist über eine Kette an der Wand befestigt und der Eisenring schneidet ihr in das rechte Fußgelenk, genau in die Operationsnarbe. Der schimmlige Geruch um sie herum nimmt ihr den Atem. Das Klebeband über den Augen hatte man ihr wenigstens wieder abgenommen, bevor sie hier reingeschubst wurde.

Anfangs war der Raum stockdunkel gewesen. Aber inzwischen hat sie sich an die Dunkelheit gewöhnt. Außerdem fällt durch einen kleinen Riss in dem vergilbten Zeitungspapier, mit dem das Kellerfenster abgeklebt ist, ein dünner Lichtstrahl. Sie erkennt mehrere Eierpappen, mit denen ein Teil der Wände beklebt ist, und Regale mit verstaubten Einmachgläsern mit Quittengelee, Apfelmus und Sauerfleisch. Auf mehreren der Fleischkonserven meint sie unter der Staubschicht die Jahreszahl 2007 zu erkennen. Ja, jetzt sieht sie die Zahlen ganz deutlich: 2007.

An der gegenüberliegenden Wand steht eine große Sperrholzplatte mit einer Modelleisenbahn. Die Gleise, Schranken und Signale, die Lokomotiven und der Bahnhof, die Häuser, die kleinen Menschen und Modelltiere zwischen den Hügeln aus beklebtem Kunststoff sind von einer dicken Staubschicht überzogen. Eine Faller-Landschaft, die in einen Dornröschenschlaf gefallen ist, mitten im Leben erstarrt, wie nach einer atomaren Katastrophe.

Sie hat keinen blassen Schimmer, wie sie hierhergekommen ist. Sie war gestern Nacht auf dem Weg zurück von einem Treffen der Landfrauen. Im Dunkeln am Deich hatte sie plötzlich einen dumpfen Schlag am Kopf gespürt und war in ein tiefes schwarzes Loch gefallen. Ganz weich. Auf der Zunge hatte sie den Geschmack von Blut und ganz in der Nähe hinterm Deich hörte sie eine Eiderente auffliegen, drei scharfe Flügelschläge, schapp-schapp-schapp. Dann war alles still. Irgendwann später war sie in diesem feuchten Keller wieder aufgewacht.

Aus dem Nebenraum hört sie ab und zu ein Brummen wie von einer anspringenden Tiefkühltruhe. Verdammt noch mal, wohin hatte man sie verschleppt? Und vor allem: Wer macht so etwas und warum? Sie muss hier sofort wieder raus. Sie zerrt panisch an der Eisenkette und atmet in kurzen hektischen Zügen. Sie will schreien, aber in ihrer Verzweiflung bekommt sie keinen Ton heraus. Sie fühlt ihr Herz bis zum Hals schlagen, schapp-schapp, wie gestern bei der auffliegenden Ente. War das gestern? Sie hat jegliches Zeitgefühl verloren. Sie wischt sich einen Blutstropfen von dem eingerissenen Nietnagel. Vor ihren Füßen krabbeln zwei Asseln über den kalten feuchten Betonboden Richtung Modelleisenbahn.

2

»Dreimal Tote Tante«, ruft Postbote Klaas Imbisswirtin Antje unternehmungslustig über den Glastresen des Stehimbisses zu und reibt sich die Hände. »Immer noch frisch heute Morgen. Da können wir gut ’n Kleinen zum Aufwärmen vertragen, wat Piet?«

Piet Paulsen mustert ihn skeptisch über seine Gleitsichtbrille hinweg, dann nickt er Antje mürrisch zu. »Ja, ja, is ja gut, ich trink einen mit! Ich will mal nich so sein.« Der Landmaschinenvertreter im Ruhestand schiebt sich die schwere Gleitsichtbrille auf die Nase zurück. Piet Paulsen kann die plötzliche Begeisterung für das nordfriesische Nationalgetränk nicht ganz nachvollziehen. Der Kakao mit Rum und Sahnehäubchen war in den letzten noch kühlen Frühjahrswochen der Renner in der »Hidden Kist«. Und das liegt allein an Mandy.

Für Paulsen war es ein regelrechter Schock, als eines Tages neben dem Postboten eine fremde Frau an Stehtisch Zwei stand.

»Moin, moin, wat machen Sie denn hier?«, hatte der Rentner gebrummt und wollte die auswärtige Dame gerade von seinem Stammplatz verscheuchen, als Klaas verlegen herumdruckste und in seiner Postjacke mächtig ins Schwitzen kam.

»Ja, also … dat ist Mandy«, platzte es schließlich aus ihm heraus. »Die kommt hier jetzt öfter.«

Klaas hat also neuerdings eine »Bekannte«. »Aus ’m Internet, angeblich«, behauptet Antje hinter vorgehaltener Hand. Seitdem ist in der »Hidden Kist« die Welt aus den Fugen. Statt Jägermeister gehen reihenweise Tote Tanten über den Tresen, und statt Fußball flimmerte kürzlich die WM im Eiskunstlauf über den Großbildschirm, der gegenüber der Dunstabzugshaube hängt. Die flotte Mandy aus dem Erzgebirge war in den Achtzigern schließlich viermal sächsische Meisterin im Eistanz.

Mandy ist erst seit wenigen Wochen in Nordfriesland. Aber sie hat sich schon bestens akklimatisiert. Die Frisur mit Strähnchen und geföhnter Außenwelle im Farrah-Fawcett-Look und die Fingernägel mit der kunstvollen Schilfstruktur stammen unverkennbar aus dem »Salon Alexandra«. »Guudn Mohrschn« hat sie längst aus ihren Sprachgebrauch gestrichen. Das »Moin, moin« geht ihr schon erstaunlich flüssig und fast ohne sächsischen Akzent über die Lippen. Seit zwei Wochen kellnert Mandy im »Café Wattblick« in Neutönninger Siel, für die Hauptsaison hat sie einen Job in einem Sylter Eiscafé in Aussicht. Dabei hat die Erzgebirglerin ein paar schwierige Jahre hinter sich. Nach ihrer aktiven Zeit im Eissportzentrum Karl-Marx-Stadt hatte sie es nach der Wende im Showgeschäft versucht. Als »Dornröschen on Ice« war sie allerdings nach mehreren rollengerecht verschlafenen Wurfsalchows recht unsanft in den Kulissen gelandet und prompt aus der Showtruppe geflogen. Auch das folgende Engagement als Eislauf-Kokommentatorin der MDR-Sendung »Sport im Osten« war, nachdem der eigentliche Moderator kaum mehr zu Wort kam, gleich wieder eingestellt worden. Doch diese kleinen Rückschläge hatten Mandys Optimismus nichts anhaben können.

Ihr sächsisches Temperament hatte den nordfriesischen Postboten gleich bei ihrem ersten Treffen regelrecht umgehauen. Das Rendezvous hatte im Erlebnismuseum »Sturmflutenwelt Blanker Hans« in Büsum stattgefunden. Und ehe Klaas sich versah, stand die ehemalige Eisprinzessin mit drei Riesenkoffern bei ihm vor der Tür und war in seine kleine Junggesellenwohnung über dem ehemaligen Fredenbüller Postamt eingezogen.

In der »Hidden Kist« tönt seitdem Barry Manilows »Mandy« aus dem verölten Radiorecorder auf Antjes Gewürzbord. Stones-Fan Klaas und selbst »Stormy Weather«-Gitarrist Bounty schluchzen die Schnulze inzwischen sogar mit. In dem Stehimbiss hat sich Mandy bereits bestens eingeführt. Mit ihrer Begeisterung für den Eiskunstlauf konnte sie die Fredenbüller Imbissrunde zwar noch nicht anstecken, aber ihre Trinkfestigkeit hat nicht nur Klaas, sondern auch der restlichen Stammbesetzung schwer imponiert. Zur Kür im Paarlaufen hatte Antje vier Runden Tote Tante serviert und zwischendurch, zum Verteilen, immer mal ein paar rote Genever. Klaas und den ebenfalls anwesenden Althippie Bounty hatte es angesichts der gleichzeitig über den 46-Zoll-Bildschirm fliegenden Sprungkombinationen von Doppelaxel und dreifachem Toeloop fast von den Beinen gehauen. »Aber die Deern hat die vierfache Tote Tante sauber gestanden«, musste selbst Piet Paulsen konstatieren.

 

»So, hier kommt ganz was Feines.« Antje stellt drei dampfende Becher auf den Glastresen und setzt den drei Toten Tanten das finale Sahnehäubchen auf.

»Nu, da gommen ja unsere Doden Danden. Härrlisch.« Mandy lässt sich von Antje ein Tablett geben und übernimmt das Servieren an Stehtisch Zwei.

Piet Paulsen schiebt sich grimmig sein blaues Basecap von der Nordfriesischen Raiffeisenbank aus der Stirn. »Antje, aber mach mir mal gleich ’n Pils zum Nachspülen.«

»Wenn dir das mit dem Kakao zu viel wird, nehm ich dir die Tante ab«, kommt Bounty von Stehtisch Eins dem Landmaschinenvertreter a.D. zu Hilfe. »Kommt echt gut zu dem Kokos.« Der Althippie gluckst in sich hinein und reißt das Papier von einem Schokoriegel. Imbisshündin Susi, seit einer üblen Fleischvergiftung überzeugte Vegetarierin mit einer ausgeprägten Vorliebe für Süßigkeiten, sieht erwartungsvoll zu Bounty hoch.

»Wat is mit dir, Thies? Tote Tante?«, ruft Klaas dem Fredenbüller Polizisten Thies Detlefsen zu, der grade »De Hidde Kist« betritt.

»Nee, nee, Freunde, ich bin im Dienst.« Thies setzt seine wichtige Miene auf.

»Dienst ist gut«, kichert Bounty. »Ist doch seit anderthalb Jahren nix passiert in Fredenbüll.« Piet Paulsen reicht ihm seinen Kakaobecher mit dem Sahnehäubchen von Stehtisch Zwei herüber.

»Ach, Bounty, hör doch auf«, ranzt Thies ihn an.

»Thies, wie immer? Coffee to go?«, funkt Wirtin Antje dazwischen.

»Ja, Antje, aber wie immer, einen zum hier trinken.«

In der letzten Zeit verbringt Polizeiobermeister Thies Detlefsen fast den ganzen Tag in der »Hidden Kist«. Und seit seine Frau Heike die vegane Küche praktiziert, nimmt er meistens auch die Mahlzeiten bei Antje ein. Aus Protest hat Thies in den letzten Monaten das Wintergrillen entdeckt.

»Dat Problem is allerdings, du hast längere Grillzeiten als im Sommer.« Thies hat sich voll in die Materie eingearbeitet. »Dat Grillgut kühlt dir schnell aus … also nie ohne Deckel, und statt Kohle brauchst du Briketts.«

Bei Piet Paulsen erntet Thies mit seinem Grillchinesisch nur Kopfschütteln. »Wat sollen wir uns im Winter draußen einen abfrieren, wenn wir hier bei Antje schön im Trockenen sitzen.«

Im Frühjahr ist die Wintergrill-Saison ohnehin zu Ende. Im Edeka-Markt von Hans Jürgen Ahlbeck sind die letzten Bestände an Grillbriketts aus dem Vorjahr aufgebraucht. Die meiste Zeit sitzt Thies also wieder im Imbiss. Die Mordfälle und die spektakuläre Schießerei im Edeka-Markt im Herbst vor anderthalb Jahren hatte seine kleine Wache an der Dorfstraße vor der Schließung bewahrt. Aber seitdem war tatsächlich nicht viel passiert in Fredenbüll. Eigentlich gar nichts. Außer den üblichen Falschparkern am Deich und den notorischen Beschwerden des Eppendorfer HNO-Arztes Müller-Siemsen über den Treckerlärm vom Biohof war mal wieder nichts gewesen. Thies’ Schreibtisch in der kleinen Wache in dem roten Backsteinbau an der Dorfstraße ist beängstigend leer.

Aus lauter Langeweile hat er im Winter schon eine Fortbildung besucht: »Täterprofile. Theorie und Praxis des Profilings«. Jetzt wartet Thies ungeduldig auf eine Gelegenheit, die erworbenen Kenntnisse anwenden zu können. Vorläufig bleibt ihm nur, bei Kaffee und »Croque Störtebeker« in der Imbissrunde über den »psychosozialen Kontext von Straftaten« zu dozieren.

»Bei deinen Parksündern am Deich hilft dir dat aber auch nich weiter«, meint Piet Paulsen.

 

Thies schlürft seinen heißen Kaffee. Klaas und Bounty kämpfen noch mit der Sahnehaube auf der Toten Tante. Mandy und Piet Paulsen zieht es derweil zum Rauchen nach draußen. Mit ihrem neuen nordseeerprobten Sturmfeuerzeug mit der Gravur »Für Mandy von Klaas« gibt sie dem Landmaschinenvertreter a.D. Feuer. Piet qualmt genüsslich sein Zigarillo und Mandy eine »Slim Line Gold«. In dem Moment läuft ein dynamisches Rentnerpaar in wattierten Anoraks im quietschbunten Partnerlook über die Dorfstraße auf »De Hidde Kist« zu und betritt den Imbiss. Die beiden Rentner aus dem Westfälischen bleiben zunächst etwas unentschlossen zwischen den beiden Stehtischen stehen.

»Gibt dat hier eigentlich auch Frühstück?«, fragt der Mann in breitem Ruhrpott-Dialekt.

»Wir haben nämlich kein Frühstück bekommen«, schießt die Frau in vorwurfsvollem Ton gleich hinterher.

»Ja, da können wir aber jetzt nix für!« Antje schiebt eine Schale mit Kartoffelsalat unter ihren Glastresen und sieht die beiden Touristen fragend an.

»Wir hatten aber eigentlich mit Frühstück gebucht«, beschwert sich die Frau. »Wir sind hier in der Pension bei Frau … ähhh …«

»Bei Renate«, erklärt Thies.

»Auch erst mal ’ne Tote Tante?« Klaas setzt den Becher ab und hat jetzt einen Sahnetupfer auf der Nasenspitze.

»Gann isch nur empfählen«, schwärmt Mandy. »Escht läcker.« Sie drückt dem Postboten einen dicken Kuss auf die Wange.

»Dat iis doch mit Rum drin, und dat am frühen Morgen«, gibt die Frau zu bedenken.

»Aber hauptsächlich Kakao, oder?« Ihr Mann scheint nicht abgeneigt.

»Hauptsächlich Kakao«, grinst Bounty und kredenzt Imbisshündin Susi die Hälfte seines Schokoriegels.

»Is aber schon merkwürdig, dat Renate heute kein Frühstück gemacht hat.« Thies zeigt Ansätze seines Kuhblicks. »Is eigentlich nich ihre Art.«

3

Es ist ein kühler, aber klarer sonniger Vormittag. Nur ein paar milchige Wolken schwimmen in dem hellblauen Himmel. Man kann über die Wiesen bis zum Deich sehen. Ein paar Möwen ziehen lachend gen Nordsee und Inseln. Mehrere Osterlämmer machen auf dem Deich übermütige Bocksprünge und halten ihre puscheligen Ohren in die laue Frühlingsbrise. In den Vorgärten blühen die Forsythien und Narzissen. Doch Imke nimmt die Schönheiten der nordfriesischen Landschaft gar nicht mehr wahr. Der Stallmief, der über dem ganzen Schweinehof Schlotfeldt liegt, beißt ihr in der Nase. Die Lüftung aus dem großen Stall brummt dumpf. Gedämpft ist das Grunzen und Quieken der Tiere zu hören.

Irgendwie hatte Imke sich das anders vorgestellt, als sie vor fünf Jahren den jungen Sören Schlotfeldt heiratete. Es ging alles Hals über Kopf. Der kleine Kimi war bereits unterwegs, ein gutes Jahr später kam dann gleich Merle hinterher. Sören hatte gerade den Hof übernommen, und sie hatten sich ihre Zukunft in den schönsten Farben ausgemalt. Sie wollten von der konventionellen Schweinezucht auf ökologischen Landbau umstellen. Vor allem wollte Imke von der Tierzucht weg. Schließlich ist sie Vegetarierin. Vor der Hochzeit hatte Sören ihr Gott weiß was versprochen. Er plane, alte Getreidesorten anzubauen, einen Hofladen einzurichten, die Direktvermarktung einzuführen. Nichts ist daraus geworden. »Imke, dat is ’n langer Weg«, hat Sören sie immer wieder vertröstet.

Erschwerend kommt dazu, dass Sören und Imke auf ihrem eigenen Hof nichts zu melden haben. Hier hat immer noch der alte Schlotfeldt das Sagen, auch wenn er den Hof offiziell seinem Sohn überschrieben hat. Er tyrannisiert die junge Familie von morgens bis abends. Ständig kommandiert er seinen Sohn herum. Und Imke kann es ihm schon gar nicht recht machen.

»Was will man von einer Beamtentochter aus der Stadt schon erwarten«, blökte Schlotfeldt sie an. »Dir fehlt der Stallgeruch, min Deern!«

Imke kommt aus Neumünster. Eine richtige Stadt ist das eigentlich nicht. Und den Stallgeruch, den wollte sie ja nun grade abschaffen. Wenigstens will sie jetzt ihre Vorstellungen von artgerechter Haltung durchsetzen. Eine Vegetarierin auf einem Schweinehof, das klingt doch wie ein blöder Witz.

Auf der Wiese hinter dem großen Stall darf Imke drei Schweine im Freien halten. Sau Helene und ihre beiden Ferkel Max und Moritz werden nur mit den besten Küchenabfällen gefüttert. Sie suhlen sich mit Blick auf den Deich im Dreck und grunzen fröhlich. Doch der alte Schlotfeldt bekommt Wutanfälle, wenn er von Imkes hochtrabenden Ideen nur hört oder wenn sie mit ihm eine Diskussion über industrielle Tierhaltung anfängt.

»Wenn du dir für unsere normalen Schweine im Stall zu fein bist, dann heuer doch im Bioladen in Hamburg an und friss deinen Tofu.« Sobald jemand ein Widerwort wagt, rastet er regelmäßig aus und droht mit Mistforken oder dem Holzknüppel, den er fast immer bei sich trägt und mit dem er sonst die Schweine in ihre Kastenstände oder die Viehtransporter treibt. Einmal hat er mit seinen verdreckten Holzpantoffeln aus dem Stall nach den kleinen Kindern geworfen. Da war Imke zur Abwechslung mal ausgeflippt.

Schlotfeldt war ein notorischer Choleriker. Seine Frau hatte, kurz bevor Imke und Sören sich kennenlernten, die Flucht ergriffen. Sie hatte es nicht mehr ausgehalten. Angeblich hatte er sie immer wieder geschlagen. Mit seinem Holzknüppel hatte er sie einmal so schwer am Bein verletzt, dass eine bleibende Behinderung blieb. Eines Abends war sie von einem Treffen der Landfrauen einfach nicht mehr nach Hause gekommen. Im Ort kursierten die wildesten Gerüchte. Einige behaupteten, dass sie inzwischen eine Kängurufarm in Australien betreibe.

Auch für Imke entwickelte sich dieser Schweinehof in der nordfriesischen Walachei immer mehr zum Albtraum. Der ekelhafte Gestank aus dem Stall und dem nur wenige Meter vom Wohnhaus entfernten Jauchebecken ist allgegenwärtig. Sobald im Stall die Lüftung läuft, muss man die Fenster geschlossen halten. Draußen riecht es nach Schweinestall und drinnen nach der Ölheizung, die im Wohngebäude mit untergebracht ist. Sören und Imke hatten sich die alte Tenne in dem großen Fachwerkhaus ausgebaut und vergrößert. Der alte Schlotfeldt wohnte in der seit Jahrzehnten unveränderten neonausgeleuchteten Wohnküche im Hinterhaus.

Anfangs hatte Imke sich die Wohnung nach ihren Vorstellungen einrichten können. Doch irgendwann veränderte sich das. Plötzlich hing dann ein ausgestopftes Eichhörnchen oder ein Marder an der Wand. Sören und sein Vater tapezierten gnadenlos alle Wände mit ihren Jagdtrophäen, mit Geweihen und sonst wie erlegten Tieren, Frettchen, Bisamratten, Fischottern und ganzen Vogelschwärmen. Imke hatte keinen blassen Schimmer, ob die Männer das wirklich alles selbst geschossen hatten, und es interessierte sie auch nicht. Die Jagd und das Präparieren der toten Tiere, dieses seltsame Hobby, das Vater und Sohn verband, waren ihr unheimlich. Wenigstens hat sie ihre schicke neue Einbauküche aus dem Husumer Küchenstudio von Schlotfeldts Tierleben bislang noch freihalten können.

 

Imke raspelt Wurzeln für einen Gemüsegratin in eine Auflaufform. Kimi fährt mit seinem Gokart Slalom zwischen den Jaucheplacken auf dem geteerten Hof. Seine kleine Schwester Merle sitzt auf ihrem Dreirad und sieht ihm bewundernd zu. Zwischendurch wirft Imke immer mal einen Blick durch das Küchenfenster. Der fünfjährige Kimi wird zunehmend unternehmungslustiger. Letzte Woche war er auf die Sofalehne gestiegen, um das große Hirschgeweih an der Wand zu erklimmen. Sören und vor allem sein Vater hatten das glücklicherweise nicht mitbekommen. Jetzt turnt er schon wieder auf der Leiter am Jauchebecken herum. Kimi hat ein Faible für verbotene Kletterpartien. Der alte Schlotfeldt ist schon mehrmals ausgerastet.

»Imke, verdammte Scheiße, pass bloß auf. Eines Tages fällt der Jung noch in die Jauche. Das war’s dann.« Ausnahmsweise hat ihr Schwiegervater da mal recht. Imke hat schon einige Male von tödlichen Unfällen in Jauchegruben gelesen.

Panisch reißt Imke das Küchenfenster auf. »Kimi-i-i!! Komm da runter!«

Kimi dreht sich freudestrahlend um. Stolz lächelt er seiner Mutter zu. Merle pest freudig quiekend auf ihrem Dreirad ebenfalls Richtung Jauchebecken.

»Kimi-i-i-i-i-i!!!« Kimi erklimmt die nächsten beiden Stufen der Stahlleiter.

Augenblicklich lässt Imke Gemüseraffel und Wurzel fallen und rast in Schürze und Hausschuhen auf den Hof.

»Kimi, komm da sofort runter!!!« Je lauter sie schreit, desto schneller versucht sich der Kleine die Leiter hochzuziehen. Sein blonder Schopf leuchtet in der Sonne vor dem betongrauen Becken. Imke stürmt über den Hof. Merle düst auf dem Dreirad durch die Jauche und juchzt. Inzwischen hat Kimi den Beckenrand erreicht.

»Mama, guck ma’, da schwimmt einer!«, ruft er begeistert, aber gleichzeitig auch etwas irritiert.

»Nicht bewegen!«, schreit Imke inzwischen völlig hysterisch. »Bleib da, wo du bist!« Imke hat jetzt auch die Stahlleiter des Beckens erreicht und hastet keuchend die Leiter hinauf. Nach der Geburt der beiden Kinder hat sie etwas zugelegt. Seitdem ist sie nicht mehr so gut in Form. Früher war sie sportlicher. Kimi steht auf der obersten Sprosse und zeigt in das Becken.

»Was erzählst du da für einen Quatsch! Du kommst da sofort runter!« Imke hat jetzt den Beckenrand erreicht, greift Kimi an den Trägern seiner Latzhose und klemmt sich ihren Sohn unter den Arm. Sie ist fast schon wieder auf dem Weg nach unten, als sie wie in einem Traum ganz kurz so etwas wie ein Gesicht aus dem Jauchebrei auftauchen sieht. Ehe sie das richtig realisiert, ist sie mit Kimi nach unten geklettert, setzt ihn unten ab, um dann allein wieder hinaufzusteigen. Imke traut ihren Augen nicht. Aus der bräunlich grünen Gülle ist ein bleiches Gesicht aufgetaucht. Ein Gesicht ist es eigentlich nicht, eher ein Schädel, der von dem dicklichen Jauchebrei überzogen ist. Undeutlich meint sie die Umrisse eines Körpers zu erkennen. Aus der stinkenden Brühe ragen jetzt auch noch vorsichtig die Füße mit Schuhen heraus – wie bei einem Rückenschwimmer. Imke hat mit einem Würgereiz zu kämpfen.

4

»Dat is ’ne Riesensauerei«, warnt Thies die Kollegen gleich, als er bei der Mordkommission in Kiel anruft. »Ihr müsst euch Gummisachen mitbringen. Unbedingt.«

Die Nachricht von dem grausamen Fund in der Jauchegrube erreicht den Fredenbüller Polizeiobermeister auf dem Weg nach Hause. Thies ist mittags ausnahmsweise mal auf zwei Tofu-Frikadellen bei seiner Familie reingeschneit. In der Wache war mal wieder nichts los. Aber jetzt ist er vollkommen aus dem Häuschen. Endlich ein neuer Mordfall! Die neuen Riesenostereier im Eingang und die zwölf mit der Motorsäge rustikal ausgesägten Holzhasen, die Heike heute Morgen grad im Vorgarten aufgestellt hat, übersieht Thies glatt. Er hatte Nicole Stappenbek gleich am Telefon, und die Leiterin der Kieler »Mord Zwei« wollte sich mit ihrem Team sofort auf den Weg machen.

»Thies, dat darf nich war sein. Nun hatten wir grad mal ’n büschen Ruhe, und schon tanzt deine blonde Oberkommissarin hier wieder an. Ich hab mich auf schöne Ostern gefreut.« Heike Detlefsens Stimmung ist sofort auf dem Nullpunkt. Ärgerlich zieht sie das Haargummi stramm, mit dem sie den blonden Heuwagen auf ihrem Kopf bändigt. Während Thies schon wieder die Polizeijacke übergezogen hat und im Stehen eine Tofu-Frikadelle in sich hineinschlingt, pfeffert seine Frau eine Ladung geschrotete Leinsamen auf die restlichen veganen Klöpse. Wenn Nicole Stappenbek in Fredenbüll anreist, ist Heike regelmäßig auf achtzig. Thies schwärmt ein bisschen zu offensichtlich für die Kieler Kollegin in der lässig abgeschabten Vintage-Lederjacke mit den verwegenen Nieten.

»Heike, du solltest dich freuen. Wir haben endlich wieder ’n Mordfall.« Thies richtet seinen Frontigel. Nach einem vorübergehenden Frisurenexperiment – zur letzten WM hatte Friseurmeisterin Alexandra Thies eine Marco-Reus-Bürste verpasst – hat der Fredenbüller Polizist jetzt wieder seine alte Frisur: kurz geschnitten mit kleinem Strubbelspoiler vorne.

»Die Leiche im Jauchebecken bei Schlotfeldt is ’n echter Glückstreffer. Heike, die Kriminalitätsstatistik des letzten Jahres ist eine einzige Katastrophe. Und dir sollte klar sein: Ohne Kriminalität ist meine Wache hier weg!«

Seine Frau sieht ihn sprachlos an.

»Ja, Heike, und dann bin ich auch weg.«

»Thi-i-ies, hör doch auf, ich gönn dir deinen Mord doch«, lenkt Heike ein. »Aber schaffst du dat nich langsam mal alleine? Kann doch nich angehen, dass deshalb immer gleich diese oberschlaue Nicole anrücken muss und dich verrückt macht.«

»Ich hab jetzt grad mal den Seminarschein ›Täterprofile‹, aber deswegen bin ich noch lange kein Hauptkommissar bei der Mordkommission.« Bockig knöpft Thies seine Polizeijacke zu, wischt sich ein paar Tofukrümel vom Mund und läuft nach draußen zu seinem Wagen.

»Noch so ’n Thema«, denkt er sich verärgert. Den ersehnten neuen Dienstwagen hat Thies nämlich wieder nicht bekommen. Er fährt immer noch seinen alten Privatwagen mit der improvisierten Polizeilackierung. Der altersschwache Escort ist mit Ach und Krach grade noch mal durch den TÜV gekommen. Die durchgerosteten Kotflügel hat Sönke, der Mechaniker in der Schlütthörner Tankstelle, inzwischen alle in den neuen Polizeifarben Blau und Silber lackiert. Nur das Dach hat noch das alte Grün, und auch die neue Lackierung stimmt nicht ganz: Kotflügel blau, Haube silber, normalerweise gehört das umgekehrt. Bei der farblichen Gestaltung von Thies’ Einsatzfahrzeug hat Tankwart Sönke seine eigenen Vorstellungen. Aber schön ist das nicht, mit dieser alten Kiste zu einem Tatort zu fahren, ärgert sich Thies.

 

Kriminalhauptkommissarin Nicole Stappenbek ist gleich mit der ganz großen Besetzung angereist. Gerichtsmediziner Carstensen, KTU-Mann Mike Börnsen und weitere Kriminaltechniker. Ein ganzer Trupp von Männern und Frauen in weißen Einmalanzügen wieselt um das Jauchebecken herum. Die meisten tragen wegen des Güllegestanks einen Mundschutz. Die Kriminaltechniker haben zwei zusätzliche Leitern angestellt. Sie brauchen eine ganze Weile, um den Toten aus der Jauche zu ziehen. Mit einer langen Teleskopstange und mit Heugabeln stochern sie in der grünlich braunen Brühe herum und schupsen die Leiche Richtung Beckenrand. Sobald die beiden Männer sie ein Stück aus der Pampe herausbekommen haben, will sich der zähe Brei den Leichnam zurückholen. Immer wieder taucht der oder die Tote kurz ab, um dann aber mit den Füßen oder dem Kopf sofort wieder an die Oberfläche zu kommen. Schließlich gelingt es Spusi-Mann Börnsen und seinem Kollegen, den Leichnam mithilfe eines Seiles aus der Gülle herauszuziehen und über den Beckenrand zu hieven. Dem blonden Spusi-Mann läuft dabei die stinkende Suppe unter seine Gummihandschuhe. Der schlammige Körper strebt kurz noch mal in die Jauche zurück, dann fällt er mehrere Meter hinab auf den Betonboden. Die Gliedmaßen federn beim Aufprall einmal nach oben und zerfallen dann in mehrere Teile. Die braune Gülle spritzt. Darunter kommen Teile eines Skelettes zum Vorschein. Thies, der die Bergung der Leiche überwacht, geht in Deckung. Börnsen hat mit dem Brechreiz zu kämpfen. Nicole hastet hinter den Stall und muss sich tatsächlich übergeben.

Schlotfeldt senior und auch sein Sohn Sören stehen mit versteinerter Miene und aschfahlem Gesicht vor dem toten Körper und starren ihn an. Der Leichnam ist über und über mit der grünbraunen Schlacke überzogen. Es ist nur noch ein Skelett, an dem gülledurchtränkte Reste von Kleidung oder eines Körpers kleben, die die einzelnen Knochenteile bisher zusammengehalten haben. Auch das Gesicht ist nicht mehr zu erkennen. Nur noch ein schlammüberzogener Totenschädel.

»Echt lecker!« Mike Börnsen wendet sich ab und zieht sich mühevoll die Gummihandschuhe von den Fingern. »Gibt’s hier irgendwo fließend Wasser?«

»Ach so, ja!« Sören Schlotfeldt überlegt. »Klein Moment, ich kärcher euch eben ab. Dat ham wir gleich.« Der Junior holt den Hochdruckreiniger aus einem Schuppen.

»Sieht irgendwie nach ’ner Frau aus, oder?«, überlegt einer der Kriminaltechniker mit Blick auf die Körperform. Um den Hals schimmert ein rotes Tuch unter dem Schlamm hervor. Oder ist das vielleicht doch eine Krawatte?

Während Börnsen und seine Kollegen ihre Gummianzüge von dem jungen Schlotfeldt abspritzen lassen, steuert Gerichtsmediziner Carstensen, heute ebenfalls im weißen Einmaloverall, mit einem Leichensack auf den stark verwesten Leichnam zu. Der Gokart des Jungen steht daneben. Die Kinder, die Imke sofort ins Haus gebracht hat, kleben mit den Nasen am Küchenfenster. Imke steht in Schürze dahinter und zieht die dreijährige Merle vom Fenster weg.

»Moin Thies«, begrüßt Carstensen den Fredenbüller Dorfpolizisten. »Wo ist unsere Hauptkommissarin denn abgeblieben?«

»Ja … mal eben hintern Schuppen«, sagt Thies zögerlich. »Aber da kommt sie schon wieder.« Nicoles Gesichtsfarbe tendiert ins Grünliche.

»Willst hier noch mal ’n Blick drauf werfen, ehe ich einpacke?«, fragt Carstensen.

Genau das will Nicole vermeiden. Sie wendet sich stattdessen an Schlotfeldt. »Aber ich will vor allem, dass Sie hier einen Blick drauf werfen«, sagt die Kommissarin mit ungewöhnlich leiser Stimme. »Sind Sie hier der Eigentümer?«

»Jo.« Der Schweinebauer starrt abwesend auf den Leichnam, dann sieht er Nicole an. »Jo, dat ist mein Hof.« Er schiebt sich den Schirm der grünen Bauernmütze in die Stirn.

»Na ja, eigentlich …« Sören Schlotfeldt, der inzwischen dazugekommen ist, will offenbar etwas einwenden, lässt dann aber nur ein kleinlautes, fast lautloses »Jo, egal« heraus.

»Wer ist das? Kennen Sie den oder die Tote?«, fragt die bleiche Kommissarin. Aber gleichzeitig merkt sie, wie unsinnig die Frage ist. Dieses halb verweste gülleüberzogene Etwas ist wirklich nicht zu identifizieren.

»Dat ist meine Frau«, sagt Schlotfeldt, ohne lange zu überlegen. Aber dann zuckt er die Achseln.

»Ihre Frau?« Nicole staunt.

»Mutti? Nee!« Schlotfeldt junior ist überhaupt nicht überzeugt, und auch der alte Schlotfeldt glaubt selbst nicht mehr, was er da gerade eben gesagt hat.

Der kleine Kimi kommt schon wieder aus dem Haus gestürmt. »Ich hab ihn zuerst gesehen«, schreit er. Imke läuft hinterher. Sie schnappt sich ihren Sohn sofort und zieht ihn zurück ins Haus.

»Herbert, wie willst dat denn erkennen?« Thies blickt skeptisch erst auf die Tote, dann auf den Schweinebauern. Der alte Schlotfeldt hat immer diesen starren Blick aus seinen wasserblauen Augen, die unter dem Schirm der grünen Bauernmütze hervorstechen. Jetzt ist sein Blick noch starrer. Schlotfeldt sagt gar nichts und stiert nur auf die Schuhe. Thies und Nicole sehen ebenfalls kurz hin.

»Herbert, hörst du mich?«, fragt der Fredenbüller Polizist.

»Die Schuhe«, stößt Schlotfeldt fast lautlos heraus.

Thies sieht auf die Überreste hochgeschlossener Schnürschuhe, die verdreckt, halb zerfallen, aber im Gegensatz zu allem anderen vergleichsweise gut erkennbar sind.

»Dat sind Gesundheitsschuhe, oder?«, stellt er fest.

Nicole wird schon wieder leicht grünlich. »Herr Schlotfeldt, wir müssen uns nachher mal in Ruhe unterhalten. Lassen Sie die Kollegen hier erst mal weitermachen.« Sie schnappt nach Luft und schiebt sich die Sonnenbrille ins Haar. Thies mustert sie kritisch.

Nicole und er haben sich eine ganze Weile nicht gesehen. Beruflich ergab es sich ja leider nicht. Allerdings waren Nicole und Mike Börnsen vor ein paar Monaten zu Bountys »Stormy Weather«-Party in dem renovierten Übungsraum im alten Dorfkrog aus Kiel herübergekommen. Kann es sein, dass sich Nicole seitdem irgendwie verändert hat? Vielleicht hatte sie ein bisschen zugelegt?

»Thies, ich bin mal wieder ohne Frühstück los. Ich brauch unbedingt erst mal ’n Kaffee und was zu essen.« Sie schnieft.

Mit ihren Allergien hat sie jedenfalls immer noch zu tun.

 

Als Nicole in der »Hidden Kist« das Duftgemisch aus frittierten Pommes und eingelegten Rollmöpsen entgegenschlägt, kehrt schlagartig die normale Farbe in ihr Gesicht zurück. Im Imbiss wird die Kieler Kommissarin gleich mit großem Hallo empfangen. Bei ihren Fredenbüller Mordfällen hat sie ihre Mahlzeiten stets bei Antje eingenommen. Nicole begrüßt die Stammbelegschaft, und Klaas stellt ihr seine Bekannte vor. Nicole staunt.

»Moin, isch bin die Mandy.« Klaas’ neue Freundin streckt ihr die Hand mit den violett lackierten Fingernägeln entgegen und schüttelt die mehrfarbige Sturmfrisur. Nicole kann sich angesichts des sächsischen Moin und der in Fredenbüll obligatorischen Fingernägel aus dem »Salon Alexandra« ein heimliches Grinsen nicht verkneifen. Bounty grüßt ebenfalls grienend und Schokoriegel kauend von Stehtisch Eins herüber. Allein der Imbisshund, Schäfermischling Susi, hat nur Augen für den Althippie, mit dem er sich grade einen Kokosriegel teilt.

»Freut uns, dass du mal wieder da bist … na ja …« Antje macht eine Pause und räumt aus Verlegenheit eine Schale mit Kartoffelsalat vom Tresen in die Glasvitrine. »Is natürlich immer kein so schöner Anlass, muss ja wohl schlimm aussehen, aber … Wie sieht’s aus, erst mal ’n Croque?«

»Rollmops-Burger!«, bestellt Nicole wie aus der Pistole geschossen.

»Und vielleischt och ’ne Dode Dande?«, flötet Mandy, die über die Stützung der Frauenquote in der »Hidden Kist« offenbar ganz froh ist. »Kann isch nur emfählen.«

»Lass mal, Mandy, die tote Tante hatten wir heute Morgen schon«, winkt Thies ab.

Nicole lässt sich den morgendlichen Latte macchiato und das Fischbrötchen schmecken, gleich darauf ein zweites. Sie strahlt. Ja, sie hat tatsächlich ein bisschen zugelegt. Aber steht ihr, findet Thies.

»Dat schmeckt dir aber, min Deern«, brummt Paulsen. »So ’n Toter am Morgen macht wohl ordentlich Appetit.« Die Männer staunen über Nicoles Appetit, und Antje mustert sie eindringlich.

»Hört bloß auf«, protestiert Thies. »Von der oder dem Toten war nich mehr viel zu erkennen in der ganzen Jauche«, erklärt der Fredenbüller Polizist. »Sah schlimm aus, dat Gesicht war praktisch nich mehr da.« Dabei läuft ihm selbst noch einmal ein leichter Schauder über den Rücken, aber ein bisschen genießt er es auch, seine Imbissfreunde zu schockieren.

»Gru-u-uselisch«, stöhnt Mandy.

»Fast wie in einem von diesen Dänen-Krimis«, findet Piet Paulsen. »Da geht dat ja immer ganz schön brutal zur Sache. Muss ich mich manchmal wundern.«

»Na ja, wir sind schließlich ganz nah dran«, konstatiert Thies. »Dat sind keine fünfzehn Kilometer zur Grenze.«

5

Wütend räumt Huberta von Rissen zwei leere Weinflaschen und ein halb volles Glas vom Kirschholztischchen. Durch die hohen Räume des Gutes klimpert ein Chopin-Tanz. Seit ihr Mann Onno überraschend vorzeitig aus der Psychiatrie entlassen wurde, stehen die leeren Bordeauxflaschen wieder überall herum. Ihr litauisches Hausmädchen muss regelmäßig Rotweinflecken von dem gestreiften Bezug des Biedermeiersofas und aus dem Orientteppich entfernen.